In Between Dreams von Niekas (Drabbels zu verschiedenen Pairings) ================================================================================ Kapitel 1: Erdbeeren und Sonnenblumen ------------------------------------- (Irgendwo habe ich mal gelesen, in Russland tut man Konfitüre in seinen Tee. Kann aber auch sein, dass das völliger Quatsch ist, ich weiß es nicht.) "Nein, ihr geht.“ „Toris...“ „Geht. Ich kann das nicht verantworten.“ „Aber dass er dich wieder krankenhausreif prügelt, das kannst du verantworten?“, fragte Eduard und rückte seine Brille zurecht, wie immer, wenn er etwas sagte, von dem er wusste, dass er es besser für sich behalten hätte. Toris zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Ja, das kann ich. Und jetzt geht einkaufen.“ „Aber...“, begann Raivis, doch Toris öffnete die Tür und schob ihn hinaus. „Ihr habt das Geld?“ „Ja.“ „Den Einkaufszettel?“ „Ja... a-aber Toris...“ „Geht schon“, flüsterte Toris und sah Eduard bittend an. „Ihr habt nicht mehr viel Zeit...“ Eduard biss sich auf die Lippe, wollte wohl noch etwas sagen, tat es dann aber doch nicht. „In ein paar Stunden sind wir wieder zurück“, murmelte er. „Gut. Vergesst nichts auf der Liste.“ „Nein, nein.“ „Viel Glück, Toris!“, sagte Raivis, der schon draußen stand und sich in der Kälte die Hände rieb. Toris schenkte ihm ein Lächeln. „Ich komme schon zurecht.“ Er schloss die Tür hinter Eduard, legte den Riegel vor und lehnte sich erschöpft gegen das Holz. Na also. Die beiden hatte er in Sicherheit gebracht. „Toris?“, erklang eine fröhliche Stimme hinter ihm. „Was ist denn los?“ „Gar nichts“, erwiderte Toris schnell und trat von der Tür weg. Ivan steckte den Kopf um den Türrahmen und blinzelte ihn an. „Wo sind Raivis und Eduard?“ Toris zwang sich, arglos auszusehen. „N-nun... wieso suchen Sie sie? Wenn es etwas zu erledigen gibt, kann ich es übernehmen...“ Ivan legte den Kopf auf die andere Seite. „Sag mal, Toris“, begann er langsam. „Wo ist die Vase mit den Sonnenblumen hingekommen, die meine Schwestern mir geschenkt haben?“ Als er keine Antwort erhielt, legte sich ein Ausdruck der Enttäuschung auf sein Gesicht. „Sie ist kaputt, richtig?“, fragte er. „Einer von euch hat sie fallen lassen.“ Toris sah auf seine Füße. „Es war keine Absicht“, beteuerte er. „Es wird nie wieder vorkommen, es wird sicher...“ „Das macht mich traurig, Toris“, erklärte Ivan auf eine verletzte Art und zog an seinem Schal. „Es tut mir Leid... es wird nicht wieder...“ „Das macht mich traurig“, wiederholte Ivan leise und der Blick seiner großen Augen ging ins Leere. Toris schluckte und versuchte, das Positive zu sehen. Wenigstens seine Brüder hatte er in Sicherheit gebracht. „D-darf ich eine F-frage stellen?“ Ivan legte den Kopf schief und überlegte. „Wenn du willst“, sagt er dann großzügig. Zitternd biss Toris sich auf die Lippe. „W-wofür war das?“ „Was?“, fragte Ivan überrascht. Toris schloss die Augen und schmeckte Blut auf seinen Lippen. Er hatte sie mal wieder aufgebissen, stellte er fest. Aber sein Rücken sah vermutlich noch schlimmer aus. „Ach, das“, hörte er Ivans unbeschwerte Stimme hinter sich. „Das war vorsorglich. Man kann ja nie wissen, nicht wahr?“ Er liebte Morgen wie diese: Die Sonne schien durch den Spalt zwischen den Vorhängen in sein Schlafzimmer. Keine Konferenzen, kein Stress und kein Schnee draußen. Nur die Sonne an einem fast wolkenlosen Himmel und Toris, der leise die Tür öffnete. „Guten Morgen“, sagte er, als er sah, dass Ivan schon wach war, und lächelte über das Tablett in seinen Händen hinweg. „Haben Sie gut geschlafen?“ „Sehr gut“, erwiderte Ivan fröhlich und setzte sich auf. Ein süßer Geruch stieg ihm in die Nase, „Was hast du denn da, Toris?“ „Ihr Frühstück“, antwortete Toris und kam näher. „Ich habe heute etwas anderes ausprobiert... ich hoffe, Sie mögen es.“ „Was ist es denn?“, fragte Ivan neugierig und winkte ihn zu sich heran. Es roch sehr gut. „Banana Pancakes“, erwiderte Toris und lächelte. „Sie sind sehr süß, wegen der Bananen. Ich bin sicher, Sie werden sie...“ „Pancakes?“, wiederholte Ivan langsam. „Ja... ich habe d-das Rezept von...“ „...Alfred.“ Toris schluckte. „J-ja. Aber w-wie gesagt, sie schmecken s-sehr...“ Ivan holte aus und schlug ihm das Tablett aus den Händen. Die Teekanne darauf zersprang auf dem Boden und der Tee sickerte in den Teppich. Der Teller mit den dicken Pfannkuchen drehte sich im Fallen um, sodass die Pfannkuchen im halben Zimmer verstreut lagen. „Alfred“, spuckte Ivan. „Er hat dich dekadent gemacht, Toris. Nichts als Dekadenz, wo immer ich hinsehe.“ Er wünschte sich, Toris würde ihm widersprechen, doch das tat er nicht. Er sah nur auf den Boden und biss auf seiner Lippe herum. Wütend schlug Ivan die Decke zurück und setzte die Füße auf den Boden. Beinahe trat er in einen Pfannkuchen. „Du machst das sauber“, sagte er leise. „Ich will keine Flecken im Teppich haben. Ab heute machst du anständiges Frühstück, ist das klar?“ Toris nickte leicht, ohne ihn anzusehen. „Und außerdem haben wir beide in einer Stunde eine Verabredung in meinem Büro. Ich rate dir, pünktlich zu sein. Haben wir uns verstanden?