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Jumays Kinder

Part 1: Kinder der Erde - Land des Anfangs
von

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Prolog

Die Sonne stand bereits tief über den Bergen und färbte ihre kaum noch schneebedeckten Gipfel zart-rot, so dass sie sich nur wenig von dem orangenen Himmel des Sonnenunterganges abhoben. Ein paar hellere Wolken zogen im sanften Abendwind über ihn hinweg, versprachen für den nächsten Tag passables Wetter, zumindest im Flachland hinter dem Gebirge.

Vögel kreisten empört krächzend über den Köpfen der beiden Männer, die den verhältnismäßig gut begehbaren Pass emporstiegen. Zwar kam es selten vor, dass die Tiere auf die seltsamen Zweibeiner trafen, jedoch störten sie sich normalerweise nicht an ihnen... doch der eine schien ein außergewöhnliches Exemplar davon zu sein.

„Gib mir etwas ab! Bitte!“

Der Fast-Mann jammerte, während er ermüdet hinter dem Älteren her rannte. Den ganzen Tag gehen... das war nichts für ihn. Warum musste das auch sein vierzehnter Sommer sein? Er sehnte sich jetzt schon nach seinen Jungen-Tagen, als er ohne selbst einen Finger dafür krumm machen zu müssen vom Fleisch essen konnte, das sein Vater ihm erlegt und seine Mutter für ihn zubereitet hatte. Jetzt musste er für sich selbst sorgen... das war so mühsam...

„Rhik! Warte doch!“

Der Ältere zischte nur und ging unbarmherzig weiter. In seiner Rückentrage war Nahrung, die seine rothaarige Frau ihm mitgegeben hatte... Nahrung, die er nicht hatte. Was es wohl wahr?

Vielleicht Impala... er liebte Impala.

„Bitte... lass uns halten, ich... ah!“

Er stolperte und fiel in den Dreck, so dass der Mann nun endgültig gezwungen war, anzuhalten. Er schnaubte empört, ehe er zurück kam und den Jungen mit der stumpfen Seite seines Speers anstieß.

„Du bist so erbärmlich!“, warf er ihm vor, „Das ist eine heilige Tradition und du benimmst dich wie ein Kleinkind! Selbst wenn ich wollte, könnte ich dir nichts abgeben, das weißt du!“

Er stieß fester zu.

„Steh auf! Eigentlich dürfte ich nicht einmal mit dir sprechen!“

Der Jüngere tat schmollend, wie ihm geheißen. Er fand das nicht fair... Tradition hier, heilig da... das war auch nichts für ihn. Er wollte wieder ein Kind sein! Erwachsen werden fand er zu anstrengend... wenn man erwachsen war, war man bald tot.

„Aber es sieht doch niemand!“, wehrte er sich so gegen die Worte von Rhik, obwohl er dazu nicht im Ansatz das Recht hatte, „Hast du Impala?“

Darauf fing er sich einen Schlag ins Gesicht, der ihn taumeln ließ. Er hatte ihn absolut verdient.

Der Mann spuckte verächtlich auf den Boden.

„Wenn dein Vater nicht so ein guter Mann wäre, ich würde dich auf der Stelle wieder mit ins Lager nehmen! Eine Schande bist du, die Götter sehen alles, wie kannst du nur so über sie spotten?! Wie kannst du es wagen, sie hintergehen zu wollen?! Erlege endlich diesen verdammten Berglöwen, dann hast du es doch hinter dir!“

Vorerst. Sein Gegenüber verzog das Gesicht, sah sich künstlich um und zuckte dann mit den Schultern.

„Ich kann keinen finden.“

Einmal davon abgesehen, dass der Gute das heiligste Tier ihres Stammes gerade „verdammt“ genannt hatte, er verspottete die Götter doch ebenso wie er. Fand er zumindest.

Er fing sich noch eine.

„Natürlich nicht! Du musst ja auch...“

Er verstummte.

Der Fast-Mann war ungeübt in der Jagd und in der Steppe aufgewachsen, er tat sich schwer daran, die Geräusche der Berge zu deuten. Er hob eine Braue.

„Ist das einer?“, er hielt seine Stimme gedämpft und es verwunderte Rhik beinahe, dass er seinen eigenen Speer nun bereit machte. Doch das war jetzt nebensächlich...

Er hob seinen Kopf etwas und roch. Menschliche Nasen waren nicht besonders gut, aber nach so vielen Malen, bei denen er Jungen begleitet hatte, wenn sie Männer wurden, bildete er sich ein, den Geruch der großen Katze zu kennen. Doch er lag nicht in der Luft...
 

Das geschockte Gesicht des Jungen riss ihn aus seiner Konzentration, die ihn selbst nur vom wesentlichen abgelenkt hatte – das war schon immer sein größter Fehler gewesen.

Als er sich umdrehte erblickte er auf dem höchsten Punkt des Passes etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Sicherlich nicht...

Er sah direkt in die Augen zweier fremder Männer, jünger als er, aber älter als sein Begleiter.

Nicht nur an der Richtung, aus der sie zu kommen schienen, sondern auch aus den Materialien, aus denen ihre seltsamen Waffen bestanden, erkannte er, dass sie nicht aus seiner Steppe stammten... sie kamen von hinter dem Gebirge.
 

Er schnappte nach Luft.

Bis in das nächste Flachland war der Weg noch weit. Es war das Land der Menschen, die den Himmel mit den Händen fassen konnten, so sagte man, den Kalenao, die niemals auf die Nomadenstämme treffen durften. Sie lebten weit voneinander entfernt, ihre Lebensräume berührten sich nicht... und trotzdem standen zwei von ihnen vor dem Jäger.

Sie schienen nicht weniger verwundert zu sein wie er, als sie begannen, in ihrer seltsamen Sprache miteinander zu reden, doch beunruhigt waren sie wohl nicht. Spätestens als sie ihm entgegen kamen, war ihm das klar.

Sie bedachten die Gefährten amüsierter Blicke als sie einfach weiter gingen in Richtung der großen Steppe, aus der Erstere stammten. Sie war das heilige Land ihrer Ahnen. Sie hatte ihre Gesetze.

„Hey!“

Rhik rannte ihnen nach und die beiden Fremden stoppten glucksend. Der Mann war außer sich.

„Kennt ihr beiden Vögel nicht das Verbot?! Ihr dürft nicht weiter gehen! Ihr seid bereits viel zu weit!“

Sie warfen sich untereinander dumme Blicke zu. Dann sprach der Ältere.

„Cavejo Liret... dara. Ija coret dara?“

Der Jüngere kicherte, dann ergänzter er.

„Zratec Vath tera harc!“

Der Jäger hob irritiert eine Braue. Was... taten die da? Die scherzten doch nicht etwa mit ihm?

Er klopfte erbost mit dem stumpfen Ende seines Speers einmal auf den steinigen Boden.

„Redet anständig mit mir! Ihr sollte Respekt haben vor den Bewohnern des fremden Landes!“

Sein Tonfall war unmissverständlich. Der ältere Fremde senkte die Brauen.

„Kavau Tév tera harc?!“

Er schüttelte seine eigenartige Waffe. Sie bestand aus irgendwelchen Knochen, die Rhik keinem ihm bekannten Tier zuordnen konnte, doch die Geste war recht eindeutig.

Der fremde Begleiter lachte wieder dümmlich, seine seltsamen Worte, die darauf folgten, klangen jedoch dämonisch.

„Kracca Liret Vath! Kracca!“

Beide grinsten und noch ehe der ältere Mann hätte reagieren können, zerschnitt ein grausamer Schmerz sein Bewusstsein.
 


 

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Yai. Willkommen bei KdE, dem Land der unbegrzenten Grausamkeiten. *drop*

Ja, ich freue mich über die Aufmerksamkeit. Impalas sind so Antilopen-Viehzeug... ja. Nächstes Kappi in zwei (!) Wochen.

Tradition

Der Junge war erschöpft, als er das Lager erreichte. Viele Blicke lagen auf ihm, als er sich mit letzter Kraft zum Zelt seines Häuptlings schleppte. Alle, die konnten, folgten ihm zu letzterem. Ein Raunen ging durch die Menge, als sie den Ankömmling länger betrachtet hatte und er zögerte kurz, das Oberhaupt seines Stammes zu rufen, denn er würde ihn durchschauen. Während die Frauen wegen seiner zahlreichen Schürfwunden tuschelten, würde er mit seinen scharfen Augen sofort merken, dass er bloß mehrmals gestolpert und unglücklich gefallen war. Von seinen Prellungen und Stauchungen musste er da gar nicht erst erzählen.

Er schluckte und machte die Felltür bei Seite.
 

Sein Häuptling war überrascht.

„Du bist schon wieder da?“, wunderte er sich, während er irgendetwas an seinem kunstvoll verzierten Speer machte, „Nach so kurzer Zeit? Das hätte ich dir nicht zugetraut.“

Seine jüngere Schwester sah skeptisch zu dem Nicht-Mann auf. Man sah ihr an, dass ihr etwas auf der Zunge lag, doch sie wagte nicht, die beiden zu unterbrechen. Dazu hatte sie kein Recht.

„Wo hast du Rhik gelassen?“

Der Ältere legte seinen Speer beiseite und erhob sich. Er schien guter Dinge zu sein... und er würde ihn sehr bitter enttäuschen müssen. Ihm schauderte es.

„Moconi, es... es ist furchtbar!“

Er ließ sich vorsorglich dramatisch schluchzend vor ihm auf die Knie fallen und wagte es gar nicht, dem Anderen ins Gesicht zu sehen. Das würde ihm definitiv nicht gefallen...

Der Häuptling hustete unterdessen verwirrt, den empörten Blick der kleinen Schwester ignorierend.

Er erinnerte sich, dass er schon immer ein seltsamer Kerl gewesen war... aber was bitte war das?!

„Du... benimmst dich wie ein kleines Mädchen, dabei solltest du jetzt ein Mann sein! Steh auf!“

Besonders respekteinflößend war er nicht, aber für diesen Spinner reichte es allemal. Und selbst wenn er ihn nicht ernst nahm, er musste auf ihn hören.

Stattdessen sah er bloß verheult zu ihm.

„Rhik...“, setzte er zur Erklärung an, „Rhik ist tot! Zerfetzt haben sie ihn!“

Die junge Frau schlug sich erschrocken beide Hände vor den Mund. Moment, tot? Rhik war so ein erfahrener Jäger, niemand kannte sich in den Bergen so gut aus wie er, warum war er... tot?

Moconi schnappte einen Moment unweigerlich nach Luft. Sie wusste, dass ihr Bruder sich nun ziemlich zusammenreißen musste, damit er nicht selbst die Fassung verlor. Er war ein noch sehr junger Mann und hatte sein Amt erst seit kurzer Zeit inne...

„Sie?“, fragte er, „Wer, sie?“

Der Jüngere heulte weiter.

„Kalenao! Zwei Stück waren es, sie waren übermächtig, ich... ich konnte nichts tun!“

Geflüchtet war er, quer über den steilen Abhang, wie eine Bergziege war er geklettert... Zumindest im Wegrennen hatte er Talent. Das konnte auch sehr nützlich sein, hatte er gelernt.

Er bemerkte durch seinen Tränenschleier nicht den Blick, den die Geschwister nun untereinander austauschten.

„Bist... du dir da sicher? Wie kommst du darauf?!“

Das klang doch alles sehr abenteuerlich, wie kam der denn bitte darauf, dass er Kalenao gesehen hatte? Wahrscheinlich hatte er den armen Kerl aus Versehen eine Schlucht herunter geschubst oder so...

„Die haben gezaubert! Ich habe es gesehen, mit eigenen Augen!“

Die Antwort war eindeutig, wenn auch nicht unbedingt glaubwürdig. Der Junge heulte hemmungslos weiter und wandte den Blick wieder ab.

Kili schnaubte. Weiter wollte sie sich nicht zurück halten, sie hatte immerhin inoffiziell eine besondere Stellung inne. Außerdem waren vor dieser Schande die Regeln ohnehin Schall und Rauch.

„Du... hast zwei Kalenao gesehen, die Rhik einfach so... tot gezaubert haben? Warum hast du ihm nicht geholfen?“

„Kili!“

„Wahr ist es!“

Sie schenkte ihrem Bruder einen vielsagenden Blick. Sie hatte ja Recht, aber sie untergrub seine ohnehin bloß in geringen Maßen vorhandene Autorität mit ihrem Verhalten. Sie war nur eine Frau und das noch nicht einmal besonders lange. Der junge Mann seufzte.

„Antworte der Frau.“, befahl er dann etwas verhalten und der Jüngere sah wimmernd wieder auf.

„Rhik war so erfahren! Und er hatte keine Chance! Was hätte ich denn tun sollen?“
 

Was einen Mann ausmachte, hatte der Junge nicht begriffen. Die Kontrolle über die eigene Angst und der Mut gegenüber dem Unbekannten. Es war seine Pflicht gewesen, Rhik zu helfen, auch wenn es ihn selbst das Leben gekostet hätte. Damit hätte er seine Familie geehrt.

So hatte er sie beschämt, nicht nur, weil er seinen Gefährten seinem Schicksal überlassen hatte, sondern auch, weil er seine Prüfung nicht bestanden hatte.

Moconi stand nun vor einigen Aufgaben. Er musste eine Entscheidung über den unfähigen Nicht-Mann treffen, genau so wie er noch über den Tod des erfahrenen Mannes nachdenken und seiner Witwe die traurige Nachricht überbringen musste – ebenso wie dem Rest des Stammes.

Ersteres war schnell getan, denn wenn ein Junge seine Prüfung nicht bestand, gab es auch dafür eine Alternative, die ihn zu einem vollwertigen Mitglied des Stammes machte – obgleich er nie auf die Jagd gehen würde können und sein Glück an den Feuerstellen junger Frauen so vermutlich sehr eingeschränkt sein würde, ebenso wie sein Wille, Nachkommen zu zeugen.

Besonders angetan war er von dem, was geschehen müsste, auch nicht, im Gegenteil... aber anders als sein Vater würde er sich an die Traditionen halten, auch wenn sie bitter waren. Und sie ihn anwiderten...

Er verkündete seine Entscheidung noch am selben Abend in seiner Hütte vor den Männern des Stammes.

„Karems Sohn hat seine Prüfung nicht bestanden.“, stellte er sachlich fest und einige Blicke huschten darauf zu dem beschämten Vater, der sich seine Schmach jedoch nicht anmerken ließ und regungslos geradeaus starrte. Moconi war nicht besonders angetan von ihm – auch er hatte einst gegen die Tradition verstoßen, indem er bereits vor seiner Prüfung seiner heutigen Frau Leben in den Bauch gepflanzt hatte, so war er auch heute der jüngste Jäger, der einen erwachsenen Sohn hätte haben können. Anders als sein Kind war er darauf aber ohne Probleme zum Mann geworden, sogar dank der Schwangerschaft seiner heutigen Gattin verfrüht mit gerade einmal dreizehn Feuermonden. Der Junge schien nicht nach ihm zu kommen.

„Das konnte auch nur der schaffen.“, die Blicke legten sich auf Teco, Moconis Cousin, „Was machen wir mit ihm?“

Etwas schadenfrohes funkelte in seinen dunklen Augen. Er war ein außergewöhnlich guter Jäger obgleich er kaum älter war, so konnte er sich sein Mundwerk erlauben. Zumindest auf den ersten Blick – Karem wusste seinen Sohn sehr wohl zu verteidigen, wenn auch mehr um seines eigenen Willens.

„Joru hat eine Frau, die zu ihm kommen wird, wenn er sein Versagen unter diesen besonderen Bedingungen beglichen hat.“, bei der auffallenden Betonung des Wortes „besonderen“ schenkte er vor allen Dingen seinem Häuptling einen eindeutigen Blick, „Wo ist deine, Teco?“

Der Jüngere zischte. Das war sein wunder Punkt – er hatte noch immer keine, obwohl er seit über einem Jahr erwachsen war. Er war zu stolz, um es in Kauf nehmen können, zurückgewiesen zu werden... und wenn er zu der gehen würde, die er am liebsten bei sich haben wollte, würde er das zweifelsohne.

Dieses Weib hatte keine Interesse an ihm und wenn der Häuptling und ihr Vater nichts anderes sagten, gab es auch nichts, was sie zwang, zu ihm zu kommen. Und etwas anderes würde nicht gesagt werden, ihr Erzeuger liebte sie zu sehr und Moconi konnte seinen Cousin nicht leiden.

Er zischte nur.

„Das klären wir später.“, schnappte Moconi darauf nur und fasste sich kurz an den Kopf. Vor dem, was nun kam, grauste es ihm – aber es war Tradition! Sein Vater hatte sie nie geachtet und er war sich sicher, dass ihm genau das damals zum Verhängnis geworden war... damals, vor nicht all zu langer Zeit...

„Ich weiß, was du dir wünschst, Karem – eine Wiederholung der Prüfung wegen der besonderen Umstände... für die, die es bisher noch nicht mitbekommen haben, Rhik ist dabei umgekommen, wie genau, wissen wir noch nicht. Joru redet wirr.“

Auf ihm lagen viele geschockte und betroffene Blicke. Was er nicht wusste, einige auch, weil er den Älteren mit seiner ersten Behauptung öffentlich beschämt hatte. Er war noch unerfahren... Karem hatte dafür wenig Verständnis. Er pfiff verächtlich durch die Zähne, was das junge Stammesoberhaupt etwas verwirrte. Es enthielt sich allerdings einem Kommentar, was alle begrüßten.

Er setzte einfach seinen Vortrag fort.

„Ich werde keine Wiederholung erlauben.“

Ein Raunen ging durch die Reihen. Teco kicherte, als er ahnte, dass er nun über sein Ziel hinaus geschossen war, obgleich es sein Wort eigentlich zu befolgen galt.

„Das ist nicht dein Recht zu urteilen, Sohn von Saltec!“, fuhr Karem ihn mit seiner lauten Stimme an und kam einen großen Schritt auf ihn zu. Er weigerte sich, zurückzuweichen, oder sich an seiner Mimik etwas von seinen Gedanken anmerken zu lassen, dennoch war die Verunsicherung des jungen Mannes deutlich zu spüren.

„Das ist es sehr wohl.“, widersprach er, „Ich bin der Häuptling dieses Stammes.“

Hätten ihn nicht ein paar andere festgehalten, so wäre der entehrte Jäger auf seinen Vormund losgegangen. Teco lachte auf, wurde aber ignoriert. Wieder hatte er einen wunden Punkt getroffen, denn alle hatten damit gerechnet, dass der Posten des Oberhauptes als nächstes an Karem ging – in seinen letzten Atemzügen hatte Saltec dann jedoch zum Entsetzen aller entschieden, dass sein junger Sohn Moconi sein Nachfolger sein würde. Noch ein weiterer Grund für die Anspannung zwischen den beiden.

„Reiß dich zusammen!“, forderte der junge Mann nun auch etwas verärgert, „Ich halte mich anders als mein Vater an die Traditionen! Dein Sohn hat seine Chance vertan, er wird nun auf anderem Wege zum Erwachsenen!“
 

Darauf erstarrte die Versammlung. Einige der Jüngeren mussten zunächst einmal überlegen, was das bedeuten konnte, dann schlugen sich einige wie Frauen die Hände vor den Mund.

Moconi senkte den Blick minimal, während er errötete, als ihm wieder einfiel, was das zu bedeuten hatte. Es widerte ihn so dermaßen an... und abermals fragte er sich, warum sein Vater ausgerechnet ihn zu seinem Nachfolger gemacht hatte. Er hatte so viele Pflichten, die er verabscheute... das gehörte dazu, auch wenn Saltec sich seit jeher davor gedrückt hatte, indem er jedem Jungen, der seine Prüfung nicht bestanden hatte, so viele weitere Chancen gegeben hatte, bis er es geschafft hatte... er hatte sogar welche durchgelassen, die Bergziegen statt Berglöwen mitgebracht hatten! Seinen Sohn hatte das seit jeher empört und so hatte er auch alles daran gesetzt, seine eigene Prüfung zur äußersten Zufriedenheit der Götter seines Geburtsmondes zu bestehen und als er Häuptling geworden war, hatte er sich geschworen, diese alten Traditionen wieder aufleben zu lassen. Jetzt war seine Zeit.

Karem, der nun nicht mehr festgehalten werden musste, keuchte leise.

„Bist du... von allen guten Geistern verlassen?“, knurrte er dann bedrohlich wie ein wildes Tier und Moconi schnaubte leise. Das war lächerlich.

„Ich habe bereits direkt nach dem Tod meines Vaters gesagt, dass ich die alten Werte wieder zurückbringen werde... so sehr es mir in diesem Fall auch missfällt, aber ich fürchte, die Götter würden uns zürnen, wenn ich nicht komplett zu meinem Wort stehen würde...“

Teco schüttelte sich.

„Abartig! Deshalb hast du wohl auch noch keine Frau bei dir, wie?“

„Halt deinen Mund fest!“, musste er sich von seinem Vater Porit darauf tadeln lassen und er verzog das Gesicht. Ob er noch nicht gemerkt hatte, dass er seinem erwachsenen Kind nichts mehr zu sagen hatte? Der Jüngere besaß genügend Anstand, ihm das nicht vor allen anderen ins Gesicht zu sagen.

„Du hast doch selbst keine!“, ging Moconi auf gewisse Weise kindlich schnaubend kurz auf die Provokation ein, „Im Moment fehlt mir dafür einfach noch die Zeit...“

Das verstand niemand im ganzen Stamm. Zeit für eine Frau? Frauen arbeiteten mit, mit Frauen konnte man sich vergnügen... wofür brauchte man da Zeit? Dennoch schien niemand Tecos Gedanken ernst zu nehmen, dafür kannten sie ihren jungen Häuptling mittlerweile einfach zu gut. Ihm ging es um die Tradition, die alten Regeln. Besonders gut aufgenommen wurde seine Entscheidung dennoch nicht, vor allem nicht von Karem, obwohl das, was der Jüngere vorhatte, seine Ehre wieder herstellen würde.

„Einmal ernsthaft, Moconi...“, sprach Porit ernst, „Weißt du, was das bedeutet? Weißt du, was du dann zu tun hast? Ich meine... hier gäbe es sicherlich einige, die man mit dieser Sache betrauen könnte, aber nur du darfst es.“

„Das ist mir klar.“, antwortete er ernst, „Und besonders große Lust darauf habe ich sicherlich nicht. Ich habe es ja schon nicht so mit den Mädchen... aber es ist nun einmal ein Ritual, es ist...“

„Tradition. Und völlig veraltet.“

Teco zeigte ihm einen Vogel während Porit beschämt den Blick abwandte. Dem war auch nicht zu helfen.

„Traditionen können gar nicht veralten!“, schnaubte sein Cousin bloß entrüstet und Karem zog die Aufmerksamkeit wieder auf sich, als er sich vor Wut einmal aufschreiend umdrehte und die Hütte verließ.
 

„Kannst du mit Mefasa reden? Reden...“

Moconi betrachtete seufzend den kleinen Rinnsal, der zu seinen Füßen floss. Die junge Frau neben ihm sah bedauernd zu ihm auf.

„Ja... das werde ich.“, versprach sie, „Heute Abend sprichst du zu allen?“

Er nickte, ohne aufzusehen.

„Das werde ich... sinnlos, es werden ohnehin alle wissen, dass Rhik tot ist, aber man erwartet es.“

Erwartungen... er sprach immerzu von Erwartungen, seit er ein kleiner Junge gewesen war schon. Sie seufzte.

Mein Vater hat gar keine Erwartungen an mich!

Die empörten Worte der damals noch hohen, kindlichen Stimme hallten noch immer durch ihren Kopf und auch heute wusste sie nichts gescheites darauf zu erwidern.

Das macht doch nichts!, hatte ihn auch damals schon nicht zufrieden gestellt.

„Ich weiß, du hängst an den Traditionen, aber... willst du das wirklich tun? Du weißt, was ich meine...“

Sie wechselte das Thema und er sah ihr endlich ins Gesicht.

„Joru erwachsen machen?“, sprach er es aus, „Ich habe es auch schon mit einigen Frauen – Mädchen – getan. Es wird nicht viel anders sein... hoffe ich. Es muss sein.“

Sie schüttelte den Kopf, als er sich wieder abwandte.

„Nein.“, widersprach sie offen, wie es sich an sich keine Frau bei einem Mann, der nicht mindestens ihr eigener war, erlauben durfte, „Es ist... schön, dass du an den Traditionen hängst... aber wir müssen auch mit der Zeit gehen. Dein Vater war ein weiser Mann, Moconi...“

Sie kam näher und blieb bloß wenige Zentimeter vor ihm stehen, ihm direkt, aber mit liebevollem Nachdruck in die dunklen Augen blickend.

Er zischte.

„Weise, ach! Mit der Zeit gehen heißt nicht, dass man Traditionen einfach übergehen darf! Stelle dir einmal vor, die Sonne würde einfach aufhören, jeden Morgen im Osten aufzugehen und die Welt stattdessen in ewiger Dunkelheit lassen? Würdest du dann auch so über die Traditionen sprechen, Calyri?“

Sie errötete etwas, hielt seinem Blick jedoch stand, als er ihr noch etwas näher kam. Darauf wusste sie nichts zu erwidern.

„So lange die Sonne sich ihrem Schicksal fügt, so lange werde ich mich auch meinem fügen! Und mein Stamm sich mit mir!“

Die junge Frau schloss kurz ihre Augen, ehe sie wieder zu ihm aufsah. Eine Weile schauten sie sich stumm an, dann fuhr sie sich mit der Hand zu ihrem linken Ohr. Wie die meisten Stammesmitglieder hatte sie ihre Ohren geschmückt, doch ein Schmuckstück war etwas besonderes, denn sie trug es gemeinsam mit Moconi. Genau wie sie trug auch er eine Krähenfeder... es war seine eigene Idee gewesen. Damals waren sie noch Kinder gewesen... es verband sie unweigerlich miteinander und Calyri war stolz darauf.

„Moconi...“, sprach sie andächtig, „Wie lange möchtest du noch warten? Mich warten lassen? Ich warte jeden Tag auf dich...“

Er schnaubte nur, dann entfernte er sich wieder etwas von ihr. Sie zischte enttäuscht.

„Du solltest auf Teco warten!“, belehrte er sie, „Zeige ihm, dass du für ihn bereit bist, er wird langsam ungeduldig.“

„Nein!“, sie fasste nach seinem Arm, „Ich will nicht zu Teco! Ich will...“

Er schüttelte sie grob ab und schubste sie ein Stück von sich weg, worauf sie mit einem Fuß im Wasser landete und erschrocken fiebte.

„Erlaube dir nicht zu viel, Calyri!“, fuhr der Ältere sie an, „Nimm ihn lieber freiwillig oder ich erhebe mein Wort als Häuptling und zwinge dich dazu!“

Darauf schwieg sie.
 

Mit Rhiks Witwe Mefasa zu sprechen war anstrengend. Die junge Calyri verstand sich an sich am besten darin, doch in diesem schweren Augenblick gestaltete es sich auch für sie als schwierig. Die wenig Ältere mit dem auffallend roten Haar schien bereits bei der Ankunft ihrer Bekannten verunsichert zu sein... nicht verwunderlich, das Verhalten der anderen Stammesmitglieder war auffällig und sie eine gute Beobachterin.

Unaufgefordert legte sie ihren ein Jahr alten Sohn in seine Felle und richtete sich zu ihrem Gast auf, den Kopf zur Begrüßung kurz neigend. Die Frage stand in ihrem Gesicht geschrieben, noch ehe sie sie stellen konnte, indem sie mit seltsamen Handbewegungen aus der Hütte zeigte.

Calyri erwiderte ebenso mit einer Geste. Mefasa hatte die Augen eines Adlers, doch ihre Ohren waren ohne Nutzen, das waren sie immer gewesen, folglich hatte sie auch nie gelernt, auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Seit der Geburt ihres ersten Kindes gab sie ab und an sinnlose Laute von sich, was das jüngere Mädchen stets beeindruckte, denn auch wenn sie ohne Information waren, so verstand sich die junge Mutter darauf, ihre Stimme so zu steuern, dass sie auf den Säugling beruhigend wirkte. Sie war vorbildlich, das würde sie vielleicht auch davor bewahren, ausgestoßen zu werden... Rhiks Tod würde sich sicher als gute Gelegenheit gestalten, wieder einmal der Tradition nachzukommen, die Saltec ebenso wie viele weitere gebrochen hatte. Auch Mefasa gegenüber war Moconi etwas feindlich gestimmt... sie kam nicht aus seinem Stamm.

Als kleines Mädchen von etwa vier Jahren hatte sie eines Morgens weinend zwischen den Erdhütten gestanden ohne irgendjemandem Auskunft über ihre Herkunft geben zu können. Schon bald hatte man jedoch verstanden, dass sie an einer Behinderung litt... und das hatte auf ihre Geschichte schließen lassen.

Moconis Stamm war nicht der einzige im weiten Savannenland. Ab und an konnte man am weiten Horizont manchmal mehr, manchmal weniger deutlich das Lager eines anderen Stammes erkennen. Man wusste gegenseitig von sich, doch mal ließ sich in Ruhe... weitgehend. Mefasa war vermutlich von dort ausgestoßen worden, als klar wurde, dass das Mädchen taub war. Jemand hatte es wohl, höchstwahrscheinlich ihre Mutter, ewig zu vertuschen versucht und es irgendwann nicht mehr geschafft. Sie schien ihr Kind sehr geliebt zu haben, denn anstatt es den Kojoten zu überlassen, hatte sie den weiten Weg zu den Fremden auf sich genommen, in der Hoffnung, auf fremde Sitten und ein offenes Herz für ein krankes kleines Mädchen zu stoßen. Bei Saltec war sie richtig gewesen.

Der Stamm hatte sie mit Skepsis empfangen, als sein Häuptling beinahe jammernd vor ihm gemeint hatte, er könne das arme Ding in solch guten Zeiten mit dem Lager voller Fleisch nicht sich selbst überlassen und würde es gern bei sich aufnehmen. Das war ein heftiger Verstoß gegen die Tradition gewesen, doch niemand hatte mit wirklichem Elan etwas einzuwenden gewusst, denn noch nie hatte Saltecs Handeln sie in Probleme gebracht und Mefasa, wie seine Frau Ylaja sie genannt hatte, sollte niemanden stören. Calyri hatte sich auf gewisse Art sogar mit ihr angefreundet und mit ihr eine Art Gebärdensprache entwickelt, mit der sie sich zumindest grob verständigen konnte... warum Moconi und Kili, die wie Geschwister mit ihr aufgewachsen waren, trotzdem kaum etwas mit ihr zu tun haben wollten, hatte die junge Frau nie verstanden.

Sie ist keine von uns., hatte die Schwester des Häuptlings einmal gemeint, als sie gemeinsam beim Wasser holen gewesen waren, Sie war halt einfach da... aber was sollten wir mit ihr tun? Wir können nicht mit ihr reden, selbst wenn wir wollten.

Nach Ylajas Tod war es zunehmends schwerer für sie am Feuer des Häuptlings geworden, denn der, der sie behandelte wie eine Tochter, mit der er nur durch Blicke sprach, war nun einmal oft nicht da, musste jagen und seinem Amt gerecht werden. Saltec hatte sich um das Mädchen gesorgt, das bei seiner Abwesenheit unter Ignoranz gelitten hatte und als es dann zu seiner ersten Blutung gekommen war und er es zur Frau gemacht hatte, hatte er unerwartet Hilfe bekommen. Hilfe, mit der er nie gerechnet hätte.

Ich bin kein schöner oder geselliger Mann., hatte sein alter Freund Rhik immer zu ihm gesagt, Ich brauche keine Frau...

Und dennoch war er an jenem Tag zu seiner Feuerstelle gekommen und hatte ihr, indem er der jungen Frau die Hand entgegen gestreckt hatte, einen traditionellen Antrag gemacht... den sie prompt angenommen hatte, indem sie seine Hand genommen hatte.

Alle hatten gewusst, dass es ein reiner Gefallen gewesen war, denn Rhik war wirklich mehr für das Leben allein, ohne jemanden an seiner Seite, doch er war seit jeher gut zu Mefasa gewesen und irgendwann hatten die beiden in immer mehr Menschen den Eindruck erweckt, dass sie keine reine Zweckbeziehung mehr waren.

Calyri wusste, dass sich mit der Zeit etwas zwischen den beiden entwickelt hatte... dass ihre Freundin ihren Mann sehr gern gehabt hatte. Diese Nachricht würde ihr weh tun...

Bedächtig formte sie mit ihren Händen die Zeichen, mit denen sie von Rhiks Tod berichten wollte.

Mefasa starrte sie an.

Wiederhole!, forderte sie sie dann in ihrer Gestik ernst auf und sie gehorchte.

Wiederhole!, kam dann abermals und wieder tat die Jüngere, wie ihr geheißen. Ihr Gegenüber zog die Brauen zusammen.

„Bah!“, schnappte es dann, ohne seinen eigenen Laut, der eine Mischung aus Entsetzen und Empörung war, zu registrieren. Sie schüttelte den Kopf.

Calyri senkte den Blick. Sie wollte nicht mitansehen, wie die junge Mutter von der entsetzlichen Tatsache getroffen wurde, wie sie begann zu leiden... das würde sie definitiv.

Nervös nahm sie wieder ihren kleinen Sohn in die Arme, drückte ihn an sich und schüttelte immer wieder den rothaarigen Kopf.

„Es... tut mir so Leid...“, murmelte ihre Freundin, obwohl sie sie nicht verstehen konnte, „Ich werde dafür sorgen... dass du hier bleibst! Ich rede mit Moconi!“

Sie wurde spätestens ignoriert, als die junge Witwe zu weinen begann.
 

Der Abend kam. Man musste nicht ausrufen, dass es zu einer Versammlung kommen sollte... sie fand ganz von selbst statt. Man fand sich um ein großes Feuer zusammen, darin zubereitet wurde allerdings nichts, es war allein um des Lichts Willen. Und um unwillkommene Tiere davon abzuhalten, über sie herzufallen, aber das verstand sich von selbst.

Calyri beobachtete ihren Häuptling ehrfürchtig, als er sich besonders an die Frauen wandte, denn die Männer wussten es mit noch größerer Sicherheit als sie bereits, denn sie hatten sich am Mittag in seiner Hütte zur Beratung zusammen gefunden gehabt. Mefasa sah nicht zu ihm auf, als er so vor sich hin erzählte, ihr Blick aus den dunkelblauen Iriden lag auf den Flammen vor ihr. Ihre Tränen waren für den Moment getrocknet... ihre Freundin konnte nur vage Vermutungen darüber anstellen, was sie nun dachte.

Wie dachte sie eigentlich? Calyri dachte immer, wenn sie sich fragte, wie denn ihre eigenen Gedanken aussahen, in Bildern und – vor allen Dingen – in Worten, aber wie machte Mefasa das? Sie verstand es nicht, aber sie war sich sicher, dass es irgendwie funktionieren musste... sie war schließlich eine intelligente Frau, das kam nicht von nichts.

„Calyri!“

Die junge Frau schreckte auf, als sie Moconis Stimme vernahm. Alle Blicke lagen auf ihr und sie erhob sich hastig. Warum denn sie?

„Ja?“

„Übersetze mir bitte.“

Sie schaute überrascht in sein hübsches Gesicht. Es ging hier gar nicht um sie, sondern um Rhiks Witwe, der er nun irgendetwas Wichtiges mitteilen wollte und ohne sie nicht konnte. Oh Himmel... sie hatte noch gar nicht mit ihm über sie gesprochen! Beinahe hätte sie sich vor allen die Hände vor den Mund geschlagen. Wenn er jetzt ein Urteil fällte, konnte sie es nicht in Frage stellen, nicht vor allen anderen! Wie hatte sie nur so nachlässig sein können?

„Calyri, wirst du wohl gehorchen?“

Abermals zuckte sie zusammen, ehe sie an die Seite des jungen Mannes trat, der Mefasa bereits gegenüber getreten war. Sie hatte sich nicht erhoben, sah nur starr zu ihm auf, direkt in seine Augen. Ihr Blick war beinahe trotzig.

„Ich habe gründlich darüber nachgedacht, was mit dir geschehen soll...“, begann Moconi nun etwas leiser, weniger verkrampft als zuvor, als er noch zum versammelten Stamm gesprochen hatte. Dass die nun folgende Information selbigen auch etwas anging, schien es dabei zu vergessen, es korrigierte ihn jedoch niemand, denn da das Knistern des Feuers das einzige war, was die Stille durchdrang, waren seine Worte noch immer von allen ohne Probleme zu verstehen.

Calyri übersetzte leicht zitternd. Ihre Freundin blickte noch immer dem Häuptling ins Gesicht, erkannte ihre Gesten so nur aus den Augenwinkeln, scheinbar gut genug, um ihn verstehen zu können.

Der Ausdruck des Mannes veränderte sich kurz.

„Ich habe schon daran gedacht, dich wieder dahin zu schicken, wo du herkommst...

Noch ehe die jüngere Frau auch nur die Hälfte der Information irgendwie hatte weitergeben können, hatte sich Mefasas Miene verfinstert.
 

„Sie scheint wütend zu sein.“

Sanan wandte sich blinzelnd zu dem zwölfjährigen Semliya zu seiner Linken, der das Geschehen ebenso wie alle anderen genau beobachtete.

„Sie schaut beinahe drohend!“, erwiderte sein Zwilling Novaya zu Sanans Rechten verblüfft und kratzte sich an seinem schwarzhaarigen Kopf. Der Ältere in der Mitte pfiff bloß durch die Zähne.

„Worauf ihr achtet! Ihr denkt und denkt und denkt und dann schlussfolgert ihr und wisst ihr was? Am Ende hat eure Schwester bloß irgendetwas falsch übersetzt!“
 

Noch ehe Moconi weiter sprechen konnte, erwiderte sie etwas.

Dafür hätten sowohl Rhik, wie auch dein Vater dir den Schädel gespalten, du törichtes Balg!

Calyri schnappte nach Luft und errötete etwas, als der Häuptling sie erwartend anblickte. Natürlich, er wollte wissen, was sie ihm mitteilen wollte.

„Sie... sie meint... sie findet das nicht ganz gerecht so! Glaube ich...“

Sie hielt ihr Gesicht gesenkt, das nun verstärkt durch den Schein der Flammen so rot wie das Haar der tauben Frau sein musste, damit man ihr nicht all zu sehr ansah, dass sie log. Mefasa wusste ohnehin, dass sie nicht die Wahrheit gesprochen hatte, sie fragte sich, warum ihre Freundin sie überhaupt in eine solche Situation hatte bringen müssen.

Der junge Mann wusste ebenso genau, dass sie nicht die Wahrheit sprach, zumindest nicht ganz. Er behielt es sich jedoch vor, sie vor dem ganzen Stamm bloß zu stellen und fuhr einfach fort.

„Nun, keine Sorge, ich sehe davon ab. Hier gibt es zu wenig Frauen und obgleich du nicht sehr gesprächig bist, machst du deine Arbeit gut, sodass ich Hoffnung habe, dass schon bald einer der Männer oder Jungen, die bald erwachsen sein werden, dich zu sich nehmen wird. Ich nehme einmal an, dass der, der es sein wird, auch gerne dazu bereit ist, Rhiks Erben mitzuversorgen... das sollte Ehrensache sein.“

Calyri übersetzte leise seufzend. Die Ältere nickte, damit schien sie zufrieden zu sein.
 

Die Zwillinge einige Meter entfernt warfen sich vielsagende Blicke zu, ehe sich beide nahezu zeitgleich erhoben.

„Wir werden sie zu uns nehmen!“, schallte es wie aus einem Mund und plötzlich lag alle Aufmerksamkeit auf ihnen. Ihre ältere Schwester war zu entsetzt, um der Betroffenen mitteilen zu können, was die Jungen gerade verkündet hatten, obgleich die junge Mutter sehr wohl mitbekam, dass es hier um sie ging.

„Ha?“, versuchte sie beinahe etwas verzweifelt, Aufmerksamkeit zu erlangen, scheiterte aber zunächst.

Dherac, der Vater der Zwillinge, erhob sich nun ebenfalls schnaubend.

„Entschuldigt euch für euer törichtes Gespräch und setzt euch hin! Verzeiht mir die beiden...“

Er fuhr sich verlegen durch sein kurzes schwarzes Haar, doch die Jungen gehorchten nicht, wandten sich ihm bloß synchron zu.

„Weniger als eineinhalb Jahre, dann sind wir soweit.“, entgegnete Novaya ruhig.

„Und wenn wir Glück haben erlaubt unser Häuptling uns schon früher, unsere Prüfung zu absolvieren... wir sind enorm ausgereift für unser Alter.“, ergänzte Semliya und ihr Vater wusste gar nicht mehr, was er vor Scham tun sollte, so biss er sich zunächst nur kopfschüttelnd in die Unterlippe.

Der irritierte Moconi ergriff das Wort.

„Nicht, dass es schlecht wäre, wenn sich schnell jemand für Mefasa ausspricht...“, räumte er ein und blinzelte, als eine Brise ihm etwas Asche entgegenwehte, „Aber... ihr beide? Es können sich doch nicht zwei Männer – Jungen – eine Frau teilen? Das... geht doch nicht! Woher wollt ihr wissen, wessen Kind es ist, das sie irgendwann austragen würde?“

Semliya legte den Kopf leicht schief.

„Das ist uns völlig gleich. Wir wollen sie. Gib sie uns, wenn wir soweit sind...“

In seinen Blick kehrte etwas kindliches zurück, als er so bat. Nur Calyri schien es zu bemerken, doch sie enthielt sich einen Kommentar.

„Wir teilen uns doch immer alles. Außerdem wollen wir nicht an getrennten Feuern leben, wenn wir erwachsen sind. Es wäre gut!“, erklärte Novaya unterdessen etwas gelassener weiter und verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf. Er lächelte der rothaarigen Frau zu, sein Zwilling tat es ihm kaum einen Moment später gleich.

„Was soll ich dazu noch sagen... ach...“

Dherac sah sich verzweifelt um, aber niemand vermochte ihm zu antworten. Auch der Verbleib der beiden Jungen war ein Ergebnis von Saltecs Entscheidungen.

Prinzipiell war nichts gegen Mehrlinge einzuwenden, zwei ältere Frauen waren einst ebenso geboren worden. Gefährlich wurde es nur, wenn diese Kinder gleich aussahen, dann war es die Pflicht es Vaters, sich für eines der Kinder zu entscheiden und das andere auszusetzen, denn es war ein schlechtes Zeichen, ein Zeichen dafür, dass eine Seele über zwei Körper verfügte. Das gab ihr zu viel Macht... und zu viel Macht war nie gut. Wie es die Tradition verlangte hatte ihr Erzeuger sich nach einigen Monaten, als sich deutlich abgezeichnet hatten, dass es in den Zügen der Kinder keinerlei Unterschiede gab, für einen von beiden entschieden und dem Häuptling betroffen Bericht erstattet. Als der sich selbst ein Bild davon verschafft hatte, hatte er mitleidig geseufzt.

Nun sehe sich einer diese beiden gesunden, starken Jungen an!, hatte er absichtlich laut gemeint, sodass viele es mitbekommen hatten können, Dherac, die sind ein Geschenk, du kannst nicht einen freigeben... sieh, wie sie aneinander hängen! Der andere würde sicher mitsterben!

Und so hatte sich der Zwillingsvater verblüfft, aber auch erleichtert gefügt und beide Kinder groß gezogen. Die unnatürlich enge Bindung zwischen beiden störte ihn von Zeit zu Zeit jedoch immer mehr. Und ihre Aufmüpfigkeit doppelt...

„Aber... das ist so unüblich!“, empörte Moconi sich weiter und war etwas verzweifelt, weil ihm keine alte Regel einfiel, die besagte, dass eine Frau nicht zwei Männer haben konnte, wenn alle Beteiligten damit einverstanden waren. Aber das war doch trotzdem ein Tabu! Weil... irgendwie kam ihm das so unästhetisch vor...

„Wir... könnten Mefasa ja einmal fragen, was sie dazu meint...“, kam ein nicht ganz sinnloser Gedanke von Calyri und der Häuptling hob beide Brauen, als er mit den Schultern zuckte und nickte. Die junge Frau übersetzte.
 

Mefasa warf den Zwillingen einen Blick voller Verwunderung und Rührung zu und die beiden erröteten darauf verlegen und begannen, mit den Füßen auf dem Boden herum zu scharen wie es kleine Mädchen manchmal taten.

Wenn das ihr Ernst ist, dann habe ich nichts dagegen.

Sie schien mit dem Gedanken, sich die Felle mit gleich zwei Männern teilen zu müssen, keinerlei Probleme zu haben, anders als ihre Freundin, die sich das doch ziemlich abartig vorstellte. Andererseits, so kam ihr dann, hatte die junge Mutter da wohl definitiv mehr Erfahrung als sie, sie hatte schließlich mit Rhik bereits ein Kind gezeugt, während Calyri bloß einmal mit einem Mann geschlafen hatte und das war bei ihrem Ritual mit Moconis Vater Saltec gewesen. Eigentlich war der ziemlich behutsam mit ihr gewesen, und dennoch...

Sie schüttelte kurz den Kopf.

„Sie hat nichts dagegen, sie...“, kurz unterbrach sie sich, als sie die neuen Gesten beobachtete, die die Ältere anfügte, „... sie freut sich darüber und fühlt sich geehrt.“

Die Zwillinge sahen auf. In ihren auffallend hellen Augen lag ein bislang unbekanntes Strahlen, als sie nun wieder zu ihrem Häuptling sahen, eindringlicher denn je.

„Gib sie uns!“, forderten sie voller Elan und Moconi raufte sich gestresst die braunen Haare.

„Das... das geht doch nicht!“

Zu aller Überraschung erhob sich nun auch Sanan, ehe das Stammesoberhaupt weiter hatte sprechen können. Er war ein junger Mann in Tecos Alter und stammte ebenso wie Mefasa aus dem fremden Stamm, der ihn aus unerfindlichen Gründen als Baby in der Nähe ausgesetzt hatte. Eine seltsame Tätowierung, bestehend aus drei einfachen Strichen auf seiner Stirn, zierte ihn seit jeher, was ihn etwas von allen anderen abgrenzte, obwohl an ihm sonst nichts ungewöhnliches war. Er gesellte sich gern zu den jüngeren Zwillingen, die sich gegenseitig die Wangen tätowiert hatten und so eine ähnliche dieser fremdartigen Verzierungen trugen. Nun räusperte er sich etwas verschüchtert, weil er sich mehr gewagt hatte, als er sich sonst so zutraute.

„Nun ja, ich glaube... es gibt hier wirklich nichts, was dagegen spricht, oder? Ich meine... lass sie doch, es würde sie glücklich machen, glaube ich...“

„Außerdem sind wir sie dann los und haben eine Last weniger!“, pflichtete Porit bei, der sich nun ebenfalls erhoben hatte und ein Raunen ging durch die Menge.

„Ich will sie eh nicht...“, gab Teco im Sitzen zu bedenken, „Aber Moconi will sie vielleicht selbst?“

Der Häuptling zischte verächtlich. Sein Cousin wusste genau, wie er über sie dachte!

„Sicher nicht! Ich... ihr seid dafür?! Dherac! Sprich für deine Söhne!“

Der Mann seufzte und zögerte kurz, bis irgendwer ihn mit dem stumpfen Ende eine Speers ihn in den Rücken stupste, darauf hüstelte er dann.

„Nun ja... wenn niemand etwas dagegen hat... meinetwegen, dann bin ich sie los, das ist erleichternd! Diese verrückten Jungen!“

Der Häuptling senkte den Blick. War das zu fassen? Nun bekam eine taube Frau bereits mehr Männer, als sie zur selben Zeit glücklich machen konnte, da kam er nun wirklich nicht mehr mit...

„Dann soll es eben so sein...“, knurrte er und die Zwillinge sahen es als Freizeichen und hasteten los halb um das Feuer herum um der Frau, die dort saß, symbolisch jeder eine Hand entgegen zu halten. Sie strahlten vor Freude und Stolz, als sie beide kichernd annahm.

Die beiden vor ihr waren noch Kinder... sie würden noch einige Zeit brauchen, bis sie sie wirklich zur Frau nehmen konnten. Sie war froh darum... sie brauchte noch etwas, um den Verlust ihres ersten Mannes verkraften zu können.

„Ihr seid doch beide völlig verrückt.“, zischte Calyri unterdessen ihren Brüdern zu, als sie sich darauf eng neben ihre Verlobte setzten. Ihre Blicke waren eingebildet.

„Schwester ist neidisch, weil wir sie überholt haben!“, spöttelte Novaya und Semliya kicherte darauf leise, aber gekonnt verletzend und die Ältere drehte sich ab, um wieder zu ihrem ursprünglichen Platz zurückzukehren.
 

„Das neue Paar... äh... Trio... äh... wie auch immer ehren wir später, es gibt noch eine andere Sache, und die ist ernst!“

Moconi errötete angesichts dessen, was nun folgen würde... und was ebenso die meisten bereits wussten. Er sah zu Karem und Joru, beide saßen wie versteinert nebeneinander, obgleich der Sohn ab und an leicht zitterte.

„Ich weiß, wie alle anderen, was nun folgen soll.“, fuhr der entehrte Vater seinem Häuptling da ins Wort, „Du bestehst auf die Tradition – du sollst sie bekommen. Aber nicht so, wie du es gedacht hast.“

Er erhob sich und begann bedächtig und mit dem Stolz des Berglöwen, den sein Sohn nicht zu erlegen vermocht hatte, vor den Menschen auf und ab zu gehen.

„Wie dann?“, wollte das Oberhaupt nach einer Weile des Schweigens wissen und Joru verkrampfte sich auf seinem Platz. Karem hielt inne und grinste ihn an.

„Die Ehre meiner Familie soll wieder hergestellt werden – das steht im Vordergrund. Das, was du vorhast, ist ein reiner Gefälligkeitsdienst diesem Nichtsnutz gegenüber...“, er deutete mit dem Kopf auf den Jungen, „... der mir zwar abartig erscheint, aber ihm ein Leben als Erwachsener ermöglicht hätte. Ich bedanke mich hiermit im Namen meiner Familie für dieses großzügige Angebot, doch wir lehnen es ab. Joru hat das nicht verdient.“

Wieder ging ein Raunen durch die Reihen und Moconi, dem es schwer fiel, sich selbst einzugestehen, dass er seinen Worten nicht einmal im Ansatz folgen konnte, hob verunsichert eine Braue.

„Angebot...? Was... gibt es da denn für eine Alternative, die ich übersehen habe?“

Das Grinsen des Mannes verschwand, im selben Moment sackte sein Sohn verzweifelt in sich zusammen.

„Ich verwehre ihm diese Chance. Ich verstoße ihn, er ist nicht länger mein Sohn. Er muss das Lager verlassen.“
 


 

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Yai, Kappi 1. Kam etwas schneller als angekündigt, weil... ich Lust hatte eben. Bin momentan bei Kappi 7. Und es gab schon Porno-Szenen, haha <3 Ja, also... ich mag die Zwillinge XD Und Karem irgendwie auch...

PS: Yeah, wir haben gewonnen, juhuu <3

Intelligenz

Die junge Frau saß an ihrem Fenster. Unter ihr, wo das Dorf lag, fiel das Land immer weiter ab, ehe es im Meer endete. Ein paar Möwen umkreisten sich beinahe spielerisch und sie genoss die leichte, salzige Brise, die mit einem Mal aufkam.

Hinter ihr öffnete sich eine Tür.

„Lass mich raten...“, sie drehte sich lächelnd um, „Deine Brüder sind noch nicht zurück.“

Der junge Mann nickte und setzte sich zu ihr. Gemeinsam ließen sie ihre Blicke wieder nach draußen schweifen.

„Hast du etwas anderes erwartet?“, wollte er wissen, „Frühestens in der Morgendämmerung, wenn sie sich sehr beeilen, aber... warum sollten sie? Ich habe Shiran sagen hören, sie werden am kommenden Vormittag antreffen.“

„Nadeshda traut ihm nicht.“, erwiderte sie nur leiser. Er sah sie an.

„Und deshalb tust du es auch nicht.“, erriet er, „Er ist noch immer ein Seher – der einzige in diesem Dorf.“

„In unserem ganzen Land.“, bestätigte sie mit leicht abwesendem Blick, „Er sagte, das Land der Menschen sei gut... man könne es fruchtbar machen am großen Strom und es gäbe Wild, von dem wir nur träumen können... und Obsidiane für anständige Speerspitzen...“

„Das sagte er.“, stimmte er zu und sie verengte ihre orangenen Augen minimal.

„Er lügt gern und oft!“

Draußen schrien die Möwen... manchmal taten sie es einfach, der junge Mann verstand nicht, warum. Er mochte Vögel, aber mit ihrer Sprache wusste er nichts anzufangen. Er war ein Kalenao und kein Tier.

Er bemerkte nicht, wie sie sich erhob und hinter ihn schritt, ihn zärtlich umarmend und sich an seine Schulter kuschelnd.

„Mabalysca!“, entrann es ihm verblüfft und sie seufzte bloß wohlig. Ein leises Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als sie die Augen schloss und mit verträumter Stimme begann, zu reden.

„Bald werde ich deine Frau sein, Kajira... ich frage mich, worauf die Zwillinge warten, sie sollen mich dir bald freigeben, sage ich! Ich freue mich so darauf, Babies mit dir zu bekommen...“

Er errötete etwas, als er ebenfalls lächeln musste. Seine eher zierlichen Hände legten sich auf ihre, die ihn umfassten.

„Ich teile deine Freude... wenn ich dich erst einmal habe, ich werde dich nie wieder los lassen, ganz gleich, was die Zukunft uns bringen mag... was meine Brüder zu berichten wissen werden...“
 

„Deine Worte sind Schall und Rauch!“

Der Mann grinste nur.

„Geh! Höre auf meine Schwester!“

Sein Gegenüber verschränkte beide Arme vor der Brust. Nadeshda saß unbeeindruckt auf ihrem bequemen Platz und aß Obst, während sie den Seher genau fixierte. Ihr Bruder Mahrran konnte das nur halb so gut. Er war insgesamt nur halb so gut...

Shiran war nicht zu beirren.

„Ist eure Überheblichkeit nicht schändlich?“, fragte er in den Raum, „Mich zu verschmähen, weil ihr... Götterkinder seid? Obgleich ich an eure Macht nicht heranreiche, Seher bleibt Seher und das was ich kann, das könnt ihr nicht, denn ihr seid zu abhängig... von euren Eltern.“

Die Frau zischte und wie auf Kommando wandte der ältere Mann sich ihr zu, während sie sich die letzte ihrer Beeren in den Mund schob und die Schale bei Seite stellte.

Sie erhob sich.

„Du sprichst von deiner Gabe... deiner Gabe, Dinge zu wissen, die niemand wissen kann. Und du hast recht, niemand kommt dir dabei gleich... jedoch...“

Sie schritt langsam um ihn herum, kam neben ihrem Bruder zum stehen, der bloß wie versteinert da stand, den Anderen noch immer genau anvisiert.

„... du lügst. Du bist uns doch keine... Hilfe!“

Sie gluckste einmal künstlich und verdrehte die Augen.

„Als ob wir die nötig hätten!“

Der Ältere schüttelte weiterhin grinsend den Kopf. Da machte er sich die Mühe von seinem eigenen Haus zu dem der Himmelskinder zu steigen und dann empfing man ihn so... nicht, dass er es nicht gewusst hätte. Er freute sich auf ihre Gesichter am nächsten Tag, wenn die beiden nutzlosen Kerle zurückkehren würden um von dem zu berichten, was er längst erzählt hatte.

Er sah das Land hinter den Bergen... es sah es so deutlich. Und sie nannten ihn Lügner...

„Bedauerlich.“, seufzte er aufgesetzt, „Als ob ihr mit meinem Wissen nicht ab und an zu eurem eigenen Vorteil würdet sprechen... ha! Ihr sprecht ständig zu eurem eigenen Vorteil! Und der, der nicht spurt, dessen Netze werden leer bleiben und dessen Frau wird dem Fieberwahn erliegen, ist es nicht so?“

Mahrran schritt auf ihn zu, hielt direkt vor ihm an. Sein trübes, rechtes Auge konnte dem Seher keine Angst einjagen, anders als vielen im Dorf. Es war ein reines Zeichen der Schwäche.

So viel Macht diese Zwillinge auch inne hatten... ihre göttlichen Eltern hatten sie gezeichnet. Mit nur einem Auge war dieser Mann ebenso im Nachteil wie seine Schwester, allein, weil sie eine Schwester war. Auch wenn sie sich nicht so verhielt, wie eine Frau sich zu verhalten hatte. Sie war eine Königin.

„Wir haben dich nicht gerufen.“

Der Jüngere riss ihn aus seinen Gedanken. Er hob eine Braue.

„Ah...? Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was diese beiden Spinner zu sagen haben... und mein weiter Weg soll doch nicht unbelohnt bleiben.“

Sein Gegenüber war aufmerksamer, als er es im ersten Moment noch gedacht hatte – er lauschte seinen Göttern nicht immer so genau, wie es gut für ihn gewesen wäre. Mahrran zischte.

„Weiter Weg, du hast doch Teleport. Einmal davon abgesehen, dass du doch ohnehin wissen solltest, was die Beiden berichten werden...“

„Genau so wie wir!“, fiel seine Schwester ihm ins Wort, „Unsere Gebete wurden erhört, sie werden auf gutes Land gestoßen sein.“

Ihr Blick brannte sich in den des Sehers. Die Macht der Zwillinge lag darin, das Schicksal verändern zu können... es nach ihrem Willen zu biegen. Begrenzungen gab es dabei kaum, die Einzige, die dem Mann bekannt war, war die Tatsache, dass sie keine Bitten für ihren eigenen Leib aussprechen konnten, aber diese Sperre ließ sich leicht umgehen indem sie sich einfach gegenseitig halfen, wenn es darauf ankam. Eine Ausnahme bildete da nur Mahrrans hässliches blindes Auge, denn damit war er geboren worden... Nadeshda konnte sich nicht soweit gegen den Willen ihrer göttlichen Eltern auflehnen, dass ihr Bruder richtig sehen konnte und Shiran war sich sicher, dass sie das auch gar nicht wollte.

Sie war die Dominante, er tat nur, was sie wollte und stützte ihre Macht. Das hatte dem Seher schon immer gefallen. Er lächelte wohlwollend.

„Sicherlich.“, stimmte er der Frau zu, „Aber ich möchte doch eure Gesichter sehen.“
 

Kajira seufzte, während er den felsigen Weg zum Dorf hinab stieg. Wenn er talentierter gewesen wäre, hätte er Teleport benutzen können... er übte.

Auf einem kleinen Felsen hielt er inne und ließ sich den Wind, sein Geburtselement, ins Gesicht wehen. Salziger Seewind. Unter ihm lag die Ansammlung einfacher Häuser, davor der Strand und dann kam der unendliche blaue Ozean. Auf seiner Welt gab es viel Wasser, hatte sich der sehr junge Mann einmal sagen lassen.

Er schloss die Augen. Obgleich es wie eine interessante Feindseligkeit zwischen den Himmelskindern und dem Seher erschien, ging es allen Beteiligten um etwas äußerst ernstes. Er wusste nicht, seit wie vielen Generationen man schon in dem Land zwischen dem großen Gebirge und dem Meer lebte, aber es war kein guter Flecken Erde.

Es gab kaum etwas, woraus man sich anständige Waffen herstellen musste... und selbst wenn, dann gab es nur wenige Tiere an Land, die man jagen konnte. Hauptsächlich wurde gefischt...

Trotz der schlechten Bedingungen hatte die Einwohnerzahl des Ortes in den letzten Jahren deutlich zugenommen, mehr Nahrung wurde benötigt und die würde das Wasser nicht ewig bieten können.

Die Zwillinge waren radikal und egoistisch, doch diesen aufkommenden Notstand hatten sie, nicht zuletzt durch Shiran, bereits bemerkt. Dass es die beiden mit ihren besonderen Fähigkeiten überhaupt gab, erwies sich bereits als Glück, denn wenn sie nicht immer wieder so hingebungsvoll um reiche Fänge gebeten hätten, dann wären die Kalenao dort längst zu Grunde gegangen.

Dass diese Ausbeutung des Meeres nicht ewig weiter gehen konnte, wussten jedoch alle. Sie mussten umsiedeln. In ein neues Land. Ein besseres Land.

Kajira atmete einmal tief ein.

Dies war seine Heimat... an sich wollte er nirgendwohin, wo er nicht diesen guten, salzigen Wind einatmen konnte – und das würde er hinter den Bergen sicher nicht können – aber er hatte sich zu fügen. Allein schon um Mabalyscas Willen... seine Verlobte.

Abwesend setzte er seinen Abstieg fort. Schon als sie kleine Kinder gewesen waren, hatten damals noch ihre Eltern sie verlobt. Gestört hatte ihn das nie, hatte er dieses Mädchen vom ersten Augenblick an ins Herz geschlossen.

Mabalyscas Eltern waren nicht mehr, ihre Geschwister hatten jetzt über ihren Verbleib zu entscheiden. Eigentlich, dachte sich der junge Mann, konnten sie mit ihrer Verlobung sehr zufrieden sein, sie hatten auch noch nie Anstalten gemacht, sie aufzulösen, aber ihre Hochzeit hatten sie umgekehrt auch immer noch nicht erlaubt, obwohl es langsam wirklich Zeit für sie wurde. Sie waren längst im Heiratsalter und es ärgerte ihn, sie noch immer nicht lieben zu dürfen wie eine Frau... er wollte endlich Kinder mit ihr zeugen und sie ließen ihn nicht dazu kommen.

Im Haus seines Vater traf er auf wenig Gehör für sein Problem. So viele Menschen lebten in den Bauten, die zu seiner Familie gehörten. Er war das jüngste Kind seines Erzeugers... seine zahlreichen älteren Geschwister kannte er nicht einmal alle beim Namen. Und seine Eltern waren inzwischen so alt, dass sie ihn nicht beim Namen kannten. Es herrschte reges Durcheinander... wenn er genau war wusste er nicht einmal, welche der vielen Frauen seines Vaters nun wirklich seine Mutter war... bei Zweien hatte er als Baby getrunken, das wusste er, aber wer ihn zur Welt gebracht hatte, das war wieder so eine andere Geschichte. Vielleicht sollte er einmal nachfragen... aber vermutlich erinnerte sich daran ohnehin niemand mehr. Wenn er Glück hatte verrieten seine Götter es ihm... aber so dringend wollte er es auch nicht wissen.

Hauptsache, er kam endlich aus dem Sammellager für Nesthäkchen heraus und konnte seine eigene Familie gründen... worauf warteten die Himmelskinder nur?
 

Er wusste nicht, dass nicht er das Problem war. Die Zwillinge verschwendeten schlicht keinerlei Gedanken an die Ehe ihrer kleinen Schwester, wo es doch gerade so viel gab, was viel wichtiger erschien.

„Denkst du, wir haben es geschafft?“

Mahrran starrte verbiestert aus einem Fenster. So viele Bitten, so viele Gebete, so viele Nächte unter den Sternen... wenn es sich nicht auszahlte, dann wusste er nicht mehr weiter.

Dieses Land hinter den Bergen war ihre letzte Hoffnung... ihre einzige Chance. Es musste einfach gut sein.

„Wir haben es geschafft.“, antwortete Nadeshda einen Moment später, „Du wirst es sehen.“

Sie erhob sich und trat neben ihn.

„Wenn wir es nicht geschafft haben... dann ist es deine Schuld.“

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als sie zu ihm aufsah. Seine?

„So oft habe ich es dir schon gesagt.“, erklärte sie, „Das, was uns schwächt, sind Zweifel. Deine Zweifel. Unsere Macht ist unser Glauben.“

Er wandte sich zischend ab. Bekannte Worte für ihn.

Die Macht liegt im Glauben!

Es war nicht so wie Shiran von ihm dachte, kam ihm, nicht sein blindes Auge war sein Schwachpunkt, nein... sein wirklicher Schwachpunkt war nur das glauben zu können, was er auch sehen konnte. Und vieles, was er sehen wollte, konnte er erst sehen, nachdem er daran geglaubt hatte... das war ein sehr schlechter Kreislauf, das wusste er eben so gut wie seine Schwester. Und das ließ ihn ewig die Rolle des Schwächeren einnehmen... wirklich erpirscht darauf, Anführer, Oberhaupt zu sein, war er dabei allerdings nie gewesen.

Er erwiderte nichts darauf.
 

Am nächsten Vormittag kehrten Kajiras Brüder zurück, so wie Shiran es vorhergesagt hatte. Es waren zwei Männer besten Alters, erfahren genug für die Reise, die sie hinter sich hatten und nun bester Laune.

Der Seher hatte die Bevölkerung auf dem großen sandigen Platz in der Mitte des Ortes versammelt, als sie strahlend antrafen. Die Zwillinge standen starr wie Salzsäulen auf dem Rand des Brunnens, der den Mittelpunkt der Siedlung markierte und erwarteten die Heimgekehrten mit emotionslosen Mienen.

Der Jüngere von beiden, Irlak, winkte ihnen übermütig zu. Als er mit seinem Begleiter ankam, war er herzlich am lachen.

Durch die Reihen ging ein ehrfürchtiges Raunen, als sie seine blutüberströmte Kleidung erkannten. Shiran etwas abseits grinste. Er hatte von ihrem Erlebnis geträumt...

In das Gesicht von Rato, dem Älteren, schlich sich nun ebenso ein Grinsen.

„Das... erscheint mir interessant.“, sprach Mahrran sie dann an und hob kurz beide Brauen; seine Schwester blieb starr. Es war nicht gern gesehen, wenn eine Frau auf einer solchen Versammlung das erste Wort sprach, obgleich die Ernsthaftigkeit dank des Lachanfalls von Irlak ohnehin etwas abgenommen hatte.

„Sprecht, erzählt, von dem, was ihr gesehen habt!“, forderte der männliche Zwilling da und fügte einen Augenblick später an: „Und was ihr da erlebt habt...“

Rato räusperte sich wichtig, während sein jüngerer Bruder weiter kicherte.

„Der alte Weg ist noch frei.“, begann er mit einem wichtigen Punkt. Die Erleichterung in den Reihen war darauf deutlich spürbar; Nadeshada warf ihrem Bruder für die meisten anderen unmerklich einen tadelnden Blick zu, als auch er sich kurzzeitig entspannte. Shirans Grinsen wurde unterdessen breiter...

„Und weiter?“, zischte die Frau dann doch und der Mann zu ihren Füßen zuckte kurz. Ihre Stimme war scharf wie ein Messer...

