Frühaufschwärmer von Schreiberliene ================================================================================ Kapitel 1: Frühaufschwärmer --------------------------- Line. Liineee? Linne? Was ist denn das? Klingt dumm… Und macht auch keinen Sinn. Line? Ach, ne. Li ni e. Linje sozusagen. Rot, blau, grün, gelb. Linien, das stimmt. Wo was los ist? Macht so irgendwie auch keinen Sinn, aber an das Gefühl könnte ich mich gewöhnen. Irgendwie. Und ich lache. Merkwürdige Nacht. Ich lache wieder, lasse mich dann auf den Sitz fallen. Oder daneben, so genau kann ich das gerade nicht beurteilen. Wo ist eigentlich Manuela? Selbst darauf weiß ich keine Antwort, aber ich vermute, dass ihre Abwesenheit etwas mit dem Vollproll im weißen Hemd zu tun hat. Ist eigentlich auch egal, mit einer Freundin geht nichts. Und wieder muss ich lachen, diesmal über mich selbst, so sehr, dass mir bald die Tränen kommen und ich das Salz schmecken kann. Und die Kotze… Ekelhaft. Sterne funkeln hoch über mir, zumindest so lange bis mir einfällt, dass die Straßenlaternen viel zu hell leuchten und zudem die Sonne langsam wieder aufgeht. Danach sind es nur noch winzige Regentropfen auf dem Kunststoffdach, in denen sich die Beleuchtung spiegelt. Schön ist es trotzdem… Hat es eigentlich geregnet? Der Boden ist trocken, also nicht. Woher kommt dann das Wasser? Und wieso geht Manuela nie mit mir nach Hause? Warum sitze ich immer alleine spät in der Nacht an der Bushaltestelle, weil der letzte Nachtschwärmer schon gefahren ist, erst die letzte gelbe, dann die grüne, dann die blaue und um zwanzig vor fünf die rote Linie? Das habe ich nicht auswendig gelernt, aber der Plan verrät es mir. Glaube ich. So genau kann ich die winzigen Zahlen nicht erkennen… Warum? Ich weine immer noch und stelle fest, dass der Geruch nach Erbrochenem von meinem Ärmel aufsteigt. Ekelhaft. Es ist nicht die Erkenntnis, dass ich nicht einmal vernünftig kotzen kann, sondern eine innere Spannung, die mich aufreißt, die Beherrschung verlieren lässt und ein hemmungsloses Schluchzen aus meiner Kehle zwingt. Plötzlich verkrampft sich mein Magen und ich beuge mich vornüber auf meine Knie – offensichtlich sitze ich in der Tat auf einem Sitz – und würge trocken das letzte bisschen ätzender, bitterer Magenflüssigkeit aus. Tränen und Rotz vermischen sich und ich weiß nicht, welcher Gedanke mehr Übelkeit hervorruft: Das Ganze einfach laufen zu lassen oder mit dem Ärmel drüber zu gehen. Ich entscheide mich für Letzteres und stelle fest, dass der noch immer voller kleiner schleimiger Brocken ist. Ekelhaft. Und jetzt kommt der Bus; eiskaltes Regenwasser spritzt mir ins Gesicht. Wenigstens kann ich meine Augen wieder öffnen. Der Busfahrer starrt nicht, auch wenn ich das gerne denken würde; dem bin ich, dem ist mein Aufzug vollkommen egal. Ich zahle – zwei siebzig für die paar Stationen!?, aber selbst auf Provokation hat der Mann keine Lust und schlägt mir nur vor, zu Fuß zu gehen wenn es mir nicht passt– und stecke die Karte in die rechte Hosentasche. Die linke ist mit einer Rum-Colamischung verklebt, und meine Jacke wohl gestohlen worden. Der Bus fährt an, obwohl ich noch nicht sitze, und meine Hand hinterlässt, lustiger Weise genau neben dem einzigen Fahrgast, eine blonden Schnepfe im Blazer und mit Stock im Hintern, die mit mir gar nichts gemeinsam hat, einen schmierigen Abdruck an der Haltestange. „Ekelhaft.“ Oder vielleicht doch etwas. Ich lache und lasse mich auf einen Sitze fallen – dieses Mal bin ich mir sicher – während ich meine Hand am Shirt abwische und die Frau betrachte. Sie weicht etwas zurück und rümpft ihre Nase; ihr Blick hinter den modischen Brillengläsern könnte abweisender nicht sein. So eine… Deswegen beuge ich mich auch zu ihr hinüber bevor ich einen guten Morgen wünsche. Unwillig dreht sie ihren Kopf zu Seite und starrt aus dem Fenster, die Financial Times zusammengerollt auf ihrem Schoß. Langweiliger geht’s kaum, und ich kann mir mit einem Mal lebhaft vorstellen, wie die Arme jeden Sonntagabend punkt Acht alleine ins Bett hüpft, um am nächsten Morgen strebsam alles zu tun, was der Chef will. Diesmal lache ich nicht; es ist nur ein kleines, zufriedenes Lächeln. Egal was mit Manuela, ihrem Hemdmann und meiner Kotze alles war, zumindest lebe ich. Ekelhaft. Es ist, als sei