“ „Ja“, sagte Toris erstickt und biss auf seine Unterlippe. Ivan ging an ihm vorbei und auf die Tür zu. Als er das Zimmer verließ, hatte er noch immer den Duft der Pfannkuchen in der Nase. Er hasste Morgen wie diese. „Ich verstehe das nicht“, sagte Ivan leise und legte eine Hand an die Fensterscheibe. „Wieso ist die Welt so böse geworden?“ „Sie könnte ein gutes Stück weniger böse sein, wenn es Sie nicht gäbe“, erwiderte Raivis freundlich. „RAIVIIIS!“, schrien Toris und Eduard gleichzeitig. „Findest du das, kleiner Raivis?“, fragte Ivan nachdenklich, drehte sich zu ihm um und legte ihm eine Hand auf den Kopf. Raivis begann heftig zu zittern. „Es t-tut mir Leid... i-ich...“ „Meinst du das oder meinst du es nicht, Raivis?“ Der Junge antwortete nicht mehr, zitterte nur weiter vor sich hin. Toris schluckte einige Male, bevor er nach vorn trat. „Natürlich meint er es nicht so, Ivan. Sie sind nicht böse.“ Ivans Blick hellte sich auf. „Das bin ich nicht“, sagte er zu sich selbst. „Ich bin nicht böse... nicht wahr?“ Er sah Toris mit leuchtenden Augen an, und dieser dachte an die Narben auf seinem Rücken und zwang sich zu einem Lächeln. „Natürlich nicht, Ivan. Sie doch nicht.“ „Ivan?“, fragte Toris leise. Er stand in der Tür, ein Tablett mit Tee in den Händen. Ivan grunzte etwas von dem Sofa aus, auf dem er lag. Er öffnete die Augen nicht. Seine Lider waren so schwer. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ „Ich weiß nicht“, erwiderte Ivan langsam und wickelte sich fester in die Wolldecke. „Ich denke nicht.“ Einen Moment lang blieb es still, bevor Toris etwas näher trat. „Wollen Sie eine Tasse Tee?“ „Nein.“ Toris biss sich auf die Lippe. „Gut... dann... soll ich Sie einfach in Ruhe lassen?“ „Das wäre wohl das Beste.“ Lautlos ging Toris wieder zurück, den nicht angerührten Tee auf dem Tablett. Kurz bevor er auf den Flur hinaus trat, hörte er noch einmal Ivans Stimme hinter sich. „Toris?“ „Ja?“, fragte Toris und hielt inne. „Sagst du mir, was Liebe ist?“ „W-was?“ „Liebe“, wiederholte Ivan und lächelte leicht. „Weißt du, was das ist?“ Zögernd trat Toris wieder etwas näher. „Nun... das ist... eine seltsame Frage“, sagte er vorsichtig. „Weißt du es denn, Toris? Weißt du, was Liebe ist?“ Er dachte an Alfred, an Feliks, an seine Brüder. „Nein, ich denke nicht.“ „Wirklich nicht?“, fragte Ivan betrübt. „Es tut mir Leid“, erwiderte Toris schnell und umklammerte das Tablett, als halte er sich daran fest. „Wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen sofort sagen.“ „Weißt du, Toris...“, sagte Ivan und strich über das Wasserrohr in seinen Händen. „Manchmal frage ich mich, wie es wäre, du zu sein.“ Unschlüssig hob Toris den Kopf. „Oh... nun... wie wäre das?“ „Es wäre interessant“, sagte Ivan und nickte. „Weil du so klein bist und ich nicht. Weil du Natalia liebst und ich nicht.“ Toris errötete heftig. „Es wäre doch lustig, wenn wir einen Tag lang tauschen könnten, oder?“, fragte Ivan und lief über den Boden, den Toris gerade wischte. „Nur für einen Tag. Ich wäre du, und du wärst ich. Wie fändest du das?“ „Das wäre... eine großartige Idee“, antwortete Toris steif. „Ja, nicht wahr?“, strahlte Ivan. „Ich werde Arthur mal fragen, ob in diesem Buch über schwarze Magie irgendetwas darüber drinsteht... bis später, Toris!“ Damit machte er sich mit seinem Wasserrohr auf den Weg in sein Zimmer. Toris sah ihm nach und seufzte. „Vielleicht könnten Sie ich sein, Ivan“, sagte er leise. „Das traue ich Ihnen sogar zu. Aber ich könnte Gott weiß niemals Sie sein. Und selbst wenn ich Sie wäre, könnte ich nicht so grausam sein.“ Er fuhr fort, den Boden zu wischen. Ein Blitz erhellte das Zimmer und ließ den großen, zitternden Haufen unter der dicken Bettdecke einen Moment lang aufleuchten, um ihn dann wieder in die Dunkelheit zu hüllen. Das Donnern, das kurz darauf erklang, übertönte das leise Schluchzen, das unter dem Stoff hervor drang. Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen und Toris trat ein, eine Kerze in der Hand. Eduard und Raivis folgten ihm in einigem Abstand. „I-ivan?“, fragte Eduard halblaut. „Geht es Ihnen gut?“ Sie erhielten keine Antwort. Toris stellte die Kerze auf dem Tisch ab und trat an das Bett heran. „Ich wusste, dass ich etwas gehört hatte“, murmelte er. „Ich habe gar nichts gehört“, erklärte Raivis und klammerte sich im nächsten Moment wieder an Eduard, weil ein Blitz das Zimmer erhellte. Mit einem Ruck zog Toris die Decke beiseite. Ivan hatte sich in Embryonalhaltung zusammengerollt, die Hände in sein wirres Haar geklammert. Er murmelte etwas sehr schnell vor sich hin, und Toris beugte sich hinunter, um es zu verstehen. „Nicht... ich kann euch nicht... den Zar... wir wollen keine Kinder, die nicht schön spielen können, nicht wahr... wir brauchen keine Kinder, die... Blut... wieso blutet ihr denn, ich will doch... will doch nur euer Bestes... wieso... ich habe doch alles getan, damit... alles, damit...“ „Was ist los?