„Als wir am letzten Pass angekommen sind, kamen uns überraschend zwei... nun ja, wie bezeichnet man diese minderwertigen Primitivlinge? Also... Nicht-Magier, einmal ganz respektvoll, kamen uns entgegen.“

„Es war ein lustiger Anblick!“, gackerte Irlak da weiter, „Kleidung aus Fellen trugen sie! Und... ach... sie waren wirklich wie in den Märchen, die mir einst irgendwelche Frauen meines Vaters erzählt haben, einfach nur... lächerlich!“

Kajira hob beide Brauen beim Anblick seiner Brüder. Trockenes Blut, wo man nur hinsah... menschliches Blut? Er erschauderte. Sein Volk verspürte einen natürlichen Blutdurst... und den konnte es beim Fischen nicht stillen. An sich hatte der junge Mann noch nie viel auf dieses instinktive Fordern gegeben, er war damit aufgewachsen, nichts zu haben, was er auf diese gewünschte Art töten konnte, aber wo er die Beiden nun so vor sich sah, beneidete er sie.

Menschen, Wesen, die auf gewisse Art ihnen so ähnlich schienen und doch so minderwertig waren... was musste es für ein Gefühl sein, ihnen in die Augen, in ihre dummen Seelen zu sehen, ehe man sie eigenhändig zerfetzte? Ihr warmes Blut auf der eigenen Haut spüren konnte?

Kein Wunder, dass Irlak lachte. Das musste besser sein als jedes Schlachten einer verirrten Ziege, das er je erlebt hatte. Oder die Opferungen... mit einem Mal bedauerte er es, bisher weder bei dem einen, noch bei dem anderen je hatte mitwirken können. Das war etwas für verheiratete Männer... er schielte zu Mabalysca, die in der Nähe des Brunnens stand und dem Bericht aufmerksam lauschte. Er wollte sie endlich haben...

„An sich wollten wir die beiden einfach ignorieren... ich meine... nun ja, was sollten wir schon mit ihnen? Sie beherrschen ja nicht einmal eine richtige Sprache... wir gingen also weiter, da kam der Ältere angerannt und schien reichlich sauer zu sein, es war lustig, wie er in seinen seltsamen Lauten geschimpft hat!“

Nadeshda senkte ihre schmalen Brauen tief.

„Wundervoll, dass ihr euch auf eurer Reise so amüsieren konntet... aber nun ist keine Zeit für Märchen von den Frauen eures Vaters, in die es hier gerade ausartet, kommt auf den Punkt!“

Aufs Wort rissen sich beide Männer zusammen und nickten synchron.

„Nun gut.“, Rato räusperte sich abermals, „Das war natürlich nicht eingeplant. Irlak überkam es dann, ich... habe ihm erlaubt, sich an dem Primitivling auszutoben. Wie man auch sieht...“

Wieder konnte sich der Jüngere ein Kichern nicht verkneifen, unterdrückte es aber schnell wieder, als nun er wieder weiter sprach.

„Der Andere hat es leider geschafft zu flüchten... er ist jetzt sicher in sein Nest zurückgekehrt!“

Durch die Reihen ging Gelächter. Bei den Gedanken an solch erbärmliche Lebensformen war die Tatsache, dass darauf von einem guten, fruchtbaren Land berichtet wurde nur noch halb so spannend wie gedacht. Die Zwillinge schienen zufrieden und das Dorf bester Laune und beinahe hätte Mahrran zum Fest aufgerufen, da trat Shiran aus seinem Schatten.

Nadeshda schnaubte bereits, ehe auch nur ein einziges Wort seinen Mund verlassen hatte. Ja, er hatte Recht gehabt. Und sie hatten ihm nicht getraut... da konnte er sich wirklich etwas drauf einbilden.
 

Das war ihm zu simpel. Er würde ihnen lieber noch einmal beweisen, was für ein guter Seher er doch war... und dieses Mal würde man ihm glauben müssen. Das war fair... so fair musste man auch sein.

Seine Aufmerksamkeit legte sich auf die beiden Heimgekehrten. Die Meute um ihn herum verstummte, als er vor den beiden auf und ab zu gehen begann, wie immer sein seltsames Grinsen auf den Lippen.

„Kennt... ihr beiden Vögel nicht das Verbot?!“, er hielt inne, „Ihr dürft nicht weiter gehen! Ihr seid bereits viel zu weit!“

Dieses Mal konnte Nadeshda ihrem Bruder den fragenden Blick, den er ihr zuwarf, nicht verdenken... sie erwiderte ihn dezent.

Was sprach der da? Er fuhr fort.

„Redet anständig mit mir! Ihr sollte Respekt haben vor den Bewohnern des fremden Landes!“

Als er verstummt war und weiterhin vor sich hin grinste, herrschte erst einmal Schweigen. Nach einigem Blinzeln wagte Irlak dann zu fragen.

„Was... willst du von uns? Welche Bewohner eines fremden Landes?“

An sich war das Denken des Sehers den Meisten zu hoch, doch auf ein dezentes Flüstern in seinem Kopf begann es Kajira zu dämmern. Gerne hätte er etwas gesagt, seinen Brüdern geholfen und seine Familie geehrt... aber er konnte nicht. Er war noch nicht verheiratet.

Etwas beleidigt drängte er sich durch die Menge zu seiner Verlobten und nahm ihre Hand in seine. Sie sollten ihre Verbundenheit sehen... vielleicht sah es ja auch Mahrran mit seinem funktionierenden Auge und er entschied endlich das, was längst überfällig war.
 

Er bemerkte ihn nicht. Shirans Gesicht wurde kurzzeitig ernst. Sein jüngeres Gegenüber zuckte unter dem ernsten Blick aus seinen allwissenden Augen etwas zusammen und symbolisch fuhr ihm der Seewind herbe in den Rücken.

„Das, meine Freunde, waren die Worte von Rhik. Rhik hat sie selbst zu euch gesagt in der naiven Vernunft seines Volkes, ehe ihr in überflüssigerweise getötet habt. Das wird uns Unannehmlichkeiten bringen...“

Schweigen.

Nadeshda bedachte den Seher eines langen, prüfenden Blickes. Er wandte ihr den Rücken zu, doch sie wusste, dass er es dennoch bemerkte, auch wenn er keine Regung zeigte. Dieser Moment gehörte nicht ihr, sondern ganz allein ihm. Ihm und der Macht seines Wissens.

Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie weiter dachte. Und dennoch würde seine Macht nie an die ihre heranreichen. Sie hatte das Schicksal in der Hand... sie konnte ihn töten, wenn sie wollte...

Etwas durchfuhr sie. Konnte sie das wirklich? Beinahe wäre ihrer Kehle ein leichtes Keuchen entflohen, als sie bemerkte, wie er seinen Kopf minimal in ihre Richtung wandte, sodass er sie aus den Augenwinkeln heraus sehen konnte.

Wage es nicht.
 

Beinahe hätte sie ihn angefahren, ihn vor allen Leuten gefragt, was er sich erlaubte, ihr, einem Himmelskind zu befehlen... im letzten Moment konnte sie sich noch einmal fassen. Kein einziges, an sie gewendetes Wort hatte seinen Mund verlassen. Man würde sie für verrückt halten...

„Rhik?“, lenkte ihr Bruder die Aufmerksamkeit aller da wieder auf sich, „Meinst du... den Kerl, dessen Blut an Irlaks Kleidung klebt? ... die Menschen haben Namen?!“

Er hüstelte, scheinbar etwas verlegen über sein Unwissen und Nadeshda schielte ihn innerlich seufzend von der Seite an. Wie konnte ein Mann in seiner Position nur derart naiv sein?

Mahrran, der Zweifler.

Shiran erlaubte sich ein zwielichtiges Kichern.

„Nun... auch wenn unsere beiden Freunde hier es vielleicht nicht als solche anerkennen wollen, so verfügen die Menschen definitiv über eine Sprache... wie wir eigentlich wissen sollten.“, sein Blick, gefolgt von vielen weiteren, wanderte kurz und auffällig zu einem jungen Mann in den hinteren Reihen, der sich darauf jedoch nicht regte, „Jede Gruppe von... Individuen mit Sprachbegabung beginnt damit, sich Namen für die Artgenossen auszudenken. Und der eures Opfers lautete Rhik.“

Verwirrtes Murmeln. Die Frage des Volkes war klar und der Seher wunderte sich nicht, als Nadeshda es war, die ihn mit ihrer scharfen, feindseligen Stimme weiter fragte. Wundern... er hatte sich noch nie gewundert.

„Und, du großer, weiser Mann, was daran ist von Belang?! Es ist mir ziemlich egal, wie diese minderwertige Kreatur hieß! Es gab einen Vorfall, na und? Ich sage, wir ignorieren die Lebensgeschichte von Rhik, die du uns zweifelsohne als nächstes erzählt hättest, und tun das, wozu mein Bruder sicher gleich aufgerufen hätte...“

Sie ließ ihren Blick durch die Reihen schweifen und stellte zufrieden fest, dass alle Aufmerksamkeit auf ihr lag. Shiran kehrte ihr noch immer den Rücken. Er wusste selbst, warum, während sie ihre Aufforderung endlich aussprach.

„Bereitet ein Freudenfeuer vor! Heute Abend wollen wir feiern!“
 

„Ich finde es komisch... Shiran hat seltsame Dinge gesagt, nicht?“

Sundri bedachte ihren Cousin eines fragenden Blickes. Der zuckte nur mit den Schultern, während er neben ihr ging und Holz mit sich trug.

„Die junge Frau denkt zu viel nach.“, tat er es nur ab.

Sie schnaubte. Zu viel nachdenken? Nach gründlicher Überlegung war sie zu dem Schluss gekommen, dass das gar nicht ging. Die Welt war so groß, bunt und voller Wunder, von denen nicht einmal der Seher mit Sicherheit behaupten konnte, sie zu verstehen, dass man einfach alles überdenken musste! Warum war sie die einzige, die es interessierte, warum die Vögel fliegen konnten? Und warum manche es nachdem sie nass wurden nur noch sehr schlecht konnten, während es anderen nichts ausmachte? Sie dachte da besonders an die weißen Seevögel, die den Männern ihre Fänge immer wieder streitig zu machen versuchten.

Dank ihren Gedanken war das Problem mittlerweile etwas eingedämmt... diese Tiere hatten zwar genervt, aber es waren immer noch Tiere gewesen... und ihre Rivalen Kalenao, Wesen, die sich von mehr als nur Fisch ernähren konnten.

Es gab vielseitige Möglichkeiten, Vögel zu fangen und zuzubereiten. Sie schmeckten nicht schlecht.

Irgendwie fand sie es lächerlich, das einseitige Denken ihres Volkes.

Konnten Menschen denn wirklich so viel primitiver sein...?

„Beeilen wir uns etwas?“

Der junge Mann an ihrer Seite riss sie aus ihren Gedanken. Er seufzte.

„Unaufmerksames Ding. Nadeshda wird uns töten, wenn wir uns nicht sputen, es muss ein schönes Feuer werden.“

Ach ja, das Feuer. Sie erschauderte kurz, als ihr einfiel, was ihnen in den nächsten Monaten wohl bevorstehen würde, während sie auf ihren Cousin hörte und sich etwas zu beeilen begann.

Die Küste verlassen... das gefiel ihr nicht. Sie lebten doch bereits seit ewigen Generationen hier, es war das Land ihrer Ahnen, warum sollten sie es auf einmal verlassen?

Ihr nehmt mehr Kinder des Meeres mit euch, als neue geboren werden können.

Sie senkte den Kopf etwas beschämt über die zärtliche Zurechtweisung einer ihrer Gottheiten, denn sie wusste, dass es wahr war.

Sie mussten ihrer Heimat den Rücken kehren, wenn sie leben wollten. Und wenn ihre Heimat weiter leben sollte.
 

Shiran wusste das natürlich. Als Seher sah er wirklich viel... und noch viel mehr hörte er. Darum war er auch froh... es gab auch seinesgleichen, das wirklich mehr „sah“, in Form von Visionen, die mitten am Tage, egal, in welcher Situation kamen und die Person kurzzeitig vollkommen lahm legten. Er hasste es heimlich, wenn es gelegentlich über ihn kam... nicht nur, weil es ihn so wehrlos machte, sondern auch, weil es ihm einfach unangenehm war. Die Träume in der Nacht fand er an sich durchaus ausreichend...

Er starrte in das große Feuer vor sich, um das die Dorfbewohner aufgeregt huschten und ein großes Fest vorbereiteten. Bald waren sie fertig, bald würde die Entdeckung der beiden Kindsköpfe gefeiert werden.

Der Mann grinste in sich hinein, als er eine Eingebung hatte, die sich wenige Momente darauf bewahrheiten sollte.

„Was meintest du mit... Unannehmlichkeiten?“

Mahrran bemühte sich wie immer um einen möglichst monotonen Stimmklang und der Seher fragte sich einen Augenblick lang, wie er es schaffte, im Dorf wirklich als Respektperson durchzugehen. War er denn wirklich der einzige, der ihn so leicht durchschaute?

Er ist ein Götterkind.

Die Antwort war so schändlich leicht. Sein Gesichtsausdruck veränderte nicht, als der Jüngere neben ihn trat.

„Das Verhalten der beiden Auskundschafter war töricht. Menschen... sind tatsächlich lächerliche Wesen im Vergleich zu uns, aber das ist nur ein Blickwinkel.“

Er sah dem Anderen ins Gesicht, als er seine Brauen etwas ob.

„Vermagst du mit deinem blinden Auge den anderen zu erkennen?“

Einige Momente vergingen und Shiran amüsierte sich innerlich köstlich darüber, dass sein Gegenüber nun tatsächlich darüber nachdachte, ob das wohl eine Beleidigung gewesen war. Schließlich wandte er den Blick wieder ab.

„Ich fürchte nicht so ganz...“

Der Seher schloss kurz die Augen. In seinen Gedanken tauchte das Bild von dem unbedeutenden Mädchen Sundri kurz auf und er erinnerte sich daran, dass sie ihr Volk gelegentlich peinlich fand, weil es so selten nachdachte und kaum hinterfragte. Obgleich sie selbst dumm wie Bohnengras war, hatte sie wohl irgendwo Recht.

Als er seine Iriden wieder öffnete, waren die Vorbereitungen vor ihm so gut wie abgeschlossen.

„Ihr vergleicht falsch.“, begann er dann zu erklären, „Natürlich sind diese Menschen primitiv, denn anders als wir haben sie kaum Unterstützung von den Göttern unserer Welt. Vergleicht anders! Vergleicht einen Menschen, ein Wesen, das unserem Volke ähnlich sieht, ja, ihm zumindest rein körperlich sogar grundsätzlich überlegen ist und denken, sprechen kann einmal mit den Tieren dieses Planeten! Lerne, diese Art mit anderen Augen – einem anderen Auge – zu sehen!“

Mahrran blinzelte verblüfft, als Shirans Grinsen verschwand und er ernst und mit erstaunlich viel Elan zu ihm gesprochen hatte.

Menschen mit Tieren zu vergleichen war ein seltsamer Gedanke. Der Seher hatte schon recht... sie bauten Waffen und machten sich Kleidung aus den Fellen ihrer Beute... so dermaßen dumm konnten die doch gar nicht sein. Oder...? Es war etwas verwirrend, zumindest für ihn. Und dabei sollte er die Fäden doch eigentlich in den Händen halten...

„Ich versuche es.“, versprach er etwas bitter, „Aber meine eigentliche Frage hast du noch immer nicht beantwortet. Unannehmlichkeiten?“

Er blinzelte, als der Ältere sich einfach abwandte. Sein Grinsen war zurückgekehrt.

„Weißt du, Mahrran... feiere. Amüsiere dich. Ich bin doch so wie so bloß der Lügner.“
 

Irlak und Rato wurden gefeiert. Sie erzählten von dem guten Land und wie sie den seltsamen Mann namens Rhik getötet hatten, auf welche Weise er zerfetzt wurde und wie amüsant sein letzter Blick gewesen war.

„Menschen schauen nicht viel anders als Beutetiere, wenn man sie erlegt!“, gackerte der jüngere Bruder, während er auf einem Ehrenplatz am Feuer saß.

„Vielleicht schmecken sie ja auch so...“, überlegte ein anderer Mann irgendwo und als darauf ein interessantes Schweigen entstand und einzig das Knistern der Flammen und leiser die Brandung zu hören war, schaltete sich Nadeshda ein.

Sie erhob sich und trat in den Mittelpunkt. Im leichten Wind wehte ihr langes, hellblaues Haar und ihr Hauch von Kleidung bewegte sich auf eine Weise, die vielen Männern wohl nicht egal gewesen wäre, hätten sie nicht gewusst, dass auch nur eine einzige falsche Bewegung ihr Tod gewesen wäre. Sie nahm niemanden aus dem Volk. Sie nahm überhaupt niemanden... dazu war sie zu gut.

Ob „gut“ das richtige Wort für eine Person wie sie war, vermochte niemand zu sagen. Aber dass das Leben aller in den Händen dieser Frau, kaum größer als ein Kind, lag, war ihnen bekannt.

„Shiran...“, sprach sie mit ihrer lauten, klaren Stimme, die so giftig klingen konnte, dass man das Gefühl hatte, sie würde einen beim bloßen Zuhören verätzen. Ihr Blick schweifte zu dem Seher der ganz in ihrer Nähe bei den Flammen saß und mit seinem typischen Grinsen zu ihr aufsah. Sie wandte sich zeitig wieder von ihm ab und dem Dorf zu.

„Shiran...“, begann sie dann abermals, „... hat angedeutet, dass diese... Menschen uns „Probleme“ machen könnten... Ich weiß nicht, wessen Worte das gerade waren, aber ich sage, wenn uns so einer noch einmal über den Weg läuft, warum probieren wir es nicht aus? Vielleicht ist es gutes Fleisch!“

„Genau!“

Irlak, dem sein Ruhm etwas zu Kopf gestiegen war, ebenso wie der Alkohol, den er zuvor zu sich genommen hatte, sprang auf. Er sprang wild auf und ab und war zu benebelt um den tödlichen Blick der jungen Frau zu merken, als er zum Sprechen ansetze... zu seinem Glück war es eine reine Bestätigung.

„Richtig!“, schrie er, „Die machen ohnehin nur Ärger! Mit denen lässt sich gar nichts anderes sinnvolles tun! So bekommen wir dieses Land!“

Einige seiner vor allen jüngeren Geschwister stimmten ihm darauf lautstark zu und er fühlte sich sichtlich wohl in seiner Haut, als er triumphierend um das Feuer schritt, an Nadeshda, Mahrran und Shiran vorbei, ohne sie einer einziges respektvollen Geste zu würdigen, den Kopf weit oben tragend. Er trug einen seltsamen Schal, den seine Frau aus den Überresten der primitiven Fellkleidung seines Opfers für ihn genäht hatte und erschien so tatsächlich etwas ehrerbietend.

Ein heftiger Schlag riss ihn aus seiner Traumwelt.

Mahrrans Handeln war wirklich gutmütig gewesen, das wussten alle, als Irlak vor den Füßen des Götterkindes im sandigen Dreck landete und Blut hustete. Er hätte schlimmeres mit ihm machen können und nach dem Blick seiner Zwillingsschwester zu urteilen wohl auch sollen, aber wo er Recht hatte, hatte er Recht; er war auf der Reise mit seinem älteren Bruder wirklich sehr erfolgreich gewesen.

„Geh auf deinen Platz zurück. Sofort.“, musste er sich dennoch zurechtweisen lassen und sich die aufgeplatzte Lippe haltend richtete er sich ernüchtert wieder auf und tat, wie ihm geheißen. Zu widersprechen wäre sein sicherer Tod gewesen.

„Wenn ich mir eine Frage erlauben darf...“, Nadeshda nickte Rato zu, der sich etwas verhalten räusperte, „Wie gehen wir denn nun weiter vor?“

Die Frau strich sich durch ihr langes Haar, ehe sie einige Schritte auf ihn zutrat. Darüber hatte sie am Mittag natürlich nachgedacht. Ihr Plan war simpel und dank ihrer Macht würde er natürlich aufgehen.

Daran zweifelte auch niemand.

„Eine zweite Erkundungsmission. Nachdem ihr beiden kaum über den letzten Pass hinaus gekommen seid, geht es nun um die Details... und um die Menschen. Irlak wird schon Recht sprechen, wenn er behauptet, sie könnten uns auf den Geist gehen... eventuell haben wir ja eine wundervolle Verwendung für sie.“

Sie entblößte ihre spitzen, scharfkantigen Zähne zu einem abstrusen Lächeln und durch die Reihen ging verstohlenes Kichern. Fleisch... gutes Fleisch... so etwas gab es an der Küste viel zu selten.

Immer zu die Kinder des Meeres zu fangen war unbefriedigend, auch wenn es schon seit sehr langer Zeit und vielen Generationen so ging.

Die Frau warf zufrieden den Kopf zurück und starrte in den Sternenhimmel.

Ja, unter ihrer Herrschaft würde alles besser werden. Ihre Ahnen hatten sie in dieses Land geführt... warum? Irgendetwas musste geschehen sein... denn die ganze Welt war wohl ein besserer Ort als der, an dem sie sich gerade befanden.

Wesen, wie Kalenao, gehörten nicht hier her... sie brauchten anständige Bedingungen. Bedingungen, unter denen sie wachsen konnten!

„Mahrran wird mit auf diese Reise kommen!“, verkündete sie weiter, während ihr Bruder sich nicht rührte und sie der Versammlung weiterhin ihren Blick enthielt, „Wer ansonsten mitkommt, dürfen unsere beiden... Helden entscheiden.“

Die beiden sahen sich verblüfft an. Wer dann die Stimme dreist erhob, überraschte sie.

„Lasst mich bitte gehen!“

Sie sahen auf ihren jüngsten Bruder, Kajira, der verzweifelt zu ihnen sah. Vor lauter Aufregung war ihm sein Fisch vom Spieß gefallen. Mabalysca blinzelte ihren Verlobten überrascht an.

Aber... das geht doch nicht! Das ist zu gefährlich!

Beinahe hätte sie es laut gesagt, aber sie hielt sich zurück. Am Ende hätte sie ihn damit noch beschämt, noch mehr, als er gerade seine Familie beschämte und dann hätte irgendeiner der Vorstände ihre Bindung wieder gelöst, weil sie ihn nicht verdiente.

Und genau darum ging es. Der junge Mann fand sich zu unauffällig in seiner Masse von Geschwistern. Er musste beweisen, wie reif und mutig er war, damit es endlich zur Vermählung kam!

Nadeshda senkte ihr Haupt wieder. Ihre orangenen Iriden fixierten nun allein den Jüngeren.

„So so...“, ihre Stimme war nicht lauter als ein Flüstern, „Vorlauter Kerl. Nun, wenn es im Sinne deiner Familie ist, dann soll es meinetwegen so sein. Eigentlich bist du nicht reif genug, doch... wie wichtig bist du schon? Nehme es selbst in die Hand, dein... Schicksal.“
 


 

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Bla, weiß nicht mehr, worum es ging. Die ersten Kappis wurden nicht beta gelesen, bitte also, Fehler zu verzeihen <3

Nacht

Ein leichter Dunst lag über der morgendlichen Savanne. Einige Vögel zwitscherten ein unheilvolles Lied, so erschien es dem jungen Häuptling, als er zu ihnen an den durch den Sonnenaufgang violett erscheinenden Himmel sah. Es würde ein schwerer Tag werden, er grämte sich vor dem, was gleich geschehen müsste.

Ein leichter Windhauch brachte Schritte mit sich, die im mittelhohen Gras leise raschelten. Moconi war etwas abseits des Lagers... wie es die Tradition verlangte. Denn auch an diesem Morgen war die Sonne dabei, wieder aufzugehen... sie bestärkte den Mann in seinem Handeln, jeden Tag aufs Neue.

Und dennoch...

„Bist du dir deiner Entscheidung sicher?“

Er sah zu Karem auf, der neben ihn getreten war. Sein Sohn Joru hatte etwas weiter hinten inne gehalten. Er zitterte, obwohl die Temperaturen mild waren... und er war müde nach der schlaflosen Nacht unter seinem schweren Gepäck. Er hatte es sich nicht selbst zusammengestellt... das hatte er nicht gedurft. Im Sinne der Ahnen durften Ausgestoßene nichts mitnehmen, was andere Stammesmitglieder ihnen nicht ausdrücklich geschenkt hatten. Scheinbar traf sein Schicksal auf großes Mitleid, doch wirklich etwas davon hatte er ja nicht...

„Vollkommen.“, erwiderte sein Vater da emotionslos, „Eine solche Schande verdient keine... gutmütige Chance. Er muss verschwinden, ich will ihn nicht mehr sehen.“

Moconi senkte sein Haupt minimal, als sein Nebenmann die Arme schnaubend vor der Brust verschränkte. Was er nun tat, war nicht ganz sein Recht, aber...

„Karem... er ist dein erster Sohn. Bist du...?!“

„Bin ich!“, der Ältere zischte und einen Augenblick lang war der Häuptling sich nicht sicher, ob er geschlagen werde würde, als sein Gegenüber sich ihm grob zuwandte. Das war grausam...

„Tu nun endlich deine Pflicht!Es ist schließlich... Tradition!“

Damit drehte er sich um und verschwand. An sein Kind verlor er kein einziges weiteres Wort mehr, nicht einmal einen Blick schenkte er ihm...

In Moconi zog sich etwas zusammen, als er zu dem noch immer Jungen schritt und seufzend vor ihm inne hielt.

„Es ist soweit...“

„Spare dir deine Worte, Häuptling.“

Joru bedachte ihn eines seltsamen Blickes.

Sein Gegenüber erkannte in seinem Gesicht nichts, womit es gerechnet hätte. Weder Trauer noch Angst, nicht einmal Wut... es war pure Resignation. Das Stammesoberhaupt war jung, es tat ihm weh, tatsächlich so etwas zuzulassen. Aber er musste... es musste sein.

„Nun gut, dann...“

„Lass es!“, der Jüngere schnaubte kurz, „Höre mir bloß zu, ein letztes Mal.“

Moconi nickte. Mit einem Mal wirkte der ansonsten schwächliche, weinerliche Kerl so dermaßen erwachsen, dass der Häuptling ihm sich auf gewisse Weise unterlegen fühlte. Er zog leise die Morgenluft durch die Zähne ein, als er nickte.

Joru senkte sein Haupt leicht...

„Die Geschichte, wie Rhik sein Leben verlor... die habe ich mir nicht ausgedacht. Ehrlich nicht. Spätestens jetzt hätte ich da ja nichts mehr von. Also...“, er sah wieder auf, eindringlicher denn je, „Diese elenden Missgeburten sind über den kompletten Pass gerannt, bis sie unser Land gesehen haben und... sie schienen nicht abgeneigt. Ich habe mich etwas oberhalb versteckt... sie waren völlig euphorisch und... dann sind sie umgekehrt. Ich habe ein schlechtes Gefühl... ich glaube, da kommt noch etwas auf uns... euch zu. Pass auf deinen Stamm auf! Und... ich danke dir für dein Angebot, das mein Vater abgelehnt hat...“

Ohne eine Reaktion abzuwarten schritt er an seinem Gegenüber vorbei in den Sonnenaufgang, ließ ihm keine Chance, die Worte des Abschiedes ordnungsgemäß sprechen zu lassen.
 

„Wir wissen, dass wir an sich noch nichts an diesem Feuer zu suchen haben...“

„Und wir wollen auch nicht stören...“

„Aber wir hatten Sehnsucht nach dir!“

„Und du verstehst uns kein Wort...“

Die Zwillinge Novaya und Semilya seufzten synchron, als Mefasa dumm zwischen beiden her sah. Sie säugte gerade ihren kleinen Sohn, den sie noch von Rhik hatte und die beiden Jungen hatte es einfach überkommen, zu ihr zu gehen.

„An sich ist es doch perfekt, dass wir sie zu zweit genommen haben, nicht wahr? Dann können wir später wenigstens miteinander reden und werden es nicht verlernen...“

Novaya setzte sich neben die Rothaarige und sah zu seinem Bruder auf, der es ihm nun auf der anderen Seite gleich tat.

„Wohl wahr.“, er musterte die Ältere, wie sie verwirrt lächelte und ihr noch immer trinkendes Baby leicht wiegte, „Sie hat schöne Brüste, oder?“

Der Jüngere grinste amüsiert über die Gedanken seines Zwillings.

„Das ist richtig...“, einen Moment zögerte er, dann wagte er sich, sie anzufassen.

Mefasa blinzelte bei der ungeübten, neugierigen Berührung und der andere Junge legte interessiert den Kopf schief.

„Ha?“

Semliya lächelte ihr errötend ins Gesicht und nach einigen Sekunden erwiderte sie es und kicherte dann amüsiert, ihn gewähren lassend.

„Sie war eine gute Wahl, glaube ich.“

Novaya nickte zufrieden.
 

„Also echt!“

Die Zwillinge zuckten unter der empörten Stimme ihrer älteren Schwester zusammen, als dieser auf die Feuerstelle zutrampelte und Semliya zog seine Hand wieder zurück. Mefasa seufzte leise.

„Ihr seid echt unverschämt! Mutter schickt nach euch, sie sorgt sich, dass ihr zu dieser Zeit schon weg seid und wo finde ich euch? Bei dieser armen Frau!“

„Ja, diese Frau, die bald unsere Frau sein wird.“, schnappte der jüngste Bruder errötend und der Andere ergänzte, „Um die wir uns so bald wie möglich anständig kümmern wollen!“

Calyri schüttelte verständnislos den Kopf, während ihre taube Freundin sich unbeeindruckt mit ihrem Sohn in ihre Hütte zurückzog, vermutlich, um ihn frisch zu machen.

„Ich weiß ja nicht, was unseren traditionsbewussten Häuptling dazu getrieben hat, das zuzulassen, aber noch seid ihr zwölf und auch wenn ihr beinahe so ausseht noch längst keine Männer! Sie hat gestern erst von Rhiks Tod erfahren, da kannst du sie doch heute noch nicht anfassen, Semliya, das ist unsensibel!“

Der Angesprochene erhob sich, finster auf die ältere Schwester hinabsehend. Sie mischte sich zu sehr ein, immer tat sie das. Dabei war sie selbst eine reine Versagerin, so lange er denken konnte... schaffte es nicht einmal, dass ein Mann zu ihr ans Feuer kam und um sie bat, lachhaft! Für seinen Geschmack war sie aber auch etwas hässlich, wen wunderte es da bei dem momentanen Angebot an besseren Frauen im Stamm...

„Törichte Gans!“, nannte er sie, „Ich wäre sicher nicht vor allen Leuten während sie ihr Kind stillt über sie hergefallen!“

„Das gehörte zum Kennenlernen...“, bestätigte Novaya, der sich nun ebenso feindselig erhob.

Die Schwester schüttelte nur den Kopf. Warum waren Männer auch nur so töricht? Sie musste unbedingt auf die arme Mefasa einreden, dass sie diese beiden Idioten wieder von ihrem Feuer vertrieb, sonst würde sie in ihrem Leben nie wieder auch nur eine einzige ruhige Minute haben...

„Kennenlernen! Nur weil ihr keine Möglichkeit habt, etwas über ihren Charakter zu erfahren, könnt ihr das doch nicht durch... Fummeln ersetzen! Abartig ist das!“

„Abartig bist nur du, alte Frau, die noch immer auf Vaters Verderb lebt, weil kein Mann sie will!“, schnarrte der Ältere der Jungen verächtlich und spuckte vor ihr auf den Boden, „Du hast kein Recht, dich in unser Leben einzumischen!“

„Also verschwinde!“

Semliya hatte miteingestimmt und sie unsanft einen Schritt zurück gestoßen. Sie starrte nur entsetzt.

Moconi hatte Recht. Zwillinge, die das selbe Antlitz teilten, konnten keine guten Menschen sein. Irgendetwas böses verbarg sich in den Beiden, das nur sie selbst kannten. Je ältere die Jungen wurden, desto mehr fürchtete sie es...

Sie wandte den Blick bitter ab.

„Tut euch einfach den Gefallen und... seid wenigstens gut zu ihr...“

Dann rannte sie weg.
 

Als sie das Lager verließ, rannte sie Moconi buchstäblich in die Arme. Die Entwicklung ihrer Familie hatte sie verletzt, die Tatsache, ihren eigenen Brüdern nicht trauen zu können war schmerzlich und so hatte sie mit zusammengekniffenen Augen versucht die Tränen zurückzuhalten, um wenigstens eine starke Frau zu sein, als sie in ihren Häuptling hineingerannt war, der sie überrascht aufgefangen hatte.

„Nicht so stürmisch!“ , belehrte er sie etwas überrumpelt, als er sie wieder los gelassen hatte und sie drehte beschämt ihr Gesicht weg.

Calyri musste kurz nachdenken, ehe ihr einfiel, von wo er zu dieser Zeit kam. Ja... sie wusste es wieder.

„Du hast Joru verabschiedet, nicht?“, lenkte sie von sich ab und er pfiff durch die Zähne.

Und da hatte er selbst auf etwas Ablenkung gehofft... einen Moment lange senkte auch er sein Haupt. In der Zeit, in der er Häuptling war, war das bisher nie vorgekommen. Obgleich er sehr an Traditionen hing, hatte er Probleme noch immer anders gelöst – jemanden auszustoßen glich einem Todesurteil, so etwas war gar nicht in Frage gekommen. Ja, bisher hatte es immer eine Möglichkeit gegeben, die weder die Ahnen verärgert, noch den Betroffenen gefährdet hatte. Und das hätte es auch dieses Mal, wenn Karem nicht gewesen wäre... Karem.

Moment, warum hatte er auf ihn gehört?

„Nein!“

Die Jüngere schrie vor Schreck kurz auf, als er sie am Handgelenk packte und mit sich zog, zurück, in die Richtung, aus der er gekommen war.

Vielleicht hatte er Glück. Vielleicht fand er ihn wieder in diesem weiten Land... er würde ihn finden! Er war das Oberhaupt des Stammes, nicht Karem!

„Ich werde manipuliert!“, erklärte er Calyri im Rennen, die ihn dabei nur entsetzt anstarrte, „Das ist doch unnötig! Das geht verdammt noch mal anders! Niemand aus diesem Stamm soll sterben, bloß weil es ein kaltherziger Mann so will!“

Er erwartete nicht ernsthaft, dass sie verstand, wovon er sprach, er hatte es nur loswerden wollen. Und wieder einmal überraschte sie ihn mit ungewöhnlichem Scharfsinn, denn nach einigen Sekunden wusste sie, was in ihm vermutlich vorging.

Die Federn verbinden uns doch...!

„Karem ist eifersüchtig, das musst du ihm nachsehen!“, riet sie ihm und er stoppt abrupt und starrte sie mit einem Blick an, der sie zusammenzucken ließ. Eine kalte Schauer überkam sie passend mit einem Windstoß.

„Ich werde es niemandem nachsehen, wenn er sein Kind aus einem nichtigen Grund tötet, Frau!“

Dann ließ er sie los und rannte weiter. Sie würde ihm von selbst folgen.
 

Das tat sie. Das tat sie eine ganze Weile und je mehr sie dank der immer weiter voranschreitenden Erschöpfung nach Atem rang, desto klarer wurde ihr, dass ihr Häuptling kaum mehr als ein Kind sein konnte.

Ein Mann musste zu seinem Wort stehen... er durfte er bereuen, aber doch nicht seinen Stamm Ewigkeiten allein lassen, um den vermeintlichen Fehler wieder rückgängig zu machen und so auch noch Menschen zu beschämen!

Sie visierte seinen Rücken vor sich.

Immer weiter rannte er in das weite Grasland, rief nach dem ausgestoßenen Jungen und schien sein törichtes Verhalten überhaupt nicht zu bemerken. Ob er überhaupt noch an seine Begleiterin dachte?

Sie hielt inne und rang nach Luft, als ein starkes Schwindelgefühl sie überkam.

„Moconi! Warte!“

Damit hatte sie tatsächlich mehr Tiere aufgescheucht als der Ältere ohnehin schon, der langsam zum Stehen kam und irritiert und mittlerweile ebenso außer Atem zu ihr blickte, dabei fast von irgendeiner verirrten und erschrockenen Antilope niedergerannt werdend.

Wenn sie sein Handeln jetzt anzweifelte, beschämte sie ihn... aber er war unvernünftig!

Müde stapfte sie ihm nach, bis sie seufzend wieder vor ihm zum stehen kam.

„Wir müssen uns beeilen!“, schnappte er, „Hältst du denn auch deine Augen offen?“

Calyri strich sich ernüchtert ein paar Strähnen aus dem Gesicht.

„Aber ja doch.“, beruhigte sie ihn, „Aber ich denke, wir müssen zurück! Ich glaube nicht, dass wir ihn noch finden, so weit wie wir jetzt sind, ist er bestimmt nicht gerannt, ich...“

Sie senkte ihr Haupt wieder. Er tat es ihr gleich, als er ihre Gedanken erriet.

„Du glaubst, er hätte keine bekannte Strecke genommen, sondern es auf die Gefahr abgesehen... damit er es hinter sich hat?“

Einen Moment waren nur die über ihnen kreisenden Vögel und das Rauschen des Windes im Gras zu hören, dann stöhnte er gequält und setzte sich wo er war auf den Boden. Sie erwies ihm immerhin die Ehre, es ihm gleich zu tun, damit sie ihn nicht überragte.

„Ich habe mich hinreißen lassen!“, klagte er, „Aber Karem hat mir Ärger bereitet!“

Er schüttelte den Kopf und strich sich durch das wirre braune Haar. In diesem Augenblick sah er tatsächlich aus wie ein kleiner, hilfloser Junge.

„Was verlange ich schon? Das Achten der Traditionen und Gerechtigkeit, ist das ernsthaft zu viel? Oder sind einfach alle darauf aus, mir das Leben schwer zu machen, mich zu erniedrigen in meinen kaum vorhandenen Fähigkeiten?! Ach Calyri...“

Sie zögerte, als er sich einfach zurück fallen ließ und im Gras landete. Wie lange war es her? Wie viel Zeit war vergangen, dass sie als Kinder so nebeneinander gelegen, einfach nur den Wolken zugesehen hatten, wie sie über sie hinweg gezogen waren? Und nun, nach so langer Zeit, wo sie einmal wieder die Gelegenheit dazu gehabt hätten, fühlte sich Moconi so mies...

Ihre Kindheit war eindeutig zu schnell verstrichen... und wieder einmal verstand sie ihre jüngeren Zwillingsbrüder nicht... wie konnten sie sich denn so früh für eine Frau entscheiden? So viel Verantwortung in ihrem zarten Alter auf sich nehmen? Es war ihr unbegreiflich...

„Joru... hat gesagt, es seien Kalenao gewesen...“, riss ihr Häuptling sie da aus ihren Gedanken und sie krabbelte etwas auf ihn zu, um ihn besser ansehen zu können.

Ja, davon hatte sie auch schon mitbekommen.

„Das glaube ich aber nicht.“, gab sie zu, „Er hat an einem einzigen Tag so viel gesprochen wie die alten Frauen in einem Mond, das habe ich nie sonderlich ernst genommen...“

Soweit sie zurückdenken konnte, war Joru durchgehend ein komischer Kauz gewesen. Ein Angeber, Angsthase und Nichtskönner, niemand, den man wirklich gern haben konnte, so fand sie. Aber Moconi hatte schon Recht, dass man ihn ausstieß hatte er wirklich nicht verdient...

Der Ältere schüttelte den Kopf.

„Ich glaube, er hat die Wahrheit gesprochen. Er hat es mir heute morgen noch einmal gesagt... ich habe keine Lüge erkannt.“

Er schloss die Augen einen Moment und das Mädchen blinzelte. Wie... er glaubte ihm?

Calyri selbst war sich Zeit ihres Lebens nicht einmal sicher gewesen, ob es die Kalenao, von denen man ab und an abends am Feuer zu hören bekam, überhaupt wirklich gab. Das Land am großen Wasser, wo sie angeblich lebten, war viel zu weit entfernt, um in der Gedankenwelt der jungen Frau Platz zu finden und Magier selbst hatte sie noch nie gesehen, und an solche Dinge konnte sie ohnehin nur schwer glauben. Eine Ausnahme bildete da der Glaube an ihre Götter, aber dass die da waren, war ja klar; wer sonst hätte die Welt erschaffen können? Und die Monde? Die Sonne? Die Sterne? Nein, die gab es natürlich, aber es fiel ihr schwer, sich Wesen vorzustellen, die Menschen überlegen waren. Das behauptete man zumindest... aber wie konnte es etwas ... besseres geben als den Menschen? Ihre Gattung war intelligent und kreativ, mehr war doch kaum möglich! Magie... nein, daran glaubte sie nicht.

„Du sagst gar nichts mehr.“, riss der Ältere sie aus ihren Gedanken, „Dir kommt es immer noch komisch vor, denke ich... ja, mir auch.“

Moconi öffnete seine dunklen Augen wieder und starrte den Himmel an. Ein wunderschöner Morgen... vereinzelte Schönwetterwolken kündigten einen herrlichen Tag an. Er fühlte sich Joru gegenüber schuldig... hatte er sich seine seltsamen Worte deshalb so zu Herzen genommen? Da vermisste er seinen Vater wieder...

„Vielleicht sollte man dem nachgehen.“, er schielte zu Calyri, die leise vor sich hin murmelte, während sie ihre Knie anstarrte, „Vielleicht... findet sich ja noch etwas von Rhik... dann würde man sicher erkennen, was ihn getötet hat! Falls wir bald aufbrechen, sonst ist wohl nicht mehr viel über von dem Armen...“

Ohnehin fand die junge Frau es sehr schlimm, einen so guten Mann so unwürdig der Natur und den Windgeistern zu überlassen... das würde ihn sicher selbst zu einem von letzteren werden lassen! Nein, wenn es nach ihr ging, musste man das, was von Rhik übrig war, unbedingt einsammeln und zum Land der Ruhe an den großen Fluss bringen, den heiligen Flecken Erde, wo alle ihre Ahnen ihre Körper zurück gelassen hatten, um in eine neue Welt aufzusteigen. Nur dort konnte man ihm die Ehre erweisen, die ihm auch zustand...

Ihre Pläne wurden jäh unterbrochen, als Moconi sich empört aufsetzte. Beinahe hätte sie gekichert beim Anblick seiner Haare, die nun noch mehr von seinem Kopf abstanden als zuvor und voller Gras hingen, aber sein etwas säuerlicher Blick unterband es unverzüglich.

„Sag mal, Calyri, wie alt bist du?“

„Vierzehn.“, war die artige Antwort und er fuhr sich einmal durchs Gesicht und dann durchs Haar, worauf Pflanzenreste und etwas Erde darauf rieselten. Wieder hätte sie beinahe gegluckst, aber er seufzte nur resigniert.

„Du bist längst eine Frau. Du kennst unsere Geschichte sehr wohl... wir dürfen nicht in die Berge, wenn nicht zufällig ein Junge seine Prüfung hat... und im Moment ist außer Joru – der ja nun weg ist – keiner so alt wie du jetzt.“

Die Jüngere legte den Kopf schief. So alt wie sie? Aber dann...

„Dann lass mich die Prüfung doch machen!“

Sie strahlte ihn an und er fiel vor Schreck glatt wieder rückwärts um. Sie?!

„Aber mein Vater hat dich doch schon zu einer erwachsenen Frau gemacht!“, widersprach er verständnislos und Calyri ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie taten etwas weh, sie hatte in den letzten Tagen viel gearbeitet...

„Du hättest Joru auch mit dem Mädchen-Ritual erwachsen gemacht, warum also nicht auch umgekehrt?“

Der Häuptling schüttelte nur den Kopf, als er sich wieder aufsetzte. Sie schien ihm nicht wirklich zu lauschen, ebenso wie alle anderen im Lager. Hatte er nicht einen Moment zuvor noch angemerkt, dass sie durch das Ritual, das sein Vater ihr gegeben hatte, längst eine erwachsene Frau war? Noch erwachsener als erwachsen konnte man nicht werden, Himmel...

„Das ist eine unsinnige Zeitverschwendung.“, tat er es dann ab und erhob sich wieder, sie tat es ihm gleich, „Es... wäre wieder etwas, das gegen unsere Traditionen verstößt.“
 

Er stapfte bereits los, wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren, als die Jüngere ihn noch einmal zurück hielt.

„Moconi... wenn die Sonne eines Tages... nicht mehr scheinen würde... würdest du die Traditionen dann brechen?“

Sie merkte, wie er sich ihr noch einmal zuwandte. Einige Augenblicke schwieg er, während ein leichter Wind aufkam und sich das Gras darin wog.

„Behutsam.“, antwortete er dann, „Behutsam würde ich es wagen... wenn es sich denn alle so furchtbar wünschen...“
 

„Und du sitzt hier und hast nichts zu tun.“

Teco schnaubte, als er Sanan allein gegen einen Stein gelehnt dösend fand. Der war auch so ein Kandidat... der Gleichaltrige fragte sich gelegentlich, woran es lag, dass er noch allein war. War er am Ende auch in...? Himmel, irgendwann schlugen sich noch einmal alle gegenseitig tot der Frauen Willens.

Der Schwarzhaarige blinzelte unterdessen erschrocken und schaute sich erst einen Moment doof um, ehe er etwas erwiderte.

„Oh... ja... aber es ist ja auch noch früher morgen! Dann schlafe ich gelegentlich auch gern außerhalb der Hütte noch etwas... ja...“

Er rappelte sich auf und klopfte sich den Sand von der Hose. Teco zischte nur.

„Wir brechen das Lager wohl ab.“, erklärte er, „Ich denke mal, du willst nicht allein mit deinen Habseligkeiten hier bleiben, oder?“

All zu viele waren das ja nicht, seit er nicht mehr in der Hütte seiner Ziehfamilie lebte. Sanan war ein zierlicher Mann, der zierlichste im ganzen Stamm, sein Rücken war schmal und seine Arme, egal, wie sehr man sie durch Belastung zu trainieren versuchte, immer noch recht schwächlich, er musste sich auf das Nötigste beschränken, um weite Wege überhaupt zu schaffen. Ob die Leute aus dem fremden Stamm am Horizont ihn deshalb ausgesetzt hatten? Vielleicht hatte sein Vater erkannt, dass er ein schwächliches Baby gewesen war und ihn deshalb aussetzen lassen... etwas besseres fiel Teco jedenfalls nicht ein.

„Nein, natürlich nicht... ähm...“, Sanan legte den Kopf schief. Da war doch etwas falsch, „Wer sagt denn, dass wir es abbrechen?“

Moconi beriet sich immer mit ihm, ehe sie weiter zogen. Der junge Mann hatte ein gewisses Gespür dafür, wann es gut war, in welche Richtung weiter zu ziehen... sie hatten noch immer genügend zu essen gehabt. Bereits Saltec hatte immer ihn um Rat gebeten, wenn das Wild in der Umgebung knapp geworden war und er war sich als kleiner Junge immer unheimlich wichtig vorgekommen, weil er so ein guter Fährtenleser war. So hatte er natürlich auch immer mit als erster gewusst, wann es weiter ging, dass jemand ihm hatte Bescheid sagen müssen, hatte er selten erlebt.

„Karem!“, bekam er da zur Antwort und er stutzte, als Teco sich unbeeindruckt von ihm abwandte, „Er hat eine gute Stelle gefunden, meint er, weiter östlich in der Nähe des Flusses.“

Er wollte schon weg gehen, um seiner eigenen Familie beim Abbau zu helfen, da hielt der Gleichaltrige ihn empört noch einmal auf.

„An den Fluss? Im Osten?! Das ist Irrsinn, das ist gefährlich, da sind wir noch nie gewesen!“
 

„Eben darum.“

Sie drehten synchron ihre Köpfe in die Richtung, aus der Karems Stimme gekommen war. Der Mann trat erhobenen Hauptes aus dem Schatten einer Erdhütte hervor und wirkte unheimlich seriös in seiner besten Kleidung. Sogar sein rot-blondes Haar war ordentlich gekämmt... das war nicht typisch.

„Du bist nicht... genial, Sanan, kleiner Junge. Du bist nur schlau genug, uns immer zur selben Zeit im Jahr in die selben Richtungen zu schicken... du kennst die Tiere eben gut... zumindest manche.“

Er trat etwas näher und grinste breit.

„Dabei entgeht uns so viel gutes Fleisch, das ist eine Schande.“

„Hast du das eigentlich mit Moconi abgeklärt?“

Nicht, dass Teco sein Cousin nicht vollkommen egal gewesen wäre, aber irgendwie traute er diesem komischen Kerl nicht. Er hatte seinen eigenen Sohn aus dem Stamm verstoßen, das war doch traurig... so etwas hätte Porit nie getan. Und dessen Kind war wirklich vorlaut... Joru war das zwar auch gewesen, aber in den Augen aller amüsanter als Teco. Das war nun nicht mehr.

Er misstraute diesem Mann; mehr denn je, als er ein seltsames, zähnefletschendes Grinsen zeigte. Karems Zähne waren überraschend gut erhalten und hell für das Alter des Mannes, ein klares Zeichen der Stärke. Und Schönheit, nebenbei, den Frauen gefielen hübsche Gebisse anscheinend...

„Moconi ist nicht da.“, kam dann die Antwort, „Er ist nicht zurückgekehrt, nachdem er Joru verabschieden hat sollen... vielleicht ist er mit ihm gezogen, wer weiß es schon? Vielleicht mag er zurückkehren... aber so lange muss der Stamm geführt werden. Wir werden aufbrechen.“

Damit wandte er sich wieder ab und ließ die Jüngeren stehen.
 

„Das ist tödlich.“

Sanan schüttelte verwirrt den Kopf. Dabei wehte sein dunkles Haar amüsant im Wind. Genial war er vielleicht nicht, er machte auch Fehler, aber er brachte den Stamm niemals in Gefahr, nur um die eigene Neugierde zu stillen! Karem konnte Saltecs Sohn nicht würdig vertreten. Moconi mochte zwar etwas seltsam sein mit seiner Versessenheit auf Traditionen, aber wo er Recht hatte, hatte er Recht; da war schon etwas gutes dran. Er vertraute ihm.

„Und wenn es da wirklich gutes Fleisch gibt?“, überlegte Teco da laut und der Andere schnaubte nur.

Gutes Fleisch? Was findest du an unserem Fleisch denn schlecht? Das Land da unten in schlecht, da gibt es besten Falls Ziegen oder Kamele...“

Gut, das hatten sie hier nicht oft, aber gut geschmeckt hatte es Sanan ohnehin noch nie. Nein, er war vollkommen dagegen... und zwei Mal, wenn sie ihren Häuptling zurücklassen sollten!

„Was sagt eigentlich Kili dazu?“

Teco zuckte nur mit den Schultern. Ihm war es egal, wo sie lebten und jagten, Hauptsache, er hatte genug zu essen. Lust mit diesem komischen Kerl zu diskutieren deswegen hatte er überhaupt nicht... wobei es so lange nicht hatte helfen müssen, die Hütte abzubauen, das war wohl auch etwas. Vielleicht sollte er doch etwas Interesse zeigen...

„Wenn du möchtest, können wir sie ja fragen.“
 

Sanan war dankbar für diesen unerwarteten Vorschlag gewesen und wie er es erwartet hatte, war die junge Frau allerschlechtester Laune. Und das nicht einmal wegen Karem selbst...

„Es ist eine Frechheit!“, schimpfte sie und die beiden Männer, die im Eingang der Häuptlingshütte standen, warfen sich vielsagende Blicke zu, während die Jüngere ihre Rückentrage bereit machte, „Wo bei Himmel und Göttern ist mein Bruder?! Jetzt muss ich alles allein zusammenpacken! Bah! Dabei bin ich nicht einmal eine richtige Frau!“

Teco hob eine Braue.

„Ich dachte, er hätte dich schon zu einer gemacht?“

Das war zwar noch nicht all zu lange her, aber der Cousin glaubte sich noch an die kleine Feierlichkeit zu erinnern. Außerdem sah Kili auch schon sehr erwachsen aus, stellte er fest, als er seinen Blick über ihre sehr deutlichen Kurven schweifen ließ. Natürlich war sie eine Frau!

„Ich habe aber noch keinen Mann, also bin ich noch nicht richtig erwachsen!“, sie wickelte grob ein paar Vorräte ein, „Starr mich nicht so an! Wenn du mich willst, halt um meine Hand an!“

Solch eine Klappe konnte sich auch nicht jede leisten – genau genommen auch nur die kleine Schwester des Häuptlings. Der Angesprochene errötete ertappt und Sanan verkniff sich ein Kichern, als Kili sich ihnen zuwandte.

„Ich kann dich haben wann ich will und so oft ich will... und wozu ich will! Das ist nämlich auch Tradition, so lange du nicht in festen Händen bist... und ich glaube, darauf komme ich demnächst auch zurück als Strafe für dein freches Mundwerk!“

Er fuhr sich vor Verlegenheit ganz nervös wieder und wieder durch sein rot-braunes Haar, bis es beinahe so weg stand wie das von Moconi. Dessen Schwester erhob sich nun und trat vor ihre Besucher, Teco absichtlich etwas tiefere Einblicke gewährend, als es sonst für sie üblich war. Sie hatte einen schönen, üppigen Busen, stellte er verärgert fest.

„Tu es ruhig.“, erwiderte sie, ihn eines düsteren Blickes bedenkend, „Ich habe damit keine Probleme.“

Sanan räusperte sich. Es gab Gespräche, denen er nicht unbedingt beiwohnen wollte... außerdem hatten sie ohnehin andere Probleme. Oder zumindest war er der Meinung, dass sie Probleme hatten.

„Findest du es denn in Ordnung, dass Karem einfach so über unsere Köpfe – über Moconis Kopf – hinweg entscheidet? Ich meine... ich finde das ehrlich gesagt nicht besonders gut...“
 

Kili kam nicht zum antworten.

„Ich... finde das auch nicht gut.“

Die junge Frau hob eine Braue und ihre Gäste drehten sich um, um ihrem Häuptling, der nun vor seiner Hütte stand, anzusehen. In seinem Haar hing Gras und er war etwas verstaubt, aber völlig gesund und munter, so schien es. Hinter ihm stand Calyri und musterte ihn beunruhigt.

„Warum werden die Hütten abgebaut? Was geht hier vor?!“

Sein Blick galt besonders Sanan, der zunächst gar nicht verstand, weshalb. Teco klärte es auf.

„Karem meinte, es wäre ganz sinnvoll, das Lager abzubrechen, weil das Wild am abziehen ist. Er wollte in den Süd-Osten.“

Es war nicht verwunderlich, dass Moconis Gesichtszüge ihm entgleisten. Karem... schon lange war er in gewisser Weise ein heimlicher Widersacher des jungen Mannes, aber nie hatte er es so offen gezeigt... und noch schlimmer, warum nahm der Stamm ihn an der Stelle des Oberhauptes ernst, wenn er einmal für kurze Zeit abhanden war? Das war erniedrigend!

„Wir waren nie im Süd-Osten!“, fuhr er Sanan erschreckend laut an und packte den zierlichen Kerl am Fellkragen, worauf dieser geschockt aufkeuchte. Erst langsam dämmerte es ihm, was sein Häuptling dazu veranlasste, ausgerechnet ihn als Verantwortlichen zu sehen...

„Er hat mich nicht gefragt!“, schnappte er entsetzt, „Er hat mir nicht einmal Bescheid gesagt, dass wir aufbrechen wollen! Ich habe ihn auch abbringen wollen, aber es war ihm gleich!“

„Ach!“

Der Ältere stieß ihn grob von sich, sodass er sein Gleichgewicht verlor und vor Kilis Füßen auf dem Hintern landete. Letztere zog die Stirn in Falten... sie mochte es nicht, wenn ihr Bruder so wütend war, aber sie konnte ihn durchaus verstehen. Karem war unverschämt, dabei hatte er sich damals mit ihrem Vater sehr gut verstanden. Sie glaubte sich sogar daran zu erinnern, dass er, Saltec und Rhik als Jungen Erzählungen nach gute Freunde gewesen waren. Demnach entehrte er seinen verstorbenen Häuptling mit seinem respektlosem Verhalten dessen Sohn gegenüber... Moconi sollte ihn bestrafen!

Nun fuhr er zunächst aber seinen Cousin an.

„Und warum hört ihr auf diesen Narren?! Warum wartet ihr nicht wenigstens, bis ich wieder hier bin?! Was sagt denn Porit dazu?! Ihr Untreuen!“

Porit, der jüngere Bruder Saltecs, war eigentlich ein guter Mann... zumindest hatte sein Neffe das immer gedacht, genau so wie er bisher immer stolz auf seinen etwas barbarischen, aber loyalen Stamm gewesen war.

Teco fauchte nur.

„Er fand die Idee in Ordnung! Wenn du einfach verschwindest ohne uns zu sagen, wohin, solltest du dich nicht wundern!“

„Aber das waren doch nur wenige Stunden!“, fiel Calyri ihm empört ins Wort und stemmte die Hände in die Hüften. Er schielte sie nur kurz an. Er wollte gar nicht wissen, was die beiden in diesen wenigen Stunden so getrieben hatten...

„Mir scheint es so, als würde der nur darauf warten, dass ich hinter den nächsten Felsen zum pinkeln verschwinde, um mir den Rang zu stehlen, ich sollte ihn ausstoßen wie seinen armen Sohn! Dieser Hornochse, dem werde ich sein schönes Gebiss zertrümmern!“

Er drehte sich um, worauf ein paar trockene Grashalme von ihm abfielen und seine Schwester setze ihm augenblicklich nach und hielt ihn zunächst einmal mühevoll fest, ehe auch ihr Cousin ihr zur Hilfe kam.

„Tu nichts unüberlegtes!“, riet sie ihm, während Sanan sich m Hintergrund verwirrt wieder aufrappelte.

„Du lässt dich von deinem Zorn leiten!“, stimmte Teco mit ein, während er ihn weiter hielt, „Du bist wegen vieler Kleinigkeiten sauer auf Karem! Du würdest ihn heftiger bestrafen, als er es für den Moment verdient!“
 

Er hatte Recht. Moconi war kein Mann, der lange in Rage bleiben konnte... zumindest nicht wegen so etwas. Doch einfach auf sich sitzen ließ er diese Erniedrigung nicht, erst recht nicht, wenn er nicht einmal den Grund kannte, weshalb das Lager abgebrochen werden sollte. Das hätte noch Zeit gehabt. Und dann hätte man zu den Jagdgründen gehen können, die Sanan immer zuverlässig empfahl, das hätte sich zumindest etwas sicherer angefühlt...

So war es natürlich selbstverständlich, dass er Karem auf sein inakzeptables Handeln ansprach.

Entgegen seiner Hoffnung fand er ihn mitten im regen Treiben wieder, wo jeder ihnen zuhören konnte. Wobei, was machte er sich denn für Gedanken? Er war doch der Häuptling, er musste sich nicht verteidigen, er hatte schließlich nichts getan.
 

Karem pfiff leise durch die Zähne, als er seinen Häuptling vor sich sah. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn ihm etwas geschehen wäre... vielleicht hätte er ihm auch folgen sollen.

Nein, das war nicht sein Niveau.

„Willkommen zurück.“, schnarrte er so nur, ohne es ernst zu meinen, als Moconi sich vor ihm aufbaute wie eine Gewitterwolke. Sein jugendliches Gesicht ließ ihn gegenüber dem erwachsenen Mann jedoch nicht sonderlich angsteinflößend aussehen, was die Tatsache, dass er auch ein Stück kleiner war als sein Gegenüber unpraktisch unterstützte.

„Ich bin... etwas erzürnt!“, kam der junge Häuptling trotzdem gleich auf den Punkt und Karem hob beide Brauen. Teco, der seinem Cousin wie der Rest der vorherigen Versammlung an der Hütte gefolgt war, steckte unterdessen einen schmerzhaften Schlag ins Gesicht seitens seines Vaters ein, der ihn dafür bestrafen sollte, dass er sich immer zu vor dem Helfen drücken wollte. Kili lachte ihn aus.

„Ich kann mir natürlich denken, weshalb.“, entgegnete man Moconi da und legte ihm überraschend verständnisvoll eine Hand auf die Schulter, „Aber du wirst sicher selbst bemerkt haben, dass dieser Ort nicht mehr lange gut für uns sein wird. Wir müssen gehen. Ich habe mir einfach die Freiheit genommen in meiner Position als rechtmäßiger Häuptling zu entscheiden, was wir tun werden.“

Einige Stammesmitglieder sahen von ihrer Arbeit auf nach diesem sehr eindeutigen Satz dem jungen Oberhaupt gegenüber.

Karem wäre Häuptling geworden. Alle hatten damit gerechnet, dass bald es bald seine Zeit sein würde, als Saltec im sterben gelegen hatte. Und dann hatte letzterer den Namen seines Sohnes in den Raum gestellt. Und niemand würde einem guten Mann kurz vor seinem Ende einen Wunsch ausschlagen. Nicht einmal Karem, der so wütend gewesen war, dass er auf einen Felsen eingeschlagen und sich dabei die Hand gebrochen hatte. Seitdem konnte er sie nicht mehr so gut bewegen wie zuvor, aber es war ohnehin nicht seine Speerhand gewesen, was die Auswirkungen gering hatte bleiben lassen.

Calyri schlug sich im Hintergrund die Hand vor den Mund. Wenn Moconi nun kein eindeutiges Machtwort spräche, würde das den Stamm entzweien. Dann würde Karem seinen begehrten Posten erlangen, allerdings dann bloß als Häuptling eines halben Stammes... wenn es denn gerecht laufen würde. Am Ende spannte er Moconi sein ganzes Volk aus.

Mit einem Mal kam der jungen Frau dieser Kerl ganz furchtbar und abartig vor, mehr noch als an dem Abend, an dem er beschlossen hatte, seinen Sohn zu verstoßen, bloß, weil der seine Prüfung nicht bestanden hatte.

Als das noch immer amtierende Stammesoberhaupt dann den Mund öffnete, war es bis auf das Rauschen des Grases im Wind und leises Vogelgezwitscher still.

„Traditionen zu missachten und Traditionen zu brechen sind zwei verschiedene Dinge, Karem.“, sagte er ruhig, „Mein Vater hat immer zu ersteres getan... du bis im Begriff letzteres zu tun. Und so lange ich leben werde ich das nicht zu lassen.“

Er reckte sein Gesicht dem Himmel entgegen und einige taten es ihm gleich, um ihm auch angemessen folgen zu können.

„Einzig die Sonne wird das je ändern können! In dem Moment, in dem die Sonne ihre Tradition verrät, in dem wird der Stamm mit dir als Anführer an der Spitze aufbrechen in das unbekannte Land im Süd-Osten. Nicht früher. Niemals.“

Karem atmete einmal laut aus und schnaubte, als er Sanans Grinsen auf sich ruhen sah. Saltec hatte auch gut sprechen können. Aber Saltec war erfahren gewesen. Irgendwann würde er Moconi schon in eine Schlucht ohne Ausweg gelockt bekommen...
 

Porit wollte gerade zur Frage ansetzen, was sie nun tun sollten, wo einige der Hütten bereits komplett abgeschlagen waren, als die Welt verstummte.

Die Vögel, der Wind, selbst die lästigen Fliegen. Von einem Moment auf den Nächsten schien das Leben um die Menschen herum eingefroren zu sein.

Ein verwirrtes Murmeln ging durch die Menge, als sie sich verwirrt umsahen und nach dem nahenden Unheil suchten, dass sie irgendwie spüren konnten, ganz ohne Magie.

Calyri erschreckte und hätte fast aufgeschrien, als sie eine kühle Hand auf ihrem Unterarm bemerkte. Als sie sich umwandte stellte sie dann jedoch fest, dass es sich nur um Mefasa handelte, die sie ernst ansah und ihr etwas mitteilen wollte.

Als die Sonne es über die großen Berge geschafft hatte, wurde ihr Licht immer schwächer, obwohl sie immer höher stieg. Niemand hat darauf geachtet. Gleich ist Nacht.

Die Jüngere keuchte geschockt auf das ratlose Gesicht ihrer Freundin hin, ehe sie einen Moment später geistesgegenwärtig zu Moconi hechtete, dem Karem mit einem Mal ziemlich gleich geworden war. Das würde nicht lange anhalten.

Noch ehe sie zum sprechen ansetzen konnte, wusste er schon, was sie ihm sagen wollte, denn er hatte nach seinen Worten den Blick nicht mehr vom Himmel abgewandt.

Als er zu ihr sprach und ihr damit das Wort abschnitt, klang seine Stimme beinahe weinerlich.

„Sie verrät mich... sie verschwindet hinter dem Schatten der Windgeister, um uns alle ins Verderben zu stürzen... sie verrät mich!“

Wenige Augenblicke später wurde es dunkel.
 


 

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Haha, Karem baut ja so eine Scheiße... XD

Fremdes Land

Der Morgen graute über dem Meer. Es war noch zu früh für die Seevögel, so schien es, oder irgendetwas beunruhigte sie, jedenfalls war außer dem Rauschen der Wellen kaum etwas zu hören, als Mahrran zu der kleinen Gruppe an Dorfbewohnern vor sich sprach.

„Wir werden nicht den selben Weg nehmen wie Irlak und Rato zuvor. Der Grund ist simpel; wir sind nun einmal gezwungenermaßen ein Volk von Fischern, auch wenn wir das ändern wollen, so müssen wir das zunächst einmal lernen. Rato sagte, man habe den großen Fluss nur aus der Ferne sehen können... und laut Shiran kann nur er uns mit seinen Gaben für unsere Reise ernähren... sobald wir uns darin verstehen, wie diese Primitivlinge zu jagen, werden wir unabhängig sein, aber zunächst sollten wir sicher gehen und einen Weg nehmen, der uns zum Wasser führt. Laut unserem Seher ist weiter südlich von hier ein guter Pass, der uns an den Fluss bringen wird.“

Kajira rümpfte die Nase. Er war aufgeregt... endlich fühlte er sich einmal erwachsen! Er war sich sicher, sein Mitreisen war eine gute Idee. Was ihn verunsicherte war Shiran... Mahrran baute auf viele Informationen dieses Lügners, am Ende führte er sie noch in eine Falle.

Was hätte er denn davon?, hatte Mabalysca belustigt zu bedenken gegeben, als er sich von ihr verabschiedet und ihr dabei von seiner Befürchtung berichtet hatte, Dann würde er genau so zu Grunde gehen wie wir, nein, ich denke nicht, dass er lügt.

Der junge Mann hoffte es zumindest. Mabalysca selbst hatte an sich keine Meinung zu ihrem zwielichtigen Seher... sobald ihre Schwester sagte, er spräche Wahres, so glaubte sie ihm und wenn Nadeshda ihm misstraute, tat sie es ebenso. So kannte ihr Verlobter nun immerhin auch die Gedanken des älteren Himmelskindes... ja, an sich konnte man ihr vertrauen. Sie konnte sehr wohl entscheiden, wann es gut war, auf Shiran zu hören und wann es galt, ihm zu misstrauen... er vertraute da einfach auf ihren Instinkt.