Montagmorgen der Moment für all die gescheiterten Existenzen, um aus ihren Löchern hervorzukriechen und mit ihrem Gestank den ersten Arbeitstag noch furchtbarer zu machen, als er ohnehin schon ist. Dieses Exemplar ist nicht nur schmutzig – und keiner will wissen, was da auf der Kleidung Flecken hinterlassen hat – sondern stinkt auch impertinent. Kurz überlege ich, ob ein Platzwechsel helfen würde, doch man möchte diese Gestalten nicht zusätzlich provozieren; wer weiß schon, welche Aggressionen sie im Alkohol ertränken? Es wird immer heller, schließlich ist es schon fast halb sechs, und pünktlich verlöschen die Straßenlaternen. Ich atme einmal tief durch, versuche, die bevorstehende Woche aus meinen Gedanken zu verbannen. Erst die Konferenz in Abteilung E, dann die Projektbesprechung mit Leila und Chris, Mittwoch der Empfang… Noch einmal zwinge ich mich, ruhig zu bleiben – ein, aus, Panik hilft uns nicht, ich schaffe alles, was ich mir vornehme – und klammere mich an die letzten stillen Minuten, bevor der Arbeitstag offiziell angefangen hat. Der neue Anzug sitzt ein wenig zu eng, gerade im Bus fällt es mir auf, und ich bin fast versucht, den Knopf des Blazers zu lösen. Schon habe ich die Hand angehoben, doch die Reflektion des Mannes in der Scheibe, der depressiv debil vor sich hinschaut, hält mich davon ab. Irgendjemand muss hier doch Haltung bewahren… Während ich vorgebe die regennassen Straßen zu beobachtet, an denen wir vorüberfahren, mustere ich ihn, fasziniert, das muss ich zugeben, von der unbeschreiblichen Schmutzigkeit. Es kann sogar sein, dass ich ihn kenne, länger betrachtet erinnert er mich an diesen Jungen, mit dem ich zusammen Abitur gemacht habe, Manuel oder Michael, wenn ich mich nicht irre. Ja, doch, ich glaube, es war Michael, das markante Kinn unter dem Dreitagebart erinnert mich doch sehr an ihn. War ich nicht sogar eine Zeit lang, irgendwann in der neunten Klasse, verliebt in ihn? Irgendetwas war da doch… Wahnsinn, wie Menschen sich verändern können, fast schon komisch, diese verlotterte Gestalt. Ich kann es mir kaum vorstellen, aber je länger ich ihn betrachte, umso sicherer bin ich mir. Was ist nur aus ihm geworden? So leer, so deprimiert, der hat sein Leben doch weggeworfen. Ob da was passiert ist? Man macht doch nicht Abi, nur um dann die ganze Nacht durchzufeiern und am Ende von Hartz 4 zu leben! Einen Job hat er mit Sicherheit nicht, vermutlich auch keine funktionierenden Beziehungen, kaum echte Freunde, keine Stabilität… Es ist gruselig schön, sich das alles auszumalen, und als Bonus wird der kommende Stress ein wenig verdrängt. Auch der Blazer scheint mit einem Mal viel bequemer zu sein. Wieder einmal wird mir bewusst, dass das der Grund dafür ist, warum ich mich jeden Morgen in aller Frühe in diesen Bus setze um eineinhalb Stunden zur Arbeit zu fahren; der Grund dafür, dass ich das Wochenende oft unter Bergen von Papieren verbringe und meinen Freund nur jeden zweiten Tag sehen kann. Und wenn ich mir das so anschaue, dann ist es das wert. Das leise Zischen der Tür zeigt an, dass sie nun geschlossen ist, und ein kurzes Umschauen verrät, dass niemand unerlaubter Weise hinten zugestiegen ist. Blinker raus, ein schneller Blick in den Spiegel, und wir sind wieder auf Tour. Die frühen Fahrten sind immer anstrengend; die Augen wollen nie so recht offen bleiben, und die meisten Radiostationen weigern sich, annehmbare Musik zu spielen, doch heute bin ich noch ziemlich gut weggekommen. Schließlich ist es Montagmorgen, kurz vor sechs, die Zeit der Begegnung zwischen Frühaufsteher und Nachtschwärmern. Es ist immer lustig, wenn sich diese zwei Sorten Menschen über den Weg laufen, die sich so von einander unterscheiden, dass sie ähnlicher kaum sein könnten. Es fällt mir besondern auf, weil ich sie beim Ein- und Aussteigen beobachte. Wenn sie ihren Fahrschein lösen oder vorzeigen, erkennt man immer die Unlust, den Stress, die Niedergeschlagenheit, einen Hang von Depression. Haben zwei sich dann gefunden, gibt es diesen Konfliktmoment; und wenn sie meinen Bus wieder verlassen, sind alle für einen Moment zufrieden mit sich und der Welt. Alberner geht es kaum; aber deswegen sind mir meine Frühaufschwärmer auch irgendwie sehr sympathisch. Hosted by Animexx e.V. 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