“, fragte Eduard mit großen Augen. „Ein Albtraum“, erwiderte Toris leise, fasste sich ein Herz und rüttelte an Ivans Schulter. „Ivan. Wachen Sie auf. Sie träumen nur.“ Ivan zitterte weiter vor sich hin, doch als Toris heftiger an seiner Schulter rüttelte, hielt er darin inne. Langsam öffnete er die Augen und sah die drei Brüder an, die neben seinem Bett standen. „Oh...“, war alles, was er sagte. „Sie hatten einen Albtraum, Ivan“, begann Raivis zu erzählen, der die ganze Sache furchtbar aufregend zu finden schien. „Sie haben etwas von Ihren Kindern gesagt und von Blut und...“ „Raivis!“, jammerte Eduard. „Habe ich das?“, fragte Ivan langsam. „Nein, nein“, sagte Toris schnell und war froh, dass Eduard Raivis daran hinderte, ihm zu widersprechen. „Sie haben einen ganz normalen Albtraum gehabt. Sicher liegt es am Wetter, glauben Sie nicht auch? Da kommt man auf komische Gedanken.“ Ivan warf einen Blick aus dem Fenster. „Ja“, murmelte er abwesend. „Komische Gedanken.“ Erneut donnerte es und Raivis duckte sich hinter Eduard. „Hast du Angst vor dem Gewitter draußen, Raivis?“, fragte Ivan. „Oh ja“, sagte Raivis und lächelte zittrig. „Aber Eduard lässt mich nicht in sein Bett.“ „Ach, nicht?“, fragte Ivan mit großen Augen. „Raivis...“, wimmerte Eduard, und Raivis fragte sich besorgt, was er jetzt schon wieder falsch gemacht hatte. „Das ist doch kein Problem, Raivis“, verkündete Ivan und hob seine Bettdecke an. „Komm zu mir. Da ist genug Platz.“ Verwirrt sah Raivis ihn an, begann noch heftiger zu zittern und kletterte ungeschickt auf das Bett. „Raivis...!“ Ivan schlang einen Arm um ihn und fuhr ihm durch die Haare. „Du bist niedlich, kleiner Raivis“, sagte er zufrieden. Eduard und Toris tauschten verzweifelte Blicke, doch sie sahen keine Möglichkeit, Raivis jetzt noch zu retten. „Also...“, begann Eduard zitternd, „w-wir werden dann mal ins Bett gehen.“ „Bleibt doch hier“, erwiderte Ivan überrascht. „Mein Bett ist groß genug.“ „Aber... wir können doch nicht alle...“, sagte Toris und verzog das Gesicht. „Wieso denn nicht?“ „Weil...“, begann Eduard, doch er vergaß, was er hatte sagen wollen. Ivan setzte seinen finstersten Blick auf und lachte ein düsteres kolkolkol tief aus seiner Kehle. „A-also gut“, sagte Toris hastig und setzte sich auf die Bettkante. „Wir können es ja versuchen.“ „Sehr gut!“, sagte Ivan, jetzt wieder über das ganze Gesicht freundlich lächelnd. „Es wird bestimmt warm zu viert.“ „...zu viert“, wiederholte Eduard fassungslos, als er sich neben Toris quetschte und einen Zipfel der Decke zu sich heran zog. „Gute Nacht“, sagte Ivan, dessen Füße unten aus der Decke herausschauten, was ihm aber offenbar nichts ausmachte. Er hatte noch immer einen Arm um Raivis gelegt, der bei dem kolkolkol beinahe in Ohnmacht gefallen war, sich aber mittlerweile wieder halbwegs erholt hatte. Toris bemühte sich, es sich bequem zu machen – so bequem wie möglich mit Eduards Ellbogen in seinen Rippen und Ivans Schulter unter seinem Kopf. „Gute Nacht“, sagte Eduard zitternd und blies die Kerze aus. „Möchten Sie noch etwas Tee?“ „Gerne, Toris“, erwiderte Ivan fröhlich und sah von seinem überfüllten Schreibtisch auf. Toris lächelte und stellte den Tee ab. Sorgfältig goss er eine Tasse voll und rührte eineinhalb Löffel Konfitüre hinein, Erdbeerkonfitüre. Wenn es welche aus Sonnenblumen gäbe, wäre das Ivans Lieblingssorte. So war es Erdbeere. Niemand hatte je von ihm verlangt, so aufmerksam zu sein. Nicht einmal Ivan hatte ihn je dazu aufgefordert, doch Toris tat es trotzdem. Alle anderen taten es als Schicksal ab. Eduard und Raivis hatten Mitleid mit ihm. Feliks war sehr ernst zu ihm gekommen und hatte erklärt, was passiert sein musste: Berwald musste Stockholm zu Toris' Hauptstadt gemacht haben. Oder so. Aber Toris wusste, dass es damit etwas anderes auf sich hatte. Er hatte nicht aufgepasst. Die Fliesen in der Küche hatten sie heute morgen erst noch gewischt. Toris hätte daran denken müssen, weil seine Knie noch immer wehtaten, doch er hatte nicht daran gedacht. Es war ihm erst eingefallen, als er schon ausgerutscht war und die frisch geschälten Kartoffeln durch die ganze Küche geschleudert hatte, und da war es natürlich zu spät gewesen. „Was für eine Schande.“ Toris rang nach Luft. Er hatte halb gehofft, die Kartoffeln wieder aufsammeln zu können (obwohl das unhygienisch war, wie Eduard sagen würde), aber das stand jetzt außer Frage. Jetzt, da Ivan in der Küche stand und die Bescherung mit großen Augen betrachtete. „Die schönen Kartoffeln“, sagte er noch einmal und schüttelte den Kopf. „Es t-tut mir so Leid“, brachte Toris hervor und rappelte sich vom Boden auf, achtete allerdings darauf, den Kopf gesenkt zu halten. Bloß nichts riskieren. „Es sollte dir auch Leid tun, Toris.“ „Es war ein Versehen... es w-wird nicht wieder vorkommen...“ „Das hoffe ich, Toris“, erwiderte Ivan, seufzte und holte tief Luft. „Raivis, Eduard!“ Die beiden standen nur Sekunden später hinter ihm. Vielleicht hatten sie die ganze Sache belauscht, sich aber nicht eingemischt. Das sah ihnen ähnlich, dachte Toris. „Hebt die Kartoffeln auf“, wies Ivan sie an und sie huschten an ihm vorbei und gehorchten. „Und Toris?