„Und... wie sieht unser Vorhaben nun genau aus?“

Mahrran wandte sich unterdessen an eine junge Frau, die diese Frage einfach unverschämt in die Runde geworfen hatte. Auch nun sah sie dem wenig Älteren völlig unverfroren und scheinbar respektlos in die Augen, eine Hand in die Hüfte stemmend. Den Bruchteil einer Sekunde später erkannte sie jedoch ihren Fehler und wandte sich etwas ernüchtert ab.

Iavenya Cokori war für ihre Dreistigkeit ebenso bekannt wie für ihre Hinterhältigkeit und nicht besonders beliebt im Dorf, doch ihre unheimlich große Begabung im Zeichnen von Landschaften hatte die Oberhäupter dazu bewogen, sie mit der Truppe mit zu schicken. Ihr Verhalten wunderte Mahrran nicht.

„Wir werden auf ein Plateau gelangen und uns dort erst einmal eine Weile aufhalten... unser Hauptlager aufschlagen, denn es befindet sich in der Nähe der Quelle des großen Flusses und seinen Nebenarmen. Da kannst du mit deiner Arbeit beginnen. In den darauf folgenden Tagen werden wir das weite Land erkunden. Damit haben wir erst einmal genug zu tun.“

„Und jagen!“, warf Irlak ein, „Das werden wir anständig lernen.“

Der andere nickte. Iavenya verdrehte, genervt wegen was auch immer, die Augen.
 

Shirans allwissende Augen ruhten auf Kajira, als sie aus der Ferne beobachteten, wie die Gruppe das Dorf verließ. Er misstraute ihm... nicht, dass es ihn wunderte, er hatte allen Grund dazu, auch wenn er im Moment die Wahrheit gesprochen hatte und Nadeshda schlau genug gewesen war, ihm zu glauben. Zumindest noch war er ehrlich...

Vielleicht sollte er dem Spinner den Gefallen tun und mit den Himmelskindern reden... ihre Schwester sehnte sich wirklich sehr nach einem Mann, dem sie eine richtige Frau sein konnte und Kajira war mittlerweile extrem ungeduldig geworden.

Der Seher seufzte leise in sich hinein.

Solch weltlichen Dingen entsagte er die meiste Zeit gezwungenermaßen. Gelegentlich kümmerte er sich um Mädchen, die zu Frauen werden sollten, aber ansonsten erwartete man von ihm, dass er in Einsamkeit vor sich hin vegetierte. Eigentlich war das ein allseits bekannter Charakterzug von Magiern seines gleichen, die anderen um sie herum waren ihnen einfach zu primitiv, um etwas gescheites mit ihnen anzufangen zu wissen, doch Shiran störte es mitunter. Irgendwie war er darin etwas benachteiligt, aber er wollte sich ja nicht beschweren. Immerhin blieben ihm auf diesem Wege auch Probleme, wie Kajira und Mabalysca sie hatten erspart. Umgekehrt hätte er natürlich in diesem Fall auch eine Lösung gewusst... welch unredliche Gedanken am frühen Morgen.

Er hatte noch einiges zu tun, vielleicht würde ihm das in der nächsten Zeit zu Gute kommen.

Die Gruppe... sie würde eine ziemlich schmerzhafte Bekanntschaft machen. Und Nadeshda würde ihn sicherlich vierteilen, wenn sie es erfuhr, denn seine Lippen würde kein Wort darüber verlassen. Nein... es war Zeit für Veränderung. Es würde bald beginnen.

Mit einer gekonnten Handbewegung verschwand er von der kleinen Anhöhe. Ganz ohne vorzubauen ging es dann doch nicht... es musste ja nicht an die Ohren seiner winzigen Chefin gelangen.
 

Der alte Mann erschreckte sich, als er vor sich plötzlich jemanden wahrnahm. Shiran grinste.

„Der Seher ist hier. Wo ist dein Enkel?“

Der Alte war blind, dennoch reckte er sein Gesicht etwas dem unverhofften Gast entgegen, während sein klappriger Holzstuhl quietschte. Das kleine Haus war schäbig und es eigentlich nicht wert, länger bewohnt zu werden, dennoch lebte er hier gemeinsam mit seinem letzten Verwandten, dem Sohn seines längst verschiedenen Sohnes, und war sich sicher, dass es auch der Ort sein würde, wo sein viel zu langes Leben bald enden würde. Eine weite Reise über die großen Berge hinweg würde er keinesfalls mehr schaffen.

Dennoch erhob er sich tapfer, sich an seinem verkrüppelten Stock stützend.

„Erst einmal danke ich für die Ehre, junger Mann.“

Der Jüngere verneigte sich trotz der Blindheit seines Gegenübers, denn er wusste, dass auch die Götter des alten Mannes nicht stumm waren. Er lächelte.

„Ich schätze, du weißt selbst, wo du Zerit finden kannst?“

Er zeigte aus seiner Erinnerung an die alten Tage, in denen er sein Heim hatte ansehen können, in die Richtung der morschen Hintertür. Ja, der Gesuchte befand sich in dem, was sein Großvater liebevoll Garten nannte. In Wahrheit war es eine Ansammlung an Kräutern, die auf dem schmalen Stück zwischen dem kleinen Haus und der ersten der steilen Felswände in kleinen Gesteinsritzen wuchs und an denen sich die Bewohner gelegentlich bedienten.

Als Shiran heraus trat, fand er den Jüngeren auch, der, von seinen Göttern auf ihn hingewiesen, kurz mit den Brauen zuckte und sich dem Besucher zuwandte. Zerit hatte bereits siebzehn Feuermonde voll erlebt und war damit natürlich längst erwachsen, doch er bevorzugte das etwas abgeschiedene Leben bei seiner letzten Bezugsperson, wie man annahm. Gäste missfielen ihm insgesamt eher, als dass sie ihn freuten, doch dass es sich um den Seher handelte, ließen seine Götter ihn in Alarmbereitschaft versetzen.

„Ich komme nicht ohne Grund.“, merkte der Ältere grinsend an, „Ich habe ein paar Worte an dich.“

Zerit zuckte unter der Überraschung, die ihn überkam, als sein Gegenüber begann, in einer der Kalenao unwürdigen Sprache weiter zu reden, leicht zusammen. Sie klang seltsam und fremd aus seinem Mund, nicht zuletzt wegen seines starken Akzents, aber dennoch eindeutig verständlich.

„Bald wirst du auf eine Reise gehen müssen, fürchte ich. Keine Sorge, wir kümmern uns so lange um den alten Mann... denn deine... Gabe ist gefragt.“

Es dauerte einen Moment, bis der Jüngere reagieren konnte. Die Sprache... das meinte er mit Gabe.

Er antwortete in selbiger, jedoch mit weitaus schwächerem Akzent und konnte es nicht vermeiden, dass eine gewisse Genugtuung in ihm aufkam, als sich Shirans Augen leicht verengten, als er merkte, dass der Grünhaarige ihm darin überlegen war.

„Und was hätte ich davon, wenn ich in das fremde Reich gehe? Ich nehme doch an, dahin soll ich...“

Die Antwort kam zischend.

„Du wärst einmal sinnvoll!“, er schnaubte leicht und einen Augenblick später fügte er wieder gewohnt gelassen, dieses Mal in seiner Muttersprache an, „Nadeshda wird es dir dann sagen. Du sollst bloß vorgewarnt sein und damit rechnen... das ist besser für dich.“

An sich war es tatsächlich ein reiner Gefälligkeitsdienst, den der Seher diesem unwürdigen Typen aus purer Gutmütigkeit erwies, überlegte er sich. Von dieser Kleinigkeit hatte er im Nachhinein nichts mehr... und dennoch, er tat es aus einer gewissen Vorfreude heraus. Oh ja, das würde noch amüsant werden...

Zerit legte unterdessen die Kräuter, die er zuvor wohl geerntet hatte, aus der Hand und klopfte sich selbige an seiner Hose ab. Selbst solch karger Boden war schmutzig... in erster Linie wohl staubig.

„Ich lasse mich nicht ausnutzen.“, erklärte er in der Himmelssprache dann kurz angebunden, „Ich habe keine Angst vor Nadeshda oder ihrem Bruder...“

Oder mir. Shiran erriet seine Gedanken grinsend, gab sie jedoch nicht kund. Er seufzte bloß gespielt und erfreut, als er bemerkte, dass sein Gegenüber dafür in seiner eigenen Sprache einen kleinen Akzent aufwies und senkte den Blick.

„Das solltest du aber... es geht nicht um dein Leben, sondern um die Weise, wie es beendet wird.“

„Ich habe keine Angst vor ihnen.“

Er schenkte seinem Gast keine weitere Beachtung mehr und trat an ihm vorbei durch die Tür wieder nach innen.

„Vielleicht mache ich mich nützlich... wenn man mir dann einen guten Grund nennt.“
 

„Schwester?“

Nadeshda fuhr wütend auf, als Mabalysca in der Tür stand. Sie war gerade dabei gewesen, für das Gelingen der Mission zu beten, da unterbrach diese Göre sie!

Gezwungenermaßen fasste sie sich recht schnell wieder. Die Jüngere sah beunruhigt aus.

„Bitte, tu mir den Gefallen und bitte für Kajira! Ich würde zu Grunde gehen, wenn ihm etwas geschehen würde! Er macht es doch bloß für mich...“

Die Ältere zog die Brauen nachdenklich etwas zusammen, als die andere eine Gänsehaut überkam. Sie hatte ein schlechtes Gefühl...

„Ich werde es.“, versprach sie, „Er tut es für dich? Ich habe mich bereits gewundert! Was hat das für einen Sinn?“

Sie erhob sich von ihrem edlen, mit Daunen gefüllten Kissen und stellte sich ihrer etwa gleichgroßen Schwester gegenüber. Mabalysca war im Gegensatz zu ihr körperlich noch nicht ganz ausgewachsen, sie würde sie auf jeden Fall noch überholen. Mitunter war es schon etwas nervig, derart außergewöhnlich klein zu sein wie sie es war... sie erinnerte sich daran, als Kind ewige Zeiten immer hin und her getragen worden zu sein... dass sie als kleines Mädchen ein Beinleiden gehabt hatte, vergaß sie dabei etwas.

Die Jüngere antwortete ihr.

„Ich bin mir nicht sicher... aber wir beide wollen doch schon so lange eine Bindung eingehen! Wir brauchen dazu euer Einverständnis...“

Ach richtig, sie erinnerte sich. Da war doch etwas.

Beide waren jung, aber absolut in heiratsfähigem Alter und unsagbar eng miteinander verbunden. Es war Wille der Götter, dass sie ihr Leben teilten und möglichst bald Nachkommen zeugten... Erben für den ehrwürdigen Clan der Tankana.

Die Ältere wandte sich ab, schritt zum nächsten Fenster.

„Ich werde sehen, was sich da tun lässt.“

Mabalysca merkte sehr wohl, dass man sie abwimmeln wollte, aber sie wagte nicht, zu widersprechen. Das traute sie sich seit Jahren nicht mehr...

„Ich habe verstanden... ich... werde auch beten. Vielleicht erhören meine Götter mich ja?“

„Versuche es.“

Sie nickte und schlurfte langsam wieder aus dem Raum. Na wundervoll. Sie wusste nicht, was sie alles darum gegeben hätte, ihre Schwester nur ein einziges Mal zumindest im Ansatz zu verstehen...

„Das werde ich...“
 

Der Weg war anstrengend und langweilig, zumindest die ersten beiden Tage, die sie damit verbrachten, am Rand des Gebirges entlang zu gehen, um den von Shiran angepriesenen Pass zu finden, der sie entlang des großen Flusses in das neue Land bringen sollte. Sonderlich ermutigend war die Reise bis dorthin jedoch nicht... egal, wie weit sie sich ihm näherten, die Umgebung um sie herum veränderte sich nicht. Manchmal war das Gebirge weiter weg vom Meer, manchmal ragte es beinahe in es hinein, aber im Großen und Ganzen gab es überall die selben Tiere, Pflanzen und Steine und die einzelnen Mitreisenden konnten sich mit einem Mal auch überhaupt nicht mehr vorstellen, an einem Ort zu leben, an dem das nicht so war. Wo die Umgebung nicht ihrer Heimat glich...

Einzig Mahrran blieb immerzu seriös. Das war auch seine Pflicht als Anführer, geübte Beobachter erkannten jedoch, dass auch er sich ab und an etwas irritiert umsah. Sein eines blindes Auge war ihm dabei wirklich ein Hindernis, würde er einmal selbstständig kämpfen müssen, wäre er im Nahkampf gegen einen schnellen Gegner völlig geliefert. Aber wer war schon ein solcher Gegenspieler? Von der Macht her Shiran, aber der und das Götterkind taten sich momentan sicherlich gegenseitig nichts.

Erleichterung überkam die Gruppe zunächst, als sie den felsigen Pass endlich erreicht hatten, allerdings nur kurzzeitig, denn die Reise durch das mediterrane Flachland war wesentlich angenehmer gewesen als der Aufstieg in die Berge.

„Das ist vollkommen unnötig.“, schnappte Iavenya zwischendurch empört, „Ich meine, wozu brauchen sie mich?!“

Eine junge Frau namens Alaji, die neben ihr schritt, schenkte ihr einen kurzen Blick. Darauf hatte sie schon gewartet...

„Ist es nicht, Natter. Sich in dem neuen Land auszukennen ist sehr wichtig – das muss auch ohne Shiran funktionieren, denn du kennst ja Nadeshdas Launen.“

„Natter“ war der etwas ungeliebte heimliche Rufname der schwarzhaarigen Frau, denn man sagte, ihr Mundwerk könnte so giftig wie das einer Giftnatter sein. Nach Alajis Meinung durchaus eine wahre Behauptung, nicht zuletzt, da auch sie wusste, wie sie sich heimlich die Zunge über sie zerriss.

„Mir sind Nadeshdas Launen völlig gleich!“, erwiderte sie nur, „Soll Shiran doch eine zeichnen... ja, sag nichts, oh mein Himmel, er könnte uns ja eventuell anlügen, du liebe Güte...“

Sie schüttelte den Kopf. Diese Reise war anstrengend und unnütz, ihrer Meinung nach hätten die Himmelskinder sich nicht so haben und stattdessen einfach immer weiter die Fische an ihre Küste rufen sollen. Wenn der Ozean leer war, wäre ihr Leben bereits längst vorbei, dann konnte es ihnen auch gleich sein...

Alaji wandte sich nur seufzend ab. Nadeshdas Launen völlig gleich, am liebsten hätte sie der Schlange gesagt, wie gleich sie ihr wirklich waren... dass sie jedes Mal am Boden kroch, wenn sie die blauhaarige Frau sah, mehr als alle anderen Dorfbewohner es taten, dass sie sich vor Angst beinahe in den Rock machte, wenn eines der Himmelskinder sie einmal ansprach... aber das brachte sie nicht übers Herz, auch wenn ihre Zurückhaltung sie selbst nervte, als die Schwarzhaarige weiter sprach.

„Nadeshda ist doch ohnehin eine Lachnummer! Würde mich wundern, wenn ich die Einzige wäre, die sie belächelt... ich meine, schau sie dir an! Dieses kleine Ding, das ist nicht einmal eine Frau, wie soll man da Respekt haben? Bitte...“

Fast hätte die kaum Ältere darauf gefragt, warum sie dann überhaupt mitgekommen war, wenn es ihr doch so auf die Nerven ging und man den weiblichen Part der Oberhäupter des Dorfes ohnehin ignorieren konnte, fast. Aber ihre Zunge war nicht giftig, kein bisschen, so sehr sie es sich gelegentlich auch wünschte, und so nickte sie nur kommentarlos, hoffend, von weiterem Schwachsinn verschont zu bleiben.
 

Sie reisten zwei weitere Tage, ehe sie in den Tiefen des Gebirges endlich die winzige Hauptquelle des größten Flusses ihrer Welt erreichten. Wie angekündigt hatte inzwischen eine Sonnenfinsternis stattgefunden, die sie alle hatte eine Weile rasten lassen. Ein solches Ereignis musste man ehren, es zeigte, wie mächtig die Mondgötter waren.

Der große Strom seinerseits war sagenumwoben, entsprechend verwirrt sah die Truppe schließlich bei dem eher lächerlichen Anblick drein.

„Darin können wir aber nicht fischen.“, bemerkte die Natter schlau, verstummte aber sofort, als sie Mahrrans Blick auf sich spürte.

Das wusste er auch, dummes Weib, deshalb hatten sie ja auch genügend Vorräte mitgenommen, Shiran hatte das schon so eingeplant. Er seinerseits war erleichtert, dass er wirklich den richtigen Weg genommen hatte.

Mahrran, der Zweifler. Ja, er hatte es selbst in der Hand gehabt und von zu Hause aus die vollkommene Unterstützung seiner Schwester, und dennoch hatte er einen Fehler gefürchtet. Wie dumm von ihm...

Sie rasteten nur kurz an dem kleinen Quellchen und folgten bereits am nächsten Tage seinem Lauf, denn ebenfalls von dem Seher wusste er, dass ihre Nahrung nachdem sie das Wasser gefunden hatten nur noch kurze Zeit ausreichen würde. Und wieder war er erleichtert, als der Rinnsal schließlich zu einem Bach und letztendlich zu einem kleinen, belebten Fluss wurde.

Gerade als ihre Vorräte zu neige gingen, konnten sie wieder fischen.

„Das ist eine gute Sache!“, behauptete Irlak so auch zuversichtlich in seinen komischen Fellschal gehüllt, als sie einige weitere Abende später am Ufer des großen Stromes saßen und über einem Feuer auf ihre traditionelle Art und Weise ihren Fisch zubereiteten. Der Großteil des Essens stammte von Alaji, denn obwohl sie als Medizinfrau nur eine bedingt gute Köchin war, weigerte man sich vehement dagegen, etwas von Iavenya zu essen.

„Es würde uns entehren, von jemandem wie ihr etwas anzunehmen, ebenso die Frauen, die sonst für uns kochen.“, hatte Chejat bloß leise dazu gemeint und alle hatten ihm stumm zugestimmt. Auf der Natter hatte Mahrrans Blick geruht, so hatte sie sich zur Freude aller nicht weiter dazu geäußert. Wieder im Dorf würde sie sich aber den Mund über ihre nachvollziehbare Unverschämtheit zerreißen, das war allen klar. Aber sie hatte nichts anderes verdient. Nun saß sie etwas abseits und die arme Alaji war als das einzige weitere weibliche Wesen in der Gruppe dazu verpflichtet, ihr Gesellschaft zu leisten. Ihr und dem Haufen Fisch, den sie nun für sich selbst zubereitet hatte und von dem die Ältere aus Mitleid etwas aß und seufzend registrierte, dass sie selbst wirklich keine besonders gute Köchin war. Das nahm ihr aber niemand übel, sie musste sich mit Medizin und Heilen auskennen, nicht mit Essen. War zwar schade für ihren Mann, falls sie jemals einen bekommen sollte, aber die Götter hatten ihr Leben eben so entschieden. Ab und an dachte sie, es sei so eine ähnliche Bestimmung wie Götterkind oder Seher zu sein, dann schämte sie sich aber immer, weil sie verglichen mit Nadeshda, Mahrran und Shiran so furchtbar unbedeutend war. Shiran sah, was sie dachte... er lachte sie sicher aus deswegen. Oder eher nicht, warum sollten ihn ihre primitiven Gedanken auch nur im Ansatz interessieren?

Sie seufzte und widmete sich versonnen weiter ihrem Essen, als ihr Anführer plötzlich das Wort ergriff.

„Morgen werden wir zu einem Plateau kommen. Der Wald wird sich lichten und wir werden endlich den Blick haben, den Rato und Irlak bereits haben genießen dürfen. Jedenfalls wird Iavenya...“, die Frau fuhr zusammen, „... mit Irlak noch vor Sonnenaufgang aufbrechen, damit sie mit der Karte bereits beginnen kann, bevor wir anderen sie erreichen. Ich schätze, das wird wohl etwas länger dauern.“

Irlak wagte nicht zu widersprechen, warf seinem Vormund jedoch einen empörten, bösartigen Blick zu. Warum musste ausgerechnet er die Natter begleiten? Hier waren so viele andere sinnlose, ehrlose Spinner, die das viel besser hätten tun können, er fand das ungerecht, wo er das neue Land doch mit entdeckt hatte und somit einen gebührenden Respekt verlangen konnte, so fand er.
 

Den anderen war das jedoch ziemlich gleich. Als die junge Frau ihm am nächsten Tag zu sehr auf den Geist ging, schlug er sie schließlich guten Gewissens einfach nieder. Der Morgen war noch sehr jung, die Sonne schob sich gerade erst über den Rand der Erde, jedoch unbemerkt, da das Gebirge im Weg war und der Mann war letztendlich doch etwas verunsichert. Zu ungestüm nannte seine Frau ihn auch immer, jetzt lag diese Schlange bewusstlos zu seinen Füßen und konnte gar keine Karte zeichnen. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, es selbst zu tun... als er zu der weiten, fassettenreichen Landschaft unter dem Plateau sah, verwarf er ihn wieder. So etwas mit einem Stück Kohle auf einem einfachen behandelten Palmblatt logisch und nachvollziehbar festzuhalten lag ihm sicherlich nicht, dafür musste er gar nicht erst Kraft verschwenden. Einmal davon abgesehen, dass jeder ihn würde verstehen können... nun gut, aber das bedeutete nicht, dass es gutgeheißen würde.

Er bückte sich zu der Bewusstlosen, die auf dem Rücken da lag und leise durch die blutende Nase atmete. Das geschah ihr öfters, sie konnte einen aber auch wirklich reizen. Der Mann schnaubte. Sie reizte einen sogar, wenn sie nicht sprach. Mahrran würde ihn glatt das Plateau hinunter werfen!

In größter Intelligenz schlug er Iavenya abermals ins Gesicht. Seine Hoffnungen wurden enttäuscht, sie erwachte nicht, sondern hustete bloß kurz. Vielleicht hätte er die Gelegenheit wenigstens nutzen sollen, um sie selbst herunter zu werfen. Dann bekam Nadeshda ihre Karte zwar erst recht nicht, aber er hätte der Allgemeinheit einen wirklichen Gefallen getan, einmal davon ab, dass er sich sicher war, dass auch die Zwillinge diese Ziege nicht mochten.

„Ach ihr Götter, was tut ihr mir an?“

Mithilfe der Magie seines Geburtsmondes – des Wassermondes – klatschte er ihr etwas von dem kühlen Nass ins Gesicht, was sie letztendlich wieder zur Besinnung brachte. Sehr schade, aber was sein musste...

„... du... ungestümer Widerling!“, begrüßte sie ihn schwach, aber empört und beinahe hätte er sich selbst eine Ohrfeige gefangen, wäre er nicht rechtzeitig zurückgewichen. Die Natter zischte, als sie sich aufsetzte und er sich geistesgegenwärtig erhob.

„Wunder dich nicht, Weib!“, fuhr der Mann sie nur grantig an, „Mach deine Arbeit, na los! Und beeile dich, ich will endlich nach unten und versuchen, so zu jagen, wie es auch unsere Ahnen einst getan haben!“

Und das hatte im Übrigen nicht viel mit Magie zu tun, denn die Kräfte zu benutzen, die die Mond- und Himmelsgötter ihnen gaben, um Vieh zu erlegen, galt als verwerflich. Viel zu mächtig waren sie, so hätte die Beute selbst dann keine Chance auf Leben gehabt, wenn alle Götter mit ihr gewesen wären und das hätte letztere im Übrigen sehr beleidigt.

Nein, es gab andere Arten, Wild zu erbeuten.

Während Iavenya sich sauer die Nase mit einem feuchten Tuch, das sie mit ihrer eigenen Wassermagie befeuchtet hatte, abtupfte und dann versuchte, sich eine Übersicht über die Lage zu verschaffen, indem sie einmal am steilen Rand des Plateaus entlang schritt und den scharfen Blick über die weite Landschaft schweifen ließ, betrachtete Irlak sich gedankenverloren seine Hände.

Seine Fingernägel waren stabiler, scharfkantiger und spitzer, als es die der Menschen waren, hatte er gelernt. Ebenso die Reihen spitzer Zähne in seinem Mund... einst hatten sie überhaupt keine Waffen auf der Jagd gebraucht. Er wusste nicht, ob das heute noch möglich war, über Generationen hinweg Fisch mit Netz und Köder zu fischen verweichlichte sicher. Es würde sich heraus stellen.

„Kochfeuer.“

Er sah auf, zu der Natter, die wenig vor ihm inne gehalten hatte und irgendetwas in der Ferne gebannt anstarrte.

„Was ist?“, er trat etwas angewidert neben sie und folgte schließlich ihrem Blick, als sie sich nicht weiter an ihn störte.

Ziemlich weit entfernt, aber nicht so weit, dass es nicht in wenigen Tagen erreicht werden konnte, lag ein kleines Lager. Schwer zu erkennen, wie es aufgebaut war, vermutlich aus einfachen, sehr primitiven Erdhütten. Rauch von kleinen Feuern, Kochfeuern, stieg in den tief blauen Himmel empor und verriet das Leben, das sich dort befand.

Menschliches Leben. Wie war das noch gewesen mit der Jagd und den Beutetieren?

Versuchen konnte man es doch einmal... selbst der kleine Kajira war wild darauf, hatte er in den vergangenen Tagen mitbekommen.

Irlak grinste.

„Das... gefällt mir.“

Die Natter sah das ganze überraschenderweise etwas sachlicher.

„Ob ich das wohl auch einzeichnen soll? Vermutlich leben die nomadisch, aber nach dem, was ich sehe, zu urteilen, wechseln sie den Ort, an dem sie wohnen, auch nicht all zu oft... vermutlich bloß zwei bis drei Mal im Jahr, zum Wildwechsel, ansonsten legen sie wahrscheinlich keine all zu großen Strecken zurück. Ach, was soll es schon, ich markiere es und schreibe den heutigen Tag dazu, und wehe, Nadeshda passt das nicht, dann schleppe ich die kleine Ziege eigenhändig hier her und werfe sie hier herunter! Und du kannst zusehen!“

Ihre Worte kratzten den jungen Mann herzlich wenig. Menschen... wenn es ein Fleisch gab, das er probieren wollte, dann war es ihres. Entzückt erinnerte er sich an den Tag, an dem er diesen primitiven Kerl, Rhik, zerfleischt hatte... wie schade, dass er nicht mehr von ihm mitgenommen hatte als das, was von seiner Fellkleidung übrig gewesen war.

Wie auf Kommando begann er auch, an seinem Schal zu nesteln, während Iavenya sich in den Staub gehockt hatte und nun ihrer Arbeit nachging.
 

„Die Wolken gefallen mir nicht.“

Beide zuckten unter der Stimme Mahrrans zusammen, als der junge Mann plötzlich hinter einem Felsen erschienen war und nun in den Himmel starrte.

„Ja...“, begann er zu erklären, ehe wer hätte fragen können, „Wir sind früh an... irgendein scheinbar verwirrter Kuguar hat gemeint, sich an unserem Proviant zu schaffen machen zu müssen. Jetzt feiern wir unseren ersten Jagderfolg ohne dich, Irlak, tut mir Leid.“

Der Gleichaltrige schnaubte empört und die Natter konnte sich ein giftiges Kichern nicht verkneifen. Das geschah ihm Recht...

Irlak tröstete sich damit, dass Raubtierfleisch sicher ohnehin nicht besonders gut schmeckte.

„Da unten sind Menschen.“, begann er so, ohne auf Mahrrans Geschichte einzugehen, „Können wir sie besuchen? Wo sind eigentlich die anderen?“

„Die versuchen, das Fleisch zu präparieren.“, erriet die junge Frau die Augen verdrehend und erntete einen Tritt in die Seite, der allerdings schlecht traf und nur wenig Schmerz verursachte.

Der Blauhaarige schüttelte bloß den Kopf über solch primitive Ungestümheit.

„Wir wollen das Land erkunden. Nicht mehr. Den Menschen wird das nicht gefallen, ich schätze, die bemerken uns noch früh genug und dann können wir uns unter Obsidian-Speeren ducken. Sollten wir...“
 

Mahrran seinerseits war nicht der Einzige, der die Wolken an diesem Morgen beobachtete. Eine gute Strecke entfernt, im Dorf, grinste Shiran in sich hinein, als er sah, dass das Meer ihnen etwas schickte, was niemand all zu oft erleben wollte.

In einer kleinen Zwickmühle steckte er. Die See brachte oft Stürme, die Dorfbewohner wussten sie zu erkennen, wenige jedoch konnten die Stärke erahnen. Höchstens die im Windmond, der gerade an Himmel stand, Geborenen bekamen diese Information mit etwas Glück und Begabung auf das Verstehen der Götter mitgeteilt. Es war an ihm, das Dorf vor dieser Urgewalt zu warnen, darauf hinzuweisen, alles, was nicht fest war, in die Häuser zu nehmen und die Fenster und Dächer abzudichten... aber das bekäme Nadeshda mit.

Nadeshda, ein Kind des Wassers, würde ebenso wie die meisten anderen nicht mehr sehen als eine Sturmwolke, um die sie sich nicht weiter kümmerte, denn sie war ja beschäftigt damit, für die Reise ihres Bruders zu beten.

Das Dorf war wegen seiner ungünstigen Lage ohnehin nebensächlich... zumindest für den Moment, irgendwie würde es schon überleben. Zumindest im Großen und Ganzen.

Heute hatte der Seher viel vor.

Mit einem Hauch von telepathischer Magie stand er im nächsten Augenblick vor seinem momentanen Dorfoberhaupt, das aus seiner Trance erwachte und ihn aus bösartigen Augen zunächst anfauchte, ehe seine Seele wieder in den zierlichen Körper gefunden hatte und Nadeshda wieder sie selbst war. Sie gab sich viel Mühe mit dieser Reise... sie meinte es wirklich ernst. Beinahe hätte der junge Mann gegluckst.

„Guten Morgen.“, grüßte er höflich und erntete prompt eine Ohrfeige oder wurde zumindest schmerzhaft von der kleinen Hand gestreift, denn all zu viel Kraft besaß die junge Frau nicht mehr, wenn sie sich so recken musste. Shiran war für einen Mann der ihrem Volk angehörte nicht unbedingt klein, auch wenn es wenige gab, die ihn noch minimal überragten.

„Du Hornochse!“, fuhr man ihn unterdessen an, „Du Spinner! Ich bin beschäftigt, das weißt du! Mach deine eigene Arbeit und störe mich nicht!“

Beinahe hätte er tatsächlich begonnen zu kichern und sein scharfsinniges Gegenüber bemerkte das zu seinem Leidwesen auch und verpasste ihm eine weitere Ohrfeige, auf die er jedoch ebenso wenig reagierte wie auf die Erste. Schadete nicht, abgehärtet zu sein, vermutlich würde er noch viele an diesem Tage abbekommen.

„Die Götter erzählen mir, du würdest dich zu viel unter Stress setzen... das ist nicht gut. Wenn du zu lange in Trance bleibst, verlierst du irgendwann deine ausdauernde Kraft.“

Der Mann wusste sehr gut, dass sie ihre Disziplinen tadellos beherrschte und ihr war klar, dass er das wusste und so verengte sie ihre Augen misstrauisch. Es gefiel ihr nicht, wenn er so sprach... aber unmittelbar, nachdem sie mit ihren göttlichen Eltern in Kontakt getreten war, entsagte ihr jegliche Magie für einen kurzen Zeitraum und so hatte sie keinerlei Ahnung, was dieser Intrigant vorhaben mochte.

„Deine Sorge ehrt mich.“

Sie entschloss sich, auf sein Spiel einzugehen, entspannte ihre Miene wieder und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Von ihrer Aufgabe jedoch würde sie sich nicht abbringen lassen. Ihren Bruder ließ sie nicht im Stich.

„Das muss sie nicht, ich tue nur das, was die Götter für richtig halten...“

Sie hob beide Brauen, als er seine Hand auf ihr Haupt legte und sie unter dem ungewohnten Gewicht erschauderte. Wie konnte er es wagen, sie zu berühren?!

Noch ehe sie ihn anfahren konnte, sprach er weiter.

„Ich weiß natürlich, was los ist bei der Gruppe... es läuft tadellos und das würde es auch, wenn du nicht stundenlang unserer Welt entsagen würdest. Das Schicksal ist auf unserer Seite, Nadeshda, du verschwendest deine Kraft und beschämst deine Götter, wenn du es mir nicht glaubst.“

Als der Himmel grollte und die Frau einen Blitz in seinen Augen gespiegelt sah, dessen Licht durch das Fenster in ihrem Rücken in den Raum getreten war, zuckte er nicht einmal mit einer Wimper. Irgendetwas war nicht so, wie es hätte sein müssen.

„Ich... ich bin ein Götterkind, du Nichts!“, mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, stieß sie ihn von sich und tatsächlich war er gezwungen, einen Schritt zurück zu weichen, „Ich weiß sehr wohl, was richtig und was falsch ist! Ich wüsste es selbst ohne jegliche Macht, die mir inne wohnt, denn mein Clan ist es, der die ersten Kinder dieser Welt hervor brachte, in mir fließt das Blut der mächtigsten Magier dieser Welt, Sohn eines Fischers!“

Er reagierte nicht auf ihren Ausbruch, der von einem weiteren dumpfen Grollen unterstützt wurde. Draußen schrien die Möwen.

„Das weißt du nicht.“, erwiderte Shiran dann ruhig, „Kleine Frau. Keine Macht der Welt kann dir etwas nutzen, wenn du nicht weißt, wann es gilt, sie richtig einzusetzen. Und wie man sie überhaupt richtig benutzt...“

Sie erschauderte in auflodernder Wut und unter dem erdrückenden Gefühl von etwas schlechtem das in diesem Moment auf ihr lag, und er demütigte sie weiter, indem er etwas in die Hocke ging, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein, wie man es mit kleinen Kindern tat. Und er wusste, dass sie es nicht leiden konnte.

„Ich weiß es!“, widersprach sie mit ihrer ungeahnt schneidenden Stimme und abermals erhellte ein Blitz den hübsch eingerichteten und verzierten Raum, in dem Nadeshda lebte, „Und ich weiß, dass ich dir nicht trauen kann, Seher! Ich werde nichts an meinem Verhalten ändern, du jedoch wirst jetzt gehen und das tun, was man von dir an einem stürmischen Tage wie heute erwartet!“

Sein Grinsen kehrte zurück, als sie ihm symbolisch den Rücken kehrte und sich erst einmal leicht über die gewaltigen dunklen Wolkenmassen über dem Meer erschreckte, die sie aus ihrer Fensteröffnung nun sehen konnte.

„Wie du wünschst. Noch etwas Zeit hast du... dann kehre ich zurück und du wirst mit mir kommen...“

Er wandte sich zum Gehen, als ein Blitz in die See zu schlagen drohte. Die Jüngere fuhr zu ihm herum.

„Mit dir kommen?! Wohin solltest du mit mir wollen?“

Der Mann lachte leise. An sich war es völlig irrelevant, was er mit ihr tat, Hauptsache, sie kam zu dem bestimmten Zeitpunkt nicht dazu, in ihre Trance zu fallen, mit der sie Mahrrans Gruppe beschützte. Sie hatte Recht... er war ein Intrigant. Mit Grund.

„Ich weiß nicht... vielleicht irgendwohin, wo wir allein sind, was meinst du?“

Er ließ sie nicht antworten, verschwand mit dem nächsten Donner vor ihren Augen mittels Teleport.
 

Hinter den Bergen war der Himmel noch freundlich. Zumindest schienen die Schäfchenwolken, die über ihn hinweg zogen so, doch Mahrrans feines Gehör war nicht zu täuschen.

„Vielleicht... sollten wir uns nach einem beständigen Unterschlupf umsehen.“

Seine Begleiter, mittlerweile wieder vollzählig und zum Teil schwer mit widerlich schmeckendem Fleisch beladen, hielten bei seinen Worten inne und musterten ihn, wie er zurück zum Plateau sah, das sie gerade eben verlassen hatten.

„Meine Götter warnen mich auch...“, wagte Alaji leise das Wort zu ergreifen, „Hinter den Bergen braut sich etwas zusammen.“

„Und wenn schon!“, fuhr Iavenya ihr scharf ins Wort, „Sobald wird irgendetwas sehen, können wir unsere Zelte aufbauen und es aussitzen, fertig. Ich weiß gar nicht, was ihr euch da so... anstellt...“

Sie verstummte unter dem Blick des blauhaarigen Mannes. Ach, wie sie dieses blinde Auge hasste, es war so voller Tod...

„Ich muss der Schlange zustimmen.“, bestätigte Rato da jedoch überraschend, „Wir kamen die ganze Zeit so wunderbar voran, ich fände es unsagbar schade, wenn wir heute so früh abbrechen müssten, obwohl wir nicht einmal etwas sehen. Was an der Küste tobt, kann hier ein kleiner Regenschauer sein, das wäre doch Zeitverschwendung.“

„Genau!“, jubelte Irlak beinahe, „Menschenfleisch, ich will einen Mensch erlegen!“

Er knuddelte seinen Schal und Kajira hob etwas entsetzt über das kindische Verhalten seines älteren Bruders eine Braue, die anderen schienen jedoch nicht weiter darauf zu achten.

Mahrran nickte einsichtig. Er war kein Seher und nicht allwissend, er ging gern auf die Worte seiner Gruppe ein. Viel geschehen würde ihnen ohnehin nicht, dafür würde seine Zwillingsschwester sorgen, das wusste er. Oder hoffte es. Zweifler.

„Wo du gerade davon gesprochen hast...“, sprach Rato da weiter und reckte seinen Kopf in die Luft um zu schnuppern, wie es sonst nur Tiere taten, „Riecht es nicht danach? Nach... Menschenfleisch?“

In die Gesichter seiner jüngeren Brüder stahl sich zeitgleich ein Grinsen.
 


 

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Menschen erlegen... gut, dass ich das nicht detailliert beschrieben habe, sonst gäbe es beim nächsten Kappi ein Problem oô Aber sollte nicht... na ja. Irgendwie sind meine Charas ziemlich pervers. Ist eigentlich aufgefallen, dass KdW2 ganz unterschwellig auch voll von Kanibalen war? XD (Wobei...)

Risiken

„Dein Verhalten beleidigt mich.“

Karem sah ernst auf Moconi herab, der leichenblass auf einem Stein vor ihm hockte und seine Füße anstarrte. Das Sonnenlicht war bald wieder zurückgekehrt und am nächsten Morgen war der lebensspendende Stern wieder genau so wie immer hinter den Bergen erschienen. Als wäre nichts gewesen.

Eigentlich hätte Moconi seinen Vater entehren und seinen Stamm an Karem abgeben müssen. Was am vergangenen Tag und in der darauf folgenden Nacht in der Hütte von letzterem geschehen war, war peinlich und entehrend, letztendlich hatte der junge Mann so lange um seine Vorherrschaft gekämpft, bis Karem bereit gewesen war, einen Kompromiss einzugehen.

Und dennoch war seine Laune am nächsten Tag sehr, sehr bescheiden.

„Du solltest dich wirklich darüber freuen, eine solche Nettigkeit von mir zu erhalten. Also bereite dich auf deine Ansprache vor und zieh nicht so ein Gesicht, Sohn von Saltec!“

Der Ältere wandte sich kopfschüttelnd ab. Ja, nett war er wirklich, verstehen warum, tat er selbst nicht. Vielleicht, weil er die Erniedrigung des jungen Mannes irgendwie genossen hatte.

So durfte er sich nun eine Gruppe zusammenstellen, mit der er gegen Abend in den Süd-Osten aufbrach. Und wenn es ein gutes Land war, dann musste der Rest ihm folgen... Moconi blieb trotzdem Häuptling. Dennoch, die neue Macht gefiel dem Mann ausgesprochen gut, so gut, dass er sich doch glatt noch einmal in seine beste Kleidung geworfen und gekämmt hatte. Gewisse Blicke der Frauen darauf mochte er doch sehr...
 

Das ist keine gute Sache. Ich würde lieber Sanan folgen.

Calyri seufzte, betrübt zu Mefasa sehend. Sie hatte gerade ihr Baby gewaschen und nun saßen die beiden Frauen zusammen in der Hütte, die ursprünglich Rhik gehört hatte. Seine Witwe vermisste ihn... kaum jemanden kümmerte das, doch Calyri fiel es auf. Sie war anders geworden.

Nicht sorgen., antwortete sie, aufgesetzt aufmunternd lächelnd, Wenn Karem sich irrt, können wir auf Sanan hören. Wir müssen beten, dass Karem sich irrt.

Die Ältere nickte beklommen.

Moconi ging es sicher fürchterlich... er tat ihr Leid. Da setzte er sich seit er denken konnte für das Einhalten der Traditionen ein und dann hinterging ihn mit einem Mal die ganze Welt. Es war nur gut, dass er Karem noch so mild hatte stimmen können... sie wollte gar nicht so genau wissen, wie er das geschafft hatte.

Am liebsten hätte sie in diesem Moment nicht bei ihrer stummen Freundin gesessen, sondern ihren Häuptling getröstet, aber das wäre vermutlich eine sehr schlechte Idee gewesen.

Seufzend fiel ihr der frühe Morgen wieder ein.

„Wie ist es gelaufen?“, hatte Kili berechtigter Weise wissen wollen, als ihr Bruder die gemeinsame Hütte betreten hatte, ohne sie oder Calyri, die dort ebenfalls gewartet hatte, eines Blickes zu würdigen.

Er hatte darauf nur gezischt.

„Er darf schauen, wie es im Süd-Osten aussieht... wir bleiben hier. Na und? Was geht dich das an?“

Die Jüngere hatte darauf mit einem empörten Schnauben reagiert, der Gast hatte sich vorsichtshalber lieber zurückgehalten. Auch als der Häuptling seiner Schwester gegenüber getreten und sie mit einem ungewohnt abartigen Blick gemustert hatte, hatte er nichts gesagt.

„Dir müsste man eigentlich das Maul zunähen, du faule Ziege. Sieh dich an, deine Haut hat beinahe die Farbe von Kalkstein, weil du den ganzen Tag in der Hütte hockst und dir aus den Fellen, die dir andere Frauen vorbereitet haben, schöne Kleider nähst! Männer wollen keine Frauen mit schönen Kleidern, denn wenn sie sich mit ihnen vergnügen, sind sie ohnehin nackt! Männer wollen Frauen, die es zu arbeiten verstehen!“

Daraufhin war Kili verletzt aus dem Lager gestürmt, wie sie sagte, um heilende Kräuter zu suchen, und bisher nicht wieder aufgetaucht.

Auch wenn Moconi im Grunde genommen Recht hatte, es war alles andere als typisch für den an sich friedliebenden jungen Mann. Während seine Schwester sich vermutlich gerade halb tot ärgerte, weil er es auf den Punkt gebracht hatte, bemitleidete seine Kindheitsfreundin ihn bloß. Kindheitsfreundin...

Ihre Hand fuhr unwillkürlich zu der Krähenfeder an ihrem linken Ohr. Sie war doch mehr als das...

Magst du ihn nicht trösten?

Sie fuhr aus ihren Gedanken auf, als sie Mefasas Handbewegungen bemerkte. Sie lächelte mitleidig.

Calyri wusste, dass sie nicht gut auf ihren Häuptling zu sprechen war, der sie unverständlicherweise Zeit seines Lebens gedemütigt hatte, aber ihr schien klar zu sein, was in ihrem Gegenüber vorging, wenn es so an seinem Ohrschmuck nestelte.

Sie schüttelte errötend den Kopf.

Das wäre nicht gut.
 

Der Stamm zeigte sich über Moconis Ansprache gleichermaßen geschockt wie beruhigt. So, wie es klang, war wenigstens nicht alles verloren.

Sanan dachte sich das zumindest, auch wenn er ein schlechtes Gefühl dabei hatte. Die Zwillinge machten seinen Gedanken jedoch jäh einen Strich durch die Rechnung.

„Karem wird sicherlich das beste Land der Welt da unten finden.“, orakelte Novaya neben ihm.

„Und dann sind ihm alle so dankbar, dass Moconis Zeit vorüber ist. Gut so, Traditionen finde ich auf Dauer sehr anstrengend...“, fügte Semliya lächelnd an und der Ältere erschauderte.

Ihm gefiel das ganz und gar nicht... sein Kopf schmerzte richtig...

„Ihr solltet Moconi etwas dankbarer sein... ich finde, er hat gut für uns gesorgt, auch wenn er etwas eigensinnig war!“

Die Zwillinge gingen auf seinen Verteidigungsversuch nicht weiter ein.

„Du hast bloß Angst, dass du dann überflüssig wirst...“, war Novayas einziger Kommentar darauf.

Der Ältere seufzte. Da hatte er Recht. Aber was konnte er auch schon? Jagen. Ja, das konnte er, aber er schaffte es nicht einmal, ein Impala zum Lager zu tragen. Vermutlich hatte sein eigener Stamm ihn deswegen ausgesetzt, weil er irgendwie gemerkt hatte, dass aus ihm kein richtiger Mann werden würde mit seiner schwächlichen Gestalt. Er hatte alles versucht, um stärker zu werden, aber er war immer wieder unter einer normalen Last zusammengebrochen wie ein kleines Kind. Es war entwürdigend, aber er konnte es nicht ändern.

Was er konnte, war jedoch das Fährtenlesen, seine Intuition hatte ihn nie im Stich gelassen und er wusste, dass sie das auch dieses Mal nicht tun würde. Keineswegs. Es ärgerte ihn, dass Karem ihm alles nahm, was ihm die Berechtigung auf Leben in ihrer Gemeinschaft gab. Würde Moconi seine Macht verlieren, würde er gleich freiwillig gehen können...

Tecos Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, auch wenn er nicht ihn ansprach, sondern seinen Cousin und indirekt auch die Versammlung.

„Ich will mitgehen. Ich will sehen, wie es da unten aussieht! Und...“, er machte eine Pause, während Moconi bloß ermüdet beide Brauen hob, „Kili sollte auch mitkommen.“

Der Häuptling schien wirklich erschöpft zu sein, denn weder die Worte seines Gegenübers, noch das Raunen, das durch die Reihen ging, konnten ihn aufwecken, erst, als seine Schwester empört zu schimpfen begann, fand er wieder zur Besinnung. Karem schielte ihn bloß dreckig grinsend an.

„Ich werde nirgendwohin gehen, pfui! Ich habe hier sehr viel zu tun! Und ich kann meinen Bruder doch nicht allein hier zurück lassen, was denkst du dir?! Wie kommst du überhaupt darauf? Ich bin die Schwester des Häuptlings, du hast mir nichts zu befehlen!“

Sie trat in die Mitte, beide Arme in die Hüften stemmend und dabei stramm stehend, um etwas größer zu wirken. Den Männern entging nicht, dass sie auf diese Weise ihre stattliche Oberweite ziemlich betonte.

„Ich habe dir doch nichts befohlen!“, zischte der Ältere unbeeindruckt zurück, „Aber mich nervt deine Faulheit wie alle anderen hier. Du solltest wirklich mit uns kommen und uns nützlich sein wie eine Frau, damit dich endlich jemand an sein Feuer bittet!“

Kili wusste sehr genau, wie er zu seinem seltsamen Vorschlag kam. Er hatte noch eine Rechnung mit ihr offen... nützlich sein wie eine Frau meinte in diesem Moment sicherlich nicht, dass sie arbeiten sollte.

Karem erkannte das auch, als er sich an Moconi wandte.

„Es wäre bestimmt nicht schlecht, wenn wir eine Frau für den... Notfall mit dabei hätten.“, er schielte zu seiner eigenen Frau, Jorus Mutter, einer kleinen, dürren Gestalt mit nachtschwarzem Haar. Sie senkte ihre ebenso dunklen Brauen etwas und ihr Mann fand sich bestätigt.

„Sie schuldet uns allen etwas... die anderen Frauen hier sind viel fleißiger als sie! Also sollte sie dieses Mal auch als einzige mit uns kommen.“

„Du hast überhaupt nichts zu bestimmen!“

Die Schwester des Häuptlings sah das so überhaupt nicht ein. Sie hatte im Moment wirklich keine Lust auf weite Wanderungen, bald stand ohnehin der nächste Wildwechsel an, da musste sie weit genug rennen; sie fand, das war völlig ausreichend.

Als Moconi sich endlich einschaltete, war sie zunächst dankbar.

„Ob man mit möchte, oder nicht, kann hier jeder selbst entscheiden...“, er wandte seinen Blick erschöpft von Karem ab und Kili zu, „Allerdings... wo er Recht hat, hat er Recht... das wäre sicherlich etwas... besänftigend.“

Sie quietschte und er sah nun zu seinem breit grinsenden Cousin.

„Aber du passt auf sie auf... dass ihr nichts all zu schlimmes geschieht. Ich verlasse mich da auf dich, ansonsten...“

Es war bloß ein Bruchteil einer Sekunde, in dem er den Blick zu Calyri schweifen ließ, aber Teco bemerkte es und verschluckte sein Grinsen verärgert.

Würde seine Cousine sich ernsthaft beklagen, konnte er sich von dem Traum, in Moconis Kindheitsfreundin seine Frau zu finden, endgültig verabschieden. So viel zur Fairness...

Vielleicht war ein Leben unter Karem als Häuptling doch gar nicht so schlecht, er mochte den Sohn seines Onkels so gar nichts.

Getröstet davon, dass sein Amüsement mit Kili sicherlich nicht einseitig sein würde, nickte er jedoch artig.

„Sie wird wohlbehalten zurückkehren.“

Die junge Frau kreischte einmal wutentbrannt, ehe sie sich abwandte und die Versammlung stürmisch verließ.

Ihr Bruder seufzte bedauernd. Ja, das gefiel ihr nicht und ihm auch nicht, aber sie hatte sich mit der Zeit wirklich extrem unbeliebt im Stamm gemacht; sie musste jetzt etwas tun. Sie konnte auch ein Grund sein, weshalb er seinen Posten verlor... irgendwann würde der Missmut so weit angewachsen sein, dass die Menschen von ihm verlangten, etwas dagegen zu tun... Kili zu bestrafen, gar auszustoßen.

Das könnte er niemals tun.

Karem würde ihn für inkompetent erklären, alle würden der Meinung sein, dass er für dieses Amt nicht geeignet war und es ihm aberkennen. Gegen das Wort der Allgemeinheit konnte er sich nur sehr schwer stellen.

In diesem Augenblick war er Calyri mehr als dankbar, dass sie seiner Schwester folgte. Mit etwas Glück hatte sie seine Gedanken durchschaut und konnte es ihr erklären... er meinte es schließlich nur gut mit ihr. Er war ihr älterer Bruder, auch wenn sie bereits eine Frau war, so sah er es doch als seine Pflicht, sie vor Unheil zu bewahren und sie möglichst immer zu beschützen. Es ähnelte beinahe Vaterinstinkten... ob er selbst wohl einen guten abgegeben hätte?

Für den Moment war es egal, zumindest besser als Karem, kam ihm bloß, als er diesen darauf ansah.

Er grinste noch immer.

„Gute Entscheidung.“, lobte er ihn scheinheilig, „Dann sollten wir jetzt allesamt zusammenpacken, wir brechen bei Einbruch der Dunkelheit auf.“

In der Nacht zu wandern war an sich recht riskant, es war dunkel und die wilden Tiere konnten einem das Leben wirklich schwer machen, aber in den Sommermonaten mit schwerem Gepäck zur Mittagszeit zu gehen war eine wahrlich dumme Idee.
 

Moconi verabschiedete seine Leute schließlich schweren Herzens, als der untere Rand der Sonne die Ebenen bereits berührte. Gut ein Viertel der Männer des Stammes gingen mit Karem und Kili als einzige Frau. Keine andere hatte sich dazu bereit erklärt, mit zu gehen. Viele würden ihre Männer sicherlich vermissen, aber allein um die Schwester des Häuptlings zu ärgern, lieferten sie sie allein aus. Ja, Moconi betrachtete es wirklich als Auslieferung, als die junge Frau ihm einen letzten Blick aus tränennassen Augen schenkte, während sie mit der Gruppe unter schwerem Gepäck in Richtung der Dunkelheit ging. Es war wirklich eine Dunkelheit und vielleicht sogar eine Reise ohne Wiederkehr...

Der junge Mann verwarf die Gedanken empört und versuchte sie mit Kopf schütteln zu vertreiben. Ohne Wiederkehr? Das war lächerlich... Karem war zwar größenwahnsinnig, aber selbst er würde einsehen müssen, dass es keinen Sinn hatte, einen eigenen Stamm mit einer einzigen Frau zu gründen. Und doch rührten in Kilis Tränen mehr, als er erwartet hätte.

„Es wird schon gut gehen.“

Calyri nahm seine Hand in ihre, als sie neben ihn trat. Teco war weg, das gefiel ihr. Wenn er nicht da war, war Moconi anders, hatte sie bemerkt. Meistens gingen sie zwar gemeinsam in einer Gruppe zur Jagd, aber wenn der Häuptling einmal zurückblieb, war das immer ein Grund zur Freude für die junge Frau.

„Wer weiß, vielleicht wird einer der Männer Kilis Wert erkennen... vielleicht sogar Teco?“

Sie sprach ihre Wunschvorstellung einfach laut aus, vielleicht hörte die ein oder andere gnädige Gottheit sie ja und erfüllte ihr dummen Frau diesen Wunsch ja? Oder sie taten das Gegenteil, sie ließ es einmal darauf ankommen...

„Teco mag Kilis Körper... vielleicht lernt er auch ihren Charakter zu schätzen? Ich fände es gut... du nicht auch?“

Automatisch hielt sie seine Hand fester. Er wandte ihr nur langsam das Gesicht zu.

Unter seinem langen, prüfenden Blick schrumpfte sie etwas zusammen.

Das rote Licht des Sonnenunterganges verursachte starke Schatten, die die Gesichtszüge der jungen Frau stark hervor hoben. Es waren hübsche Gesichtszüge... keine extrem hübschen, aber doch sehr schön. Ideal...

Gerade, als sie ihn darauf ansprechen wollte, weshalb er sie derart anstarrte, senkte er den Blick etwas.

„Mache dir da keine Hoffnungen. Teco bekommt dich, Calyri. Keine andere, eher nehme ich selbst Kili, als dass er sie nimmt.“

Sie weitete ihre dunklen Augen minimal, als er sich zum Gehen wandte; immerhin ließ er sie nicht los und zog sie langsam mit sich in Richtung der untergehenden Sonne und ihres Lagers.

„Eher sterbe ich ohne je ein Kind geboren zu haben, als dass ich Teco nehme!“

Moconi reagierte nicht auf ihren protestierenden Ausruf, genau so, wie er es immer tat. Er wollte das nicht hören.

Er wusste genau, was sie wollte. Er wollte es nicht.
 

Teco ärgerte sich etwas. Es war ein Muss gewesen, mit zu gehen, aber im Nachhinein fiel ihm wieder ein, dass er es eigentlich hasste, wenn Moconi so viel Gelegenheit hatte, zu... ach, er wollte nicht daran denken, es gab Wichtigeres.

„Gehen wir die ganze Nacht durch?“

Kili rieb sich müde die Augen. Sie war doch nicht darauf vorbereitet gewesen, einen so langen Marsch zu machen; hätte man sie wenigstens vorgewarnt, dann hätte sie noch eine Runde geschlafen.

Ihr Cousin erriet ihre Gedanken.

„Viele haben erst kurzfristig erfahren, dass sie mitkommen sollen, also stell dich nicht so an, das wirst du wohl schaffen. Und diese Frage ist mir zu blöd, die beantworte ich nicht.“

Klar, sie gingen gerade so weit, dass man den Stamm nicht mehr sehen konnte, dann machten sie drei Tage Pause... was dachte die sich? Oh, die würde so schnell nicht zum Schlafen kommen, er hatte noch eine Rechnung mit ihr offen. Wie er so ihrem prallen Busen dabei zusah, wie er bei jedem Schritt wackelte, wünschte er sich mit einem Mal auch eine rasche Unterbrechung herbei...
 

Karem hätte das nicht gut gefunden. Er wollte so schnell wie möglich in den Süd-Osten kommen. Je schneller sie voran kamen, desto weniger Zeit gab es für Zweifel an seiner Ahnung.

Ahnung, es war mehr eine vage Vermutung, was ihn zu diesem waghalsigen Unterfangen trieb, aber irgendwie musste er doch an das Amt kommen, das ihm rechtmäßig zustand. Oh, wie er Saltec verfluchte...

Ein Heulen ließ ihn und sein Gefolge inne halten.

„Wölfe?“, fragte Porit in die Runde und blinzelte. Karem schüttelte den Kopf.

„Höchstens Kojoten. Egal.“

Kili erschauderte. Egal? Nun gut, Wölfe konnten gefährlicher werden, das war schon wahr, aber so ganz harmlos waren diese Trickser von Hunden auch nicht.

Was war, wenn sie an ihre Vorräte wollten, die sie mithatten? Diese Tiere waren in den letzten Jahren ziemlich mutig geworden, sie konnten immer wieder damit rechnen, dass sie angefallen wurden, wenn sie etwas Essbares dabei hatten. Außerdem stand der nächste Wildwechsel bevor, die Beutetiere waren am abziehen und was noch da war, wurde von den Menschen oder den wesentlich größeren Wölfen erlegt, es war gut möglich, dass die Kojoten hungrig waren. Zumindest, wenn sie sich dumm anstellten, aber so genau kannte sie sich gar nicht aus.

Teco weckte in ihr eine wesentlich größere Befürchtung, als sie auf Forderung ihres Anführers einfach weiter gingen.

„Woher weiß der mit Sicherheit, dass das Kojoten waren? Vielleicht waren es auch Wölfe in komischer Stimmlage oder so...“

„Unvernünftig.“, stimmte Porit seinem Sohn leise zu und Kili keuchte. Wie, doch Wölfe?!

„Ich habe Angst!“, gestand sie kleinlaut und ihr Onkel schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, das sie im spärlichen Mondlicht nur erahnen konnte. Sie mussten etwas sparen, nur Karem an der Spitze hatte eine Fackel, von der die junge Frau, ziemlich weit hinten, nicht mehr all zu viel abbekam.

„Wir passen auf dich auf.“, versprach der Mann da nur und sah zu, dass er sich auf das Gehen konzentrierte, denn der Boden war hier ziemlich uneben, mit Steinen und toten Wurzeln übersät.

Sie wollte es ihm gern glauben.
 

Einige Zeit gelang es ihr. Doch je müder sie wurde, desto schärfer schienen ihre Sinne zu werden, so seltsam es ihr auch vorkam, doch sie vernahm jedes noch so kleine Knacken so laut wie einen Donner. Und das immer näher rückende Jaulen und Heulen erst Recht...

Das trockene Gebüsch um sie herum raschelte und der kühle Nachtwind ließ sie erschaudern. Hier war etwas nicht in Ordnung. Sie wollte nach Hause...

„Ich kann Blicke auf mir spüren...“, murmelte sie und auf einen Schlag wurde es finsterer, als Wolken sich vor den grünlichen Windmond schoben. Der Wind ließ sie erschaudern. Teco seufzte.

Tatsächlich war bloß sie selbst der Meinung, ihre Sinne seien schärfer geworden... in Wahrheit konnte sie kaum mehr gerade aus gehen.

„Eigentlich hätte man es ahnen können.“, versetzte Porit, der es auch bemerkte, seufzend, „Die ist nichts gewöhnt, die schafft das nicht ohne Ruhe zuvor. Aber...“

Er hielt inne und sah sich um. Dieses gewisse Gefühl, beobachtet zu werden, verfolgte nicht nur die junge Frau. Karem nahm das Ganze zu locker, Tiere konnten unberechenbar sein. Und keiner wagte sich etwas zu sagen, während der stolze Mann mit seiner Fackel voraus ging.

„Dieses dumme Ding!“

Der Mann löste sich aus seiner Starre, als er das Fluchen seines Sohnes vernahm, der seine Cousine nun stützte, damit das Mädchen überhaupt noch eine Chance darauf hatte, voran zu kommen. Karem hätte sicher keine Rücksicht auf sie genommen.

„Wir bräuchten mehr Fackeln!“, ging Porit nicht auf das Schimpfen seines Sohnes ein, „Ich weiß, dass wir sparen müssen, aber eine ist in einer Situation wie dieser bei Leibe zu wenig!“

Teco schnaubte.

„Und warum erzählst du mir das?“

Er konnte es nicht ändern, selbst, wenn er es gewollt hätte. Er hatte die Ersatzfackeln nicht in seinem Gepäck.

Porit schüttelte sich nur, als er das ein oder andere Augenpaar entdecken konnte, auch wenn das Jaulen wunderlicher Weise verstummt war. Er war ein feiger Mann. Karem war stärker als er, er würde sich nicht gegen ihn stellen oder seine Worte in Frage stellen.
 

Dass die Gespräche verstummt waren, war nicht gut. Die einsame Fackel war das einzige Licht in der mittlerweile mondlosen Nacht. Mittlerweile hatte jeder bemerkt, dass man sie verfolgte. Kojoten, keine Wölfe, das war die Hauptsache. Und trotzdem...

Karem stellte sich taub. Er wollte nur voran kommen und er wollte, dass die Fackeln ausreichten. Was er nicht wollte, war ein Umweg vor Angst vor ein paar kleinen Hündchen. Das sah er nicht ein. In all zu großen Rudeln fand man diese Viehcher ohnehin nie vor. Oder zumindest selten... so trieb er sich selbst die Angst aus. Ohne Vorräte würden sie auch noch Zeit zum Jagen verschwenden müssen und Verletzte wären doppelt ärgerlich gewesen... aber nein, dazu würde es nicht kommen. Dachte er.
 

Letztendlich ging es ziemlich schnell, schneller, als irgendwer damit gerechnet hätte.

Von einem Augenblick auf den nächsten waren sie von Augenpaaren umzingelt, hörten Knurren und Bellen und Karem hätte sich ohrfeigen können.

„Was nun?!“, fragte ein Mann offensichtlich verärgert und packte seinen Speer fester, während sich das ungewöhnlich große Rudel immer weiter näherte. Teco stellte unterdessen entsetzt fest, dass Kili tatsächlich im Stehen an ihn gelehnt eingeschlafen war.

„Hallo?!“, zischte er erbost und rüttelte an ihr, doch sie brummte nur irgendetwas und nahm gar nicht war, dass ihre Befürchtungen gerade Realität wurden. Vielleicht war es besser für sie... im nächsten Moment verwarf der junge Mann den Gedanken wieder, als er das Knurren auch direkt in seinem Rücken vernahm. Mit ihr im Arm konnte er seinen Speer nicht richtig halten, er konnte weder sie, noch sich selbst verteidigen, wenn dieses Vieh ihn angriff... und das würde es, sein Proviant war auf eine so feine Weise zubereitet, dass selbst er es mit seiner menschlichen Nase riechen konnte, während es in seiner Rückentrage verstaut war.

Karem reagierte schließlich auch erst, als mit einem lauten Bellen Teco angefallen und von den Beinen gerissen wurde... und als sich ein Großteil der anderen Tiere sofort auf ihn und seine nun erwachte Cousine stürzten.

Sie schrien gleichermaßen geschockt auf, als mit einem Mal nur noch Zähne fletschende Mäuler um sie herum zu sehen waren. Mit dem Schreien der Männer, die sich im nächsten Moment auf das Rudel stürzten, wehte der Wind die Wolken von dem grünen Mond und Porit schrie beinahe wie eine Frau, als er das blutige Maul des Tieres direkt vor sich erkannte. Irgendwo unter diesem Haufen von Hunden war sein Sohn...
 

Kili fand sich in einem Alptraum wieder. Sie hörte Schreien und Fluchen... Bellen und Knurren... sie bemerkte, wie Teco neben ihr verzweifelt nach den Tieren schlug und trat, denn seinen Speer hatte er verloren, so schien es... sie bemerkte, wie zwei der Kojoten, sie glaubte zumindest, dass es sich um welche handelte, ihre Rückentrage zerfetzten... und wie ein weiterer, ein ziemlich junger, planlos in ihren Fuß biss. Sie trug gute Schuhe, sie spürte einen starken Druck, aber nichts, was darauf schließen ließ, dass sie ernsthafte, längerfristige Verletzungen davon tragen würde. Eines der Tiere stand auf ihrem Bauch und schien zu fressen... neben ihr lag noch immer der verzweifelt schreiende Teco... fraß es... an ihm?

Sie wollte schreien... sie wollte sich irgendwie wehren... sie wollte aufstehen und davon rennen... doch sie schien wie erstarrt. Längst vergessen geglaubte Worte hallten durch ihren Kopf und mit einem Mal war sie ihrer Starre dankbar.

Ruhig bleiben... nicht bewegen... keine Aufmerksamkeit auf dich lenken...

Und Teco?
 

Teco hatte scheinbar großes Pech. Karem fiel bloß sehr beiläufig auf, dass die Tiere aus welchen Gründen auch immer sehr dürr waren und folglich ziemlich hungrig sein mussten, was ihr seltsames Verhalten erklärte. Immer wieder versuchte er, sie mit seiner Fackel von dem jungen Mann zu vertreiben, während die anderen mit ihren Speeren immer und immer wieder auf die Raubtiere einstachen. Einen hatte der Mann bereits angezündet, nun rannte er winselnd und jaulend durch die Gegend und wälzte sich in einem Fort wie wahnsinnig am Boden, konnte die Flammen jedoch nicht von seinem staubtrockenen Fell vertreiben. Er würde verbrennen, aber das war sowohl den Menschen, wie auch seinem Rudel egal, das größtenteils schwer angeschlagen noch immer versuchte, Tecos und Kilis Vorräte zu plündern, beziehungsweise sich an der Fleischwunde an der Wade des jungen Mannes zu schaffen zu machen. Besonders das Leittier erwies sich als sehr hartnäckig, erst als Porit ihm seinen Speer mit ganzer Kraft durch den Schädel stieß, ließ das Rudel von seinem Sohn ab. Ein Tier nach dem anderen zog sich unzufrieden und zum Teil verletzt zurück. Die Rückentragen waren zwar zerfetzt, aber an die Vorräte waren sie nicht gelangt, doch das bemerkte man nur beiläufig, während man sich um den hysterisch heulenden Teco zu kümmern versuchte.

„Bist du verletzt, Frau?“, hörte seine Cousine irgendwen fragen und sie dachte kurz nach, ging in sich und konnte nichts weiter spüren als die leichte Beule am Hinterkopf, die sie vom Aufprall auf den Boden erlitten hatte. Das an Porits Speer aufgespießte Leittier lag auf ihrem Bauch. Irgendwer zog es mit wenig Mühe von ihr herab und sie setzte sich mehr instinktiv auf, als dass es Absicht gewesen wäre. Teco schrie noch immer neben ihr.

„Du kennst dich etwas mit dem Heilen aus!“, es war eine Feststellung seitens Karem, keine Frage, „Kümmere dich auf der Stelle um sein Bein! Es muss heilen, sonst müssen wir es abmachen! Dann stirbt er vielleicht, willst du das? Oder noch schlimmer, er kann nicht mehr jagen!“

Sie kam nicht einmal auf den Gedanken, diesem Mann böse zu sein, als sie sich von ihrer zerstörten Rückentrage befreite und darin nach Materialien zu suchen begann. Sie hatte in weiser Voraussicht tatsächlich etwas mitgenommen...
 