“ „Ja?“, fragte Toris leicht zitternd und fragte sich, was jetzt kommen würde. Die Wunden auf seinem Rücken vom letzten Mal waren noch kaum verheilt. Ivan lächelte ihn breit an. „Es steht noch Reis im Vorratsschrank. Du kannst doch Reis kochen, oder?“ Bevor Toris etwas darauf erwidern konnte, drehte er sich um und ging. Langsam knöpfte Toris das Hemd auf, das er beim Mittagessen mit Soße bekleckert hatte. Wie ungeschickt von ihm. Er seufzte erleichtert bei dem Gedanken daran, dass Ivan nichts bemerkt hatte. Man wusste ja nie... Eben dieser beobachtete ihn durch das Schlüsselloch seines Zimmers. Er sah den dünnen Stoff von Toris' Schultern rutschen und erhaschte einen Blick auf die rötlich verfärbten Narben, bevor Toris nach einem neuen Hemd griff und es überzog. Ivan bereute nicht, was er Toris angetan hatte, das wäre zu viel gesagt gewesen. Doch wenn er gekonnt hätte, hätte er diese Narben beseitigt. Sie waren hässlich. Sie entstellten Toris, der doch sonst so hübsch war. Auf eine andere Art als Natalia, auf seine eigene Art. Er hatte für seine Fehler bezahlt, für die kleinen weniger, für die großen mehr. Er hatte gelernt. Es war nicht nötig, dass er die Narben für den Rest seines Lebens mit sich herum trug. Ivan hätte etwas daran geändert, wenn er nur gekonnt hätte. „Schau nur, Toris.“ Ivan war so groß, dass er das Fenster fast ganz ausfüllte. Toris räusperte sich. „Könnten Sie vielleicht ein Stück beiseite treten, damit ich es sehen kann?“ „Findest du mich etwa zu dick?“, fragte Ivan auf diese kalte Art. „N-nein, Sie sind nicht dick! S-sie haben... große Knochen.“ „Ganz genau“, sagte Ivan fröhlich und trat ein Stück beiseite. Toris atmete auf und warf einen Blick hinaus. Durch die Schneelandschaft draußen fuhr ein einsamer Zug. „Das ist der Zug nach Sibirien“, erklärte Ivan und lächelte gedankenverloren. „Ich verstehe“, erwiderte Toris, obwohl er noch nicht viel verstand. „Ich möchte, dass er eine Panne hat.“ „Was? Wieso denn das?“ Ivan drehte den Kopf und lächelte ihn an. „Weil er die Luft dreckig macht, Toris. Wieso denn sonst?“ „Oh... natürlich. Das ist ein Grund.“ „Ich weiß nicht, wie ich sie ansprechen soll“, murmelte Toris und errötete heftig. „Wieso solltest du das auch wollen?“, fragte Eduard misstrauisch. „Genau“, sagte Raivis und zitterte. „Sie ist gruslig. Sprich sie besser nicht an, Toris.“ „Was habt ihr denn nur? Sie ist doch niedlich.“ „Sie ist Ivans Schwester“, betonte Eduard. „Das allein würde schon als Grund reichen, sich ihr nicht auf zehn Schritte Entfernung zu nähern.“ „Aber sie sieht doch ganz nett aus.“ „Nett? Bist du dir ganz sicher, dass du dieses Wort verwenden willst?“ „Ja.“ Raivis und Eduard warfen sich einen kurzen Blick zu und sahen schnell wieder weg. „Ihr seid mir keine große Hilfe“, sagte Toris und lachte nervös. „Nein.“ „Wenn mir doch nur jemand sagen könnte, wie ich sie ansprechen soll...“ „Wen willst du ansprechen, Toris?“, erklang Ivans Stimme hinter ihnen und die drei Brüder zuckten zusammen. Bevor Toris irgendwie das Thema wechseln konnte, hatte Raivis das getan, was er am Besten konnte. „Er spricht von Ihrer Schwester, Ivan. Natalia. Toris steht auf sie.“ „Raivis...“, jammerte Toris leise. „Natalia?“, wiederholte Ivan mit großen Augen. „Ist dir klar, was du da tust, Toris? Sie... sie ist ein Monster.“ Toris errötete heftig und senkte den Kopf. „Aber wenn du sie ansprechen willst...“ Überrascht hob er den Bick. Ivan lächelte ihn an. „...dann tust du es am Besten auf Weißrussisch.“ „Toris?“ Er war noch nicht lange wieder hier, aber seine erste Tracht Prügel hatte er schon einstecken müssen. Gestern Abend. Dennoch bemühte sich Toris, sich nichts anmerken zu lassen, als er sich umdrehte. Ivan lächelte ihn unschuldig an. „Würdest du bitte meine Handtücher von der Wäscheleine holen und in mein Bad legen, Toris?“ „Natürlich“, murmelte Toris, doch glücklicherweise fiel ihm noch etwas ein, bevor Ivan sich wieder in sein Zimmer zurückzog. „Ivan?“ „Ja?“ „Draußen auf der Wäscheleine hängen eine ganze Menge Handtücher. Sind das alles Ihre?“ Ivan sah ihn erstaunt an und lachte dann herzlich auf. „Oh, nein, nein, Toris. Aber meine Handtücher sind nicht schwer zu finden.“ „Ach nein?“ „Nein“, antwortete Ivan mit leuchtenden Augen. „Es sind die mit den Sonnenblumen darauf.“ „Eduard?“, fragte Ivan. Eduard zuckte so heftig zusammen, dass seine Brille verrutschte, und schob sie hastig wieder gerade. Er wurde nicht oft angesprochen. Meistens wurde er eher übersehen. „Ja?“ „Wie heißt dieser Stern da?“, fragte Ivan interessiert und deutete aus dem Fenster. Stirnrunzelnd folgte Eduards Blick seinem Finger. „Sie meinen den ganz hellen dort hinten?“ „Ja.“ „Das ist der Polarstern.“ „Und dieser da?“, fragte Ivan und deutete willkürlich auf einen anderen Stern. „Puh... verzeihen Sie bitte, aber das weiß ich auch nicht“, erwiderte Eduard unsicher. „Gut“, sagte Ivan zur allgemeinen Überraschung und nickte. „Dann nenne ich ihn Vanya.“ „Aber Sie können den Stern doch nicht einfach nennen, wie Sie wollen“, sagte Eduard und schüttelte den Kopf. „Da könnte ja jeder kommen.“ „Kolkolkolkolkol...“ „A-aber für Sie kann man natürlich eine Ausnahme machen!“ „Das ist gut“, sagte Ivan fröhlich und alle Anwesenden atmeten auf. Eduard schlug sein Buch zu. „Ich gehe ins Bett“, verkündete er und sah aus, als sei er mit seinen Nerven für diesen Abend am Ende. „Ich komme mit“, sagte Raivis schnell. „Gute Nacht, Ivan.“ „Schlaft gut, ihr beiden“, erwiderte Ivan und lächelte. Nickend verließen Eduard und Raivis den Raum. Ivan saß noch immer am Fenster und sah hinaus. „Willst du nicht ins Bett gehen, Toris?“, fragte er nach einer Weile. Toris schlug sein Buch zu, stand auf und trat neben ihn. „Ich bleibe noch ein wenig“, sagte er und versuchte zu lächeln. „Die Sterne sind wunderschön, finden Sie nicht auch?“ „Oh ja“, bestätigte Ivan vergnügt und zog einen zweiten Stuhl neben seinen. „Setz dich doch zu mir, Toris.“ „Wenn Sie meinen“, erwiderte Toris und ließ sich unsicher auf dem Stuhl nieder. „Guck mal“, erklärte Ivan und deutet auf einen Stern. „Das da ist Vanya.“ „Ja, das habe ich vorhin schon gehört. Vanya ist ein hübscher Name.“ „Und das da ist Toris“, bestimmte Ivan und deutete auf einen anderen Stern. „Ach ja?“, fragte Toris überrascht. „Ja! Und dieser kleine Stern dort, der immer blinkt, als würde er zittern, heißt Raivis.“ Toris lächelte leicht. „Und der etwas größere daneben heißt Eduard.“ „Dieser Stern heißt Yekaterina, weil er immer da ist.“ „Dieser Stern da heißt Natalia, weil er schön ist.“ „Dieser heißt Yao, weil er eins mit mir werden wird.“ „Dieser heißt Feliks“, sagte Toris leise. „Dieser heißt Kiku, weil er ebenfalls eins mit mir werden wird.“ „Dieser heißt Alfr-“ Toris biss sich schmerzhaft auf die Lippe und erwartete eine Donnerwetter, doch Ivan schien ihn nicht einmal bemerkt zu haben und fuhr einfach fort. „Dieser heißt Gilbert, weil ich wünschte, Gilbert wäre auch so still und so weit entfernt.“ „Dieser heißt Feliciano, weil er ein Freund von Feliks ist.“ „Dieser heißt Ludwig, weil er wie alles andere eins mit mir werden wird.“ „Dieser heißt...“, murmelte Toris und bemerkte nicht, wie seine Lider schwer wurden. Sein Kopf sank gegen etwas warmes, weiches, und er wollte ihn nicht wieder heben. Er versuchte nicht, sich gegen den Schlaf zu wehren. Ivan sah auf ihn hinunter und lächelte. „Weißt du was, Toris?“, fragte er zufrieden. „Ich finde es gut, dass unsere Sterne so nahe beieinander liegen.“ Danach stand er vorsichtig auf, damit Toris nicht im Schlaf zur Seite kippte, hob ihn behutsam hoch und trug ihn die Treppe hinauf. Kapitel 2: Schach und Ponys --------------------------- (Hmm. FeliksToris hab ich doch am liebsten. Dass Feliks an einer oder zwei Stellen "Tak!" sagt, ist etwas, was mir auf Youtube bei polnischen Usern aufgefallen ist. Nur so als Anmerkung. Vorhang auf.) Die Sonne ging langsam am Horizont unter. Toris sah ihr zu, wie sie hinter den Bäumen versank. „Liet!“, erklang Feliks hellwache, durchdringende Stimme hinter ihm. „Reiten wir?“ „Es ist doch schon so spät“, erwiderte Toris und zog die Augenbrauen hoch. „Spät? Es ist doch erst halb zehn!“ Toris seufzte. „Ich bin ein wenig müde, Feliks. Können wir nicht einfach ein bisschen hier sitzen?“ „Ist das nicht irgendwie viel zu langweilig, Liet?“, schmollte Feliks, ließ sich aber neben ihm auf der hölzernen Terasse nieder. „Wieso? Es ist egal, was wir machen, Feliks. Hauptsache, wir sind zusammen.“ Feliks baumelte mit den Beinen. „Ich werde dir eine Geschichte erzählen, Liet“, verkündete er dann und Toris, der etwas ähnliches erwartet hatte, lächelte. „Also, sie geht so: Zwei Ponys gehen in eine Konditorei...“ „Liet?“, rief Feliks und betrachtete den Brief, der auf der Fußmatte lag. „Ja?“ „Komm mal.“ „Ich stehe noch unter der Dusche, Feliks. Ich komme gleich.“ Feliks griff nach dem Brief und betrachtete die Anschrift auf dem Umschlag. An seine Adresse, aber an Liets Namen adressiert. An seinen vollen Namen. Kam er von Eduard? Nein, der hätte eine E-mail geschrieben. Alfred? Hätte den Brief mit der Luftpost geschickt. Raivis? Konnte Raivis schon schreiben? „Liet? Kommst du?“ „Ich bin gleich fertig!“ Behutsam fuhren Feliks' Finger über die Buchstaben und urplötzlich erkannte er die Handschrift. Ihm wurde eiskalt. Hektisch riss er den Umschlag auf und zog das handbeschriebene Papier hervor. Der Brief war lang, doch er überflog nur die ersten Zeilen. Mein lieber Toris, ich vermisse dich... es ist so einsam ohne dich... willst du mich nicht besuchen kommen? Feliks biss sich auf die Lippe und riss den Brief in der Mitte durch, dann noch einmal und noch einmal, in immer kleinere Fetzen. Erst, als er nur noch winzige Schnipsel in den Händen hielt, atmete er auf. Er wusste genau, dass Toris nicht anders konnte, als Mitleid mit Ivan zu haben. Mit diesem Gedanken ging er in die Küche und ließ die Fetzen in den Mülleimer fallen. „Feliks?“ Erschrocken fuhr er herum, was Toris ebenfalls erschrecken ließ. Seine Haare waren noch feucht, seine Augen glänzten. „Wieso hast du mich gerufen?“, fragte er und lächelte. „Was ist denn los?