Die Hauptsache war, dass sich die Wunde nicht entzündete. Der erste, klare Gedanke, den Kili fassen konnte, war die Frage, was die Tiere damit bezweckt hatten. Sie hatten ihn gebissen... mehrmals... mal tiefer, mal weniger tief... sie hatten Blut geleckt... aber wirklich angefressen hatten sie ihn nicht. Da konnte man sagen, was man wollte, aber aus der Tierwelt wurde sie nicht schlau...

Ihr Cousin stöhnte, als sie den Verband aus kurzen Impala-Fellstreifen um sein Bein legte.

„Das wird wieder heilen.“, beruhigte sie ihn und er nickte. Es gab schlimmeres.

„So ein Pech...“, schnaubte er nur. Jetzt würden sie wegen ihm länger brauchen, das war so ärgerlich. Länger als einen Tag würde er die Gruppe aber keinesfalls aufhalten, das schwor er sich.

Porit seinerseits stand ihm am frühen Morgen nicht mehr bei. Während sich die ersten Sonnenstrahlen über die weit entfernten Berge stahlen, wurde er von seinen Mitreisenden unangenehm bedrängt.

Moconi hatte keine Ahnung, dass er sich im Moment keinerlei Sorgen darum machen musste, seinen Stamm an Karem zu verlieren...

„Das ging glimpflich aus!“, stellte einer der Männer derweil fest, zu seinem Anführer schielend, der auf einem Stein einige Meter entfernt hockte und seine Rückentrage nach irgendetwas durchsuchte, „Aber dein Sohn hätte auch zum Krüppel werden können! Oder ganz drauf gehen! Von deiner Nichte abgesehen.“

„Oder uns anderen!“, stimmte ein weiterer mit ein, „Das würde ich nicht auf mir sitzen lassen! Hast du gestern nicht gleich gesagt, wir bräuchten mehr Fackeln?! Sag es ihm, na los!“

Porit fuhr sich seufzend durch das dunkle Haar. Ja, das war alles wahr... aber konnte er sich wirklich mit Karem anlegen?

Er musste wohl, denn letztendlich stießen ihn seine Kollegen beinahe in die richtige Richtung.
 

Karem seinerseits war nicht dumm. Er wusste, was los war, er wusste es sehr wohl und Porit war erleichtert, als der andere zu sprechen anfing, noch ehe er eine Chance dazu bekam.

„Ja, sage nichts.“, wurde er gleich aufgefordert, aber nicht angesehen, während der wenig Jüngere nun seinen Speer reparierte, bei dem sich die Spitze gelockert hatte. Er hatte eine Ewigkeit nach Ersatzsehnen gesucht.

„Ich weiß, ich war mit Schuld. Aber ich war es nicht allein! Niemand hatte einen Einwand. Ich glaube, es war der Wille der Götter.“

Und darauf wusste Porit bereits nichts mehr zu erwidern. Er hatte zu großen Respekt vor diesem Mann... seine Frau sprach Recht, er war wahrlich ein Feigling. Und die anderen schüttelten nur ihre Köpfe.
 

Einen Tag lang rasteten sie, dann ging es auf Tecos Drängen hin weiter. Er humpelte sehr, aber beschwerte sich mit keinem Wort, in der Hoffnung, die Geschichten seiner Tapferkeit würden bis zu Calyri hindurch dringen. Dazu, dass viel öfter gerastet wurde, als eigentlich normal gewesen wäre, sagte er nichts.

So dauerte es auch seine Zeit, bis sie da angelangten, wo sie auch hingewollt hatten.

Und wieder einmal sah es schlecht für Karem aus.

„Das ist... Ödland!“

Kili drehte sich schnaubend einmal im Kreis. Hier gab es kaum etwas. In der Nähe floss der große Fluss, vor ihnen lag das gewaltige Gebirge und hinter ihnen ihr Weg. Hier gab es keine Tiere, die es zu jagen gelohnt hätte. Hier gab es nicht einmal brauchbare Pflanzen, höchstens fischen konnte man hier. Aber das war sicherlich kein Ansporn für ein Leben an diesem Ort, denn sie waren kein Volk von Fischern. Die glitschigen Tiere waren schwer zu erlegen, sie waren so klein und so schnell, nur die Jäger mit den besten Reflexen schafften es, sie mit ihren Speeren zu treffen. Deshalb galten sie seit jeher nur als Ergänzung der herkömmlichen Nahrung und niemals als Hauptnahrungsmittel.

„Wir... sollten vielleicht doch lieber noch ein Stück weiter in den Norden... am Gebirge entlang.“, stammelte Karem sich die Haare raufend auf das karge Land starrend und ein anderer Mann schnaubte empört.

„Weiter im Norden ist der Pass, den wir immer nehmen, wenn ein Junge seine Prüfung machen muss! Wie es da aussieht, wissen wir!“

Ebenfalls recht karg, aber lebensfreundlicher als der Ort, den sie hier nach langer und beschwerlicher Anreise entdeckt hatten. Moconi sollte diesen Spinner bestrafen.

Porit lenkte die Aufmerksamkeit auf etwas anderes.

„Denkt ihr, bei den Bergen gibt es anständige Höhlen?“

Er starrte in den Himmel, die verwunderten Blicke weitgehend ignorierend. Wenn er sich mit einer Sache auskannte, mit nur einer einzigen, dann war es mit der Bestimmung des Wetters. Und das wussten die anderen auch.

„Ich glaube, unsere Wetterschutze werden das nicht aushalten... diese Wolken verheißen nichts gutes.“

Er schüttelte mit dem Kopf und sein Sohn, der sich auf einem staubigen Stein nieder gelassen und das verletzte Bein ausgestreckt hatte, sah zu ihm auf.

„Bist du dir sicher? Niemand hat so gut verarbeitete Wetterschutze wie wir...“

Genau genommen kannte er auch nur seinen eigenen Stamm, aber wenn er bedachte, wie viel Mühe sich die Frauen damit machten, dann war er sich beinahe sicher. Etwas loben konnte er die Guten ja auch einmal... vielleicht erfuhr Calyri ja einmal davon. Er war selbst etwas erstaunt darüber, wie weit er dank dieser Frau gelegentlich dachte...

„Ich bin mir ziemlich sicher.“, antwortete sein Vater da, die Nase in den leichten Wind gereckt, „Das wird böse. Ich kann es richtig spüren.“

Karem spürte ein paar skeptische und erboste Blicke auf sich. Er räusperte sich.

„Die Berge dort vorn erscheinen mir doch sehr vielversprechend. Ich schlage vor, wir sehen uns dort einmal um, Porit kennt sich damit schließlich wirklich aus.“

Die Gruppe grummelte nur. Ob er Sanan nun auch glaubte? Der kannte sich schließlich auch damit aus, wo das Wild hinzog. Und vor allen Dingen, wo man es nicht suchen brauchte, wo es nur gefährliche Zeitverschwendung war.

Ja, gefährlich, das dachte sich Teco auch, als er neben Kili hinter den anderen her torkelte.
 

„Ich fühle mich schon wieder beobachtet!“, gab seine Cousine zu, als sie sich dem Gebirge ein gutes Stück genähert hatten, und er starrte sie empört an. Vor Kojoten hatte er die nächsten Jahre

panische Angst, das wusste er. Die junge Frau schüttelte bloß skeptisch den Kopf und sah an den mächtigen Bergen empor.

„Nicht von etwas.“, erriet sie seine Gedanken, „Eher von jemandem. Ganz deutlich, ich kann es gar nicht erklären. Spürst du das nicht auch? Ich spüre es ganz deutlich.“

Er horchte etwas in sich hinein und musste ihr Recht geben. Irgendetwas war hier in der Nähe... und es war nicht tierischer Natur.

Mit einem Mal musste er an Joru denken. Was wohl mit ihm geschehen war...?

Er war der Letzte gewesen, der die Berge betreten hatte... zusammen mit Rhik. Der hier gestorben war.

Er erschauderte.
 

Höhlen gab es tatsächlich. Es war mehr ein Glückstreffer Karems gewesen, das wussten alle, aber niemand hielt ihm etwas vor. Sie hoben sich ihre Wut auf, für Moconi, ihren jungen, aber rechtmäßigen Häuptling. Sie würden ihm die brutale Wahrheit über den unfähigen Freund seines Vaters erzählen. Nie wieder würde er sich darum sorgen müssen, dass dieser Mann seinen Stamm gefährdete, doch davon ahnte er nun, weit entfernt, nicht das Geringste.

Der Boden unmittelbar vor den Bergen war nur von einer dünnen Staubschicht bedeckt, darunter verbarg sich massiver Stein. Und gerade, als die Gruppe ihre Rückentragen abgestellt hatten, hörten sie etwas, womit sie nicht ansatzweise gerechnet hätte. Schritte. Rennen. Jemand rannte. In der Nähe befand sich ein kleiner Pass, das hatte man aus der Ferne deutlich erkennen können. Es schien so, als würden diese Personen über diese Pass ins Land kommen.

Niemand brachte vor Verwunderung über die immer lauter hallenden Geräusche ein Wort heraus. Woher kamen diese Leute? Und was wollten die?!

Kili zuckte zusammen, als mit einem Mal hinten dem nächsten Vorsprung auch Stimmen ertönten. Stimmen, die nicht ihre Sprache sprachen. Es gab eine andere Sprache als die Ihre?

Weiter darauf eingehen konnte sie nicht, denn wenige Sekunden später sah sie sich von weit schlimmeren Feinden als einem Rudel Kojoten umzingelt...
 


 

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Nicht Herz! uû *hust* *zur ENS schiel*

Na ja, ich fahr dann morgen weg, sollte aber hier niemand merken... bla...

Instinkt

Beinahe erschreckend war es gewesen, dass sie sie die ganze Zeit nicht bemerkt hatten. Die Menschen, die sich nur wenige Meter von ihnen entfernt am Fuß des Berges mit seinem Plateau befunden hatten. Die verräterischen Wolken am ansonsten freundlichen, dunkelblauen Himmel waren in diesem Augenblick eben so egal geworden wie das schlecht schmeckende Fleisch des erlegten Kuguar. Selbst das Grollen hinter den Bergen, das mit einem Mal deutlich hörbar geworden war, wurde ignoriert, als die gesamte Gruppe um Mahrran von einer Sekunde auf die nächste einfach zu rennen begann. Niemand hatte ein Zeichen gegeben, aber allesamt wurden in diesem Augenblick von derselben, unbegreiflichen Mordlust gepackt, selbst die schüchterne Alaji hatte ein eigenartiges Bedürfnis danach überkommen, ihre spitzen Nägel in einen menschlichen Hals zu rammen und ihn auslaufen zu lassen.

Es war ein seltsames Verlangen, das alle Gedanken verstummen ließ, durch das alle Vorsätze nichtig wurden. Mahrran hatte das Land erkunden wollen... jetzt ging es ihm nicht mehr besser als Irlak, der wahnsinnig lachend an der Spitze rannte.

„Da vorn, hinter diesem Felsvorsprung!“, kündigte er lachend an als sie ohne wirklich darüber nachzudenken rein von ihren Instinkten getrieben in die richtige Richtung rannten.

„Die bekommen wir!“, war der einzige freudige Kommentar darauf und ausnahmsweise stimmten Iavenya alle zu.

Sie preschten um den letzten Felsen, der im Weg war und ignorierten den leichten Nieselregen, der eingesetzt hatte, als sie dort angelangten, wo alles sie hingeführt hatte. Auch dass einige sich im vorbeirennen an dem scharfkantigen Stein die Arme und Beine aufgeschrammt hatten, war nebensächlich.
 

Es war keine all zu große Gruppe, aber groß genug, um mit ihr Spaß zu haben. Ein paar Männer. Eine Frau. Und riesige, erschrockene Augen.

Einer rief empört irgendetwas aus, als er vermutlich erkannte, wer da vor ihm stand. Rato blinzelte, als er ihm ins Gesicht blickte. An irgendwen erinnerte es ihn, aber das war nun vollkommen gleich, es war nicht von Belang, der Augenblick zählte!

Überraschenderweise löste Mahrran die kurze Starre auf.

„Worauf wartet ihr noch?!“

Und es ging los.

In Irlaks Ohren klangen die geschockten Aufschreie wie reine Musik, als jeder seiner Begleiter sich auf einen der Primitivlinge stürzte. Sie waren in der Unterzahl, doch das war ihnen vollkommen gleich.

Alaji kam ihrem Wunsch auf der Stelle nach. Sie spürte keinerlei Reue, als der Mann unter ihr sich unter grausamem Röcheln in seinem Todeskampf wand, während sie sein Blut trank wie eine Fledermaus. Womit sie nicht gerechnet hätte, war, von einem jüngeren Kerl dabei mit aller Kraft mit dem stumpfen Ende eines Speers auf den Kopf geschlagen zu bekommen, worauf sie ihr Bewusstsein verlor.

Widerstand. Das war etwas, womit keiner gerechnet hätte.

Auch Irlak nicht, als er dem Mann, der nicht nur Rato an jemand anderes erinnerte, das bekannte Gesicht auskratzen wollte. Geschockt rang er nach Luft, als der ihn ehe er dazu kam am Hals packte und würgte. Instinktiv wandte er Wassermagie an, die den Menschen zum Loslassen zwang und ihn gegen die nächste Felswand schleuderte. Er stöhnte schmerzerfüllt auf und strauchelte, verlor jedoch weder das Bewusstsein, noch schien er ernsthaft verletzt zu sein.

Beinahe hätte dieser Umstand Irlak beruhigt, erfreute er sich doch zusehends daran, dem armen Kerl den Schrecken seines Lebens einzujagen, bereute es jedoch schnell wieder, als der andere einen Speer ergriff, der neben ihm am Boden gelegen hatte.

Geistesgegenwärtig wollte der Magier ihn mit einem gezielten Schlag Wassermagie zerbrechen, verfehlte ihn jedoch, weil sein Gegenüber im selben Moment herum wirbelte und ihm das stumpfe Ende gegen die Schläfe schlug, worauf die Vorstellung für ihn zu Ende war.

Kajira war nicht ganz so dämlich wie sein Bruder. Ebenso wie alle anderen ignorierte er den nun starken Regen und das aufziehende Unwetter, als er über die bewusstlose Alaji und ihr verblutetes Opfer hinweg sprang und sich auf den keuchenden jungen Mann stürzte, der seinen Begleiter gerächt hatte. Er hatte eine Verletzung am Bein und war alles andere als wendig oder schnell, ideal für die erste Beute seines Lebens, dachte sich der junge Magier in seinem Blutrausch und warf sein Gegenüber, das ihn zu spät bemerkt hatte, mit einem gezielten Hauch Windmagie von den wackeligen Beinen.

Es landete in einer schlammigen Pfütze und hustete erst einmal, weshalb es erst ziemlich spät dazu kam, sich zu wehren. Einen Augenblick lang hielt Kajira inne, als er sich auf seinen Oberleib gesetzt hatte und ihn mit beiden Händen an den Schultern auf den Boden gepresst hielt.

In den dunklen Augen war Angst und Trotz, irgendwie auch Unglauben. Sie glänzten und die schwarzen Pupillen wanderten hektisch über das Gesicht des jungen Magiers, der den ohnehin Verletzten im Begriff war zu töten.

Kajira keuchte. Genau in diesem Moment dachte dieser Mann irgendetwas, irgendetwas, das er niemals verstehen würde, aber das für ihn bedeutend war. Vielleicht wartete in seinem primitiven Lager irgendjemand auf ihn? Mabalysca kam ihm in den Sinn und unwillkürlich ließ er etwas lockerer. Ihm wurde schlecht. Der Regen fühlte sich mit einem Mal eiskalt an und als einziger registrierte er die über den Himmel zuckenden Blitze und den unheimlich heftigen Wind, der an ihnen allen zerrte und noch zunehmen würde.

Der wenig Ältere unter ihm war wirklich nicht dumm. Er bemerkte die Unsicherheit seines Gegenübers und mit mobilisierter Kraft stieß er ihn von sich herunter und seinerseits in die nächstbeste Pfütze, einen Moment später hatten sie die Plätze getauscht.

Der Magier keuchte geschockt, als der Mensch ihm mit ganzer Kraft ins Gesicht schlug und er seine Nase bedrohlich knacken spürte.

Irgendetwas schrie der Mann ihm ins Gesicht, das er nicht verstehen konnte. Wieder spürte er diese Emotionen, eine unbändige Wut dieses Mal und war nicht in der Lage, sich irgendwie zu wehren.

Unbemerkt schrie er in seiner Not nach Rato, der jedoch selbst zu beschäftigt damit war, irgendeinen Schreienden zu zerfetzen und schon anzufressen, während er noch lebte, als dass er seinem kleinen Bruder hätte helfen können, während der Kerl mit dem verletzten Bein immer weiter auf den Jüngeren einschlug, bis auch der sein Bewusstsein verlor.
 

„Ich werde dich verfluchen! Ich werde dich all deiner Kräfte berauben! Ich werde dich ausstoßen!“

Nadeshda hatte keinerlei Chance sich zu wehren, als Shiran sie im strömenden Regen einen schmalen Pfad die Berge hinauf zerrte. Das Wasser machte ihr nichts aus, es war ihr Element, doch gegen den starken Wind in ihrem Rücken konnte sie kaum ankämpfen, immer wieder drohte er sie zu Boden zu drücken, während der Seher sie unbarmherzig immer weiter zog und mit keinem Wort auf sie einging. Wie angekündigt war er noch einmal bei ihr aufgetaucht und hatte sie mit roher Gewalt aus ihrem Haus in den Sturm gezogen. Sie hatte keine Chance gegen ihn gehabt; direkt nach ihrer Trance, in die sie zur Unterstützung ihres Bruders natürlich sofort nach dem ersten Besuch des verhassten Mannes wieder gefallen war, war sie nicht in der Lage, Magie anzuwenden und körperlich war sie Shiran natürlich meilenweit unterlegen.

Iavenya hätte sich über ihr panisches Gekreische vermutlich halb tot gelacht, doch die war nicht hier und sie würde auch nie etwas davon erfahren, denn das gesamte Dorf war damit beschäftigt, um sein Überleben zu kämpfen. Der Seher hatte entweder versagt, oder absichtlich niemanden gewarnt, das würde sich hoffentlich noch herausstellen.

„Lass mich verdammt noch einmal endlich los!“

Er drehte sich nicht einmal zu ihr um, während er sie immer weiter zog. Der Serpentinenweg, den sie gingen, war schmal und rutschig und einige Augenblicke lang bangte die junge Frau tatsächlich um ihr Leben, als der starke Wind ihren zierlichen Körper tatsächlich von den Beinen riss und sie drohte, zu fallen.

Darauf reagierte der Ältere immerhin und fing sie rechtzeitig auf; anstatt sie gehen zu lassen, trug er sie jedoch weiter. Und sie wehrte sich aus Angst vor der Höhe nicht einmal.

„Warum tust du das?!“, versuchte sie es abermals, erhielt jedoch keine Antwort. Unbarmherzig rannte er weiter durch den Sturm und ließ ihr keine Gelegenheit dazu, nur den Hauch eines Gedankens an ihren Bruder zu verschwenden.

Erst als sie an einer Anhöhe mit Felsvorsprüngen angelangt waren, sprach er zu ihr.

„Ich habe gerade etwas nettes erfahren.“, er grinste, als sei nichts gewesen, als er die junge Frau in einer kleinen Höhle, die sie vor dem Unwetter schützte, absetzte, „Eigentlich dachte ich, ich bräuchte Mahrran dafür, doch wie es scheint kommen mir die Götter entgegen...“

Sie verstand nicht, wovon er sprach. Und er amüsierte sich über ihren Anblick, wie sie in ihrer kleinen Gestalt nass bis auf die Knochen keuchend vor ihm stand und vor Wut zu platzen drohte. Ihr langes, hellblaues Haar klebte dabei lustig an ihr, aber das störte sie wohl noch am wenigsten, konnte sie sich mit einem Hauch Wassermagie schnell wieder abtrocknen.

Sie wechselte, gezwungen gefasst, das Thema.

„Hast du... hast du diesen Sturm gerufen?“

Das Grinsen ihres Gegenübers wurde breiter, als es sich ein paar seiner eben so nassen Ponysträhnen aus dem Gesicht strich.

„Nun ja... sagen wir so, ich habe etwas nachgeholfen, aber wir wären in dieser Jahreszeit ohnehin noch fällig gewesen, von daher verzeihe man es mir.“

Er trat auf sie zu und sie wich automatisch einen Schritt zurück, obwohl es ihr zeitgleich in den Fingern juckte, als sie das Bedürfnis überkam, den Älteren für seine Frechheit zu erwürgen. Sie hörte Schreie, viele Dorfbewohner würden an diesem Tag ihren Tod finden... das sollte sie ihm verzeihen?

Und einen Moment lang hätte sie ihre Götter beinahe verflucht, als sie in sich hinein hörte und bemerkte, dass ihre Kraft noch immer zu gering war, um gegen den Seher anzukommen. Er hatte schon Recht, wenn er sagte, dass es sehr an die Energiereserven ging... ein tagelanges Ausharren in der Trance ging an keinem Götterkind spurlos vorbei, auch nicht an ihr.

Gerade, als sie ihn fragen wollte, was er sich einbildete, so über das Schicksal des Dorfes entscheiden zu wollen, indem er simpel seine mächtige Windmagie einsetzte, kam er ein weiteres Stück näher und drängte sie gegen die nächste Felswand.

„Genug des schlechten Wetters...“, es war ein Knurren, das seine Kehle verließ, als er direkt vor ihr stand und mit einem seltsamen Blick auf sie hinab sah, „Vergiss das Dorf und vergiss Mahrran, meine Teuerste.“

Seine Teuerste? Das waren ja einmal ganz neue Töne. Sie zischte.

„Warum sollte ich das tun? Es ist meine Aufgabe, für dieses Dorf und das Gelingen von Mahrrans Mission zu sorgen und ich komme meinen Pflichten auch nach, du Nichtsnutz.“

Sie stemmte ihre kleinen Hände gegen seine Brust.

„Und nun weich mir gefälligst vom Leib, du Irrer!“

Mit einem Mal kamen ihr Worte in den Kopf, die vor wahnsinnig langer Zeit, so erschien es ihr, gesprochen worden waren.

Seher sind anders als wir anderen. Sie scheinen alles zu wissen und doch verstehen sie uns nicht... und wir sie genau so wenig.

Da musste sie der Stimme ihrer Erinnerung recht geben. Sie verstand Shirans absolut inakzeptables Verhalten wahrlich nicht, was brachte es ihm?

Er lachte sie aus.

„Irrer? Ich finde es mit Verlaub bescheuerter, den ganzen Tag in den stillen Kammer zu sitzen und zu beten, als sich bei einem Unwetter in den Bergen zu... vergnügen.“

Beinahe hätte sie ihn danach gefragt, was er damit meinte, da beantwortete er ihre Frage bereits selbst, als er sich zu ihr bückte und sie auf eine seltsame Weise auf die Lippen küsste.
 

Mahrran fragte sich, ob es nun lächerlich, oder einfach nur sein Recht war, dass er sich an dem einzigen weiblichen Mitglied der Gruppe bedienen wollte. Sie schrie schlimmer, als es seine Zwillingsschwester konnte und seine Götter verrieten ihm in seinem Rausch schnell, dass sie eine besondere Position in ihrem primitiven Stamm inne hatte. Wie interessant.

Er überlegte, was er mit ihr anstellen konnte, als er sie mit auf den Rücken gedrehten Armen festhielt. Er konnte sie ehrlos beschmutzen... aber das war nicht sein Stil. Vielleicht sollte er sie verschenken, an seine Schwester möglicherweise? Ja, mitnehmen hielt er für eine gute Idee, auffressen konnte man ihr weiches Fleisch schließlich immer noch.

Der Sturm zerrte an ihnen, als er das Mädchen bewusstlos schlug. Mit dem kalten Wasser des immer stärker werdenden und in Hagel übergehenden Regens kehrte ein Teil des Verstandes des jungen Mannes wieder zurück. Vor diesem Unwetter hatten sie sich eigentlich schützen wollen... und es galt noch immer, sich davor in Acht zu nehmen, wie ihm die zuckenden Blitze und die aufgeregten Stimmen in seinem Kopf immer wieder mitteilen wollten. Blinzelnd sah er mit seinem gesunden Auge zu seiner Truppe und dem, was von den Menschen übrig war. Bei Letzteren hatte es wirklich einige erwischt, mindestens die Hälfte lag zerfleischt oder verblutet am Boden. Dennoch hatten sie sich wackerer geschlagen als angenommen. Der Anführer der Primitivlinge, so nahm er an, hatte gerade Chejat einen Stein übergeschlagen, dass dem wohl Hören und Sehen verging, wie man an seinem gefährlichen Torkeln auch erkennen konnte. Er fasste nach dem Rothaarigen und drehte ihm die Hände so auf den Rücken, wie Mahrran es auch bei dem bewusstlosen Mädchen tat, ehe er seinen überlebenden Begleitern irgendetwas zurief und ein anderer Mann sich Kajira überwarf. Ein Weiterer wollte sich gerade an Irlak zu schaffen machen, der jedoch einen Moment zuvor von Rato aufgeweckt worden war. Nun jammerte er über eine aufgerissene Wange, die ihm der Magier verpasst hatte, als er sich über ihn gebeugt hatte.

Ein lautes Grollen ließ alle zusammen zucken. Es reichte.

„Wir ziehen uns zurück!“

Für Mahrran war es selbstverständlich, sich seine bewusstlosen Mitreisenden wieder zurück zu holen, konnte er doch nicht nachvollziehen, weshalb die Menschen sie überhaupt mitnehmen wollten.

Vielleicht hatten sie ja Hunger...

Der junge Mann mit dem verletzten Bein zerrte unterdessen an Alaji, die mittlerweile wieder erwacht war und wohl ebenfalls mitkommen sollte. Sie war ihm körperlich weit unterlegen und dank ihrer Kopfverletzung wohl nicht in der Lage, sich anderweitig zu helfen. Er schrie sie an und sie schrie etwas zurück, was in den Ohren des Anführers ebenso unverständlich klang wie die menschlichen Worte. Es war aber auch gleich.

„Rato! Schau nach der Heilerin!“

Der Angesprochene fuhr auf und wollte dem Befehl nachkommen, während Irlak dem Mann, der Kajira mitgehen lassen wollte, nachsetzte. Beide erreichten ihr Ziel nicht, als ein weiteres Grollen ertönte.
 

Die Berge galten als gefährlich, besonders bei starkem Regen waren sie es. Sie weichten auf und was dann geschah, konnten beide Gruppen nun schmerzhaft erfahren.

Die Menschen hatten keine Zeit, an ihre Toten zu denken, als sie sich schreiend in alle Richtungen vor der Gerölllawine flüchteten, ebenso wie die Magier nicht mehr dazu kamen, ihre Mitreisenden zurück zu holen.

Dieser Augenblick war es, in dem sich Mahrran mit den übrig gebliebenen und der bewusstlosen Frau auf eine kleine Anhöhe rettete, während sich die wahren Bewohner dieses Landes auf verschiedenen Wegen verstreuten, als in dem jungen Mann zum ersten Mal Zweifel an der Loyalität seiner Schwester aufkamen.

Mahrran, der Zweifler. Aber war es nicht so, dass hier gerade etwas gewaltig schief gelaufen war? Drei seiner Begleiter waren entführt worden! Und dieser Sturm, wie hatte Nadeshda zulassen können, dass ein solcher aufkam und alles gefährdete? Er zischte.

„Die haben Kajira!“

Irlak starrte verzweifelt in den Sturm hinaus, konnte aber unter dem starken Regen kaum etwas erkennen. Irgendwer hatte einfach seinen kleinen Bruder mitgehen lassen, dabei waren sie doch die Überlegenen! ... dachte er sich zumindest.

„Die haben nicht nur Kajira!“, Iavenya drehte sich einmal um ihre eigene Achse, dabei etwas stolpernd durch ihren Rock, der klitschnass an ihren Beinen klebte, „Chejat und die Heiler-Tante sind auch nicht mehr da! Was geht hier vor?“

Mahrran fühlte sich angesprochen, auch wenn sie ihre Frage einfach in den Sturm gebrüllt hatte. Das fragte er sich allerdings auch. Von seinen Begleitern und den Menschen war nichts mehr zu sehen.

„Das... hat so keinen Sinn...“, Rato hob beide Brauen, weil er die leise gesprochenen Worte seines Anführers neben sich nicht hatte verstehen können. Hier konnten sie vorerst nichts mehr tun... ein neuer Plan musste her und das dringend. Jedoch nicht mitten in einem Unwetter...

„Wir ziehen uns zurück!“
 

„Das überrascht mich tatsächlich, Nadeshda... dass du das so einfach mit dir machen lässt...“

Shirans Grinsen war voll von Spott, als er auf die kleine Frau hinab sah. Die hatte die orangefarbenen Augen nur zu schmalen Schlitzen verengt.

„Hätte... ich denn eine Chance, mich zu wehren?“

Noch nicht, beantwortete sie sich ihre Frage in Gedanken selbst. Je länger sie sich nicht anstrengte, desto eher kehrte ihre Macht wieder zurück und desto schneller konnte sie diesem Abschaum die Lektion erteilen, die er auch verdiente. Da ließ sie seine Abartigkeit lieber eine Weile über sich ergehen, als sich unnötig abzumühen und letztendlich nichts zu erreichen.

Der Mann lachte leise.

„Ich weiß genau, was du vorhast... aber keine Sorge, in ein paar Minuten wirst du dich gar nicht mehr wehren wollen...“

Das wagte sie zu bezweifeln, erwiderte aber nichts mehr, als er sie abermals kurz küsste und dann inne hielt. Er wusste so wie so, was sie dachte.

„Na...“, schnaubte er dann mit hochgezogenen Brauen, „Das... ist echt unpraktisch... Moment...“

Sie schnaubte nur, als er sie an der Taille fasste, hochhob und sie wieder gegen den Fels presste. Ja, er hatte sich in der Tat ein ziemliches Stück bücken müssen...

Den Gefallen, ihre Beine um seinen Rumpf zu schlingen, tat sie ihm nicht. Dann wurde er schnell müde und sie war ihn noch ein wenig früher los. Und sobald sie wieder bei vollen Kräften war, war er die längste Zeit der Seher gewesen...

Er küsste sie abermals auf die Lippen und verschaffte sich mit sanfter Gewalt Einlass in ihrem Mund. Beinahe hätte er lachen müssen, weil es ihr gefiel und das hatten nicht einmal seine Götter ihm verraten müssen. Ihr Körper reagierte eindeutig... anders als seiner. Der reagierte überhaupt nicht...

Die gewünschte Hitze kam erst in dem Moment auf, in dem die Jüngere nun doch ihre Beine um seinen Rumpf schlang. Zwar nur geringfügig, aber immerhin... er war nie der Schnellste gewesen.

„Habe ich es dir nicht gesagt?“

Sie keuchte, dann zerrte sie ihn zu sich und biss ihn zur Strafe für seinen kleinen Sieg in den Hals, worauf er bloß leise keuchte.

Sie hasste diesen Kerl... sie verabscheute ihn... aber sie hatte viel zu selten auf diese Weise Kontakt mit Männern, als dass sie nun widerstehen konnte.

Wenn Mahrran etwas geschah, würde sie sich das sicher nicht verzeihen können... und mit dem Dorf musste sie auch erst einmal wieder ins Reine kommen. Aber die waren ohnehin gerade beschäftigt genug...

„Mach weiter so...“, bestätigte der Seher sie bester Laune, als sie seine nicht wirklich tiefe Wunde leckte und er ihr Gewicht auf einen Arm lagerte, um mit der Anderen nach ihrem hübschen kleinen Busen zu fassen. Er war weich und lag angenehm in der Hand... auch wenn er wirklich nicht groß war, aber an einer derart kleinen und zierlichen Frau hätte das auch irgendwie seltsam gewirkt.

Sie zischte scheinbar empört, als er ihr Oberteil mit der freien Hand darauf geschickt aufband und es ihr einfach auszog, um besser an sie heran zu kommen.

„Nachher töte ich dich!“

„Schwöre das lieber nicht...“

Sein Blick war überraschend ernst, als sie ihren Kopf hob und sie sich ansahen. Nein, sie hatte auch nicht geschworen... sicherheitshalber, aber sie musste ihn bestrafen. Und das würde sie auch. Sie war keine Frau wie jede andere... sie war ein Götterkind und das Dorfoberhaupt und sie stand definitiv über diesem Sohn eines Fischers, der zufällig in einem günstigen Moment das Licht der Welt erblickt hatte. Eigentlich war er ihr viel zu unwürdig.

Er wandte sein Gesicht wieder ab und hob sie noch ein Stück höher, dabei ignorierend, dass sie sich ihren nackten Rücken an der Felswand aufschrammte und berührte ihre Brüste mit seinem Mund. Die hatten es ihm angetan.

Für seine Rücksichtslosigkeit erntete er jedoch einen Hieb in die Magengegend, den sie ihm durch ihr Knie verpasste. Einen Moment lang zischten sich beide an, dann fuhren sie unbeirrt fort.

Er küsste ihre Knospen, während sie über seinen Nacken in sein Oberteil fuhr und ungeahnt sanft seinen Rücken streichelte, dabei jedoch nicht vermeiden konnte, ihn zwischendurch mit den langen, scharfkantigen Nägeln leicht zu kratzen. Es schien ihn nicht zu stören.

„Du hältst ungeahnt lang aus...“

Die Frau lachte leise auf, als er sein Gesicht wieder etwas weiter nach oben wandern ließ, um ihren Hals zu liebkosen. Er machte ungestört weiter.

„Die Jungs, die ich so erwachsen mache, fallen sobald das Zeremonielle vorbei ist immer sofort über mich her...“

Sie hielt inne, als er sie vor sich absetzte. Shiran schnaubte.

„Teuerste, mir ist gleich, was andere Kerle so mit dir treiben, das wirkt nicht besonders ansprechend auf mich...“

Sie verschränkte ihre Arme vor den nackten Brüsten.

„Mir ist völlig gleich, was auf dich wie wirkt, ich rede, wenn es mir passt...“

Nadeshda grinste zufrieden, als er etwas säuerlich grummelte. Sie ließ nicht alles mit sich machen... und ganz sicher würde sie ihm nicht entgegen kommen, indem sie bestimmte Themen beim Sprechen vermied... oder gar ganz still blieb. Nein, im Gegenteil...

„Wenn du es schon so nötig hast, Seher...“

Sie überwand den geringen Abstand und machte sich an seinem Oberteil zu schaffen... unmöglich würde sie es ihm allein ausziehen können, dazu war er zu groß, aber er schien nicht abgeneigt davon zu sein, es los zu werden, so machte sie sich darüber keine weiteren Gedanken. Shirans Körper wirkte durchaus ansprechend auf sie...

Er kam ihr tatsächlich soweit entgegen, indem er sich bückte und sie ihm den Stoff leicht über den Kopf ziehen konnte. Er grinste wieder.

„Ich bitte dich um Verzeihung, aufrichtigst. Hauptsache ist doch, dass das Himmelskind sich vergnügt... und das tut es hier sicher mehr als dort unten in dem ertrinkenden Dorf...“

Er küsste sie abermals auf den Mund, dieses Mal heftiger und legte ihr die Hände auf die schmalen Schultern, um sie mit sanfter Gewalt mit sich selbst auf die Knie zu drücken. Um es im Stehen zu Ende zu bringen fehlte ihm einfach die Kraft, die ein Mensch an seiner Stelle vielleicht gehabt hätte.

„Ich stimme dir nur ungern zu, Seher...“, schnaubte sie darauf leise und ließ ihre kleinen Hände forschend über seinen Oberkörper streichen, kurz seine Brust streicheln und dann weiter hinab fahren zum Bund seiner Hose. Er schmunzelte, als er ihren fragenden Blick bemerkte.

Ja, wozu hatte er sie sonst hierher gebracht?

Er strich ihr ein paar der noch immer nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht und hauchte ihr abermals einen Kuss auf die Lippen.

„Tu es.“

Sie erwiderte nichts und öffnete den Knoten seines Gürtels einfach, wie sie es beide wünschten, worauf er sich kurz erhob und seine Hose inklusive Unterwäsche abschüttelte.

Sie hüstelte.

„Besonders angetan scheinst du nicht zu sein...“

Sie schielte in eine eindeutige Richtung und er verdrehte die Augen.

„Ich bin niemand, der das in ein paar Minuten macht.“, belehrte er sie nur und bückte sich wieder zu ihr, um sich seinerseits an ihrer Hose zu schaffen zu machen. Sie fragte sich bloß, ob er wohl krank war, als sie ihm ebenfalls half und bei dem Gedanken nicht vermeiden konnte, in sich hinein zu kichern...

„Wenn du es nicht mehr erwarten kannst, dann solltest du vielleicht etwas nachhelfen...“, riet er ihr dann in einem mehr als nur zweideutigen Ton und weil sie es wirklich in kürzerer Zeit gewohnt war, tat sie ihm sogar den Gefallen und kam ihm näher, um nach dem Körperteil zu fassen, das eindeutig mehr Leben vertragen konnte... welches sie ihm auch einhauchte, nicht zuletzt auch durch den Anblick ihres entblößten, vom Regenwasser glänzenden eigenen Körpers...
 

„Hör auf... hör auf zu rennen... bitte! Du weißt doch selbst gar nicht, wo wir sind!“

Alajis Kopf dröhnte, dennoch wiesen sie ihre Götter zischend immer und immer wieder darauf hin, dass ihr Entführer mit dem hinkenden Bein sie in eine sehr schlechte Richtung zog. Noch immer tobte der Sturm und obgleich der Geschmack des Blutes ihr noch angenehm auf der Zunge lag, bereute sie ihre Tat nun. Jetzt war sie ganz allein mit diesem Verrückten... sie bezweifelte, dass sie im Moment in der Lage war, anständig zu zaubern und irgendwie glaubte sie auch nicht daran, dass sie, nach dem, was sie erlebt hatte, überhaupt eine Chance gegen ihn hatte. Diese Menschen waren anders, als sie gedacht hatte... sie fürchtete sie nun.

Anders als die anderen seiner Art hatte sich der junge Mann, bei dem sie sich nun befand, nicht in die Weiten der Savanne geflüchtet, sondern war in seiner Panik irgendwo in die Tiefen der Berge gerannt. Das war kein guter Ort, das wusste die Heilerin nun.

Sie schrie auf, als er sie plötzlich unter einen sicherer scheinenden Felsvorsprung zerrte und sie sofort grob gegen die Wand presste, sie mit den Händen an den Schultern festpinnend.

Als er begann, ihr in äußerst groben Tonfall irgendetwas zu erzählen, weigerten sich die Götter des Windmondes vehement, Alaji einen Hinweis darauf zu gewähren, was ihr Gegenüber wohl meinen könnte. Sie schüttelte bloß verzweifelt den Kopf.

„Ich verstehe dich nicht! So viel du auch redest, ich verstehe kein Wort!“

Er hielt im Sprechen inne und musterte sie einen Moment, versuchend, sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht zu pusten. Dann legte er seine linke Hand an ihren Hals, versuchend, sie so unter Kontrolle zu halten, während er mit der rechten zu gestikulieren begann.

Zunächst deutete er auf sie, dann auf sich und tippte ihr dann unangenehm gegen die Stirn, versuchend, sein Gezeige mit unverständlichen Worten zu unterstreichen.

„Du willst, dass ich dir gehorche.“, erriet sie und er erwiderte aufgebracht irgendetwas darauf, „Ich habe kaum eine andere Wahl, du bist mir echt unheimlich...“

Sie machte ein auffällig unglückliches Gesicht und er zischte darauf empört, ungestört weiter sprechend, und schlug ihr sachte gegen den pochenden Schädel.

Ja, sie waren Schuld, sie wusste es. Die Menschen hätten sie von selbst bestimmt nicht angegriffen... aber trotzdem, jetzt war sie ganz allein... und sie würde sicher niemand suchen, sie war dafür zu unwichtig. Ein kleines Nichts. Die Natter würde sich sicher an ihrem Verschwinden erfreuen können.

„Und was willst du jetzt tun?“, fragte sie ihn einfach, als ihr klar wurde, dass das ohnehin ihr Ende war, „Ich meine, ihr wohnt hier doch nicht, ihr wohnt irgendwo in der Savanne! Lass mich raten, du hast dich selbst verlaufen...“

Sie legte den Kopf schief. Er hob beide Brauen und einen Augenblick lang war es bis auf das Rauschen des Regens und das sich langsam entfernende Donnergrollen still. Dann erwiderte er etwas, was sie sogar verstand.

„... hää?“

Auf die gedanklich gestellte Frage, warum die Götter ihren verschiedenen Kindern auch verschiedene Sprachen in den Mund gelegt hatten, schwiegen diese eisern. Das konnte ja lustig werden... wenn er nicht zufällig gedachte, sie demnächst zu schlachten, frei zu lassen oder zu töten, dann würde sie wohl unweigerlich noch eine Weile bei ihm bleiben müssen. Und die einzige Art, mit dem gruseligen Kerl zu kommunizieren, war bescheuert in der Luft herum zu fuchteln.

Sie seufzte.

„Kannst du mich nicht einfach los lassen? Dann suche ich mir meine Leute und du dir deine und ich versuche dafür zu sorgen, dass wir uns nie wieder begegnen.“

Sie legte ihre Hände an sein Handgelenk, das sich noch immer an ihrem Hals befand und er fauchte und schrie ihr irgendetwas ins Gesicht.

Er verbietet dir, zu zaubern., übersetzten die Götter des Windes freundlicherweise und die junge Frau seufzte tief. Das hatte sie doch gar nicht vorgehabt...

Sie nahm ihre Hände wieder von seiner und winkte mit beiden theatralisch ab, um ihm zu verdeutlichen, dass er sich keine Sorge machen musste. Noch ehe sie einen anständigen Zauber fertig gebracht gehabt hätte, hätte der sie sicher auf seinem Speer aufgespießt, sie fürchtete ihn.

Der junge Mann seufzte genervt und sah sich in der unwirklichen Gegend um, sie weiter festpinnend. Hier gab es nichts, nur schmutziges, aufgeweichtes Gestein und ein paar wild wachsende Kräuter, die nicht einmal zum Medizin machen taugten.

Er hatte sich verlaufen, da war Alaji sich beinahe sicher, alles, was sie je gelernt hatte, sprach dagegen, dass Menschen dauerhaft in den Bergen leben konnten. In seiner Panik hatte er sich einfach dazu verleiten lassen, den nächstbesten Weg zu flüchten und jetzt hatte er ein Problem.

Nicht nur eines, stellte die junge Frau fest, während sie seinem Blick folgte, als er scheinbar fluchend an sich herab sah auf das Bein, durch das er humpelte. Unter dem durchnässten Verband trat Blut aus... die Wunde musste recht frisch sein, wenn sie nach dem wenigen Laufen bereits wieder aufgerissen war...

Ihr kam eine Idee.

„Pass auf, ich sorge dafür, dass die Wunde vorerst heil bleibt und du lässt mich in Ruhe, okay?“

Sie deutete zunächst auf sein Bein und dann einen der verschlungenen Wege entlang. Vielleicht verstand er das ja. Vollkommen wiederherstellen konnte sie seinen Schenkel so zwar nicht, aber immerhin genug, dass er ihn halbwegs belasten konnte, ohne sich alles kaputt zu machen und zu bluten.

Er linste sie aus seinen dunklen Augen nur misstrauisch an und schien abzuwägen, was nun sinnvoll war. Schließlich zeigte er dann Risikobereitschaft und ließ sie los, worauf sie sich, vertrauenswürdig wie sie war, auf der Stelle bückte und den Verband von seinem Bein löste. Überdies konnte sie nur hoffen, dass ihre einfachen Heilzauber bei menschlichem Fleisch ebenso wirkten wie bei dem ihrer Rasse...

„Das war irgendein Tier... ist ja widerlich!“

Seine Wunde stand am Anfang einer Entzündung. Es war großes Glück, dass er sich ausgerechnet sie geschnappt hatte, ansonsten hätte er sich in wenigen Wochen von seinem Bein verabschieden können... oder von seinem Leben.

Sie legte ihre Hände auf die Wunde und er stutzte über die aufkommende Verbesserung des Zustandes der Wunde.

Irgendetwas fragte er sich verwundert, was sie ihm natürlich nicht beantworten konnte und als sie sich erhob, strahlte sie.

„Jetzt bin ich frei, das weißt du?“

Er klang wesentlich ruhiger, als er etwas erwiderte. Als er sich dann aber noch einmal umsah, feststellte, dass der Platzregen in ein leichtes Nieseln übergegangen war und sie dann am Handgelenk fasste, um mit ihr weiter zu gehen, hatte sie spontan das Bedürfnis zu weinen.

„So war das nicht abgemacht! Es hieß doch...!“

Sie hielt inne. Nichts hieß es, er hatte nur erahnen können, was sie von ihm gewollt hatte. Jetzt zog er sie über den Weg, den sie vorhin ganz unwillkürlich gezeigt hatte, weil er wohl annahm, das sei der richtige. Alaji seufzte. Irgendwie war sie beinahe schon etwas schadenfroh, dass er trotz der gut geheilten Verletzung noch immer etwas humpelte.
 

„Ich frage mich... nach dem Sinn des Ganzen. Was hat dich überkommen?“

Shiran grinste, als er neben sich auf Nadeshda sah, die erschöpft atmend an ihn gelehnt an der Felswand saß. Der Regen hatte vor einer Weile aufgehört, das Unwetter war abgezogen... die junge Frau wollte gar nicht wissen, wie es nun im Dorf aussah.

Der Seher erhob sich.

„Nun... das ist eine kleine Überraschung, die mir wirklich gelungen ist.“

Er musterte sie einen Augenblick lang, ihren hübschen, zierlichen Körper, der nun trocken war, ihr wirres langes Haar, das ihr nun ebenfalls nur noch leicht feucht über die Schultern fiel... er musste schmunzeln. Eine weitere Bestärkung in der Richtigkeit seines Vorhabens war doch, dass die Götter ihm am heutigen Tage derart extrem entgegengekommen waren, oder?

„Du wirst dich noch wundern...“, er schielte aus der Höhle, „... über meine absolute Genialität.“

Als er nach seiner Kleidung griff, tat sie es ihm gleich.

Genialität hin oder her, sie musste sich noch eine schöne Strafe für ihn überlegen, dafür, dass er sie derart hatte benutzen wollen... letztendlich hatte sie davon dann auch etwas gehabt, aber der erste Gedanke war der, der zählte... oder war das bei ihm anders? Weil er vermutlich von Anfang an gewusst hatte, dass sie freiwillig mitmachen würde? Diese Frage wurmte sie.

„Ich werde deine Strafe nach der Anzahl der heutigen Opfer bemessen.“, entschied sie dann und der nun wieder angezogene Mann fuhr sich zufrieden durchs Haar. Beide waren sie nun etwas schmutzig, wo sie sich nass auf dem staubigen Höhlenboden gewälzt hatten, aber wirklich stören tat es niemanden.

„Dann wird sie sicherlich nicht all zu hoch. Dein Volk ist nicht dumm, es hat gut für sich selbst gesorgt... auch wenn es zum Teil wie am Spieß geschrien hat.“

Sie würde ihn nicht bestrafen, das wusste er in diesem Augenblick so sehr wie sie. In nächster Zeit würde es genügend andere Dinge zu tun geben, als dass Zeit für irgendwelche Sinnlosigkeiten gewesen wäre. Shiran war wahrlich guter Laune.

„Glück für dich.“, erwiderte die junge Frau da, ebenfalls wieder angezogen, und trat neben ihn an den Eingang der kleinen Höhle, „Darf ich an dieser Stelle anmerken, dass du unheimlich langsam bist? Du bist mit Verlaub der langsamste Mann, der mir je untergekommen ist...“

Sie kicherte verstohlen und er verdrehte nur die Augen. Ja... ja, das wusste er doch.

„Habe ich nicht bereits erwähnt, dass die Erfahrungen, die du bereits mit anderen Männern gemacht hast, mich nicht interessieren?!“

Sie schien diesbezüglich ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis zu besitzen. Er seufzte, als er ihren seltsamen Blick auf sich ruhen spürte.

„Ich erinnere mich...“, gestand sie und dachte gleichzeitig auch daran, dass sie ihm sicher niemals entgegenkommen würde, „Dennoch... eine Frage geht mir nicht auf dem Kopf. Hat der Seher etwa Interesse an mir?“

Nadeshda grinste triumphierend, konnte sie sich sein Verhalten anders doch nicht erklären. Es hätte ihr gut gefallen, denn das machte ihn berechenbarer. Der Blick, den er ihr darauf zuwarf, ließ ihr Grinsen jedoch so schnell wieder verschwinden, wie es erschienen war.

„Dein Körper kann einen Mann wahrlich bezaubern... doch deinen Charakter... verabscheue ich mehr als alles andere auf der Welt... meine Teuerste.“
 


 

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Lölölö... eine Pseudo-Porno-Szene... in Kappi 6! XDD Na ja. Herz und so.

Erfahrungen

„Teco ist nicht hier!“

Karem warf Porit im Rennen bloß einen kurzen Blick über die Schulter zu, während er den seltsamen rothaarigen Kerl vor sich her scheuchte. Bestie.

Der abschwächende Regen ließ seine Fellklamotten schwer an seinem Körper hängen, hinderte aber weder ihn, noch seine übrig gebliebenen Begleiter daran, so schnell zu rennen, wie sie konnten. Schnell weg von den Monstern... immerhin war deren Gruppe jetzt auch nicht mehr vollständig. Es war mehr eine Kurzschlussreaktion gewesen, sich einige Magier einfach zu schnappen und sie mit zu nehmen, Karem hatte keine Ahnung, was man mit ihnen machen sollte... vielleicht grausam töten... das verdienten sie zumindest für das, was sie ihnen angetan hatten. Am liebsten wollte er sich übergeben, wenn er daran dachte...

„Karrah ta teca! Karrah ta!“

Der Mann schlug dem seltsamen Magier heftig an den Kopf und scheuchte ihn weiter, noch immer seine verglichen mit seinen eigenen recht zierlichen Hände festhaltend. Dabei war er gar nicht einmal so viel kleiner als er, hatte aber eine gänzlich andere Statur. Dagegen erschien selbst Sanan kräftig.

„Karem, wir müssen zurück! Teco ist nicht hier! Denk an seinen Fuß!“

Er hielt abrupt inne und sein Entführungsopfer stolperte prompt etwas dämlich über seine eigenen Füße und landete im nassen Gras, der Anführer der Gruppe stellte ihm darauf sicherheitshalber einen Fuß auf den Rücken, damit es auch nicht flüchten oder gar zaubern konnte.

„Dafc coret... irataw! Karrah ta teca!“

„Wirst du wohl still sein?!“

Der Mann trat ihm gegen seinen rothaarigen Kopf, dann wandte er sich Porit zu, der ebenfalls eine der Bestien mithatte. Bloß dass sein zierlicher Junge bewusstlos war und sich einfach über die Schulter hatte werfen lassen; folglich war er etwas leichter zu transportieren als der meckernde Spinner, der nicht einmal anständig sprechen konnte.

„Teco wird sich schon zu helfen wissen, ich bin mir sicher, der kommt uns bereits nach. Mach dir jetzt nicht unnötig Sorgen...“

„Und wenn er wieder den Monstern begegnet?“, gab ein anderer Mann zu bedenken und sah sich um, „Kili haben die auch. Moconi wird durchdrehen...“

Das war gut möglich. Nicht nur, dass sie kein gutes Land gefunden und so Zeit verschwendet hatten, nein, die Hälfte der Mitreisenden war letztendlich auch noch abgeschlachtet und aufgefressen worden und zu allem Übel war die Schwester des Häuptlings nun auch noch weg. Karem fuhr sich tief seufzend durch sein Gesicht. Moconi hatte alles Recht, ihm die Kehle aufzuschlitzen und irgendwie wünschte er sich auch, dass er es tat, bei dieser übernatürlichen Schande. Darunter zerbrach er doch.

„Teco rannte glaube ich in die entgegen gesetzte Richtung wie die Bestien... und hatte selbst eine mit, also kann es ihm nicht so schlecht gegangen sein, wenn er genügend Kraft hatte, dieses Miststück mit zu nehmen...“

„Die, die deinen Cousin ausgesaugt hat?“

Der Mann nickte. Joru hatte damals die Wahrheit gesprochen, als er gesagt hatte, Kalenao hätten Rhik getötet... jetzt wusste er, weshalb sein Sohn einfach gerannt war. Und er hatte ihn weg geschickt, dabei hätte er froh sein können, dass er diese Begegnung überhaupt lebendig überstanden hatte. Himmel...

„Was wird jetzt aus meinem Jungen?“

„Wathai ta teca!“

Der zappelnde Gefangene wurde weitgehend ignoriert, als Karem sich müde die Schläfen rieb.

„Hör zu.“, beschloss er dann, „Wir gehen jetzt erst einmal nach Haus, und wenn er zwei Tage nach uns nicht auch dort ankommt, sorge ich dafür, dass Moconi nach ihm suchen lässt...“

Dass Moconi sich noch etwas von ihm sagen lassen würde, bezweifelten an dieser Stelle alle, doch dass er seinen Cousin, auch wenn er ihn nicht mochte, im Stich lassen würde, kam für die Männer ebenso wenig in Frage, so nickten sie nur mehr oder minder schweren Herzens und setzten ihre Reise im nachlassenden Regen fort, die seltsamen Worte des Magiers gekonnt ignorierend.
 

„Und du bist dir... vollkommen sicher, dass dieser Weg aus den Bergen führt, ja?“

Teco warf der seltsamen Frau mit dem Hut einen skeptischen Blick zu. Irgendwie erweckte sie nicht den Eindruck, als kannte sie sich wirklich hier aus, aber sein Bein fühlte sich nun auch besser an, obwohl sie auch nicht so schien, als besäße sie irgendwelche Kenntnisse als Heilerin. Das war Magie gewesen...

Er erschauderte. Hier war es wirklich recht kühl, besonders in nassen Klamotten.

„Tiu rehm harc dafc a.“, antwortete sie nicht sonderlich hilfreich darauf und er fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar, während die andere das schmale Handgelenk der zerbrechlich wirkenden Frau hielt. Zerbrechlich war sie nun wirklich nicht... sie hatte jemanden aufgeschlitzt und ausgesaugt, sie war gefährlich... zumindest wenn sie in einen solchen Rausch geriet, im Augenblick erschien sie mehr verängstigt und befremdet.

„Ja, du kannst mir viel erzählen. Wie wäre es, wenn du mich in euer Nest führst, damit ich Kili zurückholen kann? Moconi würde mir Calyri sicher aus Dankbarkeit überlassen... und du wärst auch frei... bin ich nicht gnädig?“

Er schenkte ihr einen schiefen Blick, während sie ihn nur aufmerksam aus den seltsamen Augen musterte. Sie hatten die Farben der Blüten mancher Büsche im Frühling, so etwas hatte er zuvor noch nie gesehen – auch nicht, dass jemand rein-weißes Haar hatte, wie ihm ein paar unter dem Hut hervor lugende Strähnen verrieten. Diese Kalenao waren schon seltsame Geschöpfe. Und so furchtbar brutal... hoffentlich geschah seiner Cousine nichts. Welch Wunschdenken.

„Aik tèv teca...“, machte sie dann leiser und rieb an der Hand, dessen Gelenk er fest hielt.

„Ich verstehe kein Wort, so viel du mir auch erzählst!“

Sie ihrerseits schien zu erahnen, was sein Problem war und seufzte leise. Dann deutet sie mit ihrer freien Hand auf das gefangene Gelenk.

„Aua! Aik tèv teca... dafc aik aua! Aik-aua, rai? Aua!“

„Aua?“, wiederholte er verwundert und folgte ihrem Blick auf ihre Hände. Ja, er hielt sie ziemlich fest... zu fest für ihren zierlichen Arm. Das leuchtete ein...

„Aik... heißt... Schmerzen? Du hast... Aua am Arm, weil ich zu fest zudrücke, nicht? Aik... am Arm?“

Er runzelte die Stirn und sie nickte.

„Aik tèc teca... am Amm?“

Amm? Der junge Mann gluckste, dann deutete er mit seiner freien Hand auf ihren Arm.

„Arm, ja. Da.“

Gleichzeitig tat er ihr den Gefallen und lockerte seinen Griff etwas. Sie erschien mit einem Mal so harmlos, dabei war sie wenig zuvor noch so unsagbar grausam gewesen... irgendwie verwirrte es ihn.

„Arm.“, sprach sie dann nach und deutete, um zu zeigen, dass sie es auch wirklich verstanden hatte, auch auf seinen, „Arm da.“

Er nickte. Sich mit ihr zu verständigen würde sich äußerst schwierig gestalten...
 

Düstere Wolkenberge und leises Grollen. Kili fragte sich, wo sie war. Und wer sie hielt, denn sie schien sich zu bewegen... getragen zu werden.

„Cha tèv karm... dafc karm haht!“

Sie blinzelte verwirrt über die fremde Stimme und die noch fremderen Worte. Einen Augenblick später spürte sie einen kurzen Schmerz im Rücken, als jemand sie unvorteilhaft weiterreichte und sie von jemand anderem angenommen wurde, der sie nun mitnahm.

Diese Worte... Moment... das waren die Worte der Bestien!

Sie riss die Augen weit auf und sah einem seltsamen Kerl mit dunkelblauen Locken ins Gesicht. Der grinste sie darauf süffisant an und schien inne zu halten.

„Iya gat liret Kajira... gat tèv garta en.“

Sie merkte, wie weitere Schrittgeräusche um sie herum verstummten und dann eine Person plötzlich auf sie zu kam. Einen Moment später sah sie neben dem widerlich grinsenden Mann auch noch das bleiche Gesicht dessen, der sie anscheinend mitgenommen hatte. Sie erinnerte sich an sein blindes Auge. Mit dem anderen musterte er sie kurz, dann sprach er leise zu dem, der sie hielt.

Die junge Frau reckte sich unterdessen, um einen Blick auf ihr Umfeld zu erhaschen. Viele grinsende, aber zum Teil auch recht gestresste Gesichter... fremde Gesichter. Die Gesichter der Bestien.

Sie zog scharf die Luft ein. Und keiner der anderen war zu sehen, sie war... allein mit denen? Das hieß, die hatten sie entführt? Warum?

„Oh nein, ihr... esst mich doch jetzt nicht auf, ich meine... ich bin doch fast noch ein Mädchen...!“

Sie schnappte nach Luft und erschauderte, als der halb-blinde Kerl sie wieder ansah.

„Fajat... Frau von Menschen... fajat. Fajat Menschen Kajira... ot Chejat... werat...“

Kili hob bloß beide Brauen, als ihr Entführer sich nachdenklich an den mit hellblauem Haar bedeckten Kopf fasste. Damit wusste sie nicht all zu viel anzufangen...

„Ich... weiß nicht, was du meinst, Mann, ich bin die Schwester von... Moconi und zu dem muss ich auch zurück...“

Sie wehrte sich aus dem Griff des dämlich Grinsenden, so dass der sie absetzen musste, worauf sie verblüfft feststellte, wie klein der seltsame Magier war, sicher nicht größer als Calyris kleine Brüder.

„Moconi?“

Er verengte beide Augen zu schmalen Schlitzen und schien nachzudenken. Ob er wohl verstand, dass das ein Name war und nicht irgendein Wort, das er ohnehin nicht kannte? Wobei es verwunderlich genug war, dass einige Brocken ihrer Sprache bis in das fremde Land bekannt waren... Kili ihrerseits verstand die Muttersprache ihrer Entführer mit keinem Wort.

„Moconi ist mein Bruder...“

Das schien dann einleuchtender zu sein...

„Ist Bruder... von Frau Moconi...rai? Aijet en fert... von Menschen?“, er grinste, „ Hat Schwester... dafc harc... wird nicht mögen...“

Er griff nach ihrem Handgelenk und wandte sich ab, sie hinter sich her ziehend. Durch die Reihen ging ein Glucksen, als sie sich auch wieder in Bewegung setzten.

„Werat Lanay...!“, kommentierte die einzige andere Frau in der Gruppe nur noch kichernd und folgte ebenfalls.
 

Der grünliche Windmond war ein deutliches, wenn auch unbedeutendes Stück weiter in Richtung seines Unterganges gewandert – zumindest dem dieses Jahres – als die Gruppe um Karem endlich das Lager ihres Stammes in der Ferne erkennen konnte. Es war an einem frühen, kühlen Morgen, am dem die Grashalme voll Tau hingen, als sie es erreichten, von niemandem wirklich erwartet, immerhin hatte keiner ahnen können, wie lange die Expedition dauern würde. Lange unbemerkt blieben sie jedoch nicht.

Dieses Mal war es nicht Karems rothaariges Mitbringsel, sondern der langhaarige Junge, der vor einigen Tagen noch friedlich über Porits Schulter gehangen hatte, der Probleme machte und die kleine Siedlung der Menschen partout nicht betreten wollte. Er war nach kurzer Zeit sehr zum Leidwesen der Gruppe wieder erwacht gewesen und hatte sich wesentlich bockiger angestellt als sein Bekannter, der ab und an in seiner seltsamen Sprache auf ihn einsprach und dann ebenso angepflaumt wurde, so schien es. Oder das Kind hatte eine von Natur aus sehr ruppige Art zu reden, aber das wollte nicht so ganz zu seinem Erscheinungsbild passen.

So jammerte er auch jetzt wieder lautstark herum und lockte Schaulustige an; wie man es mittlerweile von ihm gewohnt war, bewirkte auch Schläge nichts. Sein Körper war bereits übersät mit blauen Flecken und seine Lippe war seltsam angeschwollen, außerdem litt er seit einer Weile unter ständigem Nasenbluten, doch das schien ihm ziemlich gleich zu sein. Er machte auch ohne, dass man seine Worte verstand, sehr deutlich, dass er nach Hause wollte. Der Rothaarige seinerseits beließ es dabei, zwischendurch etwas zu fluchen und seinen Entführern schräge Blicke zuzuwerfen, er war richtig brav geworden, hatte Karem stolz fest gestellt.

„Tragath rehm!“, kreischte der Kleine wie so oft und versuchte, um sich zu schlagen, während zwei Männer ihn hielten. Es gestaltete sich nicht gerade als leicht, obwohl er nicht besonders groß war und schon gar nicht kräftig schien. Dass dieser Anschein trügerisch war, hatte die Gruppe bereits mehr als deutlich zu spüren bekommen... zumindest für einen kurzen Augenblick konnten diese Wesen eine raubtierähnliche Kraft hervor bringen. Und das war gefährlich... denn dann wurden diese den Menschen so ähnlich sehenden Individuen auch zu Raubtieren.

Karem schnaubte, als er sich umsah und immer mehr Familien aus ihren Erdhütten erschienen, um die Gruppe verwundert willkommen zu heißen.

Wen hatten sie da dabei? Und wer fehlte? Warum? Waren sie erfolgreich gewesen?

An einer Ecke sah er seine dürre Frau mit dem nachtschwarzen Haar stehen und ihn fragend ansehen. Er wandte sich nur schnaubend ab. Moconi sollte die Fragen beantworten... schließlich war er der Häuptling.

Einer seiner Begleiter sah ihn verblüfft an, als er ihm den aus Sehnen und Gräsern geflochtenen Strick hinhielt, mit dem sie inzwischen die Hände ihrer Mitbringsel gefesselt hatten und mit dem er den Rothaarigen hielt.

„Fragt mich nicht, was ihr mit den beiden tun sollt... schaut, ob in dem alten Vorratszelt Platz ist, meinetwegen, und bindet sie dort fest... ich gehe zu Moconi.“

Um diese Aufgabe beneidete ihn gerade niemand...
 

„Störe ich?“

Er lugte durch die mit Fellen verhangene Öffnung der Häuptlingshütte und hüstelte. Moconi fuhr von seinen Schlaffellen auf, auf denen er scheinbar ziemlich erschöpft von was auch immer gehangen hatte und sein Besucher, ein junger Mann, dessen Vater vor einigen Tagen zerfleischt worden war, gähnte überrascht und streckte sich, an einen Knochenpfahl, der die Hütte hielt, gelehnt sitzend.

„Ähm... nein... äh... du bist ja wieder da?“

Die Haare des jungen Häuptlings standen noch abenteuerlicher weg, als sie es sonst so taten und er erhob sich ein Stück, um einen Blick nach draußen erhaschen zu können.

„Bringst du mir Kili?“

Karem hob etwas irritiert beide Brauen. Der Gute war ziemlich durch den Wind... nicht, dass er es ihm verdenken konnte, dass er nach seiner kleinen Schwester fragte – auch wenn es ihm zu Gute gekommen wäre, er hätte sie vergessen – aber nun stand er vor ihm, nach einiger Zeit heimgekehrt von einer Mission, die ihn sein Amt hätte kosten können und ihm fiel als erstes keine bessere Frage ein?

Er schielte zu dem anderen Kerl, der wenig jünger als der Häuptling war und ihn nun aus einem etwas übernächtigten Gesicht anstarrte. Wie nett...

„Na, ihr scheint ja Spaß gehabt zu haben...“, nutzte der Mann die Gelegenheit von der verschwundenen jungen Frau abzulenken und Moconi kratzte sich am Kopf.

„Ja... wo ist Kili?“

Es hätte klappen können. Aber all zu viel Glück hatte Karem in letzter Zeit ohnehin nicht, also trat er brummend ein und setzte sich seinem Häuptling gegenüber. Der zog nun, scharfsinnig wie er war, die Brauen etwas zusammen.

„Wo... ist Kili, Karem?“

Der Mann seufzte.

„Vermutlich mittlerweile da, wo auch sein Vater ist...“

Er deutete mit dem Kopf auf den anderen und der blinzelte verpeilt.

„Mein... Papa? Ich mag deinen Ton nicht, klingt ja so, als sei er zerfleischt worden!“

Der Ältere hüstelte nur. So etwas hörte man? Der Häuptling sah, inzwischen wieder etwas auf der Höhe, zwischen beiden her.

„Vielleicht...“, setzte er dann an, „Ist es besser, wenn ich mich etwas mit Karem allein unterhalte...“

Diese Idee fand der Ältere nicht unbedingt schlecht und so nickte er, während der andere junge Mann sich soweit, wie es in der Hütte möglich war, erhob und heraus schlurfte. Zerfleischt...
 

„Ich frage dich noch einmal; wo ist Kili? Wo ist meine Schwester? Sag, ist sie draußen? Dann hättest du sie doch mitgebracht, nicht?“

Der ältere Mann seufzte kaum hörbar auf die bereits etwas gereizt klingenden Fragen seines Gegenübers. Was sollte er ihm nun erzählen? Egal wie, er würde sich auf jede Art und Weise beschämen. Also setzte er an.