“ „Gar nichts“, murmelte Feliks. „Überhaupt nichts.“ „Liet?“ „Hmmm“, machte Toris mit einer böse Vorahnung und zog sich das Kissen über den Kopf. „Machst du mir Pfannkuchen?“ „Was?“ „Du kannst doch Pfannkuchen machen“, sagte Feliks verschlafen und wandte ihm den Kopf zu. „Alfred hat's dir doch beigebracht, als du da warst.“ „Aber Feliks... es ist so früh...“ „Die Dinger isst man doch zum Frühstück, oder?“ Toris gähnte ausgiebig. „Ich bin so müde, Feliks. Vielleicht später.“ Feliks zog einen Schmollmund. „Das finde ich voll nicht okay, Liet! Wieso machst du mir keine Pfannkuchen? Magst du mich irgendwie nicht mehr?“ „Natürlich mag ich dich...“, sagte Toris müde, doch Feliks wich zurück und drückte sein Plüschtier als Schutzschild an sich. „Du magst mich total nicht mehr“, verkündete er missmutig. „Aber Feliks...“ „Pfannkuchen, Liet. Pfannkuchen.“ „Also gut, also gut!“, seufzte Toris und setzte sich auf. „Ich mache ja schon.“ Dabei hatte er nicht aufstehen wollen, aber nicht, weil er noch müde war. Er genoss es einfach zu sehr, neben Feliks zu liegen. Sie quetschten sich in die Bahn, zusammen mit anderen Einkäufern und Menschen, die vielleicht einen Stadtbummel unternahmen. Toris ergatterte einen Sitz in einem Abteil ganz hinten und Feliks ließ sich mitsamt der Einkaufstasche auf seinem Schoß nieder. Neben ihnen saßen zwei ältere Frauen und unterhielten sich. „Haben Sie das von dem Banküberfall gehört?“, fragte die eine die andere. „Schrecklich. Und von dieser Geiselnahme in, wo war das noch gleich?“ „Ja, alles ganz grauenvoll. Wieso gibt es nur so viel Böses in der Welt?“ „Genau das, genau das. Wo sind all die guten Menschen?“ „Entschuldigen Sie“, mischte Feliks sich ein und beugte sich grinsend vor. „Gucken Sie sich Liet hier an! Der ist zwar total kein Mensch, aber gut ist er auf jeden Fall!“ „Feliks...“, murmelte Toris und wünschte sich, vor Scham im Boden zu versinken, als die beiden Damen Feliks und ihn kritisch musterten. „Und die da habe ich“, sagte Feliks und deutete auf eine schon stark verblasste Narbe quer über seiner Brust. „Da hast du mich voll erwischt, als wir zusammen Schwertkampf geübt haben.“ „Das tut mir Leid“, sagte Toris und rutschte nervös hin und her. „Ach was, das ist doch ewig und drei Tage her“, winkte Feliks ab und zog sein T-shirt wieder zurecht. „Und was ist mit dir, Liet?“ „Wie, was ist mit mir?“ Ungeduldig schnalzte Feliks mit der Zunge. „Willst du mir nicht auch deine Narben zeigen?“ Toris senkte den Kopf. Nein, das wollte er nicht. „Narben sind was total aufregendes!“ „Jede Narbe ist ein Beweis dafür, dass jemand dir etwas Böses wollte“, murmelte Toris. Feliks schwieg einen Moment lang mit gerunzelter Stirn. „Aber du bist so lieb, Liet“, erklärte er dann nachdenklich. „Und du hast so viele Narben. Wieso will dir so oft jemand etwas Böses? Ausgerechnet dir?“ Ratlos zog Toris die Schultern hoch. „Wenn ich das wüsste, würde ich es dir sagen, Feliks.“ „Aber, Liet“, sagte Feliks, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, und legte einen Finger an sein Kinn. „Nicht alle Narben sind da, weil jemand dir was Böses wollte. Wie die, die du mir gemacht hast. Die war aus Versehen.“ „Richtig...“ „Hast du nicht vielleicht solche Narben, die du mir zeigen möchtest?“ Toris dachte nach, doch da war nichts. Feliks mochte Narben haben, die er „aufregend“ fand, doch er hatte keine. Alle seine Narben waren entstanden, um ihn zu verletzen. Seinen Willen zu brechen. Den Verursacher zu unterhalten. „Ich fürchte nicht, nein.“ Feliks legte den Kopf schief und kaute nachdenklich auf einer Haarsträhne, bevor sich sein Gesicht aufhellte. „Daran kann man ja was ändern, Liet!“ „Was? W-wie meinst du das?“ „Komm, lass uns rausgehen und Schwertkampf üben! Ich will eine Revanche für damals!“ „Oh, Feliks!“ Feliks zog das weiß-rote Haargummi zurecht, dass einen Teil seines Haars in einem kleinen Zopf zusammenfasste, und wartete. Der Zopf stand als Pinsel seitlich von seinem Kopf ab. Es sah drollig aus, fand er. Feliks mochte es, drollig auszusehen. „Verdammt, Liet! Wo bleibst du denn?“ Auf der Straße war weit und breit niemand zu sehen. Feliks schob die Unterlippe vor und baumelte mit den Beinen. Wenn er nun nicht kam? Wenn etwas dazwischen gekommen war? Wieso musste er eigentlich immer warten? All die Jahre hatte er gewartet, während Toris von hierhin nach dorthin gereist war oder verschleppt worden war. Er hatte zu Hause gesessen und gewartet. Eine einzelne Gestalt stieg die Treppe vom Bahngleis her nach oben. Aufgeregt ließ Feliks sich von der niedrigen Mauer plumpsen und rannte auf den Neuankömmling zu. „Liet! Da bist du ja endlich!“ Toris zuckte zusammen und ließ den Koffer los, der auf der letzten Stufe umkippte und die Treppe wieder hinunter krachte. Feliks ließ sich davon nicht beeindrucken. Er war zu sehr mit seiner Begrüßungs-Umarmung beschäftigt. „Feliks... ich wusste nicht, dass du mich abholen wolltest...“ „Klar wollte ich!“, sagte Feliks zufrieden, bevor er Toris los ließ. „Ich kann schließlich nicht ewig warten. Aber jetzt gehen wir zu mir!