„Kili ist nicht hier. Ebenso wie der Vater deines Freundes von eben... mein Cousin und ein paar andere gute Männer. Und Teco, aber der wird vermutlich demnächst nachkommen.“

Moconi hob eine Braue, während Karem in der stickigen Luft kurz husten musste. Ja, er hatte noch nicht durchlüftet...

„Und... wo sind die, wenn ich fragen darf?“

Das durfte er natürlich, auch wenn es dem Älteren nicht gefiel. Der fuhr sich durch sein rötliches Haar und zögerte etwas, bis der Häuptling verärgert zischte.

„Sie sind tot.“, kam dann knapp.
 

„Das kann nicht wahr sein! Das ist doch nicht möglich!“

Teco raufte sich gestresst das Haar. Karem sollte nicht Recht behalten, wie es schien, denn seit Tagen rannte er bereits mit der seltsamen Magierin, die ihm irgendwie zu verstehen gegeben hatte, dass ihr Name Alaji lautete, durch die Berge und fand nicht mehr heraus. Er musste nach Westen und immer und immer wieder versuchte er dort hin zu gelangen, doch in dem unwegsamen Gelände musste er zu viele Abweichungen in Kauf nehmen und letztendlich landete er immer und immer wieder in der Richtung, in der die Sonne aufging. Und Alaji war ihm keine wirkliche Hilfe. Sie rannte ihm bloß verschüchtert hinterher und sprach kaum noch ein Wort. Er seufzte, als er ihr einen Blick zuwarf, wie sie einige Fuß hinter ihm stand und seinem Blick zum Sonnenaufgang folgte. Immer noch waren in seinem Kopf die Bilder ihres bestialischen Angriffs auf seinen Bekannten, aber seitdem war sie lammzahm. Sie störte nie und gab ihm keinen Grund, ihr zu misstrauen. Ihre Eigenarten hatte sie dabei schon... jeden Morgen suchte sie sich irgendwo eine Stelle, wo es Wasser gab (und von denen gab es in dieser Gegend der Berge absolut ausreichend) und wusch sich und auch ihre seltsame Kleidung, die definitiv nicht aus Fellen bestand ordentlich. Felle war dabei ein gutes Stichwort, Teco trug bloß eine dünne Hose und eine Weste, das reichte für die heiße Savanne völlig, doch in den Bergen war es deutlich frischer, hatte er bemerkt. Eigentlich waren die Winter sehr mild, aber er musste schauen, dass er hier unbedingt vor Beginn des Herbstes weg kam, sonst graute ihm böses. Er selbst hatte zwar schon einige kleinere Bergtiere erlegt, von denen sie sich bisher ernährt hatten, aber aus den Fellen Kleidung herzustellen vermochte er als Mann nicht und Alaji ebenso wenig, wie der seltsame Stoff, mit dem die Kalenao ihre Körper verhüllten, verriet. Einmal davon abgesehen, dass sich Kleintierpelze ohnehin nicht besonders eigneten, aber mit seinem verletzten Bein war einfach nichts Besseres drin.

Bis zum Winter war es allerdings noch etwas hin, ehe er an Klamotten dachte war es sinnvoller, nach einem Ausweg für das Problem zu suchen. Und in seiner unfreiwilligen Begleiterin fand er keine Hilfe mehr. Er hatte sich am Vortag einen gehörigen Fehler mit ihr erlaubt in seiner Wut auf die Ungerechtigkeit der Welt und dabei an keinerlei Konsequenzen gedacht – fatal, denn dass sie sich nun so weit es ging von ihm fern hielt und ihn irgendwie zu ignorieren schien war wohl wirklich die geringste Strafe dafür. Sie war Magierin, sie konnte Messer aus Wind erschaffen, wie sie ihm schon mehrmals in den verschiedensten Situationen demonstriert hatte, damit hätte sie ihn aufschlitzen können. Oder auch mit der alleinigen Macht der Blutrausches, der schon einmal in ihren zierlichen Körper gefahren war und ein Menschenleben gekostet hatte. Nein, sie hatte ihn verschont, dabei wusste er nicht einmal so genau, ob er das verdiente. Was er verdiente war wohl, dass er sein Bein trotz der gut heilenden Wunde immer schlechter bewegen konnte und es mittlerweile mehr mit zog, als dass es ihn voran gebracht hätte. Das war äußerst schlecht, denn die nächste Jagd stand an – und Alaji konnte er keinesfalls bitten, sich darum zu kümmern und daran waren nicht ihre unterschiedlichen Sprachen Schuld.

Teco seufzte, als er den Blick von dem vom Sonnenaufgang orange und hell-violett scheinenden Himmel abwandte und seine Füße anvisierte. Er war so wütend gewesen...
 

„Egal, was ich tue, egal, wo hin ich gehe – oder besser, wohin ich mich schleife – immer und immer wieder lande ich hier!“

Er hob einen Klumpen Dreck auf und warf ihn mit aller Macht gegen die nächste Felswand, dass er in zig Stücke zerbröckelte. Die Magierin stand wenig neben ihm und musterte ihn besorgt.

„Utaha mece...“, riet sie ihm wohlgesonnen und er fuhr zu ihr herum und strafte sie mit einem tödlichen Blick, der sie zusammenzucken ließ. So unschuldig stand sie da, ihn aus den großen, rosa Augen anstarrend, wie ein kleiner Geist. Die Mörderin.

„Spar dir dein unverständliches Kinder-Gebrabbel! Deine Schuld ist das und die deiner Bastarde von Freunden, die einfach in das heilige Land MEINER Ahnen eindrangen und unser Leben zerstörten! Weißt du, wie es bald in meinem Stamm aussehen wird?! Kannst du dir das auch nur im Ansatz vorstellen?! Nein... nein, das ist dir vollkommen gleich, nicht?!“

Die junge Frau wich auf seinen Ausbruch erschrocken ein Stück zurück und er keuchte vor Wut. Warum nahm er nicht einfach seinen Speer und spießte sie für das auf, was sie und ihre Leute seinem Volk antaten?

... weil er dann allein gewesen wäre. Er zischte bösartig, als er auf sie zutrat und sie grob am Arm packte und näher zu sich zog.

„Ich bin viel zu liebenswürdig zu dir, findest du nicht? Du Monster! Ich lasse dich sogar mein Essen essen!“

Sie schenkte ihm nur einen verzweifelten Blick aus dem bleichen Gesicht, das allerdings schon ein wenig dunkler geworden war, als es zu Beginn gewesen war – die Kalenao schienen sich normalerweise definitiv nicht den ganzen Tag in der Sonne aufzuhalten. Etwas Sonnenbrand hatte die Gute tatsächlich...

„Ich... du verdienst das nicht, du abartige Missgeburt, du... könntest dich auch mal nützlich machen...“

Sie schrie einmal erschrocken auf, als er mit der freien Hand an ihrem Kleid zu nesteln begann, bis er es mehr schlecht als recht auf bekommen hatte und es ihr grob von den Schultern streifte.

Egal ob Kalenao oder Mensch – Frau blieb Frau, so erschien es ihm, als er sie darauf kurz musterte. Bis auf eine kleine irritierende Art Hose, die ihre Intimzone verdeckte, ihre Schuhe und ihren komischen Hut auf dem Kopf war sie nun nackt und unterschied sich bis auf die helle Haut kaum von den Frauen im Stamm. Er brummte, als sie auf ihrer Sprache irgendetwas zu wimmern begann.

„Ich sagte bereits, du könntest dich nützlich machen, Alaji!“

Er schlug ihr den Hut vom Kopf und entblößte so ihre Haarpracht, die es nicht wirklich wert war, als solche bezeichnet zu werden. Das war allerdings ein Unterschied zu den weiblichen Mitgliedern zu Hause; während die alle mit mehr oder minder vollem Haar gesegnet waren, verstand er nun den Sinn dieser Kopfbedeckung, als die wenigen, weißen Strähnen ihr nun bis zu den Schultern hingen und es kaum schafften, die ganze Kopfhaut zu verdecken. Es sah absolut nicht schön aus und verschandelte das Bild der jungen Frau mit dem zierlichen Körper und dem hübschen Gesicht.

Es sollte ihn nicht stören.

„Jias rhem teca!“

Sie jammerte weiter, versuchte aber nicht, sich zu wehren, als Teco nach ihren hübschen Brüsten griff und sie mit der anderen Hand zunächst losließ, nur um dann ihre weiblichen Konturen grob nachzufahren.

„Jias rehm teca, Teco!“, wiederholte sie dann abermals, hielt aber weiterhin still, das Gesicht abwendend. Er vergrub seines seinerseits an ihrem Hals, knabberte daran und atmete ihren fremden Duft tief ein. Das lehnte er nicht ab...

Inne hielt er erst, als sie die fremden Worte noch einmal wiederholte.

„Jias... rehm teca... Teco... Teco...“

Sie schluchzte und er blinzelte, als er in ihr tränennasses Gesicht aufsah.

„Jias rehm teca... en mece, Teco...“, kam dann abermals bebend und sie erschauderte unter einem kühlen Windhauch, der aufkam und ihre nackte Haut traf, ihr darauf folgendes Zittern jedoch hielt an.

Er sah ihr nur stumm ins Gesicht, als sie es vorsichtig wagte, ihre Arme vor ihren Busen zu heben und den Blick aus den geröteten Augen abwandte, zutiefst beschämt ihre eigenen Füße anstarrend.

Ja, beschämt. Sie hatte jemanden getötet... er hatte sie ihrer Ehre beraubt.

Mit einem Mal schien seine Wut verflogen und er ließ von ihr ab, einen Schritt von ihr tretend und einen Augenblick später nach ihrem Kleid am Boden greifend. Er klopfte errötende den Staub davon ab und hielt es ihr hin, sie selbst keines Blickes mehr bedenkend und einfach vorgehend. Oh Himmel, was hatte er sich nur dabei gedacht, diese Frau derart zu entehren?
 

Einen Tag später wusste er es noch immer nicht. Irgendwo hatte er Recht getan, dachte er sich... sie gehörte schließlich den Bestien an! Aber er war kein Mann, der einer Frau etwas antat, auch wenn er sich schon einiges zu Schulden hatte kommen lassen. Er bereute seinen Ausrutscher zutiefst.

„Alaji... lass uns weiter gehen, wir... wir dürfen nicht aufgeben.“

Seine Worte verstand sie wie beinahe immer nicht, aber gelegentlich, wie auch jetzt, verriet ihr scheinbar eine höhere Macht ungefähr, was er meinte und sie leistete brav Folge, ihm jedoch nicht zu nahe kommend.
 

Kilis Atem ging schwer. Es war mehr ein erbärmliches Röcheln nach Luft in dem stickigen kleinen Raum. Dunkelheit war sie aus den Erdhütten gewohnt, obgleich sie Talglampen besaßen, die sie anzünden konnten und die Licht und Wärme spendeten, wobei letzteres in der heißen Savanne eher selten nötig war. Hier war das anders... es gab nichts. Bloß den staubigen Boden und festes Gestein, aus der die Kammer – oder wie die junge Frau es lieber nannte, Höhle – bestand... und natürlich die hölzerne Tür, aus deren Öffnungsmechanismus sie nicht schlau wurde. Es gab keine frische Luft, nur Kälte... ihr Hals kratzte und sie war vor Erschöpfung halbtot. Sie konnte sich nichts unter der seltsamen Steinhütte, in der sie sich befand, vorstellen... sie hatte nach ihrer Reise nicht mehr wirklich darauf achten können. Das einzige, woran sie sich erinnerte, war salziger Wind... und Vögel, schreiende Vögel.

Sie lauschte wie in Trance auf das, was vor der Tür vor sich ging. Schrien wieder Vögel...?

Sie schloss ihre Augen. Nein... das war eine Stimme... eine hohe, schneidende Stimme, die sich in der fremden Sprache über irgendetwas empörte. Und dann die etwas tiefere, männliche Stimme von ihrem halb-blinden Entführer... die erkannte sie inzwischen, auch wenn nicht auf diese Art. Er schrie und fauchte und die andere Person, aller Wahrscheinlichkeit nach wohl eine Frau, kam kaum dazu, sich irgendwie zu verteidigen oder auf seine Worte einzugehen... Kili wusste ja nicht, worum es ging. Sie wollte nur nach Hause.

Es brauchte so einiges, bis sie es geschafft hatte, sich bis auf die Knie aufzurappeln. Sie war so erschöpft...

Wie hinter einem Vorhang registrierte sie langsam, dass sich der junge Mann näherte, die Tür aufschlug und sie auf die Beine zerrte und durch einen seltsamen Flur mit sich zerrte. Hier war der Boden aus Holz. Sie hustete.

Sie betraten ein anderes Zimmer, vom Sonnenlicht hell erleuchtet und Kili war zunächst blind für ihre Umgebung oder die andere Frau, deren Stimme sie vorhin vernommen hatte. Erst als sie direkt vor ihr stand, begann sie, wieder deutlich zu sehen... und wahrzunehmen.

Ihr Entführer hielt sie mit scheinbar ziemlich großem Kraftaufwand fest, damit sie nicht zusammenbrach; obwohl sie so nicht aufrecht stand, überragte sie ihr Gegenüber um ein ganzes Stück. Ja, diese Frau war wirklich sehr zierlich... und sah dem halb-blinden Mann erstaunlich ähnlich. Ihre orangefarbenen Augen schienen jedoch beide in Ordnung zu sein... und ihr Rang hoch, wie ihr sehr langes, gepflegtes hellblaues Haar verriet. Sie war schön, wenn auch gruselig.

Kili keuchte leise, als sie ihr zwei mit scharfkantigen Nägeln bestückte Finger unter ihr Kinn legte und ihr Gesicht etwas höher zog, obwohl sie so noch größer war. Anscheinend konnte die Magierin sie so jedoch besser mustern.

Darauf murmelte sie etwas, worauf der junge Mann sie nur bösartig anzischte und sie beinahe etwas beleidigt das Gesicht verzog. Dann wandte sie sich ganz an die Menschenfrau. Oder führte zunächst mehr halbverständliche Selbstgespräche, auf die sie keine ernsthafte Antwort erwartete.

„Hatas Hirat... hat dunkel Haut Menschenfrau...“

Dunkle Haut? Sie wagte, leise zu hüsteln. Moconi hatte sie immer aufgezogen, weil sie im Vergleich zu allen anderen immer so hell gewesen war... aber neben diesen Bestien, deren Haut die Farbe von Sternenlicht hatte, schien sie tatsächlich mit einem Mal recht gebräunt. Nun etwas aufmerksamer kam in ihr abermals die Frage auf, weshalb diese Leute es zumindest im Ansatz vermochten, ihre Sprache zu sprechen. Wer hatte ihnen das beigebracht? Hatten sie etwa... schon einmal Gefangene gehabt? Vielleicht vom Stamm am Horizont? ... man sagte, ihr Stamm und der in der Ferne hätten dieselben Ahnen und sprächen so eine sehr ähnliche Sprache... sie erschauderte bei dem Gedanken.

„Jias karm tece... rai?“

Der Mann brummte auf die unverständliche Frage abermals. Er schien verärgert zu sein... das konnte sich unter Umständen sehr zu ihren Nachteilen auswirken, fiel Kili auf.

Die andere Frau seufzte darauf jedoch bloß leise und widmete sich ihr wieder, sie ernst aus ihrem gleichermaßen respekteinflößenden wie auch mädchenhaften Gesicht ansehend.

„Name dieser Frau sei Nadeshda... Name dieses Mann sei Mahrran... Name dieser Frau...?“

Sie zeigte mit ihrer gruseligen Hand auf Kili, die bei den dunklen, scharfkantigen Nägeln erschauderte.

„Kili... ich... würde gern nach Hause, ich fühle mich hier nicht wohl!“

Sie verstand sehr schnell, dass sie zu hastig gesprochen hatte. Nadeshda zog beide Brauen hoch.

„Harc... folgen kann...“, die Kleinere wandte sich wieder an ihren extrem schlecht gelaunten Bekannten, der die Menschenfrau noch immer hielt und sprach in ihrer Sprache zu ihm. Er antwortete ihr in ihrem Gespräch äußerst unfreundlich, sie hielt sich ziemlich zurück.

In der Zwischenzeit hatte die Gefangene Gelegenheit, sich etwas umzusehen... und war erstaunt. Eine solche Hütte hatte sie in ihrem Leben nicht gesehen... es war riesig! Und... das Schlaflager an der einen Außenwand... es war ihr unbegreiflich. Was sie dann verstehen konnte war die augenscheinliche Vorliebe der Kalenao für schöne Dinge und Verzierungen, wie sie an einzelnen Dekorationen aus Federn, Beeren, kleinen Knochen oder seltsamen Dingen, die sich, so wusste sie, Muscheln nannten, bestanden, erkennen konnte. Ihr Stamm war auch im Besitz von Muscheln, sie gehörten zum Heiligtum. Es war lange her, dass ihre Ahnen das Meer zum letzten Mal besucht und dessen seltsame Gaben aufgesammelt hatten. Salziger Geruch... das musste das Meer sein! Dann war sie wirklich verdammt weit fort von zu Hause... sie erschauderte, als die kleine Frau vor ihr wieder versuchte, mit ihr zu kommunizieren.

„Wird sein hier... dieses Frau Kili... und... oterra atajil... ah!“

Sie schien sich etwas zu ärgern, weil sie sich nicht auszudrücken wusste, während ihr Gegenüber merkte, wie sich der Griff um ihren Körper lockerte und ihr Entführer, Mahrran, sie nun vorsichtig ihren eigenen Beinen überließ, die sie nach einigem Schwanken auch trugen.

„Rarrateil tèv?“

Nun zischte auch Nadeshda. Als die Menschenfrau sich vorsichtig wagte, sich umzudrehen, lehnte ihm Eingang ein Mann, dessen Kopf wundersamer Weise von violettem Haar bedeckt war, und musterte sie aufmerksam.
 

„Ich sollte dich töten... ich sollte dich Joru hinterher schicken... ich sollte dir alles nehmen, was dir wichtig ist! Der einzige, verdammte Grund, weshalb ich es nicht tue, ist der, dass wir in diesen Zeiten jeden erfahrenen Mann hier brauchen können... aber ich schwöre dir, deine Strafe bekommst du noch, Karem...“

Der Angesprochene wusste sehr genau, warum Moconi sich seine Wut aufgespart hatte, um ihr erst im versammelten Rat freien Lauf zu lassen. Nun stand er hier vor ihm, umringt von den anderen Männern, wie ein kleines Kind, um von einem blutjungen Kerl vor den Augen aller gedemütigt und entehrt zu werden. Und das Schlimmste – er hatte es auch noch verdient. Er hatte gut ein Achtel aller Männer in den Tod geführt... viele Kinder zu Halbwaisen und Frauen zu Witwen gemacht... und wären es schlechtere Zeiten gewesen, mit schlechterem Wetter, dann hätte er den Stamm damit wohl gerichtet. Aber was hier unausgesprochen wohl am allerwichtigsten war – er hatte zugelassen, dass Kili verschwand.

Kili, die faule, schöne Schwester Moconis, die für ihn in gewisser Weise die Frau ersetzte, war nicht mehr da. Von Bestien verschleppt und vermutlich längst verdaut... er bedauerte den Verlust der hübschen jungen Frau selbst, aber dem Zorn ihres Bruders war er an dieser Stelle nicht gewachsen. Das durfte er auch nicht sein.

Porit fluchte auch.

„Teco ist auch nicht da! Ich habe es gesagt, tausend Mal habe ich gesagt, dass zumindest ein paar von uns hätten zurückkehren müssen, um ihn nachzuholen, aber nein... ach!“, er wandte sich an seinen Neffen, „Du musst wissen, er hatte eine noch recht frische Wunde am Bein, ich glaube nicht, dass er all zu weite Strecken allein schafft... und die Savanne in der Nacht kann äußerst gefährlich sein, wie wir alle wissen...“

Der Häuptling fuhr sich nur gestresst durch die wie immer wirr abstehenden Haare. Einmal hatte sich sein Gegenüber überlegt, dass es vielleicht sinnvoll gewesen wäre, nach dem Kämmen einfach kein Stirnband zu tragen... aber das interessierte ihn nicht sonderlich, sein Schopf war normal, wenn auch vergleichsweise recht hell.

„Ich nehme an, du weißt, was das für uns alle bedeutet!“, fuhr der Jüngere da aggressiv fort und Karem wagte es, ihm die Stirn zu bieten.

„Nein. Genau so wie alle anderen hier...“

Moconi zischte darauf nur und der Ältere grinste innerlich, weil er wusste, dass der seiner Meinung nach etwas unterbelichtete Sohn Saltecs ihm nun nicht mehr folgen konnte. Dabei war es so simpel... das war sein Fehler. Zwar bestand er mehr als viele seiner Vorgänger auf die alten Traditionen, aber im Großen und Ganzen war er viel zu fixiert auf sein eigenes Wohl, als dass er in gewissen Situationen weiter als bis nur nächsten Erdhütte denken konnte. Nicht, dass es Karem da teilweise großartig anders ging, aber er erkannte den Fehler.

„Diese Männer... sind tot. Und deine Schwester ist bedauerlicherweise fort.“, er schielte zu Porit, „Und Teco kann vielleicht noch nachkommen... das ist die Lage.“

Unterschwelliges Gemurmel. Der Häuptling verschränkte bloß naserümpfend die Arme vor der Brust. Irgendwie erschien es ihm unverschämt, von der furchtbaren Situation, an der er Schuld war, so nüchtern zu reden.

„Fakt ist, daran können wir nichts mehr ändern... so sehr ich es auch bedaure. Aber wir haben noch immer ein Problem... das ist bereits das zweite Mal, dass... Kalenao, wie ihr Volk sich nennt, ich ziehe Bestien vor, versuchen, in unser Land einzudringen... es zu entehren! Die Erde bei den Bergen ist blutgetränkt... und ich wage einmal meinen Mund so voll zu nehmen und zu behaupten, auch wenn ich es nicht sollte, dass die wieder kommen. Ich weiß nicht, was sie wollen... vermutlich unser Fleisch. Und wir? Die Savanne ist weit, aber nicht unendlich... im Norden und Nord-Osten ist das Meer... im Süden und Süd-Osten sind die Berge... im Süden und Süd-Westen der große Strom... und im Westen und Nord-Westen der große Wald. Unsere Welt kennt Grenzen... und unsere Fähigkeiten auch.“
 


 

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Sorry, zwei Tage zu spät uû

Unglück

Alaji erschauderte. Die Nacht war sternenklar und in den Bergen erschien es ihr nun eisig, auch wenn sie dank des kleinen Feuers vor ihr nicht hätte frieren dürfen. Mittlerweile waren sie ziemlich hoch gestiegen auf der Suche nach einem Ausweg und irgendwo, wo sie weder der Heimat der jungen Frau, noch Tecos Stamm nahe waren, gelandet. Der Gedanke war beunruhigend. Es war bereits einige Tage her, dass beide Gruppen aufeinander getroffen waren, sicher waren alle wieder zu Hause angekommen... zumindest die, die übrig waren. Ob man sie bereits suchte? Ob sie überhaupt jemand suchen würde?

Auf einen weiteren Luftzug hin zog sie ihre Beine dichter an ihren Körper und umklammerte sie mit den Armen. Sie glaubte nicht wirklich daran. Zumindest von ihrer Seite sicher niemand, obgleich es für Shiran wohl leicht gewesen wäre, herauszufinden, wo sie sich gerade befand. Nein, bei ihrem Glück trafen sie bestenfalls ein paar Männer aus Tecos barbarischem Stamm.

Teco.

Während sie ihr Gesicht etwas hinter ihren Knien versteckte, lugte sie auf die andere Seite der Flammen, wo der junge Mann saß und irgendetwas mit seinem einzigen Speer anstellte. Er kümmerte sich sehr gut darum, es war der einzige, den er mithatte, und hier gab es weder geeignetes Holz, noch Knochen für einen neuen Schaft, geschweige denn Obsidian für die Spitze. Und ohne Speer konnte er sich weder verteidigen, noch jagen. Bereits einige Male hatte er ihn ausbessern müssen. Es war gut, wenn er beschäftigt war... in der Zeit fürchtete sie ihn weniger.

Als ihre Götter sie wissen ließen, dass er ihren Blick bemerkte, senkte sie ihr Haupt noch etwas mehr, sodass es kaum noch auszumachen war.

Alaji hatte gehofft, sich mit ihm arrangieren zu können. Und anfangs hatte es auch geklappt... irgendwie. Und dann war er wütend geworden, verständlich, bei ihrer gemeinsamen Situation, und dann... sie erzitterte abermals unter einem Windhauch.

Am Abend hatten sie ein weites Land erreicht, ein hohes Plateau umringt von Gipfeln und den Wolken scheinbar ganz nah. Es war schon ziemlich dunkel gewesen, aber sie verstand, warum Teco sich nicht ganz abgeneigt gezeigt hatte; beim nächsten Sonnenaufgang würden sie vielleicht eine hilfreiche Aussicht genießen können. Problematisch war bloß das Übernachten hier... in auf die Schnelle erreichbarer Nähe gab es keine Höhlen oder Felsvorsprünge, die sie vor dem kalten Höhenwind schützen konnten.

Am liebsten hätte sie sich in die Glut gelegt...

Sie hob den Kopf, als ein ungutes Gefühl von ihr Besitz ergriff. Nicht nur sie, stellte sie schnell fest, sondern auch Tecos Instinkte eines Jägers hatten ihn nun aufhorchen lassen. Er murmelte irgendetwas und erhob sich, den Speer fester haltend, während Alaji etwas zurück rutschte und sich an den großen Stein hinter ihr drückte.

„Ein Raubtier?“, wagte sie zu fragen, obwohl er ihr wohl kaum antworten konnte. Er hob bloß beide Brauen und erwiderte etwas in seiner seltsamen Sprache, sich einmal um seine eigene Achse drehend. Er erkannte nichts Ungewöhnliches.

Einen Moment später war der Spuk wieder vorbei.

Sie sahen sich verblüfft an, als das mulmige Gefühl mit einem Mal wieder abflaute und alles wieder genau so schien wie zuvor. Übrig blieb eine seltsame Beunruhigung, die Alaji ihre Furcht vor ihrem Begleiter kurzzeitig etwas zurückdrängen ließ. Letzterer setzte sich nun auch wieder hin, aber ihr dichter als zuvor.

„Da war irgendetwas... was ist, wenn es wieder kommt? Ich fühle mich hier nicht wohl, Teco...“

Sie hoffte noch immer vergebens, dass die Götter auch einem primitiven Sohn wie diesem Menschen gelegentlich etwas weiter halfen, so wie sie sie bereits das ein oder andere Mal auf seine Meinung hingewiesen hatten. Das würden sie nicht tun bei ihm, sie wusste es eigentlich...

Dennoch erwiderte er ihr etwas Unverständliches, deutete auf seinen Speer, dann auf sein Bein und klang mit einem Mal ungewohnt beunruhigt. Sie hob beide Brauen.

„Du... fürchtest dich auch? Ich... ich bin keine gute Magierin und Waffen habe ich auch keine, ich würde dir gerne helfen, wenn es darauf ankommt, aber ich weiß nicht, ob ich das kann...“

Darauf seufzte er nur.
 

„Ich drehe durch! Ich... ich drehe hier echt durch!“

Chejat seufzte bloß, während Kajira mit aller Gewalt versuchte, sich aus seinen Fesseln zu befreien und so beinahe das komplette Zelt zum Einsturz gebracht hätte, weil seine Hände mit Seilen aus seltsamen Material, das keiner von beiden benennen konnte, an einen der äußeren Stützpfeiler gebunden waren. Der Rothaarige seufzte bloß.

„Seit einer Weile denke ich, das ist schon längst geschehen. Beruhige dich doch mal!“

Sein an sich nicht ganz dummer Rat bewirkte leider nur das Gegenteil. Der Jüngere wandte sich ihm zischend zu.

„Beruhigen?! Hallo, beruhigen?! Sieh dich mal um! Wir sitzen hier in einem primitiven, schimmlig riechenden Zelt mit vergammelnden Vorräten, diese Spinner haben tatsächlich bessere Seile als wir und, verdammt, es ist so peinlich, wir haben es nicht geschafft, uns gegen sie zu wehren! Und da soll ich mich beruhigen?!“

Chejat zuckte mit den Schultern, soweit seine hinter seinem Rücken gefesselten Arme es zuließen. Irgendwo hatte er ja recht... und dieser Ort war ihm wahrlich suspekt, aber was brachte es ihm, so auszurasten?

Er erkannte Kajira auch nicht wirklich wieder. Sie hatten ihn übel zugerichtet für sein gedankenloses Ungehorsam, über und über war er mit blauen Flecken und Blutergüssen übersät und seine Unterlippe war dank eines heftigen Schlags am Vortag abermals leicht angeschwollen. Seine Kleidung war zerfetzt und sein langes, ansonsten grundsätzlich sehr ordentlich zusammengebundenes Haar hing ihm wirr über die Schultern, hätte er es nicht besser gewusst, dann hätte er ihn gar nicht für seinen Bekannten gehalten.

„Na ja...“, antwortete er dann, „Sie waren viel mehr als wir und sie sind auch viel kräftiger, falls es dir entgangen ist, wirklich peinlich, dass wir uns nicht haben wehren können, ist es mir eigentlich nicht...“

Er legte den Kopf etwas schief und der Jüngere zischte bösartig.

„Ja! So etwas sagst auch nur du Verrückter!“

Mit einem Mal etwas ermüdet lehnte er sich gegen den Pfeiler in seinem Rücken und schloss kurz die Augen, ehe er weiter sprach.

„Du denkst ja auch, du hättest eine Schwester, obwohl du ein Einzelkind bist...“

Chejat erwiderte darauf nichts. Ja, alle hielten ihn für bescheuert, mindestens für so bescheuert wie seine Cousine Sundri, die ständig über Unsinn philosophierte, und irgendwo konnte er es ihnen nicht einmal verdenken. Er hatte eine Schwester, er wusste es einfach. Seine Götter hatten sie ihm so oft gezeigt... aber im Dorf wollte sie keiner kennen, nicht einmal seine Eltern. Und ihren Namen kannte er auch nicht. Aber es gab sie. Irgendwie...

Sie sahen beide wieder auf, als sich der Eingang des Zeltes öffnete und zwei junge Frauen eintraten.
 

„Du wolltest mit mir sprechen?!“

Mahrran schnaubte verächtlich, als er die Tür zu seinem Zimmer hinter sich schloss und Shiran es sich ungefragt auf einem Hocker bequem machte. Sollte Nadeshda doch mit dem Menschen-Mädchen glücklich werden, wobei das wohl ohnehin nur Opfer ihrer sadistischen Ader werden würde.

„Genau darum bin ich hier. Wie du weißt...“

Er hielt inne, denn er wusste, dass sein Gastgeber ihn ohnehin gleich unterbrochen hätte. Dieser zischte nun, mit der Faust gegen die hölzerne Tür schlagend, dass diese ein unschönes Knarren von sich gab.

„Du hast mich doch herein gelegt, gib es zu! Ich meine... das ist sowas von katastrophal schief gelaufen! Was ist es, hm?“

Er kam ein paar Schritte auf ihn zu und blieb direkt vor ihm stehen, mit seinem gesunden Auge scharf auf ihn hinab sehend.

Der Seher hörte bloß aufmerksam zu, obwohl er vermutlich wusste, was folgen würde.

„Haben du und... Nadeshda euch gegen mich verschworen? Wollt ihr mich bei Seite schaffen? Ihr Intriganten... du hast gewusst, was geschehen würde und meine Schwester hat es vermutlich auch noch beschleunigt, wie? Dass ich nicht lache, ihr werdet...“

„Immer die Ruhe.“

Nun erhob sich auch Shiran und so war er es auch, der auf sein Gegenüber hinab blickte. Ausnahmsweise war in seinem Antlitz nicht ein Hauch von Spott.

„Du bist ziemlich scharfsinnig.“, gestand er dem Jüngeren dann ein, „Aber Nadeshda und ich... haben nichts am laufen, was gegen dich wäre... im Gegenteil.“

Nun grinste er wieder. Mahrran hob nur eine Braue. Irgendwie überkam ihn gerade ein sehr seltsames Gefühl...

Sein Gegenüber wandte sich von ihm ab und begann, im Raum umher zu gehen.

„Ich bin zwar ein Seher, aber allwissend bin selbst ich nicht. Ich... habe nicht gewusst, wie eure Begegnung mit den Menschen ausgehen würde, zugegeben.“

Sie tauschten einen merkwürdigen Blick. Nicht gewusst?

„Es mag hart klingen... aber ich bin mir nicht sicher, ob es die Absicht deiner Schwester war... oder ob sie versagt hat – wobei es bei ihrem Talent klar ist, dass bei letzterem definitiv die entsprechende Mühe gefehlt hätte.“

Als er grinste, hob der Gastgeber murrend eine Hand. Er ahnte, worauf das hinaus lief...

„Dass sie Mist gebaut hat, weiß ich selbst, das habe ich bereits mit ihr geklärt, mehr oder weniger... versuche nicht, mich hinter sie zu bringen!“

Shiran hob beide brauen. Ihn hinter sie bringen? Er gluckste amüsiert.

„Muss man das erst versuchen? Bitte... das ist längst geschehen, ich sehe, was du denkst, du misstraust deiner Schwester längst... und das zu Recht.“

Er setzte sein sinnloses hin und her gehen fort, während nun Mahrran sich seinerseits auf dem Hocker niederließ.

„Du... bist nicht dumm. Du weißt genau, dass sie die Zügel in der Hand hat... und du hasst es.“, er warf ihm einen kurzen Blick zu, hielt jedoch nicht an, „Ich gebe dir Recht... dass sie allein die Macht an sich reißt ist schlecht... das wissen wir beide. Sie muss... weg.“

Er hielt wieder an und der Jüngere schnaubte entrüstet. Weg?! Seine Schwester?

„Nun aber einmal halblang, ja? Wir sind Zwillinge... selbst wenn ich sie... töten... wollte, dann würde sich meine eigene Macht mit ihrem Ableben halbieren...“

Und du wärst mir zu gefährlich, du Lügner.

Der Seher schmunzelte nur.

„Töten? Wer redet denn davon? Bitte... wir sind doch keine Barbaren. Wir verscheuchen sie mit anderen Mitteln... sie wird nicht anders können, als ihren Platz frei zu geben, du wirst sehen. Der Schlüssel dazu... ist ihre Weiblichkeit.“

„Du meinst, wir warten, bis sie ihre Regel hat, und belästigen sie dann so lange damit, bis sie freiwillig ihre Sachen packt und in die Wüste geht?“

Betretenes Schweigen. Shiran räusperte sich.

„...nicht ganz. Nein, im Gegenteil.“, er strich sich ein paar violette Strähnen aus der Stirn, „Nadeshdas Macht wird von dem Volk nur geduldet, weil sie alleinstehend ist... sie sorgt mehr oder minder für sich selbst... oder besser gesagt lebt sie von dem, was das Dorf euch an Steuern vorbei bringt. Das wäre anders, wenn sie einen Mann hätte, der für sie spricht.“

Mahrran zog beide Brauen etwas zusammen. Sie sollte heiraten? Was er sprach, ergab Sinn... aber so einfach war das nicht.

„Sie wird aber niemals freiwillig einer Bindung zustimmen. Ich meine... wie sollen wir sie dazu bekommen? Sollen wir warten, bis sie ihre...“

„Nicht doch!“

Der Seher schüttelte etwas empört den Kopf. Schien so, als würde dieser Kerl diese gewisse Zeit im Monat ziemlich gern ausnutzen.

Der Ältere fasste sich einen Moment an die Stirn, während der Gastgeber sein Haupt etwas schief legte. Dann sprach er weiter.

„Es gibt einen ganz einfachen Grund, warum sie schon sehr bald heiraten werden muss, um keine Schande über euren ehrenwerten Clan zu bringen...“

Er wandte den Blick ab. Und es hatte sicher nichts mit der Blutung einer Frau zu tun...

„Ich war in deiner Abwesenheit in weiser Voraussicht sehr aufopferungsvoll und habe mich dazu bereit erklärt, an ihrer Seite zu bleiben, vertretend für alle Männer dieses Dorfes, die sich stattdessen wohl lieber im Meer ertränkt hätten. Sie weiß es in diesem Moment noch nicht, aber sie erwartet ein Kind – mein Kind – was sie früher oder später in die Knie zwingen wird. Sie wird Einsicht zeigen... das weiß ich.“

Er sah nicht wieder auf, als Mahrran kurzzeitig die Gesichtszüge entgleisten. Nadeshda war schwanger? Da hatte der Gute aber ordentlich vorgebaut, das musste man ihm lassen. Der einzige Haken an der Sache war dann wohl bloß, dass der Mann, der für sie sprechen würde, Shiran war. Shiran und Nadeshda...

„Bist du dir... wirklich sicher? Ich meine, ich glaube nicht, dass sie sich in einer Mutterrolle zurechtfindet... du als Vater überdies auch nicht.“

Sie würde alles versuchen, die Schwangerschaft abzubrechen, ehe es jemand bemerkte. Und wie er sie kannte würde ihr das sicherlich auch gelingen...

Der Seher erriet seine Gedanken.

„Das hast du schon Recht – da musst du dann ein wenig unter die Arme greifen. Sie kann nichts an ihrem eigenen Körper verändern, du jedoch schon. Schütze das Kind.“
 

Kälte war etwas Grausames. Die Welt, auf der sie lebten, war ein warmer Ort, ihre Bewohner waren kaum etwas anderes als die strahlende Sonne am Tage und die dunstige Wärme in der Nacht gewohnt... und wenn es dann Winter wurde, reichte eine Schicht Kleidung zusätzlich aus, um zu vergessen, dass die überlange heiße Jahreszeit vorüber war. In den Bergen war dies anders. Gletscher gab es auch dort seit langem nicht mehr, aber je höher man kam, und das geschah auf der Suche nach Freiheit schneller, als man dachte, desto unangenehmer wurde es. Und abermals überkam Alaji die Lust, sich in die Glut des Lagerfeuers zu legen, über der nun allerdings keine Flammen mehr züngelten. Sie hatte sich an einen allmählich ebenfalls erkaltenden Stein gepresst zusammengekauert, aber an Schlaf war nicht zu denken. Ihr Brennstoff war leer. Sie sehnte sich einfach nur nach dem Sonnenaufgang.

Eigentlich war es nicht einmal so kalt, dachte sie sich, als sie ihre Gänsehaut an den Armen beobachtete, es war einfach nur unheimlich zugig hier oben. Und es gab keine Möglichkeit, sich davor zu schützen.

Teco murmelte irgendetwas.

Sie schielte zu ihm, als er versuchte, seinen nackten Oberkörper irgendwie möglichst komplett unter seiner Fellweste zu verstecken. Sie fragte sich, ob er wohl noch mehr fror als sie... vermutlich nicht, wenn sie genauer darüber nachdachte. Ihr großer Nachteil war ihre überdurchschnittliche Haarlosigkeit... sie war wahrlich sehr nackt, während Tecos Arme und Beine mit mehr oder minder feinen Haaren bedeckt waren... ob die wohl dicht genug waren, um zu wärmen? Irgendwie erschienen sie trotz ihrer Menge etwas nichtig, aber irgendeinen Sinn mussten sie ja haben... Aber wirklich warm hatte ihr Begleiter allem Anschein nach auch nicht.

Er fluchte leise etwas, dann vernahm sie ihren Namen aus seinem Mund und horchte auf, obgleich sie seine Sprache nicht zu verstehen mochte.

Teco linste sie ebenso an wie Alaji ihn zuvor. Irgendwie war sie sich aber recht sicher, dass er nicht über Körperbehaarung philosophierte, das schien ihm recht gleich zu sein. Wenn sie etwas über Menschen gelernt hatte, dann, dass sie praktisch dachten.

Sie waren nicht dumm, keineswegs, aber ihre Denkweisen gingen simplere Wege als die ihrer Artgenossen. Der junge Mann hatte sehr viele seltsame Eigenarten, die jedoch alle ihren Sinn hatten. Von der Art, wie er jagte, bis hin zu der Art, wie er schlief, alles war so durchdacht, dass das Bestmögliche aus der Situation heraus genommen wurde. Etwas, worum sie ihn in Augenblicken wie diesen gelegentlich beneidete. Sie kannte sich nicht so aus mit einem solch... primitiven Leben. Einen Augenblick lang war sie tatsächlich froh gewesen, dass sie bei ihm war, denn allein wäre sie wohl nicht klar gekommen, dann war ihr jedoch eingefallen, dass er sie entführt hatte und sie ohne ihn längst wieder sicher zu Hause gewesen wäre. Sie seufzte leise, als er sich wieder aufrichtete und es nun endgültig aufgab, seinen Körper irgendwie vor dem kalten Wind schützen zu wollen.

Die Worte, die daraufhin seinen Mund verließen, konnte sie inzwischen zuordnen und wissend wandte sie sich ab, als er etwas ins Abseits ging, um sich zu erleichtern. An sich war es ihr unangenehm, wenn er das so nah bei ihr tat, aber an diesem seltsamen Ort fühlte sie sich einfach wohler, wenn er sie nicht allein ließ.

Allein, wenn sie an das widerliche Gefühl vom Abend dachte,... das gerade dabei war, wieder in ihr aufzusteigen. Sie hob den Kopf skeptisch und schielte zu Teco, der jedoch seelenruhig seine Kleidung wieder richtete. Irrte sie sich etwa?

Nein... nein, sie war die Magierin, zwar keine besonders gute, aber ihre Instinkte konnten nur besser sein als die Tecos. Irgendetwas stimmte hier einfach nicht.

Als er sich zu ihr umdrehte und sah, wie sie seinen Speer packte, verstand er sie falsch. Alaji schrie erschrocken über den ungeahnten Schlag in das Gesicht.

„Merkst du es denn nicht?“, versuchte sie es, „Das war nicht böse gemeint! Aber hier ist doch...!“

Er unterbrach sie in wütendem Geschrei und schien sie sehr ungehalten anzufluchen. Sie wandte ihr Gesicht nur ab.

Es hatte keinen Sinn. Ihr Versuch war dämlich gewesen... sie wusste nicht, was nun schlimmer war; dass sich irgendeine Gefahr näherte und Teco es nicht merkte oder dass sie eben letzteren erbost hatte... und was dabei das letzte Mal herausgekommen war, wollte sie nicht wieder erleben. Beinahe fühlte sie sich zurückversetzt, als er sie grob am Oberarm packte und ein Stück zu sich zog... sein eigenes Brüllen verstummte, als eines tierischer Natur in der Nähe erklang.
 

Kajira zischte. Sie tat ihm nicht wirklich weh, als sie mit einem feuchten Stück Fell begann, sein Gesicht zu waschen, aber er versuchte sich rein aus Prinzip dagegen zu wehren. Ab und an fuhr die junge Frau mit dem langen braunen Haar ihn deswegen auf ihrer seltsamen Sprache an oder verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, aber wirklich aggressiv wurde sie nicht. Ihre Begleiterin konnte das dennoch überbieten, die tat nämlich nichts weiter, als ihre augenscheinliche Aufgabe, ihrerseits das Herrichten von Chejat, und reagierte nicht einmal im Ansatz auf alles, was um sie herum geschah. Nun gut, Kajiras Leidensgenosse starrte sie auch nur dämlich an und dachte nicht im Traum daran, ihr etwas entgegen zu setzen, aber allein für seinen Blick hätte er schon einmal eine verpasst verdient, dachte sich der Blauhaarige empört. Einen Moment später schrie er auf, als sein Gegenüber ihn unsanft zu kämmen begann.

„Hallo?!“, seine Wut riss auch Chejat aus seiner Starre, der nun wie in Zeitlupe zu ihm sah, „Das tut weh! Du hast doch auch lange Haare, ich wette, dich selbst kämmst du nicht so!“

Die junge Frau schnaubte, dann erwiderte sie überraschenderweise tatsächlich etwas, wenn auch auf ihrer Sprache. Sie deutete auf sein Haar, dann auf ihres und sprach so schnell, wie nur ein Weib es konnte, sodass Kajira sie vermutlich nicht einmal verstanden hätte, wäre er ihrer Sprache mächtig gewesen. Ihre Begleiterin ignorierte sie noch immer völlig und kämmte ihrerseits Chejat. Sie tat es weder besonders behutsam, noch auffallend brutal, wobei sein verhältnismäßig kurzes Haar auch in einer wesentlich besseren Verfassung war als das der Kämpfernatur.

Der ältere Magier keuchte, während er die junge Frau immer weiter anstarrte. Sie reagierte nicht... sie reagierte keine Sekunde lang, sie tat einfach, ohne auch nur einen einzigen Versuch zu starten, mit ihm zu kommunizieren. Erst, als er sein Gesicht reckte und seine Stirn kurz gegen ihre lehnte, hielt sie inne und fuhr ein Stück zurück. Er strahlte sie an. Ihre Haare waren beinahe so rot wie seine...

„Erkennst du mich?“

Sie starrte ihn nur an, ohne mit einer Wimper zu zucken und er rutschte etwas nach vorn, um ihr wieder näher zu kommen. Er strahlte.

„Ich träume... so lange von dir... ich wusste einfach immer, dass es dich gibt! Du bist eine gute Frau, Schwester, du wirst uns in die Freiheit verhelfen, nicht?“

Er lachte euphorisch auf, dass die anderen beiden verstummten und ihn anstarrten. Oh, es war gut, dass er hier gelandet war, ja. Ja, er hatte sie endlich, seine Schwester, sie lebte fernab von zu Hause... auch wenn er nicht wusste, warum, aber das würde er schon noch irgendwie in Erfahrung bringen. Was seine Eltern wohl sagen würden? Er kicherte, als er sich kurz an Kajira wandte.

„Siehst du sie, meine Schwester! Das ist sie! Sie kann es nicht zugeben, aber sie wird uns helfen, wetten?“

Der Jüngere blinzelte. Der Blick der rothaarigen Frau war dem seines Begleiters gefolgt und lag nun auf ihm... tatsächlich konnte man mit viel Phantasie eine gewisse Ähnlichkeit erkennen, aber er hatte nicht wirklich das Gefühl, als bestünde zwischen der primitiven Menschenfrau und Chejat irgendeine nennbare Verbindung. Hübsch war sie auf ihre eigene Weise wohl schon, das unterschied sie bereits von dem etwas älteren Magier, wirkte jedoch etwas verstört, noch mehr, als die brünette Frau, die nun schnaubte und dann begann, wunderliche Bewegungen mit den Händen zu machen, die ihre Bekannte darauf zu erwidern schien. Sie gab keinen Ton von sich.

Kajira schnaubte.

„Bist du dir sicher?“

Der andere Mann nickte nur. Ja, er war sich absolut sicher, es konnte gar nicht anders sein. Endlich hatte er sie gefunden... bald würde sie sie befreien... und mit ihm kommen! Und dann würde niemand mehr über ihn spotten, nein. Er hatte die ganze Zeit über Recht gehabt... und kicherte überwältigt von dieser Tatsache ein weiteres Mal. Die würden Augen machen...
 

Es war dunkel in Nadeshdas Zimmer. Einige Fackeln brannten an den Wänden und ließen die Einrichtung bizarre Schatten an die steinernen Wände werfen. Die junge Frau saß auf ihrem sehr bequemen Schlaflager, den Kopf auf den Händen und die Ellbogen auf den Knien abgestützt. Letztere zogen seit einer Weile etwas unangenehm... ihr war die Salbe vor wenigen Tagen ausgegangen und das machte sich nun zu ihrem Leidwesen sehr schnell bemerkbar. Alaji war für das Wohl ihrer kranken Beine verantwortlich... viele wussten es nicht, vermutlich nicht einmal die Heilerin selbst, aber sie war ihr zutiefst dankbar für diesen Dienst. Ihre unbenannte Krankheit hatte sie in gewisser Weise ihre Kindheit gekostet...

Sie würde sie zurückholen, ebenso Mabalyscas Verlobten und diesen seltsamen Dorftrottel... das war sie ihnen schuldig. Sie waren in das ferne Land gereist, um ihrem Dorf ein Überleben in der Zukunft zu ermöglichen... es musste belohnt werden.

Sie schielte an die Wand neben der Tür, wo die erbärmliche Menschenfrau kauerte. Kili... tatsächlich erschien sie ziemlich dumm. Vielleicht irrte sie sich auch, überlegte die Magierin da weiter, sie beherrschte die Sprache der Menschen schließlich nur mäßig. Zerit hasste es, mit ihr zu üben... Zerit hasste ohnehin alles und jeden. Aber vielleicht würde er in nächster Zeit nützlich werden...

„Hör auf, zu weinen...“

Nadeshda bemühte sich nicht weiter darum, in der seltsamen fremden Sprache zu sprechen, es nützte ohnehin nichts. Kili zuckte unter ihrer Stimme bloß zusammen. Sie wollte nach Hause, soweit hatte sie es auch schon verstanden... von ihr aus konnte sie gehen, sobald ihr Stamm die entführten Magier wieder frei gelassen hatte. Sie hatte keine Verwendung für die dumme Frau... aber wenn Mahrran interessiert an ihr war, sollte sie dazu auch nichts weiter sagen. Sie hatte ihn immerhin in ziemliche Schwierigkeiten gebracht...

Als sich die hölzerne Tür öffnete, verdrängte sie ihre Gedanken automatisch – auf Shirans Erscheinen verdunkelte sich dafür ihre Miene wie von selbst. Er grinste nur, gefolgt von Mahrran, der es ihm überraschenderweise gleich tat. Er ließ seine Schwester nicht lange unwissend.

„Das Gespräch war wirklich... aufschlussreich. Vergessen wir es, einverstanden? Du... hattest ja deine Gründe, weshalb du dich von mir abwenden musstest. Das verstehe ich natürlich...“

Die junge Frau errötete. Moment... was genau hatte dieser Spinner denn da erzählt? Er hatte ihr geschworen, dass es unter ihnen blieb!

Beinahe wäre sie aufgesprungen und hätte ihn angefahren, doch der listige Mann kam ihr zuvor, als er sich zu der wimmernden Kili beugte und sie am Handgelenk auf die Beine zerrte.

„Ich werde... das arme Ding etwas über die Situation aufklären, ihr entschuldigt mich.“

Und schon war er verschwunden. Nadeshda zischte nur, das hochrote Gesicht von ihrem Zwilling abwendend.
 

Shiran hatte die junge Menschenfrau in Mahrrans Zimmer gebracht. Nun stand sie da, verloren im Raum, und fühlte sich einfach nur unwohl – das hätte der Mann sogar erkannt, wenn er kein Seher gewesen wäre. Ihre Verfassung war schlecht. Sie war zwar nicht krank, aber unsagbar geschwächt... sie hatten sie ziemlich knapp gehalten bei ihrer Rückreise. Menschen hatten außerdem ebenso wie Kalenao ein gewisses Verlangen nach Hygiene, dem sie kaum hatte nachkommen können... sie musste sich waschen und brauchte dringend neue Kleidung, aber all das lag nicht in der Hand des jungen Mannes. Mahrran sollte sich darum kümmern.

„Ich spreche deine Sprache besser als die Zwillinge.“, klärte er sie zunächst auf.

Wenn auch schlechter als Zerit, aber sie würde ihn verstehen. Er fühlte sich unwohl, wenn er nicht die Sprache der Götter sprach, aber von der dummen Kili konnte er nicht all zu viel erwarten. Innerlich seufzte er, als sie erschauderte und ihn verunsichert anblinzelte. In diesem Raum leuchtete bloß eine Fackel... nicht unbedingt ein Grund für sie, sich sicherer zu fühlen.

„Ich will nach Hause...“, brachte sie es einfach auf dem Punkt und ihr Gegenüber spürte automatisch, dass sie es einfach darauf ankommen ließ. Sie hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren, zumindest dachte sie sich das.

Er grinste.

„Natürlich, ich weiß. Aber vorerst wirst du wohl hier bleiben. Nadeshda... plant, deinen Bruder Moconi zu erpressen, ihr habt schließlich auch Leute von uns.“

Ihre Augen weiteten sich, während sie zu zittern begann. Ja, es war nicht leicht für sie zu verstehen, nicht nur wegen des grausamen Akzents des Sehers. Es musste ihr unverständlich sein, weshalb man hier direkt so viel über ihr Heim wusste... bald würde er sie noch mehr verwirren.

„Ich... ich glaube... ich erwähnte Moconi nur ein einziges Mal bei dem halb-blinden Jungen... warum... ist er euch so wichtig? Was wollt ihr überhaupt im Land meiner Ahnen und... warum kannst du meine Sprache?“

Sie fuhr sich durch das staubige Gesicht, worauf sie niesen musste. Eigentlich war sie selbstbewusst...

„In deinem Stamm hast du als Schwester des Häuptlings eine besondere Stellung...“, stellte Shiran sachlich fest und sie blinzelte ihn kurz an, „Versuch dich etwas zu beherrschen... frage nicht so viel und gehorche, wenn man verlangt, dann wird es vielleicht nicht so schlecht, wie du denkst.“

Es irritierte den Seher etwas, dass man ihm keine genaueren Informationen zu ihrem Schicksal gab – das war untypisch. Dass seine Worte stimmten, wusste er jedoch mit großer Sicherheit.

Bloß nicht, was sie nun genau hießen...

Ihre Reaktion darauf überraschte ihn, obgleich er sie hatte kommen sehen.

„Ich soll mich beherrschen?!“, fuhr sie ihn an, „Ich muss mit ansehen, wie gute Männer, die ich seit meiner Kindheit kenne, von euch Bestien zerfetzt werden, ausgesaugt, aufgefressen! Menschliche Wesen... wie Beutetiere, in unserem eigenen Land, von Leuten, die wir niemals zuvor gesehen haben! Und dann nimmt mich dieser komische Kerl einfach mit hierher... und behandelt mich wie den letzten Dreck, die verrottenden letzten Reste des Wintervorrates, die niemand mehr will... das verdiene ich nicht! Ihr habt uns genug angetan, ich möchte sofort wieder dahin zurück, wo ich herkomme!“

Sie senkte den Blick und schluchzte. Sie war müde... unendlich müde.

Und sofort wieder wach, als ihr Gegenüber mit einem Mal direkt vor ihr stand und sie unsanft an den Schultern packte. Es lag in Shirans Absicht, sie mit seinem düsteren Antlitz zu erschrecken... ansonsten würde sie es wohl nicht verstehen. Unempfänglich war sie nicht, weil sie seine Worte nicht verstand, sondern einfach, weil sie sie nicht verstehen wollte... dort, wo sie herkam, schien sie sehr verwöhnt worden zu sein. Das musste sie ablegen, zu ihrem eigenen Wohl.

„Du scheinst mich nicht recht verstanden zu haben. Es geht hier um dein Leben... du bist im Lager des Feindes, Kili, Tochter von Saltec, du bist nicht in der Position, Fragen zu stellen oder zu fordern. Warte ab – das wird das Beste für dich sein.“

Er ließ sie wieder los und sie schnaubte leise. Irgendetwas sagte ihm, dass sie sich damit nicht zufrieden geben würde. Einen Augenblick später bestätigte sie ihn.

„Aber diese Frage wirst du mir beantworten!“, sie blickte ihm unverfroren in sein Gesicht, „Wer bist du überhaupt?“
 

Es war schnell gegangen. Über den Felsen, an den sie sich kurz zuvor noch gekauert hatte, war Alaji vor Schreck glatt gestolpert und war unsanft auf dem Rücken gelandet. Sie hustete, als sie Teco schreien hörte... als sie sich aufrichtete und mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Stein lugte, stellte sie jedoch schnell fest, dass ihm noch nichts geschehen war, im Gegenteil. Sie zog scharf die Luft ein.

„Das... ist kein Kuguar...“

Immer wieder stach Teco auf den Angreifer ein, dabei gab sein Speer erbärmliche Geräusche von sich... und wirklich tief konnte er nie in das Fleisch eindringen, viel zu schnell musste der junge Mann ihn wieder zurück ziehen, damit das Raubtier ihn nicht zerbrach. Was auch immer das war, es war groß, es hatte monströse Zähne und scheinbar war es hungrig. Etwas erinnerte es an eine Raubkatze, aber es war größer als jede, von der die junge Frau jemals gehört hatte. Wo waren sie hier nur gelandet?

Ein erneuter Schrei ihres Begleiters riss sie aus ihrer Starre. Das Tier hatte mit einer seiner monströsen Pranken nach ihm geschlagen und vermutlich irgendwie erwischt, zumindest zu Boden gegangen war er. Alaji erschauderte.

Was sollte sie nun tun? Sie war als Magierin wahrlich bescheiden und die Dunkelheit war nicht wirklich ihr Metier... viel mehr als Silhouetten konnte sie in den folgenden mondlosen Momenten vor sich nicht erkennen.

Sie schloss die Augen. Sie besaß irgendwo Instinkte, die jeder Angehörige des Volkes der Kalenao hatte... sie konnte sie bloß schlecht nutzen.

Sie hörte das Tier brüllen und Teco darauf schreien, fürchterlich und markerschütternd.

Teco... wenn er starb, war sie allein. Er war nur ein Mensch, sie verstanden sich nicht und misstrauten sich gegenseitig, aber im Moment war er der einzige, den sie hatte. Was würde sie denn allein hier tun, an diesem Ort des Todes?

Er schrie wieder. Das Tier knurrte und fauchte, während der junge Mann sich irgendwie zu wehren schien... Alaji öffnete die Augen wieder einen Spalt. Da war es... sie hatte ihre Macht nicht wirklich unter Kontrolle, aber was hatte sie zu verlieren? So, wie sie das erkannte, hatte Teco seinen Speer nicht mehr in der Hand... würde sie jetzt nichts tun, würde es mit ihm zu Ende gehen. So hatte er immerhin eine Chance. Es war schändlich, dass sie überhaupt so lange gezögert hatte...

Sie hob beide Arme, den Blick so sehr das spärliche Licht es ihr erlaubte auf das Monster gerichtet.

„Ihr Götter des Windmondes... denkt an mich! Lasst mich nicht allein! Rettet diesen Mann!“

Mit diesen Worten ließ sie die ungewohnte Energie aus ihrem Inneren in ihre Hände fließen, die darauf einen Windwirbel entstehen ließen. Schwach war sie nicht... nur schlecht. Sie musste einfach irgendwie treffen...

Ein weiteres, widerliches Knurren und ein darauf folgender Schrei Tecos verleiteten sie nach unendlichem Zögern endlich zum Handeln. Nach all dem ergebnislosen Nachdenken tat sie es einfach... einen Augenblick lang erinnerte sie sich an ihren Blutrausch an dem Tag, an dem sie ihren Begleiter kennen gelernt hatte... sie schaffte es nicht, ihm noch einmal so zu verfallen und ekelte sich bei dem Geräusch von zerfetzendem Fleisch. Die Bestie gab einen markerschütternden Schrei von sich, ehe sie sich in Einzelteilen auf der Ebene verteilte. Alaji strauchelte.

Es war mit einem Mal totenstill.

Was... genau war das gewesen? Welches Monster hatten die Himmelsgötter ihnen da nur geschickt? Hoffentlich waren sie ihr nicht böse, weil sie es vernichtet hatte, und schickten noch Grausameres nach...

Der staubige Boden knirschte, als sie etwas nach vorn trat.

„Teco...?“

Er stöhnte leise. Irgendwie schienen es die Tiere aber auch wirklich auf ihn abgesehen zu haben... es war beinahe ironisch, als die Wolken den Windmond freigaben und sie in dem grünlichen Licht erkennen konnte, dass das Monster sich hauptsächlich an dem ohnehin verletzten Bein zu schaffen gemacht hatte. Ansonsten war der junge Mann bis auf ein paar Kratzer unversehrt, aber das reichte nun auch wirklich.

Er versuchte sich vor Schmerzen zu krümmen und jammerte auf seiner Sprache irgendetwas Flehendes und Alaji strich ihm unbeholfen kurz durchs Haar. Sie hoffte, sein Bein war wieder herstellbar... sie war zwar als Heilerin begnadet, aber völlig ohne Mittel irgendwo in den Bergen sah es für sie auch schlecht aus. Dennoch... so viel sie über die Menschen wusste, hätte diese Wunde für Teco den Tod bedeutet, wäre er nun in seinen eigenen Reihen gewesen. Sie hätten ihn nicht versorgen können... und ihn deshalb von seinen grausamen Qualen erlöst. Eine vernünftige Entscheidung an sich, aber die Magierin wollte es versuchen.

Als sie ihn auf den Rücken drehte, heulte er auf wie das zerfleischte Wesen zuvor, mit dessen Blut er im Übrigen über und über bedeckt war, nicht weniger als Alaji, die nicht einmal bemerkte, dass sie ihren wertvollen Hut verloren hatte.

Das Bein war mit Fleischwunden übersät, zum Teil kaum weniger zerfetzt als das Tier, das daran Schuld war, und die junge Frau schrie einmal ungehalten auf vor Wut, als sich ausgerechnet, als sie mit ihrer provisorischen Behandlung beginnen wollte, eine neue Wolke vor den Windmond schob und sie mit einem Mal wieder kaum etwas sah. Es war übel...
 

„Halt einfach den Mund, ja?“, Kajira lehnte sich müde gegen den Pfahl, an den er gefesselt war, „Du bist echt wahnsinnig.“

Chejat kicherte nur. In dem muffigen alten Zelt war es stockdunkel, man konnte nichts erkennen bis auf einen winzigen Spalt des ansonsten verdeckten Eingangs, durch den man zwischendurch, wenn die Wolken günstig zogen, vereinzelte Sterne sehen konnte. Das einzige, was etwas an die weit entfernte Heimat erinnerte. Und an die gemütlichen Schlaflager zu Hause... hier bekam man auf Dauer schlimme Rückenprobleme, hatte der Rothaarige schnell orakelt und sein Begleiter musste ihm nun, nach ein paar Stunden, wirklich zustimmen.

„Wenn nicht heute, dann in den nächsten Nächten... wetten?“

Der Jüngere schüttelte nur den Kopf. Noch immer war dieser Spinner der Meinung, dass dieses besonders primitive Exemplar einer Menschenfrau seine Schwester gewesen sei... absolut lächerlich. Noch lächerlicher erschien Kajira jedoch, dass er nun keinen Finger mehr krumm machen wollte, weil er fest davon überzeugt war, dass sie sie befreien würde. Als ob das so einfach gewesen wäre...

„Diese Wette wirst du verlieren.“

Wenigstens sahen sie wieder ordentlich aus, das musste man den primitiven Weibern lassen. Und die mysteriöse Schwester hatte tatsächlich irgendwo Ähnlichkeit mit Chejat... aber sonst auch nichts weiter. Es war kompliziert. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht zu unwichtig für das Dorf waren... er wollte gefunden werden. Letztendlich war der einzige Grund für sein ungestümes Verhalten der letzten Tage seine Sehnsucht nach Mabalysca...
 


 

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Bla. Ich weiß gar nicht mehr, was in dem Kapitel passiert ist oô

Kann mich mal einer treten? Ich vergesse ständig hochzuladen! Jetzt sind wir von ursprünglich Freitag auf Montag gerutscht!

Gegebenheiten

Kilis Augenlieder waren schwer. Es machte nichts, wenn sie ihr nun zufielen, es gab in dem dunklen Raum ohnehin nichts mehr Neues zu entdecken. Einige Tage waren vergangen, vielleicht waren sie auch schon im neuen Mond, sie wusste es nicht genau. Von dem Zimmer, in dem sie schlief aus, hatte sie bisher noch keinen Mond sehen können. Vielleicht würde es noch kommen... dass sie all zu schnell von hier wegkommen würde, bezweifelte sie mittlerweile sehr, dazu war sie bereits zu lange hier. Wenigstens die Sonne würde sie aufgehen sehen, wie jeden Morgen. Sie würde sich im Waschraum zurecht machen und ihre seltsamen, aber hübschen Klamotten anziehen. Darauf würde sie sich auf das Schlaflager setzen, um auf ihr Essen zu warten. Drei Mal am Tag bekam sie welches. Das war mittlerweile mit das aufregendste an ihrem Leben hier.

Eigentlich durfte sie sich nicht beschweren. Sie war keine Sklavin. Sie war eine Gefangene, aber man behandelte sie nicht schlecht... zumindest oberflächlich nicht. Denn darauf, wie es in ihrem Inneren, ihrem Herzen aussah, achtete niemand. Einschließlich sie selbst... es hätte sie zerstört.

Es war düster, sie erkannte nicht viel, als sie neben sich schielte. Aber in ihrem Kopf hallten Schreie, ihre eigenen Schreie, als sei es gerade einmal einen Tag her, dass sie sie ausgestoßen hatte. Es war länger her...

Ihr habt kein Recht dazu, hört ihr? Ihr habt einfach kein Recht dazu, mich hier festzuhalten!... Fass mich nicht an!

Nicht anfassen... lächerlich. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass er sie nur anfasste, intim anfasste, aber niemals weh tat. Er hatte sie nicht angefasst, wenn sie geschrien hatte, er solle es nicht tun... das hatte er scheinbar verstanden. Aber er hatte es immer und immer wieder versucht... und sie hatte es immer und immer wieder abgelehnt, bis sie gemerkt hatte, dass es ihn weitaus mehr geärgert hatte, als er sich hatte anmerken lassen wollen. Sie wollte weg von hier und wenn man sie schon nicht ließ, dann wenigstens ihre Ruhe... und die hatte sie eigentlich gehabt in ihren edlen, seltsamen Klamotten in dem Raum, den sie sich mit ihm teilte. Es war nichts, was sie hatte verlieren wollen... und so hatte sie es zugelassen und auch nicht wirklich bereut, denn so abscheulich, wie es an sich eigentlich war, kam es ihr bis zu diesem Tage nicht vor.

Mahrran war ein seltsamer Mann, so seltsam wie alles hier in dieser fremden Welt. Er war in etwa genau so groß wie sie und Sanan hätte neben ihm wohl kräftig gewirkt, aber damit war er nicht allein, denn alle die wenigen Männer, die sie hier zu Gesicht bekommen hatte, waren ihm von der Erscheinung her ähnlich gewesen. Und die Frauen schafften es tatsächlich, noch zierlicher zu sein, allen voran Mahrrans Schwestern. Nadeshda sprach manchmal mit ihr, schien sie etwas zu verspotten, aber sie sprach meist zu unverständlich. Mabalysca hatte sie erst wenige Male gesehen, sie hatte ihr immer nur schiefe Blicke geschenkt. Ihr Bruder hatte Kili versucht zu erklären, dass es ihr nicht gut ging, weil irgendwer nicht mehr da war... sie hatte nicht verstanden, wer und warum. Sie hatte auch kein Interesse, es weiter zu erfahren, was gingen sie die Probleme dieser kleinen Prinzessin an?