“ „Darf ich vorher meinen Koffer holen?“, fragte Toris ergeben. „Sicher darfst du“, erlaubte Feliks ihm großzügig. „Aber beeil dich, sonst wird dein Willkommens-Kuchen kalt, und das wäre total uncool!“ „TAAAAK!“ „Feliks...“ „Nimm das, und das!“ „...Feliks!“ „Und das! Ich habe gewonnen, und deine Hauptstadt ist Warschau.“ „Feliks!“, rief Toris und betrachtete das Durcheinander von Spielkarten auf dem Tisch zwischen ihnen. „Du kannst keine Acht auf zwei Buben legen!“ „Das hier ist mein Haus, da gelten meine Regeln!“, verkündete Feliks zufrieden und schlug die Beine übereinander. „Du hast verloren, aber du darfst die Karten aufheben.“ Toris seufzte und tat, wie ihm geheißen. Langsam fand er sich damit ab, dass man mit Feliks nur nach dessen Regeln spielen konnte (und diese liefen alle darauf hinaus, dass Feliks gewinnen musste). Aber immerhin war alles besser, als allein zu Hause zu sitzen... noch dazu bei diesem Wetter. „So ein blöder Regen“, sagte Feliks und krabbelte zum Fenster hinüber. „Da werden die Ponys ja total nass.“ „Ich habe nichts gegen schlechtes Wetter“, erwiderte Toris lächelnd und stapelte die Karten aufeinander. „Du weißt doch, die Felder brauchen Regen. Und man kann sich ja auch drinnen beschäftigen, nicht wahr?“ „Allerdings! Spielen wir noch eine Runde, Liet?“ „Von mir aus.“ „Aber nur, wenn ich gewinne!“ „Das ist eigentlich nicht im Sinne des Erfinders, Feliks...“ „Ich fange an!“ Es waren die kleinen Momente mit Toris, die ihm im Gedächtnis blieben. Der Regen, der aus seinen Haaren in sein lachendes Gesicht tropfte. Sein Niesen nach dem Aufwachen. Sein verwirrter Blick, als Feliks seine Dame beim Schach schlug (er hatte seinen Springer zum Pony digitieren lassen). Lauter kleine Situationen, die Feliks sich ins Gedächtnis rief, wenn Toris wieder einmal weit weg war und vielleicht genauso einsam wie er. „Es ist eine Schande“, sagte Toris, als Feliks den angebrannten Kuchen aus dem Ofen zog. Sie hatten nur ein wenig Schach gespielt und darüber vergessen, ihn rechtzeitig heraus zu holen. „Es ist eine Schande“, sagte Toris leise und strich beruhigend über Feliks' Rücken, als er um ein Pony weinte, sein liebstes, das als sehr altes Tier gestorben war. „Es ist eine Schande.“ „Liet“, sagte Feliks und Toris wurde sehr kalt. Etwas lag in Feliks' Blick, und es war nicht die mädchenhafte Schüchternheit, die er zur Genüge kannte. Es war Unsicherheit. Verständnislosigkeit. „Ich hab dich gesehen, Liet.“ „Was meinst du?“, fragte Toris leise, obwohl er es nicht wissen wollte. „Als du gebadet hast“, fuhr Feliks leise fort und tastete scheinbar unwillkürlich nach seinem Rücken. „Ach“, sagte Toris nur. Ängstlich sah Feliks zu ihm auf und biss auf seiner Lippe herum. Er fürchtete sich, dachte Toris, doch diesmal konnte er ihn nicht trösten. Er wusste sich selbst nicht zu trösten. „Geht das wieder weg?“ „Die Narben? Nein, die werden bleiben.“ „Für immer? Auch hundert Jahre lang?“ „Bis in alle Ewigkeit.“ Feliks nickte langsam und sah ihn nicht an. „Weißt du was, Liet?“, murmelte er. „Was?“ „Es ist eine Schande.“ „Ja“, sagte Toris sehr leise. „Es ist eine Schande.“ „Also ist es... tot?“ Feliks nickte nur. „Es war alt“, sagte er und wandte den Blick von dem viel zu leeren Stall ab, in dem gestern noch das sanfte, müde Pony mit dem weißen Maul gestanden hatte. „Wahrscheinlich war es besser so. Jetzt muss es nicht mehr leiden.“ Einen Moment lang schwieg Toris teilnahmsvoll. „Und jetzt?“, fragte er dann. Langsam kratzte Feliks sich am Kopf. „Die Schwarze kriegt ein Junges, glaub ich“, murmelte er. „Sie hier?“, fragte Toris und deutete auf das kleine, schwarze Pony in der Box nebenan. „Ja. Sie wird ein Fohlen kriegen.“ „Das ist doch schön“, sagte Toris und lächelte leicht. „Ja“, murmelte Feliks und strich über das Holz der Tür. „Das macht es einfacher.“ Schon wieder saßen sie im Zug, doch diesmal war kaum jemand außer ihnen im Abteil. Nur ein junger Mann, der sich im Kragen seiner Jacke vergrub und die Beine weit über den Gang streckte. „Also, auf geht’s, Liet“, sagte Feliks und rieb sich die Hände. „Bist du bereit?“ „Ich weiß nicht“, erwiderte Toris ausweichend. „Diese Konferenzen machen mich immer so müde...“ „Aber sie sind voll nötig, das weißt du doch. Sagst du immer.“ Toris zupfte an seiner Krawatte, die ihn unangenehm einschnürte. „Ja, schon.“ Feliks unterdrückte ein Gähnen und ließ den Kopf gegen die Schulter seines Freundes sinken. „Ist verdammt spät geworden gestern“, murmelte er. „Du warst es, der unbedingt noch Titanic zu Ende sehen wollte.“ „Ich musste doch aber noch gucken, ob der Typ am Ende überlebt! Ich habe voll mitgefiebert, Liet!“ Toris lachte leise. „Wie oft haben wir diesen Film schon gesehen?“ „Weiß nicht“, nuschelte Feliks und schloss die Augen. Der Zug fuhr weiter leicht ruckelnd über die Schienen. Feliks' Kopf rollte an Toris' Schulter hin und her. Es war nicht schlecht, hier zu sitzen, dachte Toris. Er wusste, dass sie beide zu dieser Konferenz gehen mussten, aber trotzdem... es wäre schöner, hier sitzen zu bleiben. Was, wenn die Bahn plötzlich eine Panne hätte und stehen bleiben würde... was, wenn... Ohne, dass er es bemerkte, fielen seine Augen zu und sein Kopf sank auf den von Feliks. „Liet, Liet!