„Kili... wach?“

Sie seufzte, als sich der junge Mann gähnend zu ihr umdrehte. Er bemühte sich um ihre Sprache... aber dennoch erzählte er ihr nichts. Nichts von ihrem Stamm, nichts von dem, was sie vorhatten oder was draußen geschah. Und sie fragte auch nicht. Sie wollte nicht wirklich mit ihm reden, dass er sich immer mehr von ihrer Sprache aneignete, nervte sie irgendwie. Ihr war einfach nicht nach belanglosen Gesprächen mit ihrem Entführer.

Er verschonte sie allerdings nicht davon, auch nicht in der Nacht, wie jetzt, als er ihr scheinbar interessiert ein paar Strähnen aus dem Gesicht strich.

„Nachdenkt.“, erriet er, ohne eine Reaktion von ihr zu erwarten, „Hat gut... könnte sein schlechter...“

Das wusste sie selbst. Sie schloss leise seufzend die Augen, wagte sich jedoch nicht, sich abzuwenden. Sie wollte nicht, dass er böse wurde... irgendwo war einfach diese Hoffnung, dass der Tag bald kommen würde, der Tag, an dem ihr Bruder die seltsame Tür eintreten und sie hier heraus nehmen würde.

„Keta...“

Sie blinzelte. Keta... er nannte sie oft so, sie hatte keine Ahnung, was es bedeuten mochte. Seine Hand legte sich sachte auf ihre Schulter und drückte sie so mit sanfter Gewalt auf den Rücken, damit er sich über sie beugen konnte. Im Prinzip waren Männer dann doch alle gleich.
 

Und manchmal waren sie sogar tapfer. Zum Beispiel genau dann, wenn sie trotz malträtiertem Bein probierten, aus einem riesigen Gebirge zu gelangen und dabei versuchten, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie dabei am liebsten geweint hätten wie ein kleines Kind.

Von der Hochebene aus hatte man wirklich einen guten Blick über das Land gehabt und so hatten Alaji und Teco endlich einen Weg gefunden, mit dem sie zumindest wieder irgendwo in der Savanne heraus kommen konnten – immerhin ein Anfang. Dabei hatte der junge Mann nur wenig Rücksicht auf sein Bein genommen, die Heilerin war schließlich bei ihm und er konnte das Gestein einfach nicht mehr sehen, so hatten sie sehr schnell, viel schneller als es gesund war, das Plateau verlassen und sich an den Abstieg gemacht. Und der dauerte wie erwartet sehr lang und gestaltete sich mit dem verletzten Bein als sehr unangenehm und schwierig.

Alaji war eine gute Bestien-Frau. Diese Tatsache hatte sich der junge Mann schon sehr bald einfach eingestehen müssen. Er hatte sie entführt und was tat sie? Sie heilte ihn, sie folgte ihm, sie rettete ihm das Leben, obwohl er sie zuvor entehrt hatte und nun half sie ihm bei jeder schwierigen Stelle. Und sie verschaffte ihm ein ziemlich mieses Gefühl – er hatte sich retten lassen, wie ein kleines Kind. So hatte sie ihn in gewisser Weise auch entehrt, aber er bezweifelte, dass sie das ahnte, so nahm er ihr es nicht halb so übel, wie es an sich normal gewesen wäre. Aber was war schon noch normal in dieser seltsamen Welt im hellen Licht unter einem ewig dunklen Himmel, den keinen einzigen Bewohner der Planeten zu stören schien? Er reiste mit einer Kalenao durch ein fremdes Land und hatte keine Ahnung, was aus ihnen werden würde. Sein Speer war zerstört, sein Bein war es auch, aber seine Begleiterin war eine kleine Hexe... das war keine Situation, in der sich ein zumindest halbwegs traditionell erzogener Gewohnheitsmensch wie Teco es war wohl hätte fühlen können. Aber wie hatte Onkel Saltec immer so schön gesagt?

Immer das Beste aus der Situation machen und sich niemals Steine in den Weg legen, auch wenn sie noch so hübsch glänzen.

Hübsch glänzende Steine waren ohnehin nur etwas für Frauen. Er seufzte, als er neben sich schielte, zu der momentan einzigen Frau in seiner Umgebung. Der Weg war im Moment halbwegs passierbar, so dass sie ihn ausnahmsweise nicht stützen musste... das war ohnehin unangenehm, sie war nicht besonders groß. Nein, sie war verglichen mit den weiblichen Stammesmitgliedern sehr zierlich, fast schon reizend. Aber wie bereits an jenem unheilvollen Tag, an dem er sie fast für ihr Leben beschmutzt gehabt hätte, musste er auch nun wieder feststellen, dass ihr lächerlicher Haarschopf das schöne Bild ziemlich zerstörte. Sie hatte bei dem Angriff des seltsamen Tieres wohl ihren Hut verloren, jedenfalls trug sie ihn nicht mehr. Die wenigen dünnen Strähnen waren wirklich bemitleidenswert, so fand der junge Mann. Er würde kein negatives Wort darüber verlieren.

Teco schreckte etwas aus seinen Gedanken, als sie sprach. Er verstand sie natürlich nicht, aber als sie inne hielt und den Blick in den wolkenverhangenen Himmel richtete, wusste er dann doch, was sie meinte. Kalenao hatte Instinkte, die Menschen nicht besaßen. Wenn sie so nach oben stierte, dann hatte das vermutlich mit dem Wetter zu tun... und von Unwettern hatte er bei Leibe genug.

„Meinst du, es zieht etwas auf?“

Im Stamm gab es auch Leute, die sich damit auskannten, er gehörte jedoch definitiv nicht dazu. Für ihn gab es große Wolken und kleine Wolken, aber im Prinzip waren sie in seinen Augen alle gleich.

Alaji wandte den Blick vom Himmel ab und ihm zu. Einen Moment lang sahen sich beide in die Augen und sie schien nur auf einen Hinweis ihrer Götter zu warten, um zu verstehen, was er da sagte, dann griff sie nach seiner Hand und wechselte die Richtung, statt weiter abwärts einen schmalen Pfad nach rechts. Er ließ es geschehen, beschwerte sich nur einmal, als es zu schnell für sein verletztes Bein ging und sie konnte sich denken, was er wollte und minderte ihre Geschwindigkeit etwas.

Der Weg war zwar passierbar, aber irgendwie verunsicherte er den jungen Mann. Der Abhang oberhalb und unterhalb davon war steil, wenn es wirklich ein Unwetter gab, konnte es zu einem Erdrutsch kommen und sie mitreißen... er hoffte, seine Begleiterin wusste, was sie tat. Einen besonders guten Orientierungssinn hatte sie bisher nämlich noch nicht bewiesen...
 

Moconi beobachtete das aufziehende Unwetter sehr skeptisch. Er saß auf einem Stein in der Nähe des Lagers, Calyri direkt neben ihm. Sie hatte sich erlaubt, ihren Kopf an seiner Schulter anzulehnen – und er hatte zu ihrer großen Freude nichts weiter dazu gesagt.

Das Thema, das er anschnitt, missfiel ihr jedoch etwas.

„Sie werden die Suche abbrechen.“, orakelte er mit Blick auf die über dem entfernten Gebirge aufziehenden Wolkenberge, „Die Götter schicken uns schon wieder ein Unwetter, fürchte ich.“

Sie seufzte nur, ohne darauf einzugehen. Die junge Frau wusste genau, worum es ging – vor einigen Tagen hatte der Häuptling eine kleine Gruppe an Männern losgeschickt, um nach Teco zu suchen, die bisher nicht zurückgekehrt war. Teco war offensichtlich von selbst nicht wieder aufgetaucht und Calyri hatte klammheimlich die Hoffnung, wenn man es bei ihr als solche bezeichnen konnte, aufgegeben, ihn je wieder zu sehen, es sollte ihr also nichts mehr ausmachen.

„An sich ist es von Vorteil, wenn sie bald wieder zurück sind.“, sprach der junge Mann da weiter, „Unsere Vorräte gehen zu neige. Wir werden bald weiter ziehen und jagen. Besser wäre natürlich, wenn Teco dabei wäre, wir haben viele gute Männer verloren... aber irgendwie glaube ich nicht mehr so ganz daran, verzeih...“

Die Jüngere sah blinzelnd zu ihm auf, wie er gebannt in Richtung der Berge starrte. Worum bat er sie?

„Verzeih? Nun ja, deine Schuld ist das nicht, außerdem hatte ich nichts weiter mit deinem Cousin zu tun...“

Sie ahnte, dass er das anders sah... das war bereits seit gefühlten Ewigkeiten genau das Problem, dass sie hinter ihre Brüder stellte in ihrer Entwicklung zum vollwertigen Stammesmitglied. Er seufzte kaum hörbar, dann erwiderte er ihren Blick.

„Du bist so etwas wie seine inoffizielle Verlobte, Calyri. Das wissen alle.“

Teco war seit einiger Zeit hinter dem ansehnlichen Mädchen her gewesen und der gesamte Stamm war damit einverstanden gewesen, dass er sich sie als seine Braut ausgesucht hatte. Kein anderer Mann hatte sich seitdem an sie heran getraut, um Teco, der in seinen jungen Jahren durch sein Talent in der Jagd schon höchsten Respekt erlangt hatte, nicht zu beleidigen. Auch Moconi nicht. Nun warteten alle darauf, dass der nun Verschollene endlich um ihre Hand anhielt und die etwas besseren Beobachter hofften für ihn, dass Calyri endlich zur Vernunft fände, und ihm signalisierte, dass sie auch wollte. Bisher war das nicht geschehen.

Die junge Frau war stur.

„Ich werde niemals Tecos Frau.“, schnappte sie auch jetzt, „Ich... ich mag ihn nicht sonderlich. Seine Art ist... nicht das, was ich mir wünsche...“

Sie errötete und wandte sich etwas ab. Vielleicht hätte er eine Chance gehabt, wenn es ihren Häuptling nicht gegeben hätte, vielleicht. Aber so...

Überraschenderweise war auch er es, der dieses Mal an der schwarzen Feder an seinem Ohr zu spielen begann, vermutlich aber eher unbewusst. Dann schüttelte er den Kopf.

„Ich verstehe dich nicht ganz.“, gab er dann zu, „Ich meine... ich kann natürlich nicht denken und fühlen wie eine Frau, aber Teco würde dir ein sehr gutes und angesehenes Leben im Stamm ermöglichen, das ist doch ein Glück! Wenn er wieder auftaucht, dann wirst du ihm zeigen, dass du ihn willst... ansonsten nutze ich meine Autorität als Häuptling aus... sei mir nicht böse.“

Er zuckte zusammen, als sie fauchend aufsprang. Eigentlich war sie eine sehr friedfertige Person, dennoch konnte er ihren Ärger nun irgendwo verstehen, als er bedauernd zu ihr aufsah, noch immer auf dem Stein sitzend.

Ihre Augen glänzten bedrohlich.

„Das kannst du mir nicht antun, Moconi! Nur weil du befürchtest, der Stamm könnte dich für egoistisch halten... so ist es doch?!“

Sie wischte sich mit der Hand hastig über ihr Gesicht und er erhob sich ebenfalls. Allmählich ging sie für eine Frau ziemlich weit...

„Sag mir... sag mir, was du tun würdest, wenn Teco nicht mehr auftauchen würde!“

Sie sah ihn nicht an, als sie auf eine Antwort wartete. Eben so offensichtlich wie das, was Teco wollte, war doch auch das, was sie sich wünschte, oder nicht? Und das wollte sie nicht aufgeben, auch wenn es nicht ihr Recht war, zumindest in den Augen der großen Mehrheit...

Ich weiß nicht, was du an ihm finden magst..., hatte Mefasa ihr vor nicht all zu langer Zeit mitgeteilt, Aber lasse dir das so schnell nicht austreiben. Moconi rennt vor seinem eigenen Glück davon...

Ob es Glück war, wusste Calyri natürlich nicht, aber sie würde dem Ratschlag weiterhin nachkommen.

Ihr Gegenüber seufzte, während man es zeitgleich am Horizont grollen hören konnte. Er hasste Stürme...

„Hör zu...“, setzte er dann an, „Seit 14 Jahren bist du ein Kind der Götter auf dieser Welt, ohne ihnen dafür gedankt zu haben. Du bist lange schon eine Frau, Calyri... Frauen haben Aufgaben. Aber es nützt nichts, wenn sie ihnen nachkommen, ohne Mann und Kinder zu haben, auch wenn es sehr ehrenhaft erscheinen mag, wie du deine Mutter unterstützt, aber das ist auf Dauer nicht gut, für keinen der Beteiligten. Bitte – es ist in euer beider Interesse. Ich will dir nicht weh tun...“

Er sah zu den Wolkenbergen in der Ferne. Irgendwo dort musste auch sein Cousin sein... oder das, was von ihm übrig war. Die junge Frau sagte nichts mehr, hielt den Kopf nur gesenkt.

„Ich muss wieder zum Lager, die Leute warnen, falls sie es noch nicht selbst bemerkt haben...“, sprach der Häuptling dann weiter und wandte seinen Blick in Richtung der Hütten. Die wenigen Menschen, die er spontan erkennen konnte, schienen alle ziemlich beschäftigt...

„Calyri...“

Sie sah deprimiert noch einmal zu Moconi auf und er kam ihr zu ihrer Überraschung entgegen und lehnte seine Stirn sanft gegen ihre. Sie keuchte, als sie seinen warmen Atem mit einem Mal in ihrem Gesicht spüren konnte.

„Wenn Teco wirklich nicht wieder kommt... dann weißt du, was geschieht. Dann weißt du, wessen Frau du wirst... wer um deine Hand bitten wird...“

Die Tatsache, dass er ihre Hand während er sprach zärtlich in seine nahm, ließ kaum Zweifel an der Auslegung seiner Worte.

Sie seufzte leise und von einem Moment auf den Nächsten war der Zauber vorbei, als er von ihr abließ und sich einen Schritt entfernte.

„Aber nur, wenn Teco nicht zurückkehrt. Nur dann.“
 

Es kam nicht oft vor, dass Kili den seltsamen Raum, den sie sich mit Mahrran teilte, verlassen durfte. Letzterer war in der Morgenröte verschwunden, nachdem Shiran ihn und somit auch sie geweckt hatte. Plötzlich hatte er einfach vor dem Schlaflager gestanden und hatte in seiner seltsamen Sprache vor sich hin gesprochen. Ihr Entführer schien zunächst auch irritiert zu sein, dann hatte er sich überrascht erhoben und angezogen und war seitdem mit dem gruseligen Mann unterwegs. Shiran war anders als die anderen Magier, hatte die junge Frau gelernt. Er wusste beinahe alles... vermutlich auch, wie es ihrem Stamm ging – wenn es ihn noch gab. Für Kili machte ihn das nur noch furchteinflößender. All zu viel mit ihr beschäftigen tat er sich aber so oder so nicht, er hatte ihr relativ schnell zu verstehen gegeben, dass sie ihm etwas zu primitiv war. Primitiv... er war nur arrogant. Wie alle hier, die sie kennen gelernt hatte.

Heute war jedenfalls ein besonderer Tag, nicht nur, weil es heftig regnete wie an jenem verheißungsvollen Vormittag, an dem sie die Kalenao getroffen hatten, sondern auch, weil sie aus ihrem Raum gerufen worden war. Genau genommen von der winzigen Mabalysca zu ihrer ebenso kleinen älteren Schwester. Erstere beherrschte im Übrigen kein einziges Wort der menschlichen Sprache. Mehr als „Kili!“ hatte sie auch nicht gesagt, sondern sie nur mit sich gewunken. Sie sah krank aus, hatte die Häuptlingsschwester nebenbei festgestellt, als sie ihr verschüchtert gefolgt war.

Sie war unnatürlich blass und ihre Augen dunkel unterlaufen, schien aber ansonsten körperlich keine Probleme zu haben – es war ihr an sich auch egal. Sie wollte ihre Ruhe, die Magier-Frauen waren ihr unheimlich, noch unheimlicher als Mahrran es war. Mit dem war sie allerdings auch die meiste Zeit zusammen, da verlor sich die Scheu wohl automatisch irgendwann.

Nadeshda ihrerseits saß auf ihrem Schlaflager, in die mit Federn gefüllten Kissen gelehnt. Sie war eben so blass wie ihre jüngere Schwester und sah nicht auf, als die Menschenfrau den Raum betrat und mitten drin zum stehen kam, weil sie nicht wusste, was sie besseres tun sollte. Ihr Blick hing an den Fenstern, an denen der Regen vorbei rauschte... es gab Hölzer, um die Öffnungen zu verschließen, wenn es frisch wurde draußen, eben wie an diesem Tag am Ende eines seltsamen Sommers, aber sie waren alle offen. Kili würde sich nicht wagen, sich in solche Angelegenheiten einzumischen, obgleich sie wesentlich Schlimmeres gewohnt war. Sie war in einer Erdhütte aufgewachsen...

Als die etwas ältere Frau sich ihr dann langsam, wie in Zeitlupe, zuwandte, zuckte sie zusammen unter dem vor Schmerz vernebelten Blick, der sie musterte.

„Bana che Kili...“, begrüßte sie sie mit ungewohnt brüchiger Stimme und neigte tatsächlich den Kopf leicht. Die Jüngere war sich nicht ganz sicher, ob das tatsächlich eine respektvolle Begrüßung darstellte, wie es bei ihr zu Hause üblich war, sie war hier schließlich die Gefangene... und Nadeshda laut Shiran eine Art weiblicher Häuptling der Kalenao.

Die Magierin setzte sich etwas auf, während ihre jüngere Schwester sich auf einem seltsamen Hocker in einer Ecke niederließ und nur schweigend zusah.

„Bana che Nadeshda...“, erwiderte Kili dann leise und ihr Gegenüber strich sich eine lange Strähne hinter die Schulter. Sie seufzte.

„Shiran... kennen du, rai? Kennen du Shiran, weiß ich...“, sie hielt kurz inne, um sich ihre Worte zurecht zu legen, „Sprach ich mit Shiran... vor Zeit, Shiran sprach mir bist du eine Frau die machen kann... ähm... gut. Etwas.“

Kili hob beide Brauen. Machen kann gut? Nur weil es Worte ihrer Sprache waren, hieß das nicht, dass sie sie auch deuten konnte... Nadeshda erriet, dass man sie nicht verstand und startete einen neuen Versuch.

„Wenn bist... harc, ist krank Mensch, rai? Wenn ist krank Mensch du kannst machen gut?“

Das erschien schon einleuchtender. Kili fasste sich stirnrunzelnd an den Kopf. Heilen meinte sie... sie mochte zwar primitiver denken als ihre Entführer, doch ein Missverständnis drängte sich ihr sehr schnell zwingend auf – die Interpretationen von Heilung konnten ziemlich weit auseinander gehen. Wunden konnte man heilen, wenn sie nicht zu tief waren... Krankheiten, wenn sie nicht zu schlimm waren... aber dieses „wenn“ gab es immer, zumindest für eine einfache Menschenfrau wie sie es war. Sie war auf die Güte der Götter angewiesen... manche Leiden legten sie über ihre Kinder, damit sie daraus lernten und weise wurden, indem sie sie in unverkürzter Zeit auskurierten. Andere Leiden legten sie über sie, um sie das Himmelreich betreten zu lassen, die Übergangszone zwischen der bekannten Welt und der nächsten Welt, ein unbekannter Ort für alle lebendigen Individuen des Planeten, der ebenso von allen angestrebt wurde. Es war an sich eine besondere Ehre, auf solch einem Wege dorthin zu gelangen, der Preis war jedoch, dass man seinen hiesigen Körper zurücklassen musste, oftmals auf schmerzhaftere Art und Weise als ein schneller Tod durch den Angriff eines Raubtiers. Aber wie sollte sie einer solchen Frau erklären, dass sie ihr eventuell nicht weiter helfen konnte...? Oder fragte sie nur aus Neugierde?! Nein, sie brauchte sie. Gab es hier denn niemanden, der besser war als sie...?

Von plötzlich aufsteigender Panik gepackt wich Kili dem Blick der Älteren auffällig aus.

„Nein.“, log sie dann einfach, „Nein, ich... kann keine Menschen gut machen, wenn sie krank sind.“

Nadeshda zischte. Es war nicht verwunderlich, dass sie die hilflose Lüge sofort durchschaut hatte, denn selbst, wenn sich ihr Gegenüber besser hätte verstellen können, so war sie noch immer eine grandiose Magierin, die auch ohne eine Seherin zu sein ihre Umgebung sehr gut einschätzen konnte... zumindest meistens.

„Soll versuchen!“, schnappte sie, „Versucht! Menschenfrau sprecht nicht wirklich! Anschaut, in Moment!“

Sie deutete mit dem Zeigefinger direkt vor sich, um ihre Gefangene zu sich zu zitieren. Diese blinzelte nur verunsichert. Versucht? Sie würde sicher sterben, wenn sie es nicht schaffte... andererseits starb sie so wie so, wenn sie nicht auf das Wort gehorchte... keine gute Situation.

Sie seufzte und kam der Älteren näher, ehe sie direkt vor ihrem Lager stand.

„Womit... womit hast du Probleme, Nadeshda?“

Kili wagte es nicht, der Magierin in die Augen zu sehen... ihr Blick erschien ihr giftig. Stattdessen musterte sie ihre Füße. Ihr Gegenüber sagte nichts dazu, deutete bloß über deutlich auf ihre angeschwollenen Knie.

Die Jüngere schielte sie verunsichert an. Die Knie? Vom übermäßigen arbeiten kam das wohl nicht. Sie zuckte mit den Schultern.

„Es blutet nicht... vielleicht brauchst du nur Ruhe? Ich kann nichts machen, wenn es nicht blutet.“

Ihre Großmutter hatte etwas gegen Schwellungen gekannt, erinnerte sie sich... sie hatte allerdings nicht mehr die Gelegenheit gehabt, ihre Enkelin einzuweihen. Spätestens jetzt tat Kili diese Tatsache sehr leid.

Sie fuhr zusammen, als Nadeshda laut aufschrie. Vor Wut, sie kannte diese Reaktion bereits.

„Mach es gut, Kili!“, verlangte sie, „Harc karm dafc harc tèv teca zies!“

Die Jüngere fuhr nur zusammen, sich nicht trauend, zurückzuweichen – vor ihr flüchten war eh sinnlos. Mabalysca lenkte überraschend die Aufmerksamkeit auf sich, als sie sich erhob und sich zu ihrer Schwester setzte, ihr darauf irgendetwas mitteilend. Die Ältere schnaubte darauf und zögerte einen Moment, dann schenkte sie der Menschenfrau einen weiteren vernichtenden Blick.

In diesem Augenblick war es, dass die Häuptlingsschwester es zum ersten Mal bereute, nie Interesse an dem in ihren Augen kleinen Mädchen gezeigt zu haben. Mahrran hatte ihr öfter von ihr erzählen wollen... vielleicht hatte er auch weitergeleitet, dass sie seine jüngere Schwester einen feuchten Kehricht scherte, wofür sie sich nun rächen wollte? Kalenao waren kompliziert...

Nadeshda zischte leise.

„Kili.“, begann sie schließlich ein weiteres Mal, „Diese Frau sei krank. Auch hier...“

Sie deutete auf ihren Bauch. Die Jüngere fuhr sich nur verunsichert durch ihr dunkles Haar.
 

Alaji zuckte zusammen unter einem weiteren, unheimlich laut hallenden Donner. Sie waren noch immer im Gebirge, an sich war es nicht verwunderlich, dass es so laut wurde, überraschender fand Teco jedoch die Reaktion seiner Begleiterin darauf. Dass sie sich nicht wohl fühlte, konnte er jedoch nachvollziehen – ebenso wie er wusste, dass es seine eigene Schuld war.

Es war viel geschehen. An sich zu viel... einen Moment lang schweiften die Gedanken des jungen Mannes an die Menschen im Lager. So kannten sie ihn nicht, verletzt, schwach... und ohne jedes Wort des stinkenden Eigenlobs. Alaji wusste ohnehin nicht, was er so sagte... oh ja, es war gut, dass sie ihn so nicht sehen konnten.

Er lehnte sich seufzend zurück an den kühlen Fels. Die Magierin hatte sie unter einen Vorsprung gebracht; es war zwar eng, aber sie waren vor dem prasselnden Regen und den Blitzen, der direkten Todesstrafe der Götter, geschützt. Verständlicherweise verunsicherte die junge Frau die Nähe zu ihrem Entführer wohl auch sehr, das hatte er selbst verschuldet und das wusste er auch.

Er seufzte.

Sie waren beim Abstieg. Irgendwann, früher oder später, würden sie seinem Stamm begegnen... und dann? Einerseits hatte er es dann geschafft... man würde ihn ehren für seine Strapazen, doch was wurde aus seiner Gefangenen? Er wollte gar nicht so genau wissen, was Karem mit den Jungen angestellt hatte, die er mitgenommen hatte und erst recht nicht, was einer jungen Frau wie Alaji es war inmitten der Krieger blühen würde. Andererseits konnte er sie auch nicht einfach gehen lassen... er schätzte einfach, dass sie dafür bereits zu viel wusste. Sie stand im Kontakt zu ihren Göttern und begleitete ihn doch schon eine ganze Weile, das war nicht gut...

An sich gab es nur eine Möglichkeit, ihr die Qualen, die ihr sein Stamm antun würde zu ersparen und gleichermaßen zu verhindern, dass sie ihnen gefährlich wurde...

Sie schielte ihn gewissermaßen verschüchtert an, als Teco sich ihr zuwandte. Er wusste selbst nicht so genau, warum er das aussprechen wollte, was er dachte – auch wenn sie seiner Sprache weitgehend nicht mächtig war, so hatte er inzwischen sehr wohl begriffen, dass ihre Götter ihr des Öfteren auf die Sprünge halfen; irgendetwas in ihm verlangte einfach danach.

„Weißt du...“, begann er, „Als ich dich mitgenommen habe, da hatte ich eigentlich keinen genauen Plan, was ich mit dir anstellen wollte... es sollte bloß grausam sein. Eine gebührende Rache für die vielen guten Männer, die ihr auf grausame, widerliche, vollkommen unwürdige Art und Weise hingerichtet habt, denke ich... ich wollte dich am liebsten genau so schlachten und von deinem Blut trinken, doch wenn ich jetzt so darüber nachdenke... das hätte ich nicht gekonnt. Das Blut eines Tieres schmeckt sehr wohl anders als deines, denke ich...“

Er machte eine Pause und die junge Frau legte verunsichert den Kopf schief. Er wandte sein Gesicht ab.

„Jedenfalls... hast du wohl mitbekommen, dass ich das gar nicht erst versucht habe... ich stand plötzlich irgendwo in den Bergen, ich meine, ich war völlig perplex, ich wusste nicht, was ich tun sollte... zumindest nicht mehr als das wichtigste: Zu versuchen, zu überleben. Das habe ich bisher, auch dank deiner Hilfe...“

So gern er seine Cousine Kili auch hatte, er war sich sicher, wenn er bei seinen Leuten gewesen wäre und an diesem Tage überhaupt noch gelebt hätte, dann ohne seinen Unterschenkel. Er sorgte sich auch so genügend darum, denn auch wenn die Fleischwunden gut verheilten, so waren deutliche Schäden zurückgeblieben. Sein Fußgelenk war kaum zu bewegen und beunruhigender Weise wurde auch sein Knie immer steifer. Er war auf dem besten Wege, ein Krüppel zu werden... aber zumindest nicht so sehr, dass er sich selbst nicht mehr helfen konnte – und das war ihm wichtig. Und wem er das zu verdanken hatte, wusste er, ob es ihm gefiel oder nicht.

Er wagte es errötend, Alaji wieder ins Gesicht zu blicken. Sie hatte den Kopf weiter leicht schief gelegt.

„Jedenfalls... du hast bei mir persönlich vieles in gewisser Weise wieder gut gemacht... bei den anderen nicht... na ja. Ich brauche dich noch... du sollst mich noch etwas begleiten. Und wenn es zu gefährlich für dich wird... und für mich... dann sollen mir deine Götter verzeihen, wenn ich dich töte. Ich... ich werde es so schmerzlos machen wie möglich. Verzeih es mir bitte auch.“

Ihr Blick teilte ihm sehr schnell mit, dass sie keine Ahnung hatte, wovon er gerade geredet hatte. Sie sah ihm aufmerksam in die dunklen Augen, versuchend, irgendetwas daraus zu lesen und Teco überkam das ungute Gefühl, sie würde ihm dabei einen Teil seiner Seele rauben; der Geist eines jeden Menschen wohnte schließlich hinter den Iriden.

Er blinzelte, als sie sich mit einem Mal wieder abwandte und mit ihrem Finger begann, auf dem mit einer dünnen Sandschicht bedeckten Boden herum zu malen. Genau genommen machte sie jede Menge Striche, einfach nebeneinander, ohne ersichtlichen Sinn und er runzelte nur die Stirn. Immerhin zuckte sie bei ihrer seltsamen Beschäftigung unter dem nächsten Donner nicht weiter zusammen...

Bei dem achtzehnten Strich hörte sie auf und sah ihn wieder an. Alaji war eine intelligente Frau, hatte er gelernt, wesentlich intelligenter als er es war, und so sah er in ihrem Kunstwerk lang nicht die simple, an sich unbedeutende Botschaft, die darin steckte und die sie ihm schlicht und ergreifend zum Zeitvertreib mitteilen wollte.

Teco schnaubte.

„Ich will dich wirklich nicht beleidigen, aber malen kannst du echt nicht. Oder nennst du das etwa Kunst? Zeichnungen von Tieren sind Kunst. Zeichnungen von Menschen sind Kunst. Aber bitte, Striche? Du scheinst wirklich unbegabt zu sein oder einfach nicht besonders einfallsreich.“

Das konnte er wesentlich besser, aber auf das Niveau, im Dreck zu malen, ließ er sich nicht herab, er war doch kein Kind mehr. Es gab eine spezielle Farbe, die aus Tierblut und Beeren hergestellt wurde, mit der einige Gesandte seines Stammes einmal im Jahr zu den rituellen Ausläufern des Gebirges reisten, um ihre Generation dort zu verewigen, indem sie die Wände mit Szenen aus ihrem Leben bemalten – das war kreativ und auch noch sinnvoll! So konnte der Stamm immer sehen, wie seine Vorfahren vor vielen Generationen gelebt hatte; im übrigen genau so wie zu der Zeit, in der die Menschen unter Moconis Anführerschaft standen. Teco war bereits mehrmals mitgereist und hatte sich jedes Mal sehr ausgelassen, malen bereitete ihm Spaß. Aber... Striche?

Auf die Lippen seiner Begleiterin schlich sich ein winziges Lächeln, als sie auf ihr Werk zeigte und zu sprechen begann.

„Dafc rhem tios-vetom ce ay.“, sie deutete noch einmal auf jeden Strich einzeln, dann auf sich, „Tios-vetom, rai?“

Er hob beide Brauen, als sie nun auch beide Hände hob und zunächst alle zehn Finger und dann noch einmal acht Finger zeigte und dann wieder auf sich.

„Tios-vetom! Quiadt ay dafc tèv? Quiadt ay dafc Teco?“

Sie lächelte etwas breiter. Achtzehn. Er hüstelte errötend, ein weiteres, abermals lauteres Donnergrollen ganz in der Nähe vollkommen ignorierend. Sie war achtzehn Jahre alt – er kam sich reichlich dämlich vor, das nicht auf Anhieb verstanden zu haben. Eigentlich war es doch selbstverständlich, dass eine scheinbar kultivierte Art wie die Kalenao besser zeichnen konnten als ein paar Striche in den Schmutz, nun war er belehrt.

Er strich sich durch sein rotbraunes Haar.

„Alaji ist achtzehn Jahre alt.“, erklärte er noch einmal, um ihr zu zeigen, dass er sie verstanden hatte, „Alaji ist schon eine erwachsene Frau, die in meinem Stamm längst verheiratet wäre und ein Baby hätte. Das ist bei euch scheinbar anders, sonst wärst du sicher nicht mit deinen Bestien her gekommen. Ach, wen schert das?“

Der junge Mann seufzte und beugte sich etwas nach vorn zu ihrem Kunstwerk, um mit seiner Hand drei der Striche zu verwischen. Auf ihren verwunderten Blick gluckste er.

„Ich bin fünfzehn, auch wenn ich für dich älter aussehe.“

Als Jäger war er natürlich darauf abgerichtet, sehr aufmerksam zu sein. Bei dem Angriff der Magier war ihm durchaus aufgefallen, dass eigentlich die komplette Gruppe ausgesehen hatte wie gerade von Mutters Brust abgewöhnt, aber er hatte sich nicht vorstellen können, dass der Häuptling der Kalenao kleine Kinder auf eine solch anstrengende Reise geschickt hatte. Folglich sahen diese Leute in menschlichen Augen einfach jung aus – und umgekehrt. Wirklich verwunderlich war es an sich nicht, sie waren schließlich nicht von einer Art.

„Dafc Teco tios-tok ce ay, rai.“, teilte sie ihm nickend mit, dass auch sie ihn verstanden hatte und musterte sein Gesicht einmal besonders auffällig, „Dafc Teco ved zawias Etay.“

„Ja ja, du hast vermutlich völlig Recht...“

Der junge Mann schloss seufzend die Augen. Beinahe hatte er vergessen, wie es war, wenn man sich mit jemand anderem verständigen konnte, beinahe – oder er hatte sich einfach an den umgekehrten Umstand gewöhnt.
 

Als es erneut donnerte und ein leuchtender Strahl aus dem Himmel vor dem Felsvorsprung in die Erde traf, war es nicht nur Alaji, die schrill aufschrie. Ein verdorrter kleiner Strauch in der Nähe ging in Flammen auf und Teco keuchte, als seine Begleiterin ihn am Arm fasste, ihm dabei die klauenähnlichen Nägel ins Fleisch bohrend. Sie starrte ihn apathisch an.

„Hafass mece Iapat Hafatrosa en! Daain Stamm vabrennt in Dornenfeuer, Teco!“

Sie keuchte und ließ von ihm ab, sich die Hände an die eigenen Schläfen legend.

Sie rang nach Luft. Und der Jüngere öffnete trotz seines Schocks unmittelbar zuvor verblüfft den Mund.

„Du sprichst ja... was? Wie kommst du denn bitte darauf?!“

Er fuhr sich selbst seufzend durchs Gesicht, dann einen Moment lang den Kopf senkend. Das war zu viel für ihn, wahrlich. Alaji wimmerte.

Als er wieder zu ihr aufsah, schüttelte sie schluchzend den Kopf und zog die Beine an, während vor ihnen unbarmherzig weiter Regen niederging. Er verstand sie... ihm fehlte die Kraft mittlerweile auch. Es war so furchtbar ermüdend...

Er dachte nicht weiter darüber nach, als er sie in dem Augenblick, in dem sie hemmungslos zu weinen begann, einfach in seine Arme zog.
 

„Er ist dumm, oder?“

Sanan hob ahnungslos beide Brauen, während Novaya vor ihrem rothaarigen Gefangenen kniete und ihn anstarrte, während der verzweifelt auf seiner Sprache vor sich hinsprach, gelegentlich auch rief. An sich war der Junge mit dem langen Haar wesentlich anstrengender gewesen bisher, aber momentan schien auch der nur irritiert von seinem Bekannten zu sein.

„Ich weiß nicht... ich glaube, er will irgendetwas.“

Semliya, der am Zelteingang stand, schüttelte nur den Kopf.

„Wir lassen die beiden doch oft genug heraus, um sich zu erleichtern – ich finde das überdies ziemlich gütig, ich meine, das sind unsere Gefangenen, das sind verdammte Menschenmörder, die verdienen es doch, in ihren eigenen Ausscheidungen zu hausen!“

Der Junge schnaubte und trat etwas unruhig hin und her. Sanan wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Irgendwo hatte er schon Recht, sie verdienten wirklich die schlimmsten Qualen, aber wenn er den beiden so in ihre Gesichter sah... in die Augen, die seinen eigenen so ähnlich waren... nein. Er war froh, dass Moconi sich mit Grausamkeiten bisher zurückgehalten hatte – schlimm genug, dass die beiden den ganzen Tag über festgebunden waren. Ihre Handgelenke wollte er nicht haben...

„Wäre es schlimm, wenn ich ihn zum schweigen bringe?“, wollte Novaya unterdessen weiter wissen, „Ohne ihn zu töten, versteht sich.“

Sein Zwilling kicherte nur. Sanan verzog angewidert das Gesicht, als der Jüngere dem jammernden Magier an den Kopf trat, so dass der sein Bewusstsein verlor. Der langhaarige Junge schnappte einen Moment lang nach Luft, doch noch ehe er sich auf seiner seltsamen Sprache hätte empören können, schenkte Novaya ihm ein sehr eindeutiges Grinsen, sodass er hochrot anlief und sein Gesicht tief senkte. Scheinbar hatte auch der mittlerweile etwas von seinem anfänglichen Eifer eingebüßt, aber sie saßen schließlich bereits seit einer ganzen Weile hier fest.

„Ich glaube, irgendwann essen sie freiwillig nichts mehr!“

Semliya lachte herzlich. Sanan senkte den Blick etwas. Diese Überheblichkeit... was hatten die beiden davon, wenn sich die Magier vor Gram dazu entschieden, zu sterben? Das war doch grauenhaft und nützte keinem.

Er wechselte das Thema.

„Wir werden bald das Lager abbrechen, eben um neues Essen her zu schaffen. Wie du angedeutet hast, gehen unsere Vorräte langsam zu neige...“

Novayas Grinsen verschwand, als er dem Älteren einen herablassenden Blick zuwarf, während sein Bruder sich noch immer über die unterlegenen Gefangenen amüsierte.

„Ich gehe davon aus, du arbeitest an einer guten Route?“

Er nickte. Es lag abermals in seiner Hand, aber wirklich beunruhigen tat ihn das nicht. Nicht nur, weil es so schon öfters gewesen war, sehr oft, seit er sich erinnern konnte sogar, sondern auch, weil er es realistisch gesehen nur besser machen konnte, als Karem es zuvor getan hatte. Das war hinsichtlich der Entwicklung der Jugend in seinem Stamm doch ein wirklicher Lichtblick...
 

Sie wurden von lauten Rufen aus ihren Gedanken gerissen. Eigentlich gab es nicht viel, dass das Dreiergespann dazu animieren konnte, das alte Vorratszelt, in das sie sich geflüchtet hatten, als der Regen eingesetzt hatte, zu verlassen, letztendlich siegte die Neugierde dann jedoch doch. Sie ließen den verschüchterten und den bewusstlosen jungen Mann einfach zurück und folgten den aufgeregten Stimmen an den Rand ihres Lagers, wo sich eine ganze Menschenmenge versammelte hatte, in erster Reihe natürlich Moconi als Häuptling.

Porit keuchte, in die Ferne starrend.

„Ist... ist das etwa Teco?“

Sein Neffe legte die Stirn in Falten, die vom Regen ziemlich undeutliche, scheinbar menschliche Silhouette angestrengt anstarrend.

„Nein...“, wagte er dann zu vermuten, „Ich glaube, der müsste größer sein... ich bin mir aber nicht sicher.“

„Das ist nicht Teco.“, erhielt er darauf jedoch überraschend Unterstützung von Karem, „Teco müsste humpeln.“

Raunen ging durch die Menge. Da war ein Fremder – und er kam direkt auf sie zu.
 


 

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Es geht langsam voran und alles ist Linni Schuld! òo Ne, Unsinn <3 *herzt*

Freiheit

Kili traute sich keine Diagnose zu, erkannte Mabalysca. Der Himmel grollte, als auch nach dem heftigen Regen noch dicke dunkle Wolken den Blick auf das unendliche Dunkelblau versperrten und Nadeshda noch immer auf ihrem Lager lag, in einen leichten Dämmerschlaf gefallen. Sie sorgte sich um ihre ältere Schwester... sie sorgte sich ohnehin seit ewigen Tagen.

Sie hatte die Menschenfrau wieder zurück in den Raum ihres Bruders gebracht. Auch der besorgte sie... er hatte in letzter Zeit viel mit Shiran zu tun. Zu viel, für ihren Geschmack... aber wenn sie sich ihre Schwester so ansah, konnte es nur nichtig sein. Es war sehr lange her, dass sie sie so leiden gesehen hatte... damals hatten sich alle, die etwas von Medizin verstanden, darum geschlagen, ein Heilmittel für sie zu erfinden, doch das einzige, was tatsächlich etwas Abhilfe verschafft hatte, war ausgerechnet von einem damals ebenfalls beinahe noch kleinen Mädchen erfunden worden; Alaji. Sie war eine bescheidene junge Frau, sie hatte gar keine Ahnung, wie dankbar das weibliche Dorfoberhaupt ihr in Wahrheit war. Mabalysca war sich beinahe sicher, dass von Nadeshda ausgehend sogar eine Art Zuneigung zu der schüchternen Heilerin bestand. Aber so etwas wie Freundschaften ging sie nichts an. Alaji war nicht da. Und was für sie persönlich noch viel schlimmer war, Kajira auch nicht.

Sie schloss kurz ihre Augen, als der unendliche Ozean ihr eine salzige Brise entgegen wehte, während sie noch immer an einer der Fensteröffnungen im Zimmer ihrer älteren Schwester stand. Es war angenehm draußen, nicht zu heiß... die Sonne war schlecht für die helle Haut der Magier, bei solch bewölktem Wetter war das Dorf viel belebter. Und dennoch unterschätzten viele der einfältigen Fischer die Sonne und waren am Abend doch verbrannt.

Sie selbst war eine Tankana... ihre Haut war noch nie zu lang der ungesunden Strahlung ausgesetzt gewesen. Ob Kajira es nun war? Seine riesige Familie vermisste ihn sicherlich nicht einmal, wenn die überhaupt bereits gemerkt hatten, dass einer fehlte... bei allen Göttern.

„Ich wollte doch nur, dass du mein Mann wirst... dass wir eine Familie gründen...“

Diese Hoffnung konnte sie nun wohl aufgeben. Als sie die Augen wieder öffnete, erschauderte sie bei der brüchigen Stimme der älteren Schwester, die wohl gar nicht so sehr zu dösen schien, wie sie angenommen hatte.

„Das... wirst du... sicherlich. Es wird gut... versprochen...“

Als sie sich zu ihr umwandte, zierte Nadeshdas Gesicht ein winziges Lächeln. Sie würde sich nicht beschweren... sie hatte sich nie beschwert. Nicht einmal darüber, dass sie ihre gesamte Kindheit nicht wirklich hatte gehen können, niemals selbstständig ihre Welt erkunden. Sie war schon immer zu stolz dazu gewesen, um irgendein bekennendes Wort zu dieser Schwäche zu äußern. Dennoch waren ihre Iriden vor Schmerz vernebelt.

Sie trank viel zu wenig, damit sie sich nicht oft erleichtern musste... wenn sie es in der momentanen Situation nicht über sich brachte, aufzustehen, musste es wirklich furchtbar sein.

Die Jüngere strich sich nachdenklich durch ihr hellblaues Haar.
 

„Was... was machst du denn da, Schwester? Mutti sagte, du solltest noch eine Weile liegen bleiben, um zu schauen, ob das jetzt gut ist... ist es gut?“

Das kleine Mädchen steckte sich einen Finger in den Mund, während es beobachtete, wie seine zehnjährige Schwester am Rand ihres Lagers saß und die sorgsam angelegten Bandagen um ihre Knie mit verbiestertem Blick löste. Mabalysca verstand ihre Mutter auch nicht so ganz, Nadeshda musste ständig liegen oder sitzen oder wurde getragen, sie und Mahrran tollten dabei den ganzen Tag herum. Das war doch... abnormal.

„Es ist gut!“, behauptete die Ältere da trotzig, „Die Salben der alten Dame haben dieses Mal sicher gewirkt, ich spüre es ganz deutlich! Tu mir einen Gefallen und reiche mir meine Krücken.“

Die Kleine nickte und reichte ihrer Schwester die beiden Stöcke, die an der Wand lehnten. Diese nahm dankend an und atmete darauf einmal tief ein. Wenn Nadeshda einmal selbst ging, dann brauchte sie diese Dinger als Hilfe. Wieder etwas, was dem kleinen Kind unerklärlich war. Ihr kam das so leicht vor...

Sie legte ihr Köpfchen leicht schief, als die Ältere sich schnaubend aufrichtete und erst einmal auf zittrigen, geröteten Knien stehen blieb, nachdenklich an sich herab sehend. Warum ging sie nicht einfach...?

Sie tat es. Langsam, einen Schritt nach dem anderen, sich verkrampft an die beiden Gehhilfen klammernd, und die kleine Schwester tapste ihr neugierig nach, als sie sich langsam daran machte, zunächst ihr Zimmer und dann ihr Haus zu verlassen. Ihre Eltern waren zu beschäftigt, um ihre Flucht zu bemerken...

„Wohin gehst du?“, wollte Mabalysca dann wissen, als Nadeshda vor dem Serpentinenweg, der ins Dorf führte, kurz inne hielt. Letztere wandte sich nicht weiter zu ihr um.

„ Ich kann wunderbar gehen.“, behauptete sie nur, „Ich werde jetzt einen Spaziergang machen – du bleibst aber hier!“

Dann wagte sie sich an den Abstieg.
 

Noch immer rauschte der Regen unbarmherzig an dem kleinen Felsvorsprung am Rand der großen Berge vorbei. Der Boden davor war inzwischen völlig durchweicht und auch in den nächsten Stunden nach Ende des Unwetters würde er schlecht passierbar sein.

Alaji wusste das. Sie wusste auch, dass sie noch ganz andere Probleme hatten, als sie müde einfach nur da saß, abstruser Weise in die Arme ihres einstigen Entführers geschmiegt. War er das noch immer? Sie war sich nicht so ganz sicher... irgendwie hatten sie doch dieselben Probleme zu diesem Zeitpunkt. Aber herauszufinden, was dieser junge Mann dazu dachte, war sehr schwierig, wo sie ihn doch mit keinem einzigen Wort verstand. Dabei wäre es so nützlich gewesen, sich jetzt austauschen zu können, wo sich die Lage doch unerwartet derart zugespitzt hatte. Zwar waren sie nun endlich beim Abstieg, hatten also einen Ausweg aus ihrem felsigen Gefängnis gefunden, doch saßen sie dank der schlechten Witterung nun erst einmal fest. Sie hatten kaum noch etwas zu essen und Teco würde in nächster Zeit auch nicht für sie jagen können; zum einen war sein einziger Speer vollkommen dahin, zum anderen sein Bein im Moment auch. Und was sie selbst betraf, so wusste sie auch nicht, ob sie ihn in diesem Punkt ersetzen konnte. Sie war eine grauenhaft schlechte Magierin, wenn es nicht um Heilzauber ging, wenn sie es denn überhaupt schaffte, ihre Kräfte einmal so weit zu bündeln, dass es für einen Angriff reichte, dann derart unkontrolliert, dass das Opfer am Ende völlig zerfetzt und unbrauchbar war. Und über körperliche Macht verfügte sie nur, wenn sie in einen Blutrausch geriet, wie bei dem Angriff auf die Menschen aus dem Stamm ihres Begleiters einst. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie auch einen Berglöwen aussaugen können... Eigentlich war das Jagen mit Hilfe von Magie unehrenhaft, hatte sie sogar gelernt. Vor vielen Generationen hatten sich einige ihrer Vorfahren sogar darin verstanden, sich vor jeder Nahrungssuche in einen solchen Blutrausch zu versetzen und hatten die Beute vollkommen ohne Waffen erlegt. Das war definitiv nichts für sie. Früher oder später würden sie jedoch essen müssen...

Sie schielte zu dem komischen Behälter, den Teco aus irgendwelchen Eingeweiden einer vor einer Weile erlegten Ziege gemacht hatte. Darin transportierten sie Wasser – wenigstens dafür war der Regen gut, auch dabei war ihr Vorrat fast leer gewesen. Nun stand das komische Ding vor dem Felsvorsprung und lief beinahe über.

Sein Hersteller schien seinerseits etwas zu dösen, stellte Alaji, selbst etwas dämmrig, fest, als sie den Kopf etwas zu ihm drehte. Es war gut, dass er sie hielt... sie fühlte sich im Moment unsagbar schwach. Nie wieder würde sie ihre Heimat sehen und auch wenn sie sich mit Teco bis auf gewisse Ausnahmen gut arrangieren konnte, so würden sie früher oder später definitiv bei seinen Leuten ankommen und was die dann mit ihr täten, wollte sie gar nicht so genau wissen.

Als er etwas murmelte, erschreckte sie sich kurz und zuckte zusammen. Er öffnete zaghaft die Augen, schielte zuerst das schlechte Wetter vor sich und dann sein verletztes Bein an und stöhnte. Es war ziemlich steif geworden...

Er schob sie leicht von sich, worauf sie sich über seine Verletzung beugte und sie musterte. Er hatte Schmerzen, der Abstieg tat ihm auf Dauer überhaupt nicht gut...

Der junge Mann seufzte leise, als sie den Schmerz mit einem behutsamen Zauber langsam abklingen ließ und nickte ihr darauf dankbar zu. Jetzt musste es nur endlich aufhören zu regnen.
 

Die große Frage war, ob Menschen von Natur aus extrem misstrauisch waren, ob sie aus Erinnerungen lernten, oder ob sie sich einfach nur dumm auf alles, was sie nicht kannten, stürzten, um es zu töten, ehe es sie selbst töten konnte. Prinzipiell war es aber auch egal, so dachte Zerit nicht weiter darüber nach, obwohl die Antwort sich irgendwo in seinen Erinnerungen verbergen musste, als er von allen Seiten von Speerspitzen umgeben war. Sein Blick wanderte über die bösartig verzerrten Fratzen... er musste den Häuptling finden. Er musste ihn direkt ansprechen, denn er brauchte Respekt – obgleich er seine Magie hatte, diese Männer waren in der Überzahl... und sein Volk hatte sich bei ihnen bereits extrem unbeliebt gemacht. Shiran hatte ihn ja bereits vorgewarnt, dass er es würde ausbaden müssen...

Er war ein passabler Magier, seine Götter ließen ihn nicht im Stich. Der große Mann ihm direkt gegenüber war es gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass man einige der Dorfbewohner entführt hatte... und dass die Gruppe an Menschen dem Erkundungstrupp in die Arme gerannt war. Neben ihm, ein junger, unscheinbarer Kerl mit wirrer Frisur – das war der Häuptling.

Wie erwartet zuckte dieser etwas überrascht mit den Brauen, als Zerit seinen Kopf in seine Richtung leicht neigte.

„Ich komme mit einer Botschaft, Häuptling – mehr will ich nicht.“

Er rührte sich nicht weiter, als ein Raunen durch die Reihen ging. Ja, er sprach ihre Sprache, damit hatten sie nicht gerechnet.

Einen Moment später befahl das junge Stammesoberhaupt seinen Männern mit einer einfachen Handbewegung, sich etwas zu entfernen, damit der Fremde sich wohl nicht mehr wie ein Beutetier fühlen musste. Die Speere blieben jedoch weiterhin auf ihn gerichtet, wenn auch aus etwas sicherer Entfernung.

Es wunderte ihn nicht wirklich, so machte es ihm auch wenig aus; sein Gegenüber hatte bereits Interesse gezeigt, so war es unwahrscheinlich, dass sie sich jetzt noch auf ihn stürzen würden. Die Worte, die darauf folgten, hätten ihn allerdings beinahe überrascht.

„Die Bestien bringen uns eine Botschaft und denken, es wäre der erste Schritt, um uns in ihre Gewalt zu bringen. Ich sage, uns interessiert kein einziges Wort, das dir auf der Zunge liegt, und wenn du es wagst, Fremder, gegen meinen Willen, den Willen Moconis, dennoch zu sprechen, dann schneide ich dir selbige eigenhändig ab und esse sie vor deinen Augen auf.“

In einige Gesichter stahl sich darauf ein Grinsen, während Moconi, wie er anscheinend hieß, keine Miene verzog. Er war sehr bemüht darum, Autorität auszustrahlen... als Magier fürchtete Zerit ihn trotz seiner Drohung nur gering.

„Nun gut.“, war die ebenso monotone Reaktion darauf. Loswerden musste er seine Informationen dennoch, wenn er es nicht tat, würde Nadeshda zuhause schlimmeres mit ihm anstellen, als seine Zunge aufzuessen.

„Wenn der Häuptling Moconi es sich so wünscht, dann sei es so.“, er senkte sein Haupt etwas, funkelte sein Gegenüber aber um so giftiger an, ohne ansonsten irgendetwas an seinem Ausdruck zu ändern, „Seine Schwester richtet aus, dass sie ihn vermisst... das gehörte nicht zur eigentlichen Botschaft, ich sprach aus... Mitleid.“

Er wandte sich ab und kehrte dem Häuptling den Rücken. Vor sich sah er nun andere, etwas perplexe Männer, die ihm den Weg versperren wollten. Wie nervig.

„Euer Oberhaupt wünscht meine Botschaft nicht zu hören – also lasst mich nach Hause.“

Zerit wusste, dass ihr Zögern vollkommen begründet war, er erwartete nur die entsprechenden Worte Moconis, die auf ein missbilligendes Zischen schließlich auch folgten.

„Sprich mit mir. Aber allein, folge mir.“
 

Während der Regen die Berge noch fest im Griff hatte und auch das Land der Menschen noch immer betroffen war, stahl sich an der Küste die Sonne schüchtern durch gigantische Wolkenberge und ließ die Felsen an der Küste etwas abseits des Dorfes bizarre Schatten werfen. Dies war nicht Mahrrans Gebiet, obgleich er sich angesichts der mächtigen Brandung direkt vor ihm als Wassermagier mehr als nur wohl fühlte. Erreicht hatten sie diese magische Stelle bloß mittels Shirans Teleport... und magisch angehaucht hatte schließlich der Halb-Blinde sie. Er war ein Götterkind und sein Himmelselement war das Licht... die düstere Trübe war das Gebiet seiner herrischen Zwillingsschwester.

„Sie ist sehr schwach.“, teilte er dabei auch mit, obwohl es der Seher, der direkt neben ihm auf einem der mächtigen Felsen stand und gen Horizont starrte, vermutlich selbst wusste. Nadeshda bevorzugte die Dunkelheit, besonders, wenn sie sich erholen wollte... sie hatte nicht nur den unausgesprochenen Machtkampf um das Wetter gegen ihren Zwilling verloren, nein, sie hatte nicht einmal um ihren Sturm zu kämpfen versucht. Umso überraschter war er, als der Ältere ihm ohne ihn eines Blickes zu würdigen widersprach.

„Ihre Beine schwächen sie, aber Alaji, die dieses Problem behebt, wird sie über kurz oder lang wieder haben. Und mit jedem Tag, der vergeht, gewöhnt sich ihr Körper mehr an ihre Schwangerschaft – du solltest sie nicht unterschätzen.“

Unterschätzen... nein, es war dumm von ihm gewesen, diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen, da hatte Shiran schon recht. Wie peinlich... er wechselte lieber etwas ungalant das Thema.

„Ihre Schwangerschaft, ich hatte bisher keine Bedenken, dass es dem Kind nicht gut gehen könnte, sie scheint es noch immer nicht bemerkt zu haben – obwohl es längst hätte geschehen müssen, so wenig ich mich auch mit der Weiblichkeit auskenne.“

Auch darauf hatte sein Begleiter völlig unbeeindruckt eine passende Antwort parat.

„Sie leidet so sehr unter ihren Beinen, dass sie alle Beschwerden, die ihr Körper zeigt, darauf schiebt. Anders als du kennt sie sich mit ihrem Geschlecht auch aus... sie isst und trinkt kaum, da kann es schon einmal vorkommen, dass die Blutung ausbleibt.“

Er schielte den Blauhaarigen seltsam ernst kurz von der Seite an.

„So lange ihre Götter schweigen – und dazu hast du sie ja bisher erfolgreich gebracht – finde ich es momentan noch nicht verwunderlich, dass sie noch keinen Verdacht geschöpft hat. Es wird noch früh genug geschehen – wenn nicht, dann spätestens, wenn ihr Körper beginnt, sich äußerlich zu verändern. Es... wird sie beschämen, in höchstem Maße.“

Keinen von beiden störte es, als einen Augenblick später die Brandung stärker geworden war und sie von einer großen Welle während sie nicht weit vor ihnen brach nass gespritzt wurden.

Mahrran war etwas verblüfft über seine letzten Worte.

„Es klingt ja beinahe, als hättest du Mitleid mit ihr?“

Er hob beide Brauen auf die schnell folgende Antwort.

„Niemals. Es war einfach nur eine Feststellung, es gab keinerlei nennenswerte Hintergedanken.“

Die kamen seinem Begleiter auf die emotionslos gesprochene Ansage jedoch mit einem Mal. Sie hatten einen Plan, der unter Umständen dem ganzen Dorf – ausgenommen Nadeshda – das Leben mit Glück wesentlich leichter machen konnte. Der dem Volk das Leben gänzlich erretten konnte... fast alles war durchdacht, jedes Schicksal... bis auf eines.

„Gedanken machen ist ein gutes Stichwort.“, überlegte er stirnrunzelnd, obwohl es mehr eine direkte Frage an den Seher war, „Nadeshda... schaffen wir bei Seite. Aber was wird aus eurem Kind? Die Situation, aus der es entstand, ist offiziell zweitrangig, es ist euer Erbe. Schon zwei Mal, wenn du es tatsächlich schaffst, meine Schwester dazu zu bringen, einer Eheschließung zuzustimmen.“

Um die kleine Frau für immer los zu werden, musste man sie zunächst gehörig schwächen, das war laut Shiran die einzige endgültige Lösung – die Heirat würde sie ihres gesamten Einflusses berauben, aber auf Dauer würde er keineswegs mit ihr zusammen bleiben wollen. Er würde sie schnellstmöglich beseitigen, das war ihm inzwischen klar, auch wenn er es nie derart direkt gesagt hatte. Übrig bliebe das Kind – das lebende Mittel zum Zweck.

Oder auch nicht.

„Sie wird es nicht wollen. Ich will es auch nicht, zumindest nicht mit ihr. Ich werde es dem Meer übergeben, um die Götter des Wassermondes zu besänftigen, bei dem, was ich einem so besonderen Kind von ihnen angetan habe.“
 

Das Mädchen keuchte. Beinahe hätte es seine eigenen Götter verflucht, für das, was sie ihm Zeit seines Lebens antaten und keine Erlösung gewährten. Die Salbe der alten Dame hatte abermals nicht geholfen, doch es war ihr egal – sie musste es schaffen, endlich selbstständig zu werden, mit oder ohne Schmerzen, das war auf Dauer gleich. Sie würde zu einer Frau von Rang und Ehre heranreifen, da musste sie es doch schaffen, selbstständig zu gehen! Und das würde auch klappen, denn heute war sie bemerkenswert weit gekommen.

Sie stützte sich auf ihre Krücken und hielt inne. Ihr Haus lag weit hinter ihr, ebenso die felsige Anhöhe, auf der es lag, und die Mitte des Dorfes. Hier am Strand standen keine wirklichen Häuser aus Steinen, wie es für ihr Volk üblich war; hier standen Hütten aus morschem Holz und anderen Materialien, die man in der Gegend so fand oder bei irgendeinem richtigen Bau übrig blieben. Hier lebten die Ärmsten, die ihre Gemeinschaft hervorgebracht hatte... Nadeshda verachtete sie. Wer hier lebte, war absolut unbegabt in der Magie und in fast jedem Handwerk; obgleich sie ein Fischerort waren, gab es auch allerlei andere Fertigkeiten, die ordentliche Bewohner auch beherrschten. In dieser Gegend am Strand fand man von diesen jedoch keinen. Es war ein erbärmlicher Flecken Erde, auf dem sie sich nun befand – es war das Ende der Welt, denn vor ihr, kurz vor den erbärmlichsten Baracken, begann der unendliche Ozean. Diesen wiederum liebte das Mädchen und entzückt von dem Gedanken, dass sie ihn selbstständig erreicht hatte, bemühte sie sich, ihn nun zu erreichen; sein salziges Wasser würde ihre geschwollenen Knie wunderbar kühlen können. Im feinen Sand gestaltete es sich allerdings als reichlich schwierig, mit den Krücken vorwärts zu kommen.

Ein leises Kichern riss ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie erkannte es schon, bevor sie dem Jungen, von dem es stammte, ins Gesicht sehen konnte.

Shiran war zwei Jahre älter als sie und lebte hier gemeinsam mit seiner alten, nutzlosen Großmutter in einer der schäbigsten Hütten der Siedlung. Nun saß er auf der Türschwelle, wenn man es so nennen konnte, und beobachtete sie scheinbar ziemlich amüsiert.

Das Mädchen wandte sich zischend wieder ab. Auf dessen Niveau war sie nicht, sie würde mit keinem Wort auf den hässlichen Jungen eingehen. Shiran war ziemlich groß für sein Alter und weil er extrem dürr war, wirkte er unheimlich schlaksig und unästhetisch. Sein violettes Haar, das er sich gelegentlich planlos mit den Federn von Seevögeln zu schmücken versuchte, stand grundsätzlich unordentlich von seinem Kopf ab und sowohl in seiner oberen, als auch in seiner unteren Zahnreihe entblößte er bei seinem dämlichen Grinsen jeweils eine Zahnlücke. Abschaum sah man scheinbar schon an, dass es sich um welchen handelte, und das nicht einmal durch die minderwertige Kleidung...

Sie senkte die Brauen gereizt, als sie merkte, wie sich der Junge erhob und ihr nachtänzelte. Mit seinen stelzenähnlichen gesunden Beinen hatte er sie natürlich schnell eingeholt, sich seinem Willen beugen tat sie jedoch erst, als er ihr breitbeinig den Weg versperrte und sich zu ihr herab beugte. Er überragte sie mindestens um eineinhalb Köpfe...

„Was sehe ich denn, was sehe ich denn? Die Prinzessin persönlich vor meiner bescheidenen Hütte... ach, dürfte ich die holde Dame zu einer Schüssel Fischbrühe einladen?“, er nahm ihre Hand und küsste sie und ihr Gesicht verzog sich angewidert. Was erlaubte der sich? Das würde sie ihrem Vater erzählen und dann würde dieser Unhold bald im Sand schlafen können!

Er richtete sich breit grinsend wieder zu seiner vollen Größe auf.

„Nein, ernsthaft. Was treibt dich denn hier her?“

Sein Blick blieb auffällig an ihren Krücken hängen und abermals zischte die Jüngere bloß herablassend. Shiran war nicht wie alle anderen und das war etwas, das ihr ungemein unheimlich war, denn auf den ersten Blick merkte niemand es ihm an, wo er sich doch genau so hirnlos zu verhalten schien wie alle anderen Jungs in seinem Alter. Er war ein Seher, seine nutzlose Mutter hatte ihn in einem Moment geboren, in dem die Götter ihm besonders gütig gestimmt gewesen waren und ihn mit einem unsagbaren Wissen ausgestattet hatten. Shiran wusste beinahe alles und er war vermutlich der einzige in der ganzen Umgebung, der etwas von Magie verstand.

„Du weißt es genau!“, warf sie ihm deshalb vor, „Und nun geh mir aus der Sonne und verkrieche dich wieder in das Loch, aus dem du gekommen bist!“

Sie wollte an ihm vorbei, doch er hielt sie auf, indem er sie an der Schulter griff und sie so zurück hielt.

„Immer langsam, bedenke, in wessen Gebiet du dich gerade befindest.“, seine dunkelvioletten Iriden funkelten sie gefährlich an, „Deine Eltern sorgen sich, du wirst es bereuen, weggerannt zu sein, Nadeshda. Ich bringe dich zurück.“

Doch noch ehe er den Teleport, den er beherrschte, anwenden konnte, hatte sie sich losgerissen, ihre Krücken von sich geworfen und stapfte selbstständig weiter auf die See zu.

Er blinzelte ihr nur verblüfft nach.

Sie war ein stures kleines Mädchen. Er war der Seher – aber so sah er nicht aus. Er musste von sich überzeugen, wenn er in seinem Leben noch etwas erreichen wollte... und das wollte er unbedingt. Die Prinzessin würde ihn dafür hassen...

Wirklich verwundert darüber war sie nicht, dass er ihr mit seinen langen dürren Beinen nachgesetzt war und sie noch ehe sie das Wasser erreichen konnte zurückgeschickt hatte.
 

Es vergingen einige Tage, bis das Wetter wieder strahlte wie es im Hochsommer üblich war, auch wenn dieser bereits im Ausklang war. Alles war noch nass, als Teco und Alaji das Grasland am Fuße des letzten Ausläufers des Gebirges erreichten. Beide wussten zeitgleich, dass es nicht Moconis Land war, in dem sie sich befanden... es war das fremde Land hinter dem großen Fluss, den sie ganz unbemerkt irgendwann in den Bergen überquert haben musste. Es war eine seltsame Umgebung, in der Ferne waren bewachsene Hügel zu sehen; etwas, das keiner von beiden aus ihrer jeweiligen Heimat so kannte. Und dennoch fühlten sie sich hier sicherer als noch einige Tage zuvor, obgleich sich ihre Probleme nicht in Luft aufgelöst hatten.

Alaji bückte sich und berührte den kühlen Boden des heran gebrochenen Morgens. Dieses Land war kein schlechtes Land, wenn auch nicht das Beste, das ihre Welt zu bieten hatte. Es gab Wild... nun mussten sie sich noch nach Obsidianen umsehen und darauf hoffen, etwas zu finden, woraus sich dann ein Speer basteln ließ – damit kannte sich die junge Frau trotz aufmerksamer Beobachtung nur wenig aus. Sie würde natürlich dennoch versuchen, zu helfen... vielleicht fand sie hier auch etwas, das ihr bei der Behandlung ihres Begleiters helfen konnte. Das war nämlich der nächste Punkt...

Sie senkte mitleidig die Brauen, als sie ihn beobachtete, wie er an ihr vorbei humpelte, sein steifes Bein nachziehend. Wenigstens seinen Schmerz hatte sie vertreiben können, das beruhigte sie. Aber sie musste eine bessere Lösung finden – sich den Rest ihrer gemeinsamen Zeit nur von Wurzeln zu ernähren, die es in dem neuen Land nicht einmal zwangsweise geben musste, war keine wirklich erstrebenswerte Option, weder für sie, noch für ihn.

Er murmelte etwas vor sich hin, als er sich auf der zumindest zu einer Richtung hin unendlichen Grasfläche umsah. Es gab hier auch Holz, fiel der jungen Frau auf, als sie seinem Blick folgte. Zwar anderes, als bei ihr zuhause, aber es gab welches. Sie mussten die einzelnen Bäume unbedingt überprüfen, ob ihre Äste sich gegebenenfalls als Speerschäfte eigneten!

An sich ging Alaji auch davon aus, dass es das war, was ihren Begleiter einen Moment lang so beschäftigt hatte und etwas besserer Gesinnung wollte sie vorgehen, wurde aber grob zurückgehalten und angefahren, wie es nur Eltern mit kleinen Kindern tun sollten. Das Recht, ihre verletzte Ehre kund zu tun, besaß sie jedoch nicht, selbst wenn sie es gekonnt hätte... als er sie etwas unsanft wieder von sich stieß und an ihr vorbei humpelte, erinnerte sie sich mit Gram an den Tag zurück, an dem er sie beinahe beschmutzt hätte. Teco war noch immer ein menschlicher, barbarischer Mann...

Ahnen, dass er sie nur vor unerwarteten Gefahren aus dem hohen Gras schützen wollte, tat sie in diesem Augenblick nicht.
 

Sie gingen eine weite Strecke. Die ersten Bäume entpuppten sich als äußerst ungeeignet; aus welchen Gründen auch immer waren sie morsch oder verfault und so wie so kurz vor dem kaputt gehen. Besorgniserregend war ebenso die Tatsache, dass sie kaum tierisches Leben vorfanden; bis auf lästige Stechmücken schien die gesamte Landschaft auf den ersten Blick verlassen. Auch wenn Alaji sich nicht mit der Jagd auskennen mochte, so war ihr eine Sache dennoch klar; ein Land, in dem keine Tiere lebten, war auch kein Land für die Kalenao – oder auch Menschen, denn essen mussten beiden Rassen in etwa gleich viel und gleich oft. Dennoch hatte sie bei der Gegend ein gutes Gefühl, was sie beinahe etwas ärgerte; wovon sollten sie sich denn ernähren? Von Insekten?

Ihre Frage beantwortete sich von selbst, als Teco aus besonders schlammiger Erde einen Wurm ausgrub, ihn kurz an seiner Weste abwischte und in den Mund steckte. Da war er dann doch wieder, der kleine, aber feine Unterschied.

Etwas unschlüssig war sie ja, als er ihr ebenfalls ein besonders fettes, schleimiges Exemplar entgegenhielt und es offensichtlich nur gut mit ihr meinte, was sein Grinsen ihr verriet und auch ihre Götter hießen sein Handeln gut. In ihrer ersten Zeit hatte er öfters so gegrinst, fiel ihr nebenbei auf, in der Zeit, als sein Bein noch nicht völlig verstümmelt gewesen war. Er war ein tapferer Mann, in seinem Stamm musste er sehr geachtet sein. Und dabei war er noch blutjung...

Als sie errötend ihr Haupt senkte und ihm klar wurde, dass sie nicht annehmen würde, steckte er sich das Tier schulternzuckend selbst in den Mund und setzte seine Reise mit dem Hinkebein fort.

Irgendetwas, das Alaji nicht bemerkte, hatte er wohl gesehen; zumindest schien er ziemlich guter Dinge zu sein, zumindest so lange, bis sich auch dieser Tag dem Ende neigte und ziemlich schnell klar war, dass sie auf dem sumpfigen Boden kein Feuer würden entzünden können. Und kein Feuer konnte tödlich sein, doppelt, wenn noch immer keine Waffe vorhanden war und der jungen Frau gefiel der Gedanke, dass ihrer beider Verteidigung nun in ihren Händen lag, gar nicht.

„Dieses Land ist ein einsames Land und deinen Stamm haben wir noch immer nicht gefunden.“, sprach sie, als die Welt nur noch von fahlem Mondlicht erleuchtet wurde. Teco hockte etwas angespannt neben ihr in einer Mulde vor ironischer Weise verdorrtem Gestrüpp und durchstreifte die Umgebung immer wieder mit seinen scharfen Augen. Als sie sprach, ließ er ihr so auch nur einen kurzen Seitenblick zukommen. Da er sie eh nicht verstand, war es belanglos, ob er ihr lauschte, so redete sie weiter.

„Ich nehme an, wir werden den großen Fluss suchen, nicht wahr? Lass mich nachdenken, wir müssen nach Norden, um ihn zu finden? Ich will ihn gar nicht finden, um ehrlich zu sein, dein Stamm wird mich entehren, beschmutzen und versklaven, wenn ich Glück habe... tut mir Leid, was ich deinen Leuten zutraue, Teco, aber ich habe es so im Gefühl, verzeih mir.“

Als er sich nun etwas länger von der vollkommen friedlichen Umgebung abwandte und ihr in das spärlich erhellte Gesicht sah, hatte ihr Blick etwas deprimiertes, das sie nicht vor ihm verstecken konnte. Ihr Leben war vorbei, das wusste sie. Die Zeit, in der ihr Begleiter sie noch mit etwas Respekt behandelte, war pures Herauszögern der Grausamkeiten, in denen ihr Leben ein jähes Ende finden würde. Vielleicht hätte sie es einfach selbst zu Ende bringen sollen, aber das war zum einen zu unehrenhaft und zum anderen fehlte ihr dazu definitiv der Mut. Sie senkte ihr Haupt etwas.

„Es tut mir übrigens Leid, wegen deinem Bein... dass ich nichts Anständiges tun konnte...“

Das erzählte sie ihm oft und irgendwie war es doch zum Haare ausreißen, dass auch hier nichts wuchs, was ihr bei seiner Behandlung helfen konnte. Haare ausreißen war bei ihr überdies dann jedoch eine reichlich schlechte Option.

Sie seufzte leise, als sie seine Stimme vernahm. Zu oft hatte sie sich schon gefragt, was er ihr so sagte den lieben langen Tag über, selten nur hatten ihre Götter sie in die richtige Richtung gelenkt, aber wirklich verstanden hatte sie ihn nie. Immerhin klang er nicht erbost, das war gut.

Er ließ seinen Blick ein weiteres Mal über die noch immer vollkommen ruhige Umgebung schweifen, ehe er etwas näher zu ihr rutschte und sie in seine Arme zog wie einige Zeit zuvor bei dem großen Regen, als sie versucht hatten, das Gebirge zu verlassen.

Alaji schielte ihn verblüfft an, ohne sich zu wehren. Er hatte sie missverstanden... aus ihrem Tonfall heraus hatte er wohl angenommen, sie würde sich fürchten, vermutlich vor der momentanen Situation, und abermals bemühte er sich darum, ihr Sicherheit zu vermitteln.

Er war ein guter Mann... die junge Frau war sich ziemlich sicher, dass es dem entführten Menschenmädchen bei Mahrran nicht so gut ging wie ihr bei Teco, der ihr nun gedankenverloren durch das dünne Haar strich und so unwillkürlich immer wieder ihre blanke Kopfhaut berührte, was ihn wohl mehr irritierte als sie.

Sie belächelte diese Tatsache bitter. Wie sie es bedauerte, ihren Hut verloren zu haben... sie fühlte sich ihm etwas ausgeliefert, wo ihr dürftiger Haarschopf ihr mehr als peinlich war. Darauf folgte einer der wenigen Augenblicke, in denen sie ganz froh darüber war, ihn nicht zu verstehen. Sein eigenes Haar war dicht wie der Pelz einer Raubkatze, ein solches Problem kannte er nicht. Die Frauen in seinem Stamm hatten sicher auch alle schönes, volles Haar...

Sie seufzte deprimiert und er zog sie noch dichter zu sich, bis sie beinahe auf seinem Schoß saß und sie aus ihrer Trauer um die wenigen Strähnen auf ihrem Kopf doch etwas glucksen musste.

„Sag, langsam bekomme ich das Gefühl, dass du Angst hast!“

Auf ihr erheitertes Gesicht kehrte auch in seines das selbstbewusste Grinsen wieder, das sie an ihm kennen gelernt hatte. Er legte zufrieden den Kopf etwas in den Nacken.
 

„Ich will sterben...“

Chejat drehte müde den Kopf zu seinem Mitgefangenen, der kraftlos an seinem Zeltpfeiler hing. Die Zeit verging und jeder Tag war gleich... unterschwellig grausam. Man gab ihnen Abfall und die einzigen Augenblicke, in denen sie richtiges Licht zu Gesicht bekamen, waren, wenn man sie zum Erleichtern nach draußen ließ. Was allerdings auch gelegentlich vergessen wurde...

Kajira murmelte mit verschleiertem Blick weiter. An sich hatten sie sich nichts mehr zu sagen, es gab nichts mehr, was es wert war, ausgesprochen zu werden. Und dennoch lag ihm etwas auf den Lippen... etwas Spöttisches.

„Wo ist sie, deine ach so tolle Schwester...? Sie versteht nicht nur uns nicht, sondern nicht einmal ihre eigenen Leute, diese dumme Frau... oder Zerit. Ich glaube, es war Zerit, nicht? Er hat uns auch nicht geholfen...“

Mehr schlecht als recht hatten sie mitbekommen, dass jemand von ihrem Volke irgendwann in letzter Zeit mit dem Häuptling gesprochen hatte – und da kam man nach kurzer Überlegung bloß auf Zerit, denn alle anderen, die dazu in der Lage gewesen wären, waren sich sicher zu fein, ihr Dorf zu verlassen. Ob er es nun gewesen war oder nicht, obgleich er weiter gekommen war als die beiden Gefangenen (die das Stammesoberhaupt noch nie zu Gesicht bekommen hatten), hatte es ihnen wenig gebracht – er war abgereist, ohne auch nur in ihre Nähe zu kommen.

Und Mefasa, das war der unscheinbare Namen der jungen Frau, die in Verdacht stand, aus irgendwelchen nicht nachvollziehbaren Gründen Chejats Schwester zu sein, schien an irgendeiner dämlichen Störung zu leiden, denn sie ging so gut wie überhaupt nicht auf andere ein, weder auf die beiden Magier, noch auf ihre Mitmenschen. Hilfe war so auch nicht wirklich von ihr zu erwarten...

Und wenn sie denn einmal miteinander sprachen, dann war es das, was Kajira dem wenig Älteren immer wieder gern mitteilte.

Obgleich er da natürlich auf einen wunden Punkt traf, nahm dieser ihm das nicht wirklich übel. Nein, er hatte Mitleid mit ihm...

Nach einer Weile war er krank geworden. Mehr widerwillig hatte man irgendwann ein paar Frauen geschickt, die sich notdürftig um ihn gekümmert hatten, aber wirklich gesund geworden war er bisher nicht. Und das würde er auch nicht werden, denn entweder kannten sich Menschen wirklich kaum mit Medizin aus, oder sie gaben sich mit ihm einfach keine Mühe.

Wenn man sie nicht bald befreite, würde Kajira wohl sterben. Und Chejat grauste vor diesem Augenblick; nicht, dass er den Jüngeren so außergewöhnlich gern gehabt hätte, aber dann war er hier ganz allein unter diesen Verrückten. Und bis schließlich auch er einging, jämmerlich und entehrt, war dann nur noch eine Frage der Zeit.

„Weißt du...“, riss er ihn abermals aus den Gedanken, ihn aus seinen fiebrigen, etwas verklebten Augen ansehend, „Ich bin hier mitgegangen, weil ich mich vor den Zwillingen beweisen wollte. Ich wollte, dass sie wissen, dass ich ihrer Schwester ein guter Mann sein kann. Ich wollte, dass sie mich endlich Mabalysca heiraten lassen...“

Er wandte sich ab und hustete. Ja, husten... die Luft in diesem modrigen Zelt war wahrlich grausam, Chejat konnte den Hustenreiz nachvollziehen, auch wenn er nicht wagte zu fragen, was der andere da eigentlich ausspuckte. Als hätte er es nicht gewusst...

„Sag, denkst du, sie wartet noch auf mich? Vielleicht hat der Häuptling gesagt, wir seien längst verspeist, damit uns niemand mehr sucht und... Shiran interessieren wir ohnehin nicht das Geringste. Sicherlich hat sie längst einen... besseren Kerl als ich es bin... oder nicht?“

Er hustete abermals, ehe er den Älteren wieder ansah. Letzterer seufzte leise, versuchend, seine Sitzposition etwas zu ändern. Er war ganz wund...

„Mabalysca ist eine Tankana, folglich also eine sehr begabte Magierin... denkst du denn, ihre Götter würden ihr die Nachricht deines Todes verwehren?“, er schüttelte für sich selbst den Kopf, „Ich denke, sie liebt dich. Sie hat dich noch nicht aufgegeben... halt durch.“

Als er wieder in das leichenblasse Gesicht sah, war er sich nicht ganz sicher, ob es möglich war, dass Kajira seiner Bitte nachkommen würde... selbst wenn er wollte.
 

„Meine Schwester hat dich ziemlich belästigt in letzter Zeit, nicht wahr? Dabei wollte sie dich zu Beginn überhaupt nicht... es ist zu spät, nun bist du mein Püppchen.“

Mahrran war es egal, dass es Nachmittag war und man ihn im Dorf erwartete. Er schuldete seinen Leuten eine Stellungnahme; die Zwillinge ließen sich nur noch selten blicken und drei der Dorfbewohner waren noch immer verschwunden, von den Menschen verschleppt. Nadeshda konnte nicht aufstehen, sie war gezwungen, diese Aufgabe ihrem Bruder zu überlassen. Der wiederum würde im Sinne von Shiran sprechen... der nun mit großer Wahrscheinlichkeit in der Nähe seines Hauses ungeduldig hin und her rannte und sich ärgerte, weil man ihn warten ließ.

Sollte er doch schimpfen... in der Rangordnung stand er noch immer über ihm, dachte sich der Blauhaarige amüsiert, während Kili leise stöhnte und ihm durch eben diesen Schopf strich. Eigentlich hatte er sich nur umziehen wollen... und dann hatte er sie gesehen, sein Püppchen, wie es da auf seinem Lager gesessen und sehnsüchtig aus dem Fenster gesehen hatte. An sich war es nur eine schön angezogene Wilde, aber das fiel dem jungen Mann schwer zu begreifen. Er hatte sie gesehen und wie so oft hatte es ihn überkommen und er hatte sie einfach haben müssen. Ihre Rundungen waren unvergleichbar, auch wenn sie durch ihre schmale Statur nicht ganz so zur Geltung kamen, wie die Natur es für sie vorgesehen hatte, hatten die Götter des Wassermondes dem jungen Mann berichtet. Seitdem bekam die Menschenfrau doppelt so viel zu essen wie zu Beginn – amüsanterweise hatte sie mit den größeren Mahlzeiten nicht einmal Probleme. Sie war ein gutes Püppchen, auch wenn Nadeshda sich gelegentlich darüber amüsierte, dass er sie wie eine Ehefrau behandelte... der würde ihr Lachen schon noch im Halse stecken bleiben. Er fletschte bester Laune dank dieses Gedankens seine Zähne und biss der jungen Frau unter sich sanft in den Hals, worauf sie abermals keuchte und die Arme um ihn schlang. Das war das Beste an der Sache; seit einer Weile ließ sie es nicht nur über sich ergehen, nein, sie fand auch Gefallen daran.

Dass es daran liegen konnte, dass der Alltag seiner Gefangenen derart langweilig war, dass sie sich selbst auf diese Prozedur freute, war in seinen Augen keine Möglichkeit. Seinem Auge...

Sie stöhnte und er zischte, als sie langsam zu einem beinahe gemeinsamen Höhepunkt fanden und Kili sich erschöpft in die Felle fallen ließ. Sie schenkte ihm einen vernebelten Blick.

Er kicherte, als er auf sie hinab sah, noch immer mit ihr vereint.

Als er zu ihr sprach, machte er sich absichtlich nicht die Mühe, ihre Sprache zu benutzen.

„Ich werde jetzt gehen... und womöglich wird es ein Schritt sein in eine Richtung, die dir nicht gefallen würde. Ein Schritt, von dem du niemals erfahren wirst... denn am Ende werden deine Leute brennen. Dein Stamm verbrennt im Dornenfeuer, Kili...“
 


 

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War gar nicht so leicht, an mein Kappi zu kommen XD Ja. Lieb und so.

Angebot

Kili missfiel die Einsamkeit. Sie fragte sich, was Moconi wohl tat, ob ihr Stamm noch dort rastete, wo sie ihn verlassen hatte und ob überhaupt noch einer von ihnen am Leben war. Sie konnte sich wahrlich nicht sicher sein… sie fragte sich, ob etwas mit ihr nicht stimmte, dass sie bereits begann, zu vergessen, wie es früher gewesen war. Und dass sie aufgehört hatte, sich zu fragen, wann sie fort von hier käme und weshalb sie hier war. Sie hatte nicht ernsthaft den Eindruck, dass Mahrran ihr in nächster Zeit etwas Böses wollte. Sicher sein konnte sie sich natürlich auch hier nicht… aber wo war schon den Unterschied? Das Einzige, wonach sie sich sehnte, waren die Abende am Lagerfeuer, unter Gemeinschaft von Menschen, die sie kannte, mit denen sie reden konnte und deren Traditionen sie teilte. Frische Luft… manch andere Person aus ihrer Heimat wäre unter der ewigen Gefangenschaft in dem Haus aus Stein längst eingegangen, nur gut, dass sie ohnehin am liebsten in ihrer Hütte gesessen und genäht hatte. Nähen konnte sie hier nicht… Sie musterte seufzend eines ihrer Kleider, als sie es vor sich hielt, weil sie es gleich tragen wollte. Was es für ein seltsamer Stoff war, konnte sie noch immer nicht benennen, sie wusste nur, dass es nicht das Fell eines Tieres sein konnte, denn damit kannte sie sich wirklich aus. Aber war das letztendlich nicht genau so gleich wie alles andere auch? Gedankenverloren streifte sie sich das seltsame, aber hübsche Kleidungsstück über und bemerkte dabei überhaupt nicht, dass sie Besuch bekam. Sie wurde überdies auch oft dazu angehalten, sich zu waschen und umzuziehen, fiel Kili ein. Weil Mahrran sie ständig wollte… er benahm sich, als könnte er ohne sie keinen Tag lang leben; zumindest nicht, wenn er sie nicht berühren konnte, wie es bei ihr zu Hause nur Männer bei ihren Frauen oder der Häuptling bei denen, die freigegeben waren, taten. Es sollte sie nicht mehr stören, viel Abwechslung hatte sie hier ohnehin nicht und im Prinzip war Mahrran genau so ein Mann wie alle anderen auch, trotz seltsamer Haarfarbe und seiner halben Blindheit. „Kili?“
 

Es war Zeit, weiter zu ziehen. Das letzte Wild hatte den Stamm endgültig verlassen, die Umgebung legte langsam ihr unwirkliches Herbst-Gewand an und Sanan gab nun endlich an, mit Sicherheit zu wissen, wohin ihr Weg sie als nächstes führen musste. Die Winter in der Savanne waren nicht wirklich hart; zumindest nicht, wenn die Menschen, die dort lebten, selbige am Nord- und am Südende ihrer Welt miterlebt hätten. So würde die leichte Klimaveränderung sie wie jedes Jahr seit Anbeginn der Zeit in Nervosität versetzen, weil in den wenigen Winterwochen eben doch alles anders war als sonst. Seit Moconi denken konnte, hatte sein Stamm diese Zeit jedoch weitgehend unbeschadet überstanden. Er konnte sich entsinnen, dass sie in seiner frühesten Kindheit gelegentlich sehr viel und weit hatten reisen müssen, um das Wild wieder zu finden, aber seit Sanan zu einem kleinen Jungen herangewachsen war, hatte sich diese elende Sucherei erledigt. Da waren die kommenden Generationen, die ohne diesen kleinen, aber dafür umso scharfsinnigeren Mann klarkommen mussten, wahrlich zu bemitleiden.

„Es riecht nach Herbst. Und Teco ist immer noch nicht wiedergekehrt… ich glaube auch nicht, dass er das je tun wird.“ Moconi wandte sich kurz zu dem Jüngeren um und war nicht wirklich überrascht, dass er ihm Gesellschaft leisten wollte. Auf sein Gespräch ging er nicht ein. Er grinste.

„Wenn du deiner Familie schon nicht beim Abbau der Hütte und dem Verstauen eurer Sachen helfen magst, dann kannst du gern mir zu Hand gehen, Tinash.“ Er richtete sich wieder auf und strich sich ein paar Haare aus der Stirn. Alles allein zu schleppen würde er ohnehin nicht schaffen, hatte er festgestellt. Kili fehlte ihm an allen Ecken… Sein Gegenüber legte unbeeindruckt den Kopf etwas schief. „Was denkst du, weshalb ich gekommen bin? Um dir zuzusehen, wie du dich abmühst? Bitte…“, er erwiderte das Grinsen, „Ich gehe doch gern zur Hand…“ Er schritt an seinem Häuptling vorbei und begann, einige herumliegende Einzelteile der bereits abgeschlagenen Hütte aufzusammeln und mit Sehnenschnüren zusammen zu binden. Tinash war nur wenig jünger als Teco, der das älteste Kind des gemeinsamen Vaters war. Sie ähnelten sich äußerlich sehr, jedoch war der jüngere Bruder in keinem Bereich herausragend gut, wie es der Vermisste einst im Jagen gewesen war – was nicht unbedingt bedeutete, dass er grottenschlecht war. Was Moconi seit jeher an ihm geschätzt hatte, war seine ruhige und bedachte Art und die Tatsache, dass er anders als der vorlaute und angeberische Teco eine ganz und gar sympathische Persönlichkeit war. Seit der übermächtige Schatten seines älteren Bruders nicht mehr über ihm lag, war er oft bei seinem Häuptling, der seine Gesellschaft mehr als gut hieß. Von Calyri hielt er sich in letzter Zeit doch sehr fern, wo ihre Blicke von Tag zu Tag sehnsüchtiger wurden. Er wusste, was sie sich dachte… aber was war, wenn Teco doch noch wiederkehrte? Er würde sich so ehrlos vorkommen. Es war wahrlich schlecht; Moconi wusste nur zu gut, wie groß der Überlebenswille seines Cousins war, zu oft hatte er schon mit angesehen, wie er sich bei der Jagd wissentlich in all zu halsbrecherische Situationen gebracht hatte und nie nennbar verletzt, aber immer als großer Held daraus hervor gegangen war. Tinash war da doch eher zurückhaltend, ebenso wie das Stammesoberhaupt selbst. „Das weiß ich, glaube mir.“, antwortete letzteres darauf schließlich auch, während es selbst mit der Arbeit fortfuhr. Dabei fiel ihm wie zufällig etwas in die Hände, was ihn inne halten ließ. Er schnaubte. „Stimmt etwas nicht?“, sein Helfer sah irritiert zu ihm auf. Beinahe verärgert visierte er den kleinen Gegenstand, den er hielt, an. Sein Cousin lugte ihm über die Schulter. „Ein Meeresstein?!“ „Muschel nennt es sich. Die Bestie hatte sie mitgebracht…“

„Zerit heißt du also… obwohl es belanglos ist, du bist ein Monster, euch Namen zu geben ist Verschwendung.“ Moconi ließ sich auf seinem Lager nieder, während der fremde Magier sich vor ihn auf den Hüttenboden setzte. Er schien sich nicht von der Abneigung des Häuptlings beirren zu lassen und blickte ihn nur aus großen gelben Augen an. Gelb… diese Bestien hatten solch dämonische Farben inne, dass der unbewusst etwas jüngere Mann beinahe erschaudert wäre. Er riss sich jedoch zusammen. „Das mag sein.“, erwiderte sein Gegenüber darauf, „Doch das ist nicht weiter von Belang. Nennt mich, wie ihr wollt.“ Seinem Gesicht war keine Gefühlsregung zu entnehmen, keinen einzigen Gedanken ließ er sich anmerken. Moconi konnte sich nicht so kalt stellen. Er zischte. „Meinetwegen. Und was willst du jetzt hier?! Deine Leute gibt es nur im Austausch gegen meine Schwester.“ Zerits Augenbrauen zuckten kurz. Der Häuptling ahnte bereits, dass es nicht so leicht werden würde – dabei wäre er so froh gewesen, die ungeliebten Gefangenen endlich los zu werden. Selbst angesehen hatte er sie noch nie, sie interessierten ihn auch nicht ernsthaft. „Meine Herrin schickt mich. Es ist nur zweitrangig meine Aufgabe, die von euch Entführten wieder heim zu bringen; ich soll jedoch ausrichten, dass Eure Schwester Kili wohlauf ist. Sie gehört nun meinem Herren und er kümmert sich mit äußerster Sorgfalt um sie.“

Herr, Herrin... was erlaubten die sich?! Der Jüngere sprang ungestüm auf und einen guten Satz auf den ungeliebten Gast zu, so dass er direkt vor ihm zum Stehen kam. Dass er selbst darauf nur damit reagierte, dass er den Kopf etwas reckte, um dem Menschen weiter in sein Gesicht sehen zu können, ärgerte diesen unterbewusst nur noch mehr.

„Unsere Eltern sind tot, das heißt, wenn sich überhaupt jemand anmaßen darf, zu behaupten, Kili sei sein Eigentum, dann bin ICH das! Dein „Herr“ hat sie mir gestohlen und Gnade ihm die Götter wenn er sie mir nicht wieder zurückgibt!“

Beinahe hätte er den Fremden am Kragen gepackt und zu sich auf Augenhöhe gezogen – was einiges an Kraft erfordert hätte, denn Zerit war um einiges kleiner als der Häuptling der Menschen; aber auch nur beinahe. Noch ehe seine Hand ihn erreichen konnte, hatte der Ältere sie in der Bewegung abgefangen und mit unnatürlich mobilisierter Kraft von sich fern gehalten. In seinem Blick fand sich keine Veränderung.

„Der Herr der Menschen versteht etwas falsch, fürchte ich. ICH bin nur ein Bote. Ich richte aus, was man mir sagt, und werde meiner Herrin Eure Antworten übermitteln. Meine Meinung ist weder zu dem Tun seitens der Himmelskinder, noch zu dem von Euch von Belang, also versucht nicht, mich dafür zu strafen. Ich möchte mich nicht wehren müssen.“

Einen Moment verharrten beide so, dann riss Moconi sich hastig los und ließ sich wieder auf sein Lager sinken. Er hatte wohl recht... er durfte sich nicht so aufregen. Das würde keinem der Betroffenen sonderlich gut tun, dass ahnte er. Er seufzte tief.

„Nun.“, kam dann, „Dann weißt du jetzt, was ich davon halte. Du sagtest, diese Nachricht sei zweitrangig, was gibt es denn wichtigeres?“

Der Magier, scheinbar zufrieden mit der jetzigen Situation, antwortete direkt.

„Es geht um das Land, das Ihr bewohnt. Sicher ist Euch bereits aufgefallen, dass auch mein Volk daran Interesse zeigt...“, hier legte er eine Kunstpause ein und beobachtete wesentlich interessierter, als man ihm ansehen konnte, wie der Häuptling seine Brauen darauf bedrohlich senkte. Ja, er hatte viele Männer verloren...

„Wir Kalenao wohnen in einem schönen Land zwischen den Bergen und dem Meer. Nun, es ist so, dass die Götter uns von dort vertreiben wollen. Sie sind der Meinung, uns euch gegenüber viel zu lang bevorzugt zu haben, so sprach unser Seher, und darauf meinte unsere Herrin, ein Tausch sei angebracht.“

Abermals blieben die Gesichtszüge des Magiers gekonnt monoton, so dass Moconi kaum abschätzen konnte, wie viel Wahrheit in seinen Worten lag. Er blieb skeptisch.

„Jaaa...“, entgegnete er zunächst gedehnt und verschränkte die Arme vor der Brust, „Und anstatt dich Sprachtalent gleich zu uns zu schicken, fresst ihr uns bei lebendigem Leibe und entführt meine Schwester – das ist wahrlich ein guter Anfang.“

Er ließ Zerit nicht weiter zu Wort kommen, als er sich erhob und in dem kleinen Bereich, in dem er aufrecht stehen konnte, umher zu gehen begann. So leicht ging das alles nicht...

„Ich bin immer bemüht, meinen Stamm in den Spuren unserer Götter – die wohl auch eure sind – wandeln zu lassen. Es gelingt mir sicher nicht immer, denn anders als ihr stehe ich nicht in direktem Kontakt zu ihnen. Dennoch gibt es einige Grundsätze, die ich niemals missachten werde. Einer davon ist, dass wir nicht mit Fremden handeln. Das ist ein Erfolgsrezept, das sich seit Anbeginn der Zeit bei meinen Ahnen bewehrt hat. Vielleicht wisst ihr von dem Stamm am Horizont, mit dem wir uns seit vielen Generationen dieses gute Land teilen?“

Innerlich überraschte es ihn etwas, als der Magier darauf minimal zuckte und für einen winzigen Moment den Blick abwandte. Das sagte ihm anscheinend etwas; wo er dann aber recht hatte, hatte er einfach recht, er war nur der Bote, wie es schien, einfach jemand aus dem Fußvolke der Bestien, was er dachte, war egal.

Moconi sprach weiter.

„Obwohl es verschiedene Überlieferungen gibt, die besagen, dass wir die selben Urahnen teilen, meiden wir grundsätzlich den Kontakt zueinander – niemand der momentan hier Lebenden hat jemals mehr als eine winzige dunkle Silhouette im Sonnenuntergang von den Mitgliedern des anderen Stammes gesehen und obwohl wir uns voneinander fern halten, wissen wir, dass sie unsere Haltung teilen... anders als ihr haben die nämlich noch nie unseren Kontakt gesucht.“

Etwas Vorwurf schwang eindeutig mit, aber wie erwartet ging der Magier nicht ernsthaft darauf ein. Einzig erkennbar war, dass er sich wohl seine nächsten Worte etwas zurecht legte; was wohl nicht an seiner Sprachfähigkeit lag, denn die war unnatürlich ausgeprägt. Joru, Karem und alle anderen, die die Begegnung mit den Kalenao überlebt hatten, hatten von einer seltsam, gar furchterregenden Sprache berichtet, die sich von der der Menschen vollkommen unterschied. Der Bote jedoch beherrschte die „richtige“ Sprache perfekt, wäre nicht sein abstruses Äußeres gewesen, dann hätte der Häuptling nie vermutet, dass es nicht auch seine Muttersprache war. Er musste reichlich intelligent sein...

„Ich schließe aus Euren Worten, dass Ihr einen Tausch ablehnt. Endgültig, auch ohne Bedenkzeit?“

„Ohne Bedenkzeit.“

Der Mann mit dem grünen Haar erhob sich ebenfalls und abermals fiel Moconi auf, dass er doch außergewöhnlich klein war. Zerit seinerseits kramte in einer seltsamen Umhängetasche herum, die ebenso wie seine Kleidung definitiv nicht aus dem Fell eines Tieres bestand. Viel mehr wurde sie von unbekannten Fasern zusammengehalten...

„Seht Euch das bitte einmal an. Kennt Ihr das?“

Er förderte daraus einen kleinen Gegenstand zu Tage und sein Gegenüber weitete die Augen kurz ungläubig. In seinen Händen lag ein Meeresstein, in seinem Stamm die wertvollsten Schmuckstücke, die es überhaupt gab. Die wenigen, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren und nicht im Laufe der Zeit verschütt gegangen waren, stammten aus einer Epoche, in der die beiden Menschenstämme in dem weiten Land noch vereint an dem großen Wasser im Norden gelebt hatten. Hier, mitten in der Savanne, gab es diese Meeressteine nicht, das machte sie nun so besonders.

Der Fremde sprach weiter.

„Man nennt es Muschel. Da, wo ich lebe, gibt es sehr viele davon... es ist wahrlich ein gutes Land und niemand will es verlassen, doch unsere Herrin ist genau so bemüht wie Ihr, den Göttern so gut zu folgen, wie es ihr möglich ist, daher das großzügige Angebot. Der Herr... war der Meinung, euer Land sei als Tauschmittel nicht genug, so nahm er sich Eure Schwester. Für das rücksichtslose Verhalten der ausgehungerten Gruppe, die viele Menschenleben gekostet hat, entschuldigt er sich jedoch zutiefst. Aus diesem Grund verlangt auch niemand, dass ihr eure Gefangenen zurückgebt, obwohl es die kleine Herrin wohl schmerzt, denn der junge Mann mit dem langen Haar ist wohl ihr Versprochener...“

Moconi unterbrach ihn, dieses Mal wohl unerwartet, als er den Älteren grob am Arm packte und mit sich aus der Erdhütte zerrte, wo sofort die Blicke des halben Stammes auf beiden lagen. Viele hatten natürlich mitbekommen, dass eine Bestie in ihrem Lager eingetroffen war und hatten sich neugierig an des Häuptlings Fersen geheftet. Nach dem Regen war die Luft angenehm frisch, stellte dieser zufrieden fest, als er auch in das nun tatsächlich etwas verärgerte Gesicht Zerits blickte, der sich darauf unerwartet grob losriss. Der Häuptling nahm ihm die Muschel aus der Hand und hielt sie hoch, so dass jeder, der nah genug stand, das kleine Ding erkennen konnte.

„Hiermit, meine Brüder...“, begann er mit lauter Stimme, „...wollen die Bestien uns abspeisen. Sie wollen unser Land stehlen und jetzt, wo sie gemerkt haben, dass wir uns wehren, wollen sie uns in ihre verbrauchte Heimat locken!“

Er warf die Muschel achtlos hinter sich, ohne zu bemerken, dass sie im Eingang seiner Erdhütte landete. Der Magier senkte seine Brauen tief, als die Männer des Stammes teils amüsiert, teils erbost einige Schritte auf ihn zutraten.

„Eure Respektlosigkeit werdet ihr noch büßen.“, prophezeite er düster, ehe er sich vor den Augen der Menschen in dunklem Rauch auflöste.
 

„Du bist schon wieder beunruhigt.“

Tinash seufzte, als Moconi die Muschel mit verhärteter Miene einsteckte. Oft musste er sich Tadel von seinem Cousin anhören und obwohl er wohl auch irgendwo recht hatte, ärgerte es den Häuptling etwas, denn er wusste schließlich nicht, wie es war, wenn man das Oberhaupt eines Stammes war.

Es war definitiv nicht leicht und der junge Mann hätte seinen verstorbenen Vater am liebsten dafür verflucht, dass er ihm eine solche Bürde auferlegt hatte, wo er doch schon mit der einfachen Jagd klammheimlich gelegentlich überfordert war.

„Natürlich!“, feixte er deshalb auch etwas grober als beabsichtigt, „Denkst du, damit werden sich diese Biester zufrieden geben? Hast du gesehen, wie dieser seltsame Kerl verschwunden ist? Die sind uns weit überlegen, vielleicht war es ein Fehler, vielleicht hätte ich einfach zustimmen sollen... wer weiß, möglicherweise ist ihr Land ja wahrlich wunderbar...“

„Nun aber einmal langsam.“, unterbrach der Jüngere ihn da ebenfalls etwas barsch, „Das, was der Bote konnte, können gewiss nicht alle. Oder denkst du, unsere beiden Gefangenen würden ansonsten noch im alten Vorratszelt sitzen?“

Da war tatsächlich etwas dran. Verdammt, die mussten sie dann ja auch noch mitschleppen... er fuhr sich seufzend durchs Gesicht und Tinash lächelte, als er einen Arm um seine Schultern legte.

„Ja... keine Sorge, das wird schon.“
 

Ganz so leer war das Grasland dann auch nicht, hatte Teco festgestellt. Obsidiane gab es zwar nicht, aber sie hatten eine andere Art Gestein irgendwo zwischen den großgewachsenen Halmen in einem weitgehend ausgetrockneten Flussbett gefunden. Es musste ein Nebenarm des großen Stromes sein, warum er in einem solch sumpfigen Land ausgetrocknet war, war ihm schleierhaft, aber ernsthaft interessieren tat es ihn nicht. Äste, die sich zumindest halbwegs für Speerschäfte eigneten, hatten sie bisher gerade einmal zwei Stück gefunden, eine wahrhaft magere Ausbeute, die in seiner eigenen Heimat niemals denkbar gewesen wäre. Er seufzte, als er so zu seinen recht schlechten Speeren sah, die neben ihm lagen. Die Spitzen machten ihm besonders Sorgen; sie hatten sich sehr einfach bearbeiten lassen, für seinen Geschmack eindeutig zu leicht. Wenn er Pech hatte, würden sie sofort abbrechen, sobald sie auf zu dicke Haut trafen. Als Faustkeile hatten sich die hellen Brocken bereits bewiesen; er hatte damit ein seltsames kleines Nagetier erlegt, von dem sie sich kurzzeitig hatten ernähren können und dessen Sehnen die Speere nun zusammenhielten. Dennoch waren sie ganz anders als das, was er kannte; hell und von anderer Struktur. Obsidian fand man auch an den heiligen Hügeln und nicht in Flüssen...

Aber das war nun erst einmal nebensächlich, zunächst einmal waren sie gesättigt und für diesen Tag auch schon weit genug gereist, um sich erlauben zu können, sich auszuruhen. Alaji war beschäftigt, bereits, seit sie dem komischen Nager das Fell abgezogen hatten. Er wusste, was sie tun wollte... sie wollte sich daraus einen neuen Hut machen. Er schielte kurz zu ihr, wie sie einige Meter entfernt auf einem kleinen Stein hockte und die nackten Füße in den Rinnsal baumeln ließ, der von dem einstigen Fluss noch übrig war. Sie wandte ihm den Rücken zu und er hielt sich auch von ihr fern; kurz zuvor hatte sie sich und ihre Kleidung in dem klaren Gewässer gewaschen. Ihr Kleid lag nun am breiten Ufer zwischen vereinzelten Halmen und trocknete in der Sonne, während sie selbst nur ihre seltsame kleine Hose trug. Teco hatte sich ebenfalls gereinigt, er hatte seine Hose allerdings gleich angelassen und sie an seinem Körper gewaschen; sie schien das wohl nicht so sinnvoll zu finden. Vermutlich hatte sie ihm das auch schon mehrfach mitgeteilt, er wusste es ja nicht. Die Tatsache, dass die ansehnliche Frau beinahe nackt war, war es jedoch nicht, die den Blick auf sie zog; zumindest nicht nur.

Als Mann kannte der junge Jäger sich natürlich nicht mit der Verarbeitung von Fell zu Kleidung aus, aber so, wie seine Begleiterin es versuchte, würde es sicher nicht klappen, so viel wusste er sogar durch dürftiges Beobachten seiner Mutter. Sie hatte das Überbleibsel des Tieres nicht einmal bearbeitet; merkte sie denn nicht, dass noch Teile der Haut daran hingen? Bald würden sie vergammeln, das konnte sie sich unmöglich auf den Kopf setzen. Würde sie überdies auch nicht, kam ihm, als er sich kopfschüttelnd wieder seiner eigenen Arbeit widmete, sie bekam das Fell nicht einmal annähernd in Form. Und der Versuch, das Ganze mit Sehnen zu umwickeln, erschien dem jungen Mann auch eher amüsant...

Bei ihr zuhause war alles anders, erklärte er sich das, ihre Kleidung bestand aus seltsamen Fasern und nicht aus den Haaren eines Tieres, woher sollte sie so auch wissen, wie es galt, diese zu bearbeiten? Beinahe hätte er versucht, ihr dürftige Tipps zu geben, aber das hätte sie wahrlich entehrt, so hatte er es gelassen. Außerdem stände ein Hut seinem eigenen kleinen Geschenk auch etwas im Wege...

Er verdrängte den Gedanken an den Mann, den Alaji einst getötet hatte, während er das kleine Stück handwerkliches Können in seiner Hand prüfend musterte. Ja, sie war eine Bestie... aber sie war nicht böse. Zumindest nicht immer. Sie hatte sich gut um sein Bein gekümmert... und bei Kili hatte er sich auch seit jeher gebührend bedankt, wenn sie ihm geholfen hatte, und bei sich zuhause war er niemals in solchem Ausmaße verletzt gewesen. Dabei war die Wahl seiner Aufmerksamkeit eher seltsam, kam ihm, aber irgendwie hatte ihm seine Idee gefallen – wie im Übrigen die meisten seiner Ideen, er war stolz auf sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein.

Nun war es ohnehin schon fertig und nachdem er das letzte Detail mit dem kleinen, scharfkantigen Stein, den er auch aus seinem Land kannte, ausgebessert hatte, erhob er sich und bemühte sich, sich ziemlich lautlos an seine Begleiterin anzuschleichen, was mit seinem steifen Bein allerdings nicht so ganz einfach war. Er schaffte es dennoch, wie auch vor nicht all zu langer Zeit bei dem seltsamen Nagetier und sie zuckte merklich zusammen, als sie spürte, wie er sich an ihrem dünnen Haar zu schaffen machte.

„Teco...?“

Er grinste in sich hinein und ließ sie zunächst wieder los. Sie schlang ihre Arme um ihre Brüste, ehe sie sich zu ihm umwandte und ihm fragend ins Gesicht blickte.

„Quiadt fert tèv?“

Sie merkte sehr wohl, dass ihre wenigen Haarsträhnen sie nicht mehr an den Schultern kitzelten, sondern durch irgendetwas an ihrem Kopf fixiert waren, wagte aber nicht, danach zu tasten; letztendlich wohl auch, weil sie ihrem Begleiter so ihren Oberkörper hätte präsentieren müssen. Er fragte sich, was sie damit für ein Problem hatte; im Stamm führten sich die Frauen zumindest nicht so auf.

Vermutlich lag es an seinem kleinen Fehltritt, kam ihm und er räusperte sich verhalten.

„Es ist ein Kamm... aus einem Knochen, du weißt schon. Na ja... auch das dünnste Haar möchte gepflegt werden... und du kannst es dir hochstecken, wie ich dir gerade gezeigt habe, das ist fast so, als hättest du deinen Hut auf. So, wie du dich da abmühst, wird das ohnehin nichts werden...“

Einige Augenblicke vergingen, in denen sie ihn anstarrte und darauf wartete, dass ihre Götter ihr einen Hinweis auf das, was er ihr mitgeteilt hatte, gaben; dann gab sie es auf und hob schweren Herzens ihre Arme, rot anlaufend, um den Kamm aus ihrem Haar zu ziehen und ihn darauf verwundert zu mustern. Er grinste zufrieden, als sich ein Lächeln in ihr Gesicht stahl.

„Jites, Teco...“, sie wurde im Sprechen immer leiser, als sie den Blick senkte und nur noch ein Murmeln zu vernehmen war. Dem jungen Mann war das gleich. Sie hatte sein Geschenk gut angenommen und damit hatte er sich revanchiert. Gebührend? Er schielte zu seinen weitgehend verheilten Wunden. Er musste sich unbedingt noch mehr überlegen, ihr gutmütiges Lächeln rührte ihn beinahe. Gut, dass niemand ihn so sah...
 

In seinen Gedanken versunken, bekam er überhaupt nicht mit, dass Alaji sich den kleinen Knochenkamm wieder ins Haar steckte und sich erhob, erst, als er ihren weichen Körper an seinem spürte und merkte, wie sie die Arme um seinen Hals schlang, war er wieder in der Realität und schalt sich einen Idioten, denn eine solche Unaufmerksamkeit durfte sich ein Jäger nicht erlauben. Er blinzelte verwundert, als sie ihr Gesicht an seinem Hals vergrub und extrem schnell auf ihn einredete, so dass er sie vermutlich nicht einmal verstanden hätte, wenn er ihre Sprache gekonnt hätte.

Und abermals ärgerte er sich über sich selbst, als er die heftige Umarmung erwiderte und bei dem angenehmen Gefühl ihrer Brüste an seinem Oberkörper nicht vermeiden konnte, dass es in seinem Körper zu kribbeln begann. Er war nun einmal ein Mann und hatte auch männliche Bedürfnisse. Und die kleine Magierin war eine Frau, sogar eine durchaus ansprechende, wie er mehr denn je fand. Sie machte es ihm gerade wirklich schwer...

Als sie den Kopf wieder zu ihm hob und ihn mit einem seltsamen Blick voller Dankbarkeit ansah, überlegte er sich, diese wieder aufs Spiel zu setzen, als ihn das Verlangen übermannte und er sie begierig auf die Lippen küsste.
 

Kili starrte ihr Gegenüber verblüfft an.

„Bana che, Shiran.“, begrüßte sie es artig und verneigte sich leicht, als lebte sie schon ewig das Leben einer Kalenao-Frau. Der Mann mit dem violetten Haar nickte ihr kurz zu, ehe er die Tür hinter sich schloss und endgültig eintrat. Die Jüngere war irritiert; Mahrran war seit sie hier war die meiste Zeit mit dem Seher unterwegs, dass er nun nicht da war und sein arroganter Freund schon – und dann auch noch bei ihr – erschien ihr doch mehr als suspekt. Wollte der sie nun etwa auch...?

Er grinste leicht, als er ihre Gedanken erkannte.

„Ich habe keine Interesse an Menschen.“, belehrte er sie, als sie unwillkürlich einen Schritt zurückgewichen war. Shiran sprach die Sprache der jungen Frau wesentlich besser als die Geschwister, aber dennoch mit starkem Akzent.

Kili errötete etwas ertappt und faltete mit nun gesenktem Haupt die Hände vor dem Bauch, um möglichst gesittet vor dem komischen Kerl zu wirken. Sie musste nichts fragen – er wusste ohnehin, was sie dachte.

„Ich würde Mahrrans Frau gerne um einen kleinen Gefallen bitten.“, kam er schnell zur Sache, dabei einen spöttischen Unterton nicht unterdrücken könnend.

Sein Gegenüber errötete darauf etwas. Seine Frau? Na wunderbar.

Der Magier begann im Raum auf und ab zu gehen.

„Dein... Mann redet gerade mit dem Volk... nun ja. Er ist sehr wichtig für dieses Dorf. Außerdem...“

Er hielt inne und dachte kurz nach, ehe er an anderer Stelle fortfuhr.

„Nein, das ist nicht von Belang für dich. Nun, ich arbeite im Namen desselben Volkes mit Mahrran zusammen... jedoch bin ich nicht so allwissend, wie du vielleicht glauben magst. Tu mir einfach den Gefallen und beobachte ihn, achte darauf, ob er sich hinsichtlich der Beziehung zu Nadeshda verändert.“

Er kam vor ihr zum Stehen und blickte mit einem eigenartigen Funkeln in den dunkelvioletten Iriden auf sie herab. Anders als der Blauhaarige überragte Shiran die junge Frau um ein durchaus erkennbares Stück, auch wenn er verglichen mit den Männern im Stamm noch immer recht klein wirkte.

Sie schielte ihn verunsichert an. Sie mochte ihn nicht besonders... obgleich Mahrran es gewesen war, der sie entführt hatte, war ihre Bindung zu ihm doch wesentlich enger als zu dem arroganten Seher, der ohnehin nur im Begriff war, sie auszunutzen.

Er sprach weiter.

„In nächster Zeit wirst du dieses Zimmer verlassen... und dich in nächster Umgebung frei bewegen dürfen. Du wirst mir öfter begegnen... wenn dir etwas aufgefallen ist, denke ganz fest daran, dann richte ich etwas ein...“

Er grinste und sie senkte die Brauen tief, wagte nun doch, mit ihm zu sprechen.

„Und was hätte ich davon? Mahrran wird nicht zulassen, dass du mir etwas tust, wenn ich nicht auf dich höre.“

Sie wusste, dass sie recht hatte. Die Überlegenheit der primitiven Menschenfrau schien dem Mann nicht zu gefallen und er zischte kurz, ehe er sich das wenige Stück, das er größer war als sie, bückte und ihr ins Ohr flüsterte.

„Ich bin der Seher, Tochter von Saltec... ich weiß alles. Ich weiß, wen du liebst und ich weiß, warum dein Bruder und du Mefasa verabscheuen. Ich weiß auch, wie Sanan zu euch kam, warum seine Mutter ihn als Baby ausgesetzt hat. Übrigens überraschend, dass er so scharfsinnig ist, wo es doch bei euch keinen gab, der mit ihm diese Fähigkeit hätte trainieren können. Wohl eine Gabe...“

Er stellte sich wieder in voller Größe vor ihr auf. Sein Grinsen war zurückgekehrt.

„Für jede Information von dir gibt es eine Information von mir. Töricht, zu denken, ich würde versuchen, ein listiges Weib wie dich auszunutzen. Ich weiß, wo ich stehe, Kili.“
 

„Du stehst da und starrst in den Himmel.“

„Wir schließen daraus, du hast alles gepackt?“

Sanan drehte sich überrascht um, als er die Stimmen der Zwillinge hinter sich vernahm. Manchmal fragte er sich, warum sie zu ihm kamen. Oder warum er zu ihnen ging. Sie mochten ihn nicht, das spürte er mehr als deutlich und er mochte sie vermutlich noch weniger. Sie waren brutal und egoistisch. Sie quälten ihre Geschwister und amüsierten sich über das Leid anderer... kurz huschte sein Blick zu den seltsamen Strichen, die sie sich gegenseitig in die Gesichter tätowiert hatten, das einzige, woran man beide unterscheiden konnte. Novaya und Semliya waren Dämonen, Saltec hätte gut daran getan, die beiden zu vernichten. Und dennoch konnte er sich ihrem Bann nicht entziehen, als wäre er durch ein unsichtbares Band mit ihnen verbunden.

So nickte er, seine Gedanken vor den Jüngeren verbergend.

„Ja, alles gepackt. Und ihr helft nicht zu Hause?“

Novaya grinste.

„In unserer Familie gibt es genügend Hände.“

„Und sie sind hörig.“, ergänzte Semliya, ehe sich in sein Gesicht ebenfalls ein Grinsen schlich. Sanan grinste ebenfalls, als er sich kurz am schwarzhaarigen Kopf kratzte und somit obendrein eine Mücke verjagte, die sich gerade an ihm hatte bedienen wollen.

„Gut, möglich. Aber wie war das? Habt ihr euch nicht vor kurzem verlobt? Ich glaube nicht, dass Mefasa alles alleine abgebaut bekommt in der geforderten Zeit und erst recht nicht, dass sie alles allein tragen kann...“

Er hatte sich schon überlegt, dass er ihr doch zur Hand gehen konnte, hatte diesen Gedanken jedoch schnell wieder verworfen. Er brauchte alle Kraft selbst, um sich nicht vor dem gesamten Stamm zu blamieren, weil er auf halber Strecke zusammenbrach.

Die Zwillinge hoben ihre Brauen. Vielleicht war es das, was sie zusammenhielt? Gelegentlich waren sie einander durchaus von Nutzen.

„Das ist nicht unwahr.“, bestätigte Semliya ihn stirnrunzelnd und Novaya fügte an, „Dann werden wir wohl zu tun haben.“

Sie wandten sich ab und Sanan folgte ihnen ebenso selbstverständlich wie unaufgefordert.

Auf dem Weg zu Mefasas Hütte machte er sich dennoch so seine Gedanken. Gedanken... das war es, was die gleich aussehenden Brüder so unheimlich machte. Man merkte sie ihnen nie an und niemand wusste, warum sie gegenseitig wussten, was in ihren Köpfen vorging, weshalb sie sich immer so perfekt ergänzten. Es war wohl tatsächlich so, wie es in den Sagen bezeichnet wurde; eine Seele, die zwei Körper steuerte und damit doppelt so viel Macht besaß wie ein normaler Mensch. Ob die beiden sich dessen wohl bewusst waren? Vielleicht war es an ihm, es darauf ankommen zu lassen.

„Sagt...“, begann er und beide hielten im Gehen sofort inne und drehten sich zu ihm um, in mit identischen Gesichtsausdrücken ansehend. Der Ältere hielt einen Moment lang fasziniert von den Blicken aus den beiden unnatürlich hellen Augenpaaren inne, ehe er weitersprach.

„Ihr beiden wollt euch eine Frau teilen... dabei seid ihr doch zu zweit. Warum wollt ihr euch damit zufrieden geben?“

Die Gesichter verrieten schnell, dass beide Jungen sichtlich unbeeindruckt waren, als hörten sie solche Fragen zehn Mal am Tag.

„Wir lieben sie beide.“, kam die Antwort schließlich von Novaya und Semliya schnaubte nur, „Wir würden sie uns niemals gegenseitig wegnehmen.“

Die Zwillinge wollten sich schon wieder abwenden und weiter gehen, als ihre Antwort in ihrem ewigen Begleiter eine neue Frage aufrief. Er musterte beide verblüfft.

„Liebt ihr euch denn auch gegenseitig?“

Die Reaktion darauf war interessant, denn obgleich die beiden wohl etwas überrascht waren, starrten sie nicht ihn, sondern sich gegenseitig kurzzeitig aus großen Augen an. Sie schienen trotz ihrer vermeintlichen Gedankenübertragung nicht auf einen passenden Nenner zu kommen und obgleich es Sanan irritierte, dass es ausgerechnet bei dieser Frage geschehen war, kam er zu dem Schluss, dass es sich nicht um eine Seele handeln konnte. Es waren zwei Seelen, zwei Geister, die sich so sehr ähnelten wie das Äußere der beiden Jungen. Und zum ersten Mal sah er die Tätowierungen, die das einzige waren, was sie voneinander unterschied, aus einem ganz anderen Licht.
 

Mefasa war begeistert von der Hilfe, obgleich Sanan nicht sonderlich beteiligt war, aber das verlangte auch niemand von ihm. Jeder wusste schließlich um seine körperliche Schwäche und die Zwillinge verkniffen sich freundlicherweise seit jeher auch sämtliche Kommentare darüber. Im Zusammenpacken erwiesen sich die beiden im Übrigen als äußerst begabt, was sich niemand so ganz erklären konnte – sie ließen doch von klein auf immer irgendwen anderes für sie arbeiten? Die rothaarige Frau sollte es definitiv nicht stören. Ohne Rhik war sie sich verloren vorgekommen, aber langsam begann sie, sich mit dem Gedanken, die Frau dieser beinahe identischen jungen Männer zu sein, anzufreunden. In ihnen steckte mehr als ein einziger kranker, übermächtiger Geist, das wusste sie mit großer Sicherheit.

Beide verneigten sich nach Fertigstellung ihrer Arbeit theatralisch vor ihr und gaben ihr auf beinahe niedliche Art und Weise zu verstehen, dass sie ihr bei der endgültigen Abreise auch beim Tragen helfen würden. Es waren einfache Jungen, nicht mehr... dass man sie so verurteilte, gefiel der jungen Frau nicht. Sie würde sich damit abfinden müssen.
 

„Und nun wollen wir noch einmal zu unserem Häuptling.“, erklärte Novaya Sanan schließlich, als der sich erschöpft über die nasse Stirn wischte. Er hasste seinen schwächlichen Körper, sicher waren selbst die Bestien stärker als er...

Man ließ ihn jedoch nicht dazu kommen, zu fragen, weshalb; Semliya antwortete bereits im Vorraus.

„Unsere Gefangenen werden auch mitkommen und jemand muss sich natürlich um sie kümmern... wir bieten uns an.“

Beinahe hätte der Ältere es nett gefunden... beinahe. Er sagte nichts dazu, als er ihnen ein weiteres Mal folgte. Sie würden gar grausames mit den seltsamen Monstern anrichten, das wusste er.

Moconi fand jedoch überhaupt kein Gefallen an seinen eigenen Gefangenen, die Karem ihm mitgebracht hatte. Wie Sanan vermutet hatte, willigte er ein, als man ihn jenseits dessen, was von ihrem Sommerlager noch übrig war irgendwo in der Wiese gemeinsam mit Tinash fand, der allem Anschein nach vor sich hin döste und gar nichts mitbekam. Der Häuptling seinerseits schien jedoch umso entsetzter, versuchte es jedoch zu unterdrücken, als er schließlich versuchte, unauffällig seine Kleidung zurecht zu rücken und sich daran machte, seinen Cousin zu wecken, damit er zurückkehren konnte, um den Befehl zur endgültigen Abreise zu geben.
 


 

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Ich glaube, diese Woche war gar kein Kappi dran... na egal.

Sehnsucht

Alaji war verwirrt. Es war keine schlechte Verwirrtheit, das nicht, denn ihre Götter hätten sie davor gewarnt, aber seltsam war es dennoch. Ihr Trotz sagte ihr, sie solle nach ihrem Begleiter schlagen, sie solle schreien und im Zweifelsfalle auch ihre schlecht kontrollierte Magie einsetzen, aber es war nur ein geringer, winziger Funke in ihrem Inneren. Als es beim letzten Mal beinahe so weit gekommen wäre wie nun, war es entwürdigend gewesen und sie hatte es nicht gewollt... und Teco auch nicht, also hatte er es gelassen. Jetzt wollte er es... und sie auch, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Vermutlich war es vollkommen verwerflich... aber wer sah sie schon? Shiran? Also wenn sie dem nicht vollkommen gleich war... sie war es ihm, sonst wäre sie längst wieder daheim gewesen.

So gab sie sich wohlig seufzend dem angenehmen Gefühl hin, das der junge Mann verursachte, als er ihre Brüste bearbeitete, ehe er sie begierig auf die Lippen küsste... abermals. Sie wusste nicht, wie es bei den Menschen war... ob es an ihr war, einfach nur still zu halten? Dafür war sie als Magierin nicht gemacht! Ihre Hände vergruben sich in seinem rotbraunen Haar, strichen hinab zu seinem Nacken, über seinen nackten Rücken und verharrten schließlich an seinen Seiten, während seine eigenen Hände ebenfalls an ihrem bleichen Körper hinab glitten. Bleich... sie war doch tatsächlich etwas dunkler geworden, seit sie so unterwegs war, wobei das auch mit einigen schmerzhaften Sonnenbränden verbunden gewesen war. Aber in diesem Moment war das gleich...

Er murmelte etwas in seiner Sprache, als er schließlich von ihrem Busen abließ und sich an ihrer Unterhose zu schaffen machte. Kurz schenkte er ihr tatsächlich einen Blick, der wohl fragend sein sollte... er war es nicht ganz, er sah viel mehr aus wie der eines hungrigen Raubtieres, das sich aus irgendwelchen Gründen zivilisiert benehmen wollte und dies nur mehr schlecht als recht schaffte. Da tat sie ihm lieber den Gefallen und kam ihm etwas entgegen, indem sie ihn mit derselben Begierde, die der in seinen Augen entsprach, angrinste und bereitwillig ihr Becken hob, damit er ihr das für ihn fremde Kleidungsstück besser ausziehen konnte. Teco enttäuschte sie nicht; er zögerte nicht länger und tat das, was ohnehin beide wollten, ehe er auch seine eigene Hose hastig aufband und herunterzog. Dass sie dank des Anblicks errötete, konnte sie nicht vermeiden... aber was hatte sie schon anderes erwartet? Sie bekam, was sie wollte...
 

„Dieser unkooperative, arrogante, widerliche, primitive... Mistkerl!“

Die mühevoll getöpferte Vase zerschellte geräuschvoll an der steinernen Wand von Nadeshdas Zimmer. Zerit sparte sich einen Kommentar, so und nicht anders hatte er sich seine Herrin auch vorgestellt, wenn sie in Rage war... wobei es noch gut gepasst hätte, wenn sie nervös durch den Raum gestampft wäre, aber das ging mit ihren geschwollenen Knien im Moment wohl nicht. Er fragte sich bloß, weshalb sie sich wunderte; Mahrran sprach bereits zum Volk, das hieß, Shiran hatte den Ausgang seiner Reise bereits verraten. Es sollte ihn nicht scheren; Hauptsache, man ließ ihn nun in Ruhe.

Auch wenn er genau wusste, dass ihm das nicht vergönnt war.

Die kleine Frau schnaubte und strich sich hektisch durch ihr langes Haar. Sie musste sich beruhigen... es war nicht so, dass der Seher nichts angedeutet hätte, aber dass dieser Wilde die Frechheit besaß, ihr Volk auch noch derart zu entwürdigen... oh, wenn sie gekonnt hätte, sie hätte sich persönlich darum gekümmert, dem vermutlich viel zu lang gewachsenen Kerl einmal zu zeigen, wo sein Platz auf dieser Welt war!

„Nun ja.“, riss Zerit ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich, als er sich vor ihrem Lager stehend leicht verneigte, „Ich habe getan, was ich sollte. Einen schönen Tag wünsch-“

Er wurde unterbrochen, als seine Herrin sich mit viel Überwindung, aber überraschend schnell erhob und ihn in ihrer unbändigen Wut am Kragen packte und zu sich zog. Der Mann hustete empört, wagte aber nicht, ein negatives Wort zu verlieren.

„SO schnell kommst du mir nicht davon, mein Freund.“, zischte sie da auch schon mit ihrer unangenehmen Stimme, „Du wirst jetzt ein weiteres Mal dahin gehen und wirst folgendes ausrichten: Entweder sie tauschen freiwillig, oder sie werden den Zorn der Götter schon sehr bald zu spüren bekommen! Ich werde ewige Finsternis über sie bringen, wenn sie nicht gehorchen – ach, und bringe Alaji mit!“

Sie schnaubte erbost und er wagte es, sich los zu reißen und einen Schritt zurück zu treten. Seine Brauen senkten sich bedrohlich. Herrin hin oder her, er war noch immer ein Mann... einer, der kaum etwas zu verlieren hatte. Beim ersten Mal hatte er der kleinen Frau den Gefallen getan, weil er möglichen Unannehmlichkeiten aus Bequemlichkeit aus dem Weg hatte gehen wollen, nun schien ihm die ganze Sache so aber noch viel unbequemer zu werden.

„Entschuldige, aber nenne mir bitte einen Grund, weshalb ausgerechnet ICH das noch einmal tun sollte! Ich fürchte mich nicht vor dir, Nadeshda... also was hast du zu bieten?“

Die junge Frau verengte die orangefarbenen Augen zu schmalen Schlitzen. Das gefiel ihr nicht, das war ihm klar, ebenso sehr, wie dass sie wusste, dass er nur schwer zu erpressen war – selbst bei seinem Großvater würde er nicht darauf eingehen, da der wohl ohnehin in den nächsten Monden gehen würde. Und er selbst war sich ziemlich egal...

„Du wagst es...?! Na gut. Aber nur, weil meine Knie bald nachgeben werden...“, sie stand tatsächlich sehr zittrig, „Was könntest du schon wollen...? Nun ja, ich bin nicht kreativ, geh nach draußen; die erste unverheiratete Frau ist dein.“

Zerit hob beide Brauen, als die Ältere sich erschöpfter, als sie je zugegeben hätte, wieder auf ihr Lager sinken ließ.

„Frauen... haben mich nie besonders interessiert.“, gab er zu bedenken und sie seufzte aufgesetzt.

„Nun gut, an mir soll es nicht liegen, dann nimm dir einen Mann. Wenn es dich glücklich macht...“

Sie wusste nicht, woran es lag, dass er sie einen Augenblick lang nur ansah und nachdachte, ehe er schnaubte und sich tatsächlich ein leichter Rotschimmer in sein Gesicht schlich.

„Nein, danke. Da liegt mein Interesse auch nicht, ich...“

„Vergiss es, Frauen gerne, Männer auch, aber KEINE Tiere, mein Guter.“

Die Frau schüttelte sich. Ihr Vater war ein Spinner gewesen, aber dass er seiner Zeit unterbunden hatte, das rar vorhandene Nutzvieh Zweck zu entfremden, war eine wahrliche Bereicherung gewesen, dank dieser Entscheidung hatte es so viele neue Kinder gegeben wie lange nicht mehr.

Zerit räusperte sich verhalten. Das war schon wieder ziemlich unbequem...

„Danke, nicht weiter sprechen. Ich nehme, was mir über den Weg läuft und darf dann selbst entscheiden, was ich damit tue?“

„Meinetwegen, egal was. Solange du mich nicht meucheln willst...“

Und davon ging sie aus, dafür war ihm sein eigenes Sein nicht wichtig genug. Er würde sich nicht wehren, wenn man ihn bestrafte, er würde sich nur weigern, wenn man ihn nicht belohnte.

Er nickte.

„Gib mir Bescheid, wenn ich aufbrechen soll.“
 

Einige Tage waren vergangen, als sich für Chejat und Kajira einiges grundlegend änderte. Eine dürre, schwarzhaarige Frau mit grimmiger Miene gefolgt von den beiden ungeliebten Zwillingen betrat das faulige Zelt und blickte sich kurz düster um. Sie verstanden ihre Anweisung natürlich nicht, die beiden Jungs machten sich darauf jedoch synchron daran, die Fesselung der beiden Gefangenen von dem Gebälk zu lösen, sodass ihre Hände nur noch an einem Strick zusammen gebunden waren, mit dessen Enden jeweils einer der Brüder einen der Magier nun nach draußen führte. Kajira hatte es dabei recht schwer... er war noch kranker geworden und hatte Probleme beim Aufstehen, sputete sich jedoch, als die Frau ihm in den Rücken trat und die Zwillinge ihm etwas Garstiges zuzischten.

Chejat schloss kurz bebend die Augen. Er war ein so schlechter Magier... sein Begleiter war an sich recht talentiert, aber rang im Moment jeden Abend darum, am nächsten Morgen wieder aufzuwachen – sie waren diesen widerlichen Monstern einfach ausgeliefert.

Nicht einmal die frische Luft, die sie auf diese Weise etwas länger als eine Erleichterung lang bekamen, konnte sie wirklich erfreuen. Sie waren so erschöpft... nach so wenig Nahrung absichtlich schnell getrieben zu werden, bekam keinem von beiden.

Vor allem nicht Kajira...

„Du... vermisst deine Frau... und dein Baby... nicht?“

Der junge Mann schreckte auf und schielte zu seinem vermutlich kurz vor dem Ableben stehenden Begleiter, der schwer atmend neben ihm her trottete. Seine Frage wunderte ihn; natürlich vermisste er sie. Er hatte es ihm mehrmals erzählt, außerdem war es selbstverständlich... warum kam das dann ausgerechnet in diesem Moment?

„Natürlich.“, erwiderte er seufzend, „Wie du deine Mabalysca. Für die du das auf dich genommen hast...“

Der Jüngere senkte keuchend den Blick. Er grinste bitter.

„Und es hat sich nicht einmal... gelohnt.“, er schnappte nach Luft, „Ich wollte... ich wollte mich als Mann beweisen... und jetzt ende ich hier in... diesem Land der Barbaren... und konnte ihr nicht einmal mehr sagen, wie sehr ich sie liebe...“

Er hustete, ehe ihm der Zwilling, der ihn vor sich her scheuchte, in den Rücken trat und auf seiner Sprache etwas vor sich hin zischte. Der kranke Magier stürzte zu Boden und schaffte es nicht einmal, sich abzufangen, als seine Arme direkt nach dem Aufkommen nachgaben und er mit dem Gesicht im trockenen Gras der Savanne landete. Die anderen Menschen, die die beiden Gefangenen bisher wenn überhaupt nur aus der Ferne gesehen hatten, ignorierten sie oder schenkten ihnen im Vorbeigehen nur missbilligende Blicke unter ihrem schweren Gepäck.

Chejat schnappte nach Luft, als er stehen blieb, wie es auch sein Treiber tat, der Kajira nun auch anfauchte. Diese Demütigungen... und niemand, der es für nötig hielt, sich darum zu bemühen, sie zurück zu holen. Zerit war da gewesen, aber den Himmelskindern war es wohl nur um das ach so tolle Gebiet gegangen, das für die beiden jungen Männer nun zu einem einzigen Land der Qual geworden war. Es machte ihn wütend und obwohl er geschwächt war brachte es sein Blut in Wallung zu sehen, wie die Zwillinge nach dem todkranken Windmagier traten, ihm an sich gar keine Chance ließen, wieder aufzustehen.