“ Seine Stimme schallte quer über den Platz, doch Toris schien nichts zu hören. Er unterhielt sich gerade mit zwei Polizisten, die ihn reichlich verwirrt ansahen. „Liet?“, fragte Feliks, trat näher und schlug ihm auf die Schulter, was nicht ganz einfach war, da Toris ein gutes Stück größer war als er. „Was hast du ausgefressen?“ Toris zuckte zusammen und sah sich um. „Was... oh, Feliks, du bist es.“ Ein Ausdruck der Erleichterung zog über sein Gesicht. „Ich habe dich gesucht...“ „Wieso warst du nicht an unserem Treffpunkt?“, fragte Feliks und runzelte die Stirn. „Wir wollten uns doch vor dem Park treffen, weißt du nicht mehr?“ „Natürlich weiß ich es noch“, erwiderte Toris, während die Polizisten ihn noch immer verwirrt ansahen. „Ich kenne mich nur nicht so gut hier aus, deshalb wollte ich mich durchfragen. Aber ich bin schon so lange nicht mehr hier gewesen, und meine Sprachkenntnisse...“ Feliks kicherte. „Was hast du sie denn gefragt?“ „Etwas wie... Sie können erzählen, wo Grün?“ Als Feliks in Gelächter ausbrach (auch die Polizisten schmunzelten), errötete Toris. „Ich habe mein Bestes gegeben“, verteidigte er sich schwach. „Klar hast du, Liet“, bestätigte Feliks und nahm seinen Arm. „Jetzt komm mit! Ich zeigen dir schon, wo Grün!“ „Steh auf, Liet!“, rief Feliks und zerrte an seiner Decke. „Mach schon!“ Toris gab ein verschlafenes Grunzen von sich. Er war ein Langschläfer, wenn er es sich leisten konnte, und normalerweise war Feliks es auch. Normalerweise. „Komm schon, Liet! Wir wollen doch im Baumhaus frühstücken!“ Ein leichtes Lächeln zog über Toris' Lippen. Die ganze letzte Woche lang hatten Feliks und er an dem Haus in einem Baum in Feliks' Garten gebaut, eigentlich kaum mehr als eine Plattform mit einer darüber gespannten Plane. Erst gestern waren sie mit den letzten Feinheiten fertig geworden, und Feliks hatte sofort den Entschluss gefasst, am folgenden Tag draußen zu frühstücken. Nun, das Wetter war jedenfalls nicht das schlechteste dafür. „Jetzt steh auf, Liet!“, erklang Feliks' ungeduldige Stimme, und bevor Toris ihn daran hindern konnte, hatte er ihm die Decke weggerissen. „Sonst müssen wir schon zu Mittag essen, bevor du wach bist!“ „Schon gut“, murmelte Toris und rieb sich die Augen. „Ich mache ja schon.“ Eine Viertelstunde später kam er aus dem Bad und gähnte, während Feliks schon an der Tür stand, einen voll gepackten Picknickkorb in der Hand. Er plauderte die ganze Zeit, während sie die Treppen hinunter stiegen und durch die Tür in den Garten traten. Als sein Blick allerdings auf den Baum fiel, verstummte er. Die Plane, die sie gestern noch so gut festgebunden hatten, war herunter gerissen. Die Trittbretter, die als Leiter an den Baumstamm hochführten, waren noch da, doch die Plattform selbst hatte sich halb gelöst und hing nur noch an ein paar Nägeln. Scheinbar hatte ihre Konstruktion dem Wind nicht standgehalten. Feliks ließ den Picknickkorb fallen und begann ausgiebig zu fluchen. Toris sagte nichts, stand nur da und spürte eine wohlbekannte Enttäuschung in sich aufsteigen. Er hatte sich schon zu oft auf etwas gefreut und es im letzten Moment zerstört werden sehen. „Wir können im Gras sitzen, Feliks“, sagte er nach einer Weile, nachdem sein Freund sich halbwegs beruhigt hatte. Feliks sah ihn missmutig an, doch dann nickte er. Also machten sie an diesem Morgen ein Picknick im Garten. Es war ein wunderschöner Tag und Toris nahm ein kleines Stück heruntergefallenes Holz und hob es als Andenken auf. Noch Jahre später brachte er es nicht übers Herz, sich davon zu trennen, obwohl er es nur ungern ansah. „Schau nur, Feliks“, sagte Toris leise und streckte die Hand nach oben. „Der Polarstern.“ „Der was?“, fragte Feliks, der auf einem Grashalm kaute. „Der Polarstern.“ „Was du alles weißt, Liet“, sagte Feliks und sah nach oben, wo am nachtschwarzen Himmel unzählige Sterne leuchteten. „Haben die alle Namen?“ „Ich weiß nicht. Da müsstest du Eduard fragen.“ „Och nee“, sagte Feliks und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Ich bin lieber mit dir hier, Liet.“ Toris lächelte auf diese unsichere Art, als wisse er nicht, ob Feliks das ernst meinte. Dabei meinte dieser es sehr ernst. „Bist du auch so müde wie ich, Liet?“ „Oh ja, ziemlich. Sollen wir bald gehen?“ Feliks kaute auf dem Grashalm und dachte darüber nach, als er auf der kühlen Wiese lag, mit Toris neben ihm. Seinem besten Freund. „Wieso bleiben wir nicht einfach hier liegen?“ „Hier?“ Toris lachte nervös. „Wir werden frieren.“ „Wenn es zu kalt wird, können wir immer noch nach Hause gehen“, murmelte Feliks und legte den Kopf an Toris' Schulter. „Gute Nacht, Liet.“ Er hatte halb erwartet, dass Toris noch etwas sagen würde, doch er tat es nicht. Stattdessen wurde sein Atem sehr ruhig und seine Augen, die sich kaum von den Sternen losreißen konnten, fielen langsam zu. Er war noch vor Feliks eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)