„Ihr verfluchten Maden!“

Auf seinen Aufschrei hin hielt der gesamte Stamm inne und wandte sich geschlossen in seine Richtung; Mütter drückten ihre Kinder an sich, die Väter umklammerten ihre Speere vorsichtshalber etwas fester. Respekt hatten sie scheinbar alle vor ihm, bis auf diese unredlichen Geister von Zwillingsgören, die sich daran erfreuten, sie zu quälen, so schien es. Bloß Kajira rührte sich nicht.

„Ihr haltet euch für toll, was?!“, schrie der Rothaarige den beiden Brüdern ins Gesicht, die ihn gleichermaßen unbeeindruckt musterten, „Ihr denkt, bloß, weil ich kurz vor dem Verhungern stehe und gefesselt bin, hättet ihr Macht über mich? Weil ihr gemerkt habt, dass ich nicht begabt bin mit der Magie?! OH, BITTE! Ich habe euch etwas weit voraus, ich habe Kontakt zu meinen Göttern und ich weiß, dass sie mich nicht verlassen werden! Selbst nach meinem Tod, und ihr werdet für das büßen, was ihr uns antut!“

Einer der Männer schrie auf, als sich sein Faustkeil scheinbar selbstständig machte, sich aus seiner Hand riss und den Strick aus Sehnen und Flechten durchtrennte, der Chejats Handgelenke aneinander fesselte. Erst in diesem Moment schienen die beiden gleich aussehenden Monster zu verstehen, was dieser Umstand für sie bedeuten konnte... den Zeitpunkt, in dem ihre Gesichtszüge entgleisten, konnte der Ältere kaum genießen, denn er zögerte nicht, als er sich auf den stürzte, der nun mit einem sinnlosen Strickende in den Händen da stand. Er war wahrlich unbegabt in der Erdmagie, unter deren Mond er geboren war, aber es war so, wie er es gehofft hatte; seine Götter hatten ihm beigestanden in jenem Moment und halfen ihm darauf auch, seine letzte Kraft in seine Glieder zu konzentrieren... es war der einzige Versuch, den er hatte. Er wusste, dass er seinen Peinigern an sich körperlich unterlegen war, obwohl er sie dank seiner ungewöhnlichen Größe etwas überragte. Er war nicht gemacht für das harte Leben, das sie führten, wenn er nicht gerade in einen Blutrausch verfiel, war es hoffnungslos, etwas gegen sie ausrichten zu wollen – aber wer konnte schon sagen, wann ihn ein solcher Blutrausch überkam?

Er stieß den Schwarzhaarigen um und warf sich zeitgleich auf ihn, die Hände um seinen Hals legend und mit aller Kraft zudrückend.

„Ich werde mich nicht einfach so zu Tode quälen lassen, hörst du?! Nicht ohne dass ihr Schaden davon getragen habt!“

Der Mensch schrie erstickt, strampelte und versuchte verzweifelt, Chejats Hände zu lösen, die mit unerbittlicher Kraft seine Luftröhre zusammenpressten. Sein Bruder kreischte hasserfüllt auf, als er sich seinerseits auf den Magier stürzte, auf ihn einprügelte, ihn auf seiner eigenen Sprache auf schlimmste Art verfluchte und letztendlich verzweifelt aufheulte, als er es trotz des widerlichen Geräuschs brechender Rippen seitens dem Gefangenen nicht schaffte, ihn von seinem bereits bläulich anlaufenden Zwilling zu entfernen. Nein, er würde diesen Widerling mit sich in den Tod nehmen, das schwor der Magier sich, als der heiße Schmerz, den das Zerbersten seiner Knochen verursachte, ihn ihm aufstieg und nach wenigen Augenblicken seinen gesamten Körper einnahm. Er ignorierte seine Qualen gekonnt, als er vom malträtierten Hals des Jüngeren abließ und ihm schließlich, einzig zum Zweck ihn zu piesacken, mit seinen scharfen Fingernägeln über seine Stirn fuhr und blutige Schrammen hinterließ – was dann doch leider etwas unbefriedigend war, denn der Mensch hatte bereits sein Bewusstsein verloren, so griff er nach dem Faustkeil, der ihn zuvor befreit und dann neben ihm im Gras gelegen hatte, um es zu beenden – sowohl die Tritte des anderen Zwillings in seinen Rücken als auch die Speerspitzen, die ihn umgaben, waren ihm in jenem Augenblick vollkommen gleich.

Er hätte es geschafft. Beinahe hätte er es geschafft, als ihn plötzlich eine Stimme erreichte, die außer ihm niemand zu vernehmen schien.

„Chejat!“

Es war lediglich sein Name gewesen, der ihn hatte aufschrecken lassen. Zwischen den grölenden Männern, die lediglich auf einen Befehl warteten, um ihn häuten zu können, stand sie. Niemals während seines gesamten Aufenthalts bei dem Stamm der Menschen war er sich so sicher gewesen, dass die Frau mit dem flammenden Haar seine Schwester war, deren Existenz niemand anerkennen wollte. Und es schmerzte ihn, dass er in ihren Augen keine Zuneigung sah, keinen Blick, der ihm sagte „Ich helfe dir!“ oder zumindest „Du hast recht, tu es!“, sondern bloß tiefe Abneigung gegen ihn und sein Vorhaben. In jenem Moment kam es, dass der Faustkeil sich erhitzte, unsagbar heiß wurde, so dass er ihn reflexartig von sich warf und darauf geschockt seine gerötete Handfläche anstarrte. Warum um alles in der Welt...?

„Chejat.“

Und als er wieder aufsah, nebenbei negativ überrascht, dass der Zwilling unter ihm zu husten begann, also offenbar nicht tödlich verletzt war, sah er zum ersten Mal den Mann vor sich, der doch an allem Schuld sein musste; das Stammesoberhaupt. Sein jungenhaftes Antlitz ließ es ihn nicht vermuten, es war die letzte Information, die seine Götter ihm geben sollten.

„Du... bist so tapfer... Chejat.“, ertönte darauf Kajiras Stimme. Er musste irgendwo neben ihm liegen, wurde aber von den Mitgliedern des Stammes, die sich nun allesamt um ihn versammelt hatten, verdeckt. Zeitgleich sprach der Häuptling zu dem unversehrten Zwilling, der darauf aufhörte, an dem Magier zu zerren, und einen Schritt zurücktrat.

„Ich... hielt es nicht mehr aus, das ist... alles.“, antwortete der Rothaarige nur schwach und spürte mit einem Mal, wie erschöpft er wirklich war. Er hatte alles gegeben...

„Ich... verspreche dir etwas...“, sprach Kajira da weiter, der nun von allen Menschen, die in seiner Nähe standen, verblüfft angestarrt wurde. Er lag mittlerweile kraftlos auf dem Rücken und starrte an allen gebräunten Gesichtern vorbei in den klaren, dunkelblauen Himmel.

„Ich verspreche dir, dass ich nicht sterben werde, Chejat. Wir... wir haben uns eigentlich nicht wirklich gekannt... wir waren nie Freunde... du hast mir nie etwas bedeutet, ebenso wie... wie ich dir nichts bedeutet habe. Aber... ich werde leben, mit oder ohne Hilfe werde ich das. Ich werde leben und zurückkehren in das Land meiner... Ahnen, und dann werde ich zu deiner Frau gehen und ihr sagen, dass sie den tapfersten Mann hatte, der jemals auf dieser Welt gelebt hat. Das werde ich ihr sagen und dein... Kind wird stolz auf dich sein, Chejat.“

Der Ältere lächelte schwach in die Richtung, aus der die Stimme seines Begleiters gekommen war. Zu gern hätte er ihm geantwortet, dass das nicht nötig war, dass er mit ihm gemeinsam nach Hause gehen würde und seiner Frau selbst erzählen konnte, was sie gemeinsam hatten erleben müssen, aber er ließ es, denn er wusste, dass der Jüngere recht hatte. Er wunderte sich nicht, als der junge Häuptling seine Hand grob in seinem Haar vergrub und sein Gesicht auf diese Art und Weise wieder hinauf zog. In seinem Blick lag kein Hass... mehr eine Art Ablehnung, die nicht einmal den Magier selbst zu betreffen schien. Er sagte etwas... Chejat hatte nicht den Ansatz einer Ahnung, was es war, ehe der Mensch sich abwandte und zu einem anderen Mann sprach, der neben dem zitternden, unverletzten Zwilling stand und ebenfalls vor Zorn bebte. Der nickte darauf, trat neben das Stammesoberhaupt, zischte irgendetwas und hob dann seinen Speer.

Chejat kniff die Augen zusammen.
 

Shiran betrachtete den ruhigen Ozean. Die leichten Wellen glitzerten in der Mittagssonne an diesem schönen Tag im Spätsommer und ließen niemanden ahnen, was gerade weit entfernt geschehen war. Die Witwe würde es vielleicht spüren... sonst sicher niemand, denn sonst würde den jungen Mann niemand vermissen.

„Verschwendung.“ Der Seher seufzte leise, musste sich aber eingestehen, selbst ziemlich ungerührt zu sein. Er hatte vermutlich selbst so seine Probleme... allerdings verschwiegen seine Götter ihm vehement, was ihm seit Sonnenaufgang Bauchschmerzen bereitete; er würde es bald erfahren.

In seinem Rücken leuchtete etwas auf und er hob beide Brauen, als er sich zu Mahrran umwandte – und tatsächlich überrascht wurde.

„Meine Güte.“, machte der Blauhaarige da auch schon, „Warum versteckst du dich immer an der Felsküste? Ohne Teleport ist es verdammt schwer, hierher zu kommen.“

Das war ja auch Sinn und Zweck der Sache. Mit Dematerialisieren war das tatsächlich ziemlich umständlich – aber möglich, leider.

„Nun, ich besuche diesen Ort, wenn ich die Einsamkeit suche. Deshalb frage ich mich, was das Ekarett-Mädchen hier soll...“

Er sah das verschüchterte Mädchen skeptisch an, dem Mahrran beinahe brüderlich eine Hand auf die schmale Schulter legte. Ihre kleine Tätowierung auf der Stirn zeichnete sie unmissverständlich als Mitglied des riesigen Clans aus... weiter darüber nachdenken konnte der Mann nicht, da antwortete ihm sein Gegenüber.

„Lafila hat heute Geburtstag. Sie wird heute zwölf Jahre alt.“

Aus irgendeinem Grund überkam Shiran ein kalter Schauer, den er sich in seiner eingeübten Selbstbeherrschung natürlich nicht anmerken ließ.

„Schön.“, erwiderte er, „Meinen Glückwunsch, dann wird sie ja bald zur Frau. Ich nehme an, ich soll für dich die Festlichkeiten vorbereiten? Kein Problem, ich bin bereits unterwegs und...“

„Stehengeblieben.“

Das männliche Dorfoberhaupt gehörte wohl zu den wenigen Personen auf ihrer Welt, die es wagen durften, den Seher am Arm zu packen und festzuhalten, und genau das tat es nun auch, als Shiran hastig an ihm vorbei gehen wollte. Er verzog das Gesicht und hielt artig inne.

„Jemand muss ihr Öffnungsritual machen. Tust du mir den Gefallen...?“

Der Ältere hüstelte, ehe er sich etwas gröber als nötig losriss und sich dem Wassermagier wieder zuwandte. Er war errötet.

„Das hast immer du gemacht! Du kannst nicht deine Pflichten abschieben, nur weil du nun eine Lieblingsfrau hast – dass du das Menschenweib überhaupt wie eine vollwertige Frau behandelst, nein, besser, denn sie muss ja nicht arbeiten, finde ich überdies ziemlich abartig!“

Anders als erhofft ging Mahrran nicht auf die offenkundige Kritik ein, sondern grinste nur bester Laune. Die Fast-Frau senkte peinlich berührt den Blick. Niemand wollte sie nehmen, das war ja entsetzlich...

„Eben, ich habe es bisher immer gemacht, obwohl es traditionsgemäß sowohl das Recht des Großmagiers – meiner Wenigkeit – wie auch des Sehers ist, falls einer vorhanden ist, Mädchen zu Frauen zu machen. Und jetzt habe ich einmal keine Lust und möchte, dass du es tust; vergiss nicht, ich stehe über dir, du musst auf mich hören...“

Irgendwie wurde Shiran das Gefühl nicht los, dass der Jüngere etwas Gefallen daran fand, ihn zu piesacken. Natürlich hatte er noch nie mit jemandem über sein kleines... Problem gesprochen, aber die Götter des Himmelskindes schwiegen es definitiv nicht an... und beste Freunde waren sie trotz ihrer Zusammenarbeit nicht.

„Selbstverständlich.“, gab der Seher ihm so aufgesetzt grinsend recht, „Aber... du hast viel mehr Erfahrung in diesem Gebiet.... und die Nacht, in der aus der lieben Lafila eine Frau wird, soll doch eine ganz besondere sein, da sollte nichts schief laufen...?“

Sein Gegenüber verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und schnaubte verächtlich.

„Mal Klartext, Shiran, du hattest doch auch keine Probleme damit, meine Schwester zu vögeln, also stell dich nicht so an! Das hier ist nicht weniger deine Pflicht als das, was deinen grandiosen Plan eingeleitet hat – verzeih mir, aber mein Körper verzehrt sich nur noch nach Kili, andere Frauen will er nun einmal nicht mehr unter sich haben.“

Der Ältere errötete etwas stärker und zeigte dann dümmlich auf das Ekarett-Mädchen.

„Und das alles sagst du... vor ihr?!“

Die Fast-Frau erwiderte den blöden Blick mit weit aufgerissenen Augen, während Mahrran sich abermals über die Kurzsicht des Sehers wunderte, es sich aber nicht ernsthaft anmerken ließ. Er lächelte wieder.

„Ich bin ein Götterkind, Shiran. Ich kann selbst entscheiden, woran sie sich später erinnern wird und was sie lieber wieder vergisst.“

Das war einleuchtend. Verdammt, diese Situation war dumm... diese Bitte hatte den Violetthaarigen völlig aus der Bahn gebracht, so hatte er sich viel mehr Blöße gegeben, als eigentlich nötig gewesen wäre. Irgendetwas musste er tun, damit der Jüngere nicht den Respekt vor ihm verlor, das wäre äußerst unpraktisch...

Ein guter Anfang war es, sich wieder um einen seriösen Blick zu bemühen, fand er, als er gezwungen nickte.

„Gut, meinetwegen. Erwarte nicht, dass ich es gut mache – die Götter haben mich nicht dafür geschaffen, solche Rituale durchzuführen, ich bete, dass dir deine Kili bald zuwider wird... aber ich tue es natürlich – verzeihe mir, dass ich mich gesträubt habe.“

Er neigte höflich den Kopf und Mahrran grinste zufrieden, ehe er einen Schritt zurücktrat.

„Gut. Ich lasse im Dorf alles für die rituellen Tänze vorbereiten, den Rest überlasse ich dir.“

Dann löste er sich in Licht auf.

Lafila blinzelte ihm verdutzt nach, ehe sie unter der Hand, die der Seher ihr auf den Kopf legte, zusammen zuckte. Als sie zu ihm aufsah, blickte der Mann sie ungewohnt mitleidig an.

„Lafila.“, sprach er bedächtig, „Das wird eine sehr, sehr... sehr lange Nacht, fürchte ich.“
 

„Es ist... so lächerlich...“

Mabalysca schlug nur traurig den Blick nieder, während sie ihre Schwester auf dem Weg in deren Zimmer stützte, denn ihre Beine wollten sie partout nicht mehr allein tragen. Sie brauchte Alaji... niemand außer ihr konnte Nadeshda helfen, auch wenn viele es versucht hatten. Es wurde Zeit, dass die Verschollene ihr Geheimrezept an jemanden, der etwas damit anfangen konnte, weitergab. Zumindest sobald sie zurück war, im Moment konnte sie das wohl schlecht...

„Es ist nicht lächerlich... du hast Schmerzen, vor mir brauchst du dich nicht schämen, Schwester.“

Die Jüngere sah nicht zu ihr. Alles war schlecht... ihr Bruder hatte sich sehr verändert... er hatte immer mehr mit dem zwielichtigen Seher zu tun und liebte das Menschenweib wie eine richtige Frau, das würde ihm auf Dauer nicht gut bekommen. Nun hatte er ihr sogar erlaubt, sich im Haus und in der näheren Umgebung frei zu bewegen, das konnte ja nur schlecht sein...

Und von Kajira hatte sie auch noch keine Spur. Zerit war nach Sonnenaufgang wieder los gegangen, sie hoffte so sehr, dass er ihn wieder mitbringen würde... sie vermisste ihn so unendlich, dass sie nachts in ihr Daunenkissen schrie, weil sie ihn umarmen wollte, weil sie ihn küssen wollte oder einfach nur wissen, dass er lebte, dass es ihm gut ging... und jeden Morgen erwachte sie erneut und wusste, dass er nicht da war. Und jeden Abend dachte sie an diese Gewissheit und wünschte sich, nicht wieder aufzuwachen... ihre Sorgen brachten sie noch um. Ihre Handgelenke dankten es ihr nicht...

Zudem war der Zustand ihrer älteren Schwester auch alles andere als erfreulich. Sie schielte sie kurz seufzend von der Seite an, nur um beobachten zu müssen, wie ihr vor Gram die Augen glänzten.

„Und weißt du, was das Beste ist?“, fragte die Ältere, als sie den Blick bemerkte, und lächelte bitter, „Scheinbar bin ich auch noch unfruchtbar geworden.“

Sie kicherte eisig, als die kleine Schwester entsetzt mit ihr stehen blieb. Himmel, was?

„Wie kommst du darauf?!“

Nadeshda wandte den Blick ab, senkte ihn so tief, dass ihr sehr langes Haar ihr Gesicht verdeckte. Sie war am Ende...

„Meine Blutung hat bereits zwei Mal ausgesetzt – ohne Blutung keine Fruchtbarkeit. Mein Körper hat sich mittlerweile an den Schmerz gewöhnt, ich glaube nicht, dass es noch daher kommt... auch wenn ich es zunächst gehofft habe. Und meine Götter schweigen mich an...“

Sie sah wieder auf, lächelte ein grausam eisiges, unehrliches Lächeln.

„Ich hatte nicht vor, in nächster Zeit meine Macht an einen Ehemann abzugeben, aber was bin ich schon für eine Frau, wenn ich kein Leben in mir tragen kann?“

Sie riss sich mit sanfter Gewalt von ihrer Schwester los und ließ sich auf einem Schemel nieder, der an der gegenüberliegenden Wand stand, die kranken Beine weit von sich ausgestreckt. Mabalysca faltete die Hände bedrückt.

„Ist das... wirklich die einzige Möglichkeit? Vielleicht gibt es eine andere Erklärung...“

Sie lehnte sich gegen die nächste Wand und wartete auf eine Antwort. Es klang wahrlich nicht gut... aus irgendeinem Grund waren ihre Götter ihnen alles andere als wohl gesonnen, das Leben war zu einer Qual geworden, fand sie...

„Ich wüsste keine andere.“, kam dann knapp von dem weiblichen Dorfoberhaupt, dass sich sichtlich deprimiert über den Bauch strich. Ihre Schwester blinzelte.

„Hast du nach deiner letzten Blutung einen Mann geliebt?“

Das wäre zwar wahrlich seltsam, denn dass der letzte Junge zu einem Mann gemacht worden war, war bereits etwas her und Nadeshda gab sich ansonsten selten bis nie mit den in ihren Augen minderwertigen Herren aus dem Ort ab, aber nachzufragen konnte sich vielleicht lohnen.

Die Ältere hob kurz beide Brauen. Das klang gar nicht so dumm, aber erstens fiel ihr niemand ein und zweitens wäre das eine größere Katastrophe als Unfruchtbarkeit.

Ihre Götter brachen das Schweigen.

Das naive Mädchen hat sich hereinlegen lassen., spotteten sie, Schon lang trägt es Leben in sich, ohne es zu merken... weil es dachte, der Seher hätte sich bloß vergnügen wollen, aww.

Mabalysca fuhr erschrocken zurück und stieß sich die Ellbogen schmerzhaft an der steinernen Wand in ihrem Rücken an, als ihre Schwester entsetzt schreiend aufsprang und trotz ihrer geschwollenen Knie mit gesammelter Kraft aus den Haus preschte.
 

Alaji seufzte. Sie hatte endlich gelernt, wie man Wild richtig gut zubereiten konnte, nun aß sie stolz von dem guten Fleisch. Teco hatte ihr die besten Stücke des seltsamen Tieres gegeben, das er im Morgengrauen hatte erlegen können – seit einigen Tagen bekam sie immer das Beste von allem. Und wenn sie es nicht annahm, war ihr Begleiter zu Tode beleidigt, so lange, bis sie es sich doch geben ließ. Offenbar machte es ihn sehr stolz, wenn er sie verwöhnen konnte... und sie machte es stolz, dass er sich so um sie bemühte. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass ein Mann das jemals für sie tun würde... und erst recht kein Mensch; aber sie hatte gelernt, Menschen gaben die besseren Männer. Jedenfalls kannte sie keinen Mann, der an ihren Teco heran reichte.

Sie errötete bei dem Gedanken an „ihren Teco“. Sie waren doch kein Paar, zumindest versuchte sie es sich immer wieder krampfhaft einzureden, obwohl sie seit kurzem wie eines lebten (zumindest nahm sie an, dass menschliche Paare so ihr Dasein fristeten) und ihr Herz bei dem Gedanken an ihren Begleiter mit dem steifen Bein in Flammen aufzugehen drohte. Sie lag so gerne unter ihm und war seine Frau...

Sie schreckte aus ihren Gedanken, als sie seine Hand spürte, die über ihren Oberarm streichelte. Er grinste sie an und deutete auf das Fleisch, das sie hielt... er forderte sie auf, nicht mehr zu träumen und weiter zu essen. Es gab einiges, was er ihr beizubringen versuchte, eines davon war wahrlich Aufmerksamkeit... es konnte gefährlich sein, ständig in seinen Gedanken fest zu hängen. Sie lächelte leicht, biss bestätigend ein Stück ab und aß es artig, ehe sie ihn liebevoll anlächelte. Sie war völlig verzaubert von seinem Grinsen, hatte sie zudem bemerkt, er grinste auf eine unheimlich verschmitzte und lässige Art und Weise, dass es eigentlich jeder Frau gefallen musste. In seinem Stamm hatte er sicherlich viele Verehrerinnen...

Sie gluckste amüsiert, als er ihr plötzlich entgegen seiner unausgesprochenen Aufforderung das Essen aus der Hand nahm und bei Seite legte, um stattdessen sie auf die Erde zu drücken und sich über sie zu beugen.

„Alaji...“, schnurrte er ihren Namen und sie seufzte wohlig, als er sich zu ihr beugte und ihr den Saft des Fleisches, von dem sie zuvor noch abgebissen hatte, von den Lippen leckte. Er hatte etwas Animalisches an sich, fand sie, und das, obwohl er keine klauenartigen Nägel und raubtierähnlichen Zähne hatte. Wobei sicherlich kein Raubtier so oft das Bedürfnis hatte, sich zu paaren, wie der junge Mann es hatte, aber verdenken konnte sie es ihm nicht... sie musste bei dem Gedanken daran leicht schmunzeln, während sie die Augen schloss, als er ihr Gesicht mit Küssen überdeckte. Er war ja so unglaublich jung! Sie konnte sein Alter absolut nicht mit seinem Sein verbinden... aber das war auch gut so, mit Kalenao-Jungs in seinem Alter wusste sie an sich nicht viel anzufangen. Das waren Großmäuler, allesamt.

Wie gut, dass sie nicht wusste, was Teco ihr den Tag über so erzählte. Sie genoss es einfach, unter ihm zu liegen und eine Frau zu sein... später würden sie zusammen versuchen, aus dem abgezogenen Fell Kleidung herzustellen, vielleicht wurde daraus ja etwas. An Nadeshda dachte sie nicht... oder an ihre Begleiter, die ebenfalls nicht mehr zurück in ihre Heimat gekommen waren.

Ihre Heimat... im Moment wollte sie nicht ernsthaft zurück.
 

Irlak dachte auch nicht ernsthaft an sie. Der einzige der bisher nicht zurückgekehrten, der ihn interessierte, war sein jüngerer Bruder Kajira – vielleicht hätte er ihm einmal erzählen sollen, dass sie die Kinder derselben Mutter waren, auch wenn die sich selbst nicht so sicher war. Irlak konnte sich aber noch verschwommen an die Geburt des nunmehr jungen Mannes erinnern... er seufzte, als er durch das Dorf trottete, genervt von dem Gedanken, dass er heute für eine seiner Nichten würde tanzen müssen. Dachte er zumindest, denn auf das, was da geschah, war er nicht gefasst gewesen.

„Du siehst aber fröhlich aus.“ Er verzog angewidert das Gesicht, als er sich umdrehte und aus der Tür eines kleinen Häuschens die Natter lugte, die ihn zwielichtig angrinste, „Keine Lust, deiner kleinen Nichte Ehre zu erweisen?“

„Was geht dich das an, du nichtsnutziges Weib?!“, schnaubte der junge Mann zurück und rückte seinen Fellschal zurecht, um seriöser zu wirken. Iavenya trat kichernd auf ihn zu und hielt für seinen Geschmack wesentlich zu dicht vor ihm inne. Sie wiegte sich leicht hin und her, als sie wieder sprach.

„Geh doch einfach nicht hin. Deine Familie ist so riesig, niemand wird merken, dass du fehlst.“

Irlak zischte empört über diesen unverschämten Anstiftungsversuch.

„Damit du mich anschwärzen kannst?! Vergiss es.“, er verschränkte die Arme vor der Brust, „Außerdem, was sollte ich stattdessen tun? Meine Frau würde mir das Kochwerkzeug über den Kopf ziehen, wenn ich bei ihr auftauchen sollte, und mich den ganzen Abend sinnlos zu verstecken finde ich auch nicht gerade reizvoll, du dumme Ziege.“

Sie lächelte nur und wiegte sich weiter mit dem leichten Wind, der von dem weiten Ozean her aufkam.

„Musst du doch nicht.“, kam dann die überraschend freundliche Antwort – seine Beleidigungen schien sie vollkommen zu ignorieren. „Komm doch zu mir.“

Einen Moment lang starrte er sie entsetzt über die doch sehr direkte Aufforderung an, dann fasste er sich wieder und hob beide Brauen. Dieses Weib war dumm. Vermutlich wusste sie gar nicht, wie ihr dümmlicher Vorschlag in seinen Ohren geklungen hatte und wollte ihn letztendlich doch bloß verraten können, um sich für ihre Ohrfeige zu rächen, so kam es ihm.

„Und was soll ich bitte bei dir?“, ging er so nicht auf seine ersten Gedanken ein und schnaubte wieder verächtlich, „Das ist doch genau so sinnlos und deine Gesellschaft sucht sicher niemand freiwillig, Schlange.“

Er wollte sich abwenden und weiter gehen, als sie ihn an seinem Schal aus Rhiks Klamotten zurückhielt und zu sich zog, ihm doch sehr eindeutig über die Brust streichelnd. Sie schnurrte.

„Ich bin eine schöne Frau.“, erklärte sie selbstsicher, „Schöner als die, mit der du Kinder hast. Komm zu mir... für diesen Abend. Und die Abende danach...“

Irgendetwas musste sie am Kopf getroffen haben. Bei ihren Unverschämtheiten war es an sich kein Wunder, wenn irgendwer ihr etwas über den Schädel zog, aber irgendwie war Irlak zu entsetzt, um wegzurennen, als sie seine Hände selbstsicher in ihre nahm und auf ihre Brüste legte. Warum ausgerechnet er? Er hatte ihr ins Gesicht geschlagen, wie viel deutlicher konnte er ihr seine Abneigung denn noch zeigen?

Wobei er sehr bald verstehen sollte, dass es dabei nicht um Zuneigung oder Abneigung ging.

„Hör zu.“, kam dann offen, „Ich sitze seit heute Vormittag am Fenster und warte, dass ein halbwegs anständig aussehender Mann vorbei kommt, den ich zu mir bitten kann. Frauen haben bekanntlich auch Bedürfnisse, Irlak... und ich bin allein. Ich habe nichts zu verlieren, wenn ich mich dir an den Hals werfe... hast du etwas zu verlieren?“

Sie drückte seine Hände fester gegen ihren Busen, sodass er unwillkürlich zugriff und leicht errötete. Das war ein Fehler...

„Natürlich!“, schnappte er so auch säuerlich, „Du Schlampe, du würdest meiner Frau sicherlich erzählen, dass ich bei dir gelegen habe; niemand ist dumm genug, einem so intriganten Ding wie dir zu glauben, schon gar nicht bei so einer Nichtigkeit! Such dir doch jemand anderes, der dich durchnimmt!“

Er wollte sich losreißen, doch sie ließ ihn nicht, trat stattdessen noch etwas näher und legte eine ihrer Hände um seinen Nacken.

„Nein.“, kam dann ruhig, „Töte mich, wenn ich es gegen dich verwende. So entkommst du dem nervigen Ritual, das wäre doch nicht schlecht... oder?“
 

Lafila war aufgeregt. Ihr zierlicher Körper, der allerdings bereits deutliche Anzeichen ihrer Reife zeigte, war in ein Gewand aus dünnen, fast durchsichtigen Tüchern gehüllt... heute Abend würde das Feuer für sie brennen. Etwas erfreute es sie, dass Shiran sie zu einer Frau machen würde... er war hübscher als Mahrran, wenn auch unsympathischer, und wirkte ziemlich angespannt, während er zusah, wie Holz herbeigeschafft wurde. Auch er selbst war geschmückt... ihr fiel auf, dass sie seit sie denken konnte tatsächlich das erste Mädchen war, dem der Seher das Ritual gab; in der dafür typischen Aufmachung hatte sie ihn noch nie bewundern können. Er trug nur eine Hose aus dem edelsten Stoff, sein Oberkörper war nackt und mit Linien aus Asche verziert und auf dem Kopf trug er einen aufwändigen Schmuck aus schwarzen und weißen Federn – diesen trug Mahrran seinerseits nicht, wenn er dieser Pflicht nachkam, denn es zeichnete den Mann als Seher aus. Shirans Oberkörper war auch hübsch, erkannte die Fast-Frau errötend, als sie ihn weiter von der Seite anschielte. Eine Menge Männer rannten ständig halb nackt herum, der Violetthaarige gehörte zu ihrem Leidwesen nicht dazu.

„Ach!“, schimpfte er plötzlich überraschend, „Was für ein schlechter Tag! Alles Ungute zusammen, musste sie es auch ausgerechnet heute erkennen?“

Lafila wusste nicht, was sie darauf antworten sollte... nicht einmal, ob sie wirklich angesprochen war; sie stand zwar als einzige in seiner direkten Nähe, aber er hatte sie nicht angesehen. Stattdessen drehte er sich nun um zu den Bergen. Zumindest dämmerte dem Mädchen nun, von wem er sprach, als sich zu aller Überraschung, denn das Volk kannte ihr Leiden, Nadeshda den Serpentinenweg hinab kämpfte und dann erstaunlich schnellen Schrittes auf die Dorfmitte zustolperte. In ihrem Gesicht stand nur ein Gefühl: Wut.

Die meisten sprangen ihr geistesgegenwärtig aus dem Weg, wer wusste schon, wie sie einen bestraft hätte, der ihr in die Quere gekommen wäre.

„Shiran!“, schrillte sie dann den Namen des Sehers, ihren Schmerz vollkommen vergessend, und der Mann grinste sie mit einem Mal aufgesetzt fröhlich an.

„Oh!“, begrüßte er sie scheinbar überrascht, „Na so etwas, du quälst dich extra meinetwegen den Berg hinab? Na, das ehrt mich aber.“

Er fing sich auf der Stelle eine Ohrfeige, die alle um sie herum verstummen ließ. Er reagierte darauf nicht, obwohl es zweifelsohne weh getan haben musste. Sie wussten beide, worum es ging...

„Oh, wage dich nicht, mich weiter für dumm verkaufen zu wollen, Seher!“, fauchte sein kleines Gegenüber da, sich zwingend, etwas leiser zu reden, damit es nicht das halbe Dorf mitbekam, das sich der Höflichkeit halber nun auch wieder bemühte, seiner Arbeit nachzukommen, „Ich weiß nicht, was du dir dabei gedacht hast – irgendetwas wird es ja gewesen sein, sonst hättest du mich nicht an diesem Tag in die Berge gezerrt – aber ich schwöre dir, damit wirst du nicht durchkommen! Ich werde Alaji zurückbringen lassen und dann wird sie es töten, dein Gör, das ich nicht bereit bin auszutragen!“

Der Mann schob die schockiert drein schauende Fast-Frau etwas von sich weg, worauf diese schlau genug war, zu erkennen, dass es für sie an der Zeit war, die beiden wichtigen Persönlichkeiten allein zu lassen. Er senkte die Brauen, grinste das kleine Dorfoberhaupt aber siegessicher an.

„Du hast lange gebraucht.“, stellte er zunächst einmal fest und ignorierte ihr empörtes Zischen darauf, „Nun, warum so aggressiv? Kommt nicht für jede Frau einmal der Tag, an dem es Zeit wird, eine Familie zu gründen? Du wirst es nicht töten, Nadeshda, das schaffst du nicht. Du wirst meine Frau und gebärst mir einen kleinen Erben... oder Erbin, das ist an sich egal; damit endlich einmal jemand darauf aufpasst, dass du keinen Unsinn mehr anrichtest, törichte, dumme Ziege.“

Ihr Gesicht lief vor Wut rot an und er spürte, wie sehr sie sich zusammenreißen musste, um nicht laut aufzuschreien und ihm mit ihren langen, scharfkantigen Nägeln die Augen auszukratzen. Dann kicherte sie in ihrem Wahn, als sie eine Hand hob und seinen Kopf an seinen schulterlangen Haaren zu sich zog, ohne, dass er dabei eine Miene verzogen hätte.

„Du... hast dir das schlau ausgedacht. Aber nicht mit mir, Sohn einer namenlosen Familie, an mir wirst du scheitern...“

„Lieber namenlose Eltern, als Eltern, die Geschwister sind.“

„Lenke nicht ab, du kennst die Regeln – stirbst du, dann stirbt das Kind auch. Und wenn alles andere nicht hilft, dann wird es mir ein leichtes sein, dich aus dieser Welt zu schaffen, Shiran Fassar.“

Sie ließ von ihm ab und trat einen Schritt zurück, dabei heftig schwankend dank der Schmerzen in ihren Beinen, die darauf schlimmer denn je aufflammten. Beinahe wäre sie umgekippt, aber diese Blöße gab sie sich dann nicht. Und schon zwei Mal nicht in diesem Moment vor den Augen dieses abartigen Mannes, dem sie sein Grinsen einfach nicht aus dem Gesicht wischen konnte.

„Keine Sorge... ich stehe unter dem Schutz von einer der wenigen Personen, die dir in deiner Macht vielleicht gleich kommen, Nadeshda Tankana.“
 


 

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105%? XD Linni, ich find das immer wieder erstaunlich XD *Monsterbuchstaben anstarr*

Emotionen

Calyri war verwirrt. Die ganze Welt verwirrte sie. Moconi, der sie scheinbar wirklich nicht wollte, obwohl sie sich eine solche Mühe gab, sich als gute Frau zu präsentieren und Teco bereits so lange weg war, ebenso wie ihr Vater, der heute ohne zu zögern jemanden getötet hatte. Es war kein Mensch gewesen, versuchte sie sich einzureden, aber irgendwie half es wenig... der Junge hatte bis auf sein extrem rotes Haar und den ungewöhnlicherweise ebenso roten Augen fast genau so ausgesehen wie alle anderen. Er hatte gesprochen und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann verstand sie, warum er so durchgedreht war.

Sie hatten ein kleines Zwischenlager aufgebaut, wo sie einige Tage rasten würden. Es war nicht gut, weil man in der Nähe keine Spuren von Beutetieren gefunden hatte, aber nötig, nicht nur wegen des vorangegangenen Ereignisses, sondern auch weil Kinashi, Calyris Mutter, bald ein Kind gebären würde. Auf den Schock hatten bei der armen Frau doch glatt die Wehen eingesetzt, jetzt saß ihre älteste Tochter in der Nähe des Zeltes, in dem sie das Baby zur Welt bringen würde, und passte auf ihre übrigen Geschwister auf. Die Männer hielten Rat, irgendwer kümmerte sich auch tatsächlich um den übriggebliebenen Magier, der kurz nach dem Tod seines Begleiters sein Bewusstsein verloren hatte. Eigentlich hätte sie ihrer Mutter gern beigestanden...

Sie seufzte leise und stützte den Kopf auf ihre Hände, während sie die Zwillinge beobachtete, die ihr gegenüber vor einem anderen Zelt saßen. Semliya hielt Novaya in den Armen, verstört ins Leere starrend, während der angeschlagene Bruder sich nur müde an ihn lehnte, wobei ihm immer wieder die Augen zufielen. Es war überraschend, wie harmlos sie wirken konnten, fand das Mädchen. Mädchen... eigentlich junge Frau, aber so fühlte sie sich nicht, solange sie sich nicht mit Moconi das Lager teilte.

„Keine Wolken am Himmel.“

Sie schreckte aus ihren Gedanken, als ihre jüngere Schwester Niray sprach. Niray war tatsächlich noch ein kleines Mädchen, auch wenn der Älteren mit einem Mal auffiel, wie groß sie mittlerweile war. Sie lebte bereits ihr zehntes Jahr...

„Das ist ein gutes Zeichen. Sonst wäre es auch schlecht, wir haben schließlich kein Zelt.“

Calyri beobachtete, wie sie ihre Knie anzog und weiterhin in den Himmel starrte. Ja, man hielt sie dank ihrer älteren Zwillingsbrüder für verrückt, denn die hatten ihr in einer stürmischen Nacht in ihrer frühen Kindheit einmal sehr eindringlich erzählt, die Wolken wären Dämonen, die auf die Welt hinab kommen und einen auffressen könnten wie Raubtiere. Seitdem litt die Kleine an einer Wolkenphobie und versteckte sich an jedem bewölkten Tag in ihrer Hütte oder wenn sie reisten, wenn es möglich war, in einem der Zelte. Weil dringend Rat hatte gehalten werden müssen, hatte ihr Vater nur auf die Schnelle eines für ihre Mutter errichten können, so mussten seine Kinder zunächst zwischen den Heimen der anderen im Staub sitzen, bis Dherac zurückkehren und aus den restlichen Materialien eine Unterkunft für seine Familie bauen konnte. Normalerweise hätten die Zwillinge das auch können müssen, aber die waren offenbar mehr als verstört und nicht ernsthaft in der Lage, irgendetwas Sinnvolles zu tun – nicht, dass sie das sonst jemals getan hätten...

„Ich finde, die rothaarige Bestie hat Recht getan...“

Die beiden Mädchen wandten zeitgleich den Kopf zu Calyris Linken, wo Ranisin, ein weiterer Bruder, hockte. Er hielt den Blick tief gesenkt und starrte seinen Schoß an, sprach aber so mutig, wie er es wirklich nur dann tat, wenn er sicher war, dass seine älteren Brüder keine ernsthafte Gefahr darstellten. Ranisin hatte es wahrlich nicht leicht...

„Sowas darfst du nicht sagen!“, hielt seine älteste Schwester ihn dennoch an, obwohl sie ihm gedanklich zustimmte. Iradu, der jüngste Bruder, der noch keinen Verstand besaß und gegenüber bei den Zwillingsjungen hockte, zupfte Semliya darauf entsetzt am Oberteil.

„Ranisin hat gesagt, es war gut, also, dass es gut war, dass das Monster fast Novaya tot gemacht hätte!“

Er starrte den Älteren empört an, der den Kopf nur langsam zu ihm wandte und noch langsamer zu verstehen schien, worum es ging.

„Was...?“

„Ranisin fand es gut, dass... dass das Monsterding Novaya fast tot gemacht hätte, genau!“, wiederholte der Jüngste, und jener Ranisin vergrub seine Hände genervt in seinem Haar und ärgerte sich über die Dummheit des kleinen Jungen. Calyri seufzte laut und Niray lehnte unbeeindruckt ihren Kopf an die Schulter ihrer älteren Schwester.

Semliyas Brauen zuckten kurz, während Novaya weiter döste. Es war seltsam, die beiden in einer nicht vollkommen identischen Situation zu sehen, fiel der Ältesten dabei auf, während sie beobachtete, wie der unbemerkt ältere Zwilling den Jüngeren sachte neben sich ablegte, worauf der etwas murrte, sich aber nicht ernsthaft wehren wollte. Der andere erhob sich und überwand das kleine Stück, das ihn von seinen anderen Geschwistern trennte, ehe er sich vor Ranisin hockte und ihn gleichgültig ansah. Dieser hob den Blick und schnaubte leise.

„Was denn?!“, zischte er mutig und mit aufgesetztem Trotz, der seine Schwestern überraschte. Semliya traf das nicht ernsthaft, der hob nur kurz eine Braue.

„Du hast dir den richtigen Augenblick ausgesucht, um Abfall zu speien, kleiner Nichtsnutz. Aber wir... ich merke mir jedes deiner Worte... es wird wieder zurück kommen, verlasse dich darauf. Also halte deine Zunge lieber etwas fest... wir haben uns vor nicht all zu langer Zeit überlegt, dass wir ja einmal versuchen könnten, sie dir zu tätowieren, das wäre sicher... hübsch.“

Er erhob sich wieder und trottete langsam zu seinem Zwilling zurück, der sich zeitgleich erschöpft aufrichtete und sich den langsam in lustigen Farben leuchtenden Hals rieb. Sie schenkten sich einen kurzen Blick, als der Unverletzte sich wieder hinsetzte und Novaya sich wie selbstverständlich wieder an ihn kuschelte wie ein kleines Kind an seine Mutter, wenn es Schutz wollte. Iradu legte etwas enttäuscht den Kopf schief und Ranisin senkte seinen wieder, versuchend, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen.

Niray blinzelte und setzte sich gerade auf, als sie ihre Mutter erstickt schreien hörten. Calyri hatte das schon so oft erlebt, sie machte sich keine Sorgen mehr... zumindest keine, die sie wirklich fertig gemacht hätten, etwas nervös war sie natürlich schon. Aber auch zuversichtlich, denn ihre Mutter war gut im Kinder bekommen und hatte nicht einmal bei der schwierigen Zwillingsgeburt ernsthafte Probleme gehabt.

„Keine Sorge.“, seufzte sie so leise, als sich auch Novaya plötzlich aufsetzte, offenbar aus irgendwelchen Gründen erwacht. Semliya musterte ihn, ohne dass man ihm einen einzigen Gedanken ansehen konnte, wie er sich abermals über den Hals rieb, auf dem sich die Hände des Magiers in Form von Blutergüssen abzeichneten.

„Au.“, kam dann intelligent.

„Au.“, erwiderte der Zwilling stirnrunzelnd und rieb seinem Bruder ebenfalls kurz über den Hals, bis dieser augenscheinlich keinen Bedarf mehr hatte und sich umsah. Vermutlich hatte er noch nicht viel von dem Zwischenlager mitbekommen...

„Das Kind kommt.“, stellte er dann fest, als die Mutter abermals schrie. Calyri nickte ihm zu.

„Ja. Und Vater hält mit den anderen Männern Rat. Wie geht es dir?“

Und dann war alles wie vorher, als sich die Mienen der Gleichaltrigen wieder einander anpassten und beide ihre Brauen etwas senkten.

„Wunderbar.“, zischte Novaya.

„Siehst du doch, Weib.“, ergänzte Semliya und beide erhoben sich, Ranisin einen vernichtenden Blick zuwerfend. Ihre Schwester verdrehte die Augen.

„Eigentlich soll ich auf euch aufpassen, aber da ihr ja eh nicht auf mich hört, könntet ihr mir wenigstens sagen, wohin ihr geht, damit ich euch im Notfall finde.“

Niray kauerte sich etwas zusammen, als der Wind einige kleine Wolken aufziehen ließ und die Mutter ein weiteres Mal aufschrie. Wo waren nur alle anderen...?

„Nicht weit weg.“, erklärte Semliya knapp und Novaya fügte an: „Kinashi bekommt doch ihr Kind. Das wollen wir doch nicht verpassen...“
 

Das wollte ihr Vater ebenso wenig, aber er dachte im Traum nicht daran, die wichtige Versammlung zu verlassen. Auch das Zelt des Häuptlings war nur notdürftig errichtet und müsste für die Nacht unbedingt noch ausgebessert werden; so hatte man nur auf die Schnelle einen Ort errichtet, an dem sich die Männer des Stammes ungestört beraten konnten. Und zu beraten gab es an sich einiges, auch wenn das Zusammenfinden zunächst doch etwas kindisch wirkte, als Moconi überdramatisch auf seinen besten Freund Karem zeigte und ihn beschuldigte, abermals an allem Schuld zu sein.

„Du hast die beiden hier angeschleppt, niemand wollte die hier haben! Ich verstehe bis jetzt nicht, was du dir dabei gedacht hast... wolltest du damit unsere nicht vorhandene Überlegenheit demonstrieren?!“

Der Mann zischte, sichtlich verärgert. Wenn das so weiter ging, gab man ihm demnächst auch noch die Schuld an schlechtem Wetter oder ausbleibendem Wild – obwohl, letzteres war sogar bereits geschehen.

Ich glaube, sein törichtes Verhalten hat die Götter verärgert, Sanan hat so unsicher gewirkt. Wenn wir nicht auf Wild stoßen, kennen wir den Verantwortlichen...

Karem ballte die Hände zu Fäusten, dass seine Knöchel hell hervor traten. Nicht einmal direkt in sein Gesicht gesagt hatte man es ihm, aber das hatte Tecos nutzlosem jüngeren Bruder Tinash auch in keinster Weise zugestanden. Er hatte es eines Abends am kleinen Feuer seiner Familie zu Wort gebracht und sein Vater Porit hatte ihm stumm zugenickt; Karem hatte es mehr zufällig mitbekommen. Er schielte kurz zu dem jungen Mann, der ihn hinter seinem Rücken, so fand er, beleidigt hatte. Neuerdings durfte er trotz seines geringen Alters und seiner bescheidenen Jagderfolge an den Versammlungen teilnehmen – er ersetzte seinen Bruder. Immerhin war er nicht ganz so großmäulig, aber er stand bei Jorus Vater trotzdem unter einem sehr schlechten Stern.

„Wir sind doch überlegen!“, verteidigte er sich so, „Dherac hat diese Missgeburt schließlich mit Leichtigkeit töten können, was will man denn mehr?“

„Es hätte nicht sein müssen.“, stellte der Genannte sich auf des Häuptlings Seite, „Was denkst du, wie das bei denen ankommen wird, wenn das nächste Mal einer von ihnen hier auftaucht? Die sind uns so überlegen wie wir den Impalas; es ist zwar nicht unbedingt ein Leichtes, eines zu erlegen, aber definitiv machbar.“

Noch ehe Karem etwas erwidern konnte, sprach Porit weiter.

„Der Tod des Jungen war doch sinnlos, Dheracs gestörte Zwillinge – verzeih mir, mein Freund – haben den Kerl doch gereizt bis auf das Äußerste, jeder hätte so reagiert. Und weißt du, was das Schlimmste ist? Es sind magische Wesen, diese Bestien sind dem Himmel viel näher als wir es je sein werden. Vielleicht wissen sie, was geschehen ist? Und was ist mit Kili? Und Teco? Ich denke, ihre Rache kann grausam sein...“

Moconi erschauderte vor Gram und schnappte nach Luft bei dem Gedanken an seine geliebte Schwester. Kili war keine geeignete Frau gewesen, denn obgleich sie bildschön war, war sie eigensinnig und stur und verstand sich auf kaum ein Handwerk wirklich gut, doch sie war das einzige Geschwisterkind, das dem Häuptling verblieben war, und er liebte sie von ganzem Herzen. Früher einmal hatten sie einen Bruder gehabt, aber der war krank geworden und gestorben, noch ehe sie ihn wirklich gern hätten haben können – wäre dies nicht geschehen, so wäre der an diesem Tage an Moconis Stelle gewesen, da war dieser sich sicher.

Tinash hatte ihm unterdessen beschwichtigend eine Hand auf die Schulter gelegt und nach einem Blick in dessen beruhigend lächelndes Gesicht atmete das junge Stammesoberhaupt gezwungen gefasst einmal tief ein und wieder aus. Sein Gegenüber hatte verstanden, dass es nichts mehr brachte, irgendetwas zu entgegnen, es starrte ihn nur noch aus verengten Augenschlitzen an, innerlich kochend vor Wut über diese weitere Bloßstellung vor allen wichtigen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft.

Karem war ein guter Freund Saltecs gewesen, kam dessen Sohn mit einem Mal in den Sinn – was er hier in seinem Wahn aus Wut und Verzweiflung tat, war systematisches seelisches Hinrichten, langsam verlor wirklich jeder den Respekt vor dem mutigen Jäger, dabei war er einst ganz vorn gewesen. Das hätte sein Vater nicht gewollt... Moconi senkte kurz den Blick.

Aber irgendwer musste die Schuld tragen, wer, wenn nicht Karem? Wenn nicht einer zu seinen Fehlern stand, würden die Götter den ganzen Stamm bestrafen... aber wer nahm diese Schmach schon freiwillig auf sich? Er zögerte.

„Dherac.“, kam dann, „Porit sprach klug, Karem hätte in dem Moment, indem er zu seiner sinnlosen Reise aufbrach, niemals ahnen können, was an diesem Tage geschehen würde – Karem, verzeih mir bitte.“

Er neigte leicht den Kopf vor dem Älteren, der darauf bloß geräuschvoll Luft durch die Zähne blies und sich stolz zu seiner vollen Größe aufrichtete. So war es recht, der kleine Spinner hatte es scheinbar endlich erkannt. Tinash schenkte er ein flüchtiges, aber triumphierendes Grinsen, was der sehr junge Mann nicht wirklich verstand und bloß verwirrt errötete, kurz zu dem Häuptling schielend.

„Ich ahne es ja, jetzt bin ich wohl dran.“, schnappte Dherac da und riss so auch die Aufmerksamkeit auf sich, „Bevor du weitersprichst, Sohn von Saltec, will ich dich daran erinnern, was du zu mir gesagt hast, als wir gemeinsam vor dem kleinen Monster standen...“

Er machte eine kurze Spannungspause, in der einzig Karem nicht bei der Sache war, weil er sich fragte, weshalb Tinash sich so höchst verlegen hinter Moconi versteckte und es nicht einmal mehr wagte, auch nur in seine Richtung zu sehen.

Calyris Vater fuhr fort.

Mache mit ihm, was du für richtig hältst. Und ich hielt für richtig, was jeder Vater in dieser Situation für richtig halten sollte – Moconi, Rache hin oder her, dieses Monster hätte beinahe meinen Sohn getötet!“

Ein Raunen ging durch das Zelt. Der Häuptling hatte keine Gelegenheit, etwas zu erwidern, da sprach bereits ein anderer Mann.

„Hast du, Dherac, schon einmal daran gedacht, dass dein Sohn vielleicht selbst daran Schuld war?“

„Besonders bei den Zwillingen kommt es doch auf den einen nicht an!“, stimmte ein anderer ihm zu und der Vater zischte empört und hätte sich beinahe auf die beiden gestürzt, wenn Porit und Karem, die ihm am nächsten waren, ihn nicht im letzten Moment gepackt und zurück gehalten hätten.

„Reiß dich zusammen!“, schnaubte das Stammesoberhaupt an den ärgerlichen Mann gewandt, schielte dann aber auch zu dem verlegenen Tinash, „Du auch, hör auf, deine Hände in meiner Kleidung zu verstecken, du... Irrer.“

Einige der Anwesenden hüstelten, doch Moconi ließ ihnen nicht viel Zeit dazu, sich weitere Gedanken zu machen.

„Weitsicht ist etwas wichtiges, Dhreac, aber das muss ich dir wohl nicht erklären. Du bist ein guter Mann, ich weiß das...“, er senkte den Blick etwas, „Ich habe noch keine Kinder, ich kann nicht nachvollziehen, was du gedacht hast, als Novaya da am Boden lag und fast gestorben wäre... und ich glaube, ich möchte es auch nicht wirklich wissen. Letztendlich hatte er aber auch selbst Schuld. Ich glaube, wir sollten uns so wie so noch einmal über die Zwillinge unterhalten... aber nicht jetzt.“

„Nicht jetzt, ja.“, stimmte der erboste Mann zähneknirschend zu und riss sich gewaltsam los, griff die anderen beiden jedoch nicht an, „Meine ach so bösen Söhne...“

Der Häuptling seufzte. Er war so sauer, aber das musste nun sein...

„In dem Falle, dass dem Stamm etwas zustößt, wirst du für deine... Schuld einstehen?“

„Wirst du es?!“, zischte Dhreac zurück und der Jüngere nickte, „Dann werde ich es auch.“
 

Semliya war fasziniert, auf eine angenehme Art und Weise. Dieser Tag war hart für ihn gewesen und hatte in ihm Ängste hervorgerufen, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Und mit denen er nie wieder Bekanntschaft machen wollte.

Nun stand er so da, ein wenig abseits der Zelte, und konnte nicht verhindern, dass seine Atmung begann, schneller zu gehen als normal, während er wortlos beobachtete, was vor seinen ungewöhnlich hellen Augen vorging.

Novaya seufzte leise, den Kopf etwas in den Nacken lehnend, während Mefasa seinen angeschlagenen Hals über und über mit Küssen bedeckte – und es waren nicht die Küsse einer liebevollen Mutter. Das hätte der Junge dann auch sehr seltsam gefunden, vermutlich noch seltsamer als die Tatsache, dass sie das überhaupt tat, während sie mit der einen Hand durch sein Haar und mit der anderen über seinen Rücken strich. Ihr Baby, das sie in einer Bauchbinde trug, gluckste fröhlich.

„Das tut gut...“, raunte der Zwilling mit dem malträtierten Hals, ebenfalls die Hände hebend und forschend um die hübsche Frau schlingend. Semliya schluckte. Zusehen reichte nicht...

Er trat hinter seine Verlobte und umschlang ihre Taille, sich seinerseits durch den Vorhang an leuchtend rotem Haar bis zu ihrem Nacken küssend.

Was sie hier taten, war absolut verboten... aber das war so vieles und es hatte die Jungs bisher noch nie gestört. Ihre gesamte Existenz war doch verboten, was sollte es also schon? Und in diesem Falle würde man die Schuld ausnahmsweise einmal nicht auf sie schieben, das wussten beide und das wusste Mefasa, denn Moconi hasste sie.

Die Frau ließ von dem Hals ab und richtete sich leise seufzend auf, sich aus den Umklammerungen sanft lösend, aber nicht den Körperkontakt abbrechend; sie nahm beide bei der Hand und führte sie mit sich...
 

Teco hatte das Gefühl, sich schämen zu müssen, aus allerlei Gründen. Zunächst einmal hatte er kein Bedürfnis, seinen Stamm zu finden – aber immerhin genügend Pflichtbewusstsein, um es dennoch zu versuchen. Allein in der Wildnis war es unsicher... hier gab es zwar bis auf die übergroßen Echsen mit den Monsterzähnen, die in dem kleinen Fluss geschwommen waren, keine größeren Raubtiere, die ihnen hätten gefährlich werden können, aber dafür jede Menge kleinere Übel. Der junge Mann hatte das Gebiet Giftland genannt, denn nirgendwo gab es so viele giftige Pflanzen und Pilze, vor denen er seine Begleiterin ständig retten musste, und aggressive Insekten, durch deren Stiche ganze Körperteile anschwollen wie hier. So führte er die junge Magierin tapfer weiter gen Norden – und das war der nächste Punkt, Alaji. Er sah sie als eine Frau, mit der er sich vergnügen konnte, mit einem liebenswürdigen Charakter, bemüht um ihn als Mann an ihrer Seite. Aber so einfach war das nicht – sie gehörte zum grausamen Volke der Kalenao, es war eine gewaltige Schande und eine unglaubliche Beleidigung gegen alle menschlichen Frauen, was er mit seiner Begleiterin so teilte, und passte wahrlich nicht zu so einem grandiosen Krieger, wie er es war. Und es nagte an ihm und seinem Selbstbewusstsein – zu wissen, dass man einen Fehler beging und trotzdem unfähig zu sein, etwas dagegen zu tun war wahrlich ein Fluch.

Während er so nachdachte, dabei auf seine Füße starrend, bemerkte er nicht, dass Alaji plötzlich neben ihm zum Halten kam.

„Teco!“

Er blinzelte. Was war los? Er folgte ihrem Fingerzeig geradeaus, wo man im Licht der Sonne das Glitzern von einer gewaltigen Menge Wasser erkennen konnte. Er pfiff durch die Zähne. Der große Strom...
 

Die dank Shiran gar nicht so unverhoffte Erlaubnis, das Zimmer zu verlassen, war Kili nur zu Gute gekommen – das Dorf an diesem frühen Abend anzusehen war wahrlich interessant. Nicht, dass sie es vorher jemals richtig hätte ansehen können, weshalb es ohnehin interessant war, aber augenscheinlich wurde irgendetwas gefeiert. Man hatte ein großes Feuer auf dem Dorfplatz errichtet, um das einige Magier nun tanzten, während viele andere drum herum standen und im Takt der seltsamen Gesänge mitklatschten. Sie erkannte alles nur schemenhaft – ihr Haus war offenbar ein gutes Stück außerhalb – als sie überrascht wurde und vor Schreck beinahe die Klippe herab gestürzt wäre, die sich einige Fuß vor dem Eingang ihres momentanen Heims erstreckte. Sie schrie auf und kam ins Taumeln, konnte sich aber noch einmal halten und keuchte erschrocken auf bei dem Anblick der sehr schlecht gelaunt wirkenden Nadeshda, die plötzlich einfach um die Ecke gekommen war und in das Gebäude hatte humpeln wollen. Nun hielt sie sich, augenscheinlich etwas irritiert, am hölzernen Türrahmen fest, die Jüngere skeptisch musternd.

„Muss... diese Frau ihr Name schreien damit weiß dass kommt und nicht runterspringt Berg?“, schnappte sie dann, eine Braue hebend und kurz leicht schwankend.

Kili kicherte unbeholfen.

„Bana che, Nadeshda.“, begann sie zunächst höflich, sich komplett zu der unglaublich kleinen Magierin wendend, dem Dorf den Rücken kehrend, „Nein... harc, natürlich nicht, ich... habe geträumt. Was feiert man da? Darf ich mitmachen? Ist Mahrran denn da?!“

Die Blauhaarige zischte über die ziemlich gute Laune der einstigen Gefangenen, die nun viel mehr das geliebte Spielzeug ihres Bruders geworden war. Oh ja, ihr Bruder – der einzige, der ihr helfen konnte, aber davon ahnte die Menschenfrau nichts.

„Wird eine Mädchen zu Frau da.“, erklärte die Magierin dennoch gnädig, kurz das Gesicht über den flammenden Schmerz in ihren Beinen verziehend, „Wird... geehrt da. Macht Mahrran zu Frau sie ei... eigent... äh... sonst.“

Sie grinste ein eigenartiges Grinsen, die spitzen Zähne entblößend wie ein Raubtier vor seiner Beute. Kili erschauderte, versuchte sich jedoch nichts anmerken zu lassen.

„Will Mahrran aber... nur noch seltsame Frau... seine. Macht Shiran so... werat Etay!“

Sie wandte sich schlecht gelaunt ab, die Tür mit der heimlich letzten Kraft, die sie an diesem Tag besaß, aufschiebend, als sie merkte, dass ihre Beine sie nicht mehr viel länger tragen würden.

„Diese Frau... lacht Bruder aus... wenn bekommt Kili... ein Baby... diese Frau nicht sollte... lachen.“

Damit verschwand sie und ließ die Jüngere allein, die ihr irritiert nachsah, sich schließlich aber wieder abwandte und weiter dem Treiben im Dorf folgte. Ernsthaft geantwortet hatte die Kleine ihr nun nicht wirklich, stellte sie fest, als die See ihr einen sanften, salzigen Wind entgegen blies und ein paar der weißen Seevögel über ihr kreischten. Es war kein schönes Geräusch, aber die junge Frau mochte den Klang, weil er ihr in der vergangenen Zeit, die sie hier verbracht hatte, gezeigt hatte, dass es außerhalb von Mahrrans Zimmer noch Leben gab. Nun konnte sie die gefiederten Tiere sogar ansehen, wie sie so unendlich frei weit über ihrem Kopf kreisten. Und dennoch hoffte sie, dass ihr Entführer bald zurückkäme... oder dass Nadeshda sich mit ihr unterhielte. Kein so seltsam angehauchtes Gespräch wie das vorangegangene, nein, einfach nur ein kleiner Tratsch unter Frauen. In Kili zog sich etwas zusammen. Ihr fehlte die menschliche Nähe so sehr...

Als einige Augenblicke später noch immer nichts von dem halbblinden Mann zu sehen war, wandte sie sich ab und betrat das Haus, das so lange ihr Gefängnis gewesen war.

„Nadeshda?“
 

Im Lager war man verwirrt. Alle waren verwirrt und Dherac war sauer – das war er ohnehin noch gewesen, aber nun war er es noch mehr. Während vor seinem Zelt der Stamm so vor sich hin tuschelte, hockte er eingeengt mit seinen Kindern, mit Ausnahme der Zwillinge, am Schlaflager seiner Frau Kinashi, die ihre kleine Tochter in den Armen hielt und zum ersten Mal säugte. Es war ein kräftiges Baby. Tanest, die unter anderen bei der Geburt der Kleinen geholfen hatte, musterte das Kind mit in Falten gelegter Stirn.

„Sprich!“, zischte der Mann da zu der erschöpften Vielfachmutter, „Mit wem hast du mich hintergangen, Kinashi?!“

„Mit niemandem!“, schnaubte diese darauf säuerlich und Calyri hob unbeholfen beide Brauen, nicht wissend, wem sie Glauben schenken sollte. Tanest mischte sich ein, obwohl es ihr nicht ernsthaft zustand – allerdings bekam sie mehr Gehör als alle anderen in dem Moment bekommen hätten.

„Das Kind hat das Gesicht aller deiner Kinder, Dherac! Nicht die Farben, das stimmt... aber hat überhaupt irgendwer hier solches Haar? Oder solche Haut?!“

Der Vater musterte das Baby knurrend, den weißblonden, kaum zu erkennenden Haarflaum, die ebenso helle Haut und das Gesicht, das tatsächlich stark an das seiner älteren Kinder erinnerte.

„Die Götter spielen komische Spiele... sie schenken uns gern seltsame Kinder...“, stellte Kinashi seufzend fest, dem Säugling jedoch wohlgesonnen streichelnd. Es war doch ein gutes Mädchen, es würde zu einer starken, hübschen Frau werden...

„Vielleicht wird sie ja erst später dunkler?“, Niray legte den Kopf leicht schief. Jetzt war sie in Sicherheit, sollten die Wolkendämonen doch kommen. Mama und Papa konnten sie beschützen.

„Habt ihr nicht einmal gesagt, als ich ein Baby gewesen bin, bin ich auch heller gewesen?“

Kinashi lächelte leicht. Niray war doch noch klein...

„Aber nicht so hell. Das sehe ich zum ersten Mal, um ehrlich zu sein.“

Und wieder lagen alle Blicke auf dem Neugeborenen, das unbeeindruckt nuckelte und sich so gar keine Gedanken um seinen viel zu hellen Teint machte. Was in diesem Moment niemand so genau bedachte war die Tatsache, dass das Mädchen in seinem späteren Leben einige Probleme mit der intensiven Sonneneinstrahlung haben würde – ändern hätte es ohnehin niemand können.

Die Gedanken der Anwesenden wurden unterbrochen, als es am Zelteingang raschelte und mit einem Mal die Zwillinge hinein schlüpften und sich dazu quetschten. Die beiden Jungen waren erschöpft und hochrot angelaufenen, als alle Blicke auf ihnen lagen. Novaya räusperte sich.

„Entschuldigt, wir... wir waren noch beschäftigt. Es... tut uns Leid, das kleine Geschwisterchen nicht sofort begrüßt zu haben, Mutter.“

„Alles in Ordnung bei euch beiden?“, fügte Semliya an und strich sich seufzend durch sein dunkles Haar. Scheinbar waren beide gerannt...

Dherac pfiff durch die Zähne, den Blick von seinen ältesten Söhnen abwendend.

„Ihr macht so wie so nur Ärger!“, warf er ihnen vor und seine Frau schlug die Lider nieder, „Seht euch eure Schwester an und sagt, was ihr denkt.“

Offenbar tatsächlich von so etwas wie einem schlechten Gewissen geplagt beugten sich beide Jungen artig nach vorn, um das kleine Baby zu mustern. Calyri bemerkte verwundert, wie sich ihre Augen weiteten bei dem Anblick des hellen Kindes. Nicht, dass das seltsam gewesen wäre... zumindest nicht bei allen anderen, aber das waren Novaya und Semliya.

„Was sagt ihr?“, seufzte Kinashi, während ihre jüngste Tochter im selben Moment von ihr abließ und die ebenso extrem hellblauen Augen schwerfällig öffnete, um kurz die beiden großen Brüder zu mustern und sich dann der Erschöpfung hinzugeben. Die Mutter quiekte überrascht, als Semliya ihr den Säugling mit einem Mal aus den Armen nahm, extrem zärtlich, und sowohl er als auch sein Zwilling ihn mit strahlenden Augen betrachteten.

„Sie ist wunderschön!“, stieß Novaya da hingebungsvoll aus und sein Bruder ergänzte: „Eine schneeweiße kleine Göttin.“

Das Baby ließ sich nicht beirren, auch nicht von der darauf äußerst dümmlich drein schauenden Gesellschaft um es herum. In Semliyas Armen lag es sich vermutlich genau so gut.

Calyri legte den Kopf unterdessen leicht schief. Sie fand den Anblick ebenso abstrus wie auch rührend – nie hatten sich die Zwillinge für eines ihrer Geschwister begeistern können, dass ausgerechnet dieses seltsame kleine Mädchen ihre Herzen erweichte, erfreute die junge Frau. Sie wollte das Beste für ihre Familie... vielleicht brachte diese Zuneigung ja mehr Einheit?

„Wie heißt sie?“, kam dann von einem der beiden und ihre ältere Schwester hüstelte überrascht; in Gedanken versunken hatte sie sie gar nicht unterscheiden können.

Semliya wiegte den Säugling unterdessen liebevoll. Novaya war es, der aufsah und dann weitersprach.

„Können wir sie Morny nennen? Der Name ist doch wundervoll.“

„Bitte.“, unterstützte sein Bruder und Kinashi blinzelte irritierter denn je. Es stand den Geschwistern nicht einmal im Ansatz zu, sich einen Namen für das Kind auszudenken... das hätten die Zwillinge eigentlich wissen sollen. Dherac, der ohnehin gereizt war, zog seine Konsequenzen, indem er Novaya in sein Gesicht schlug; der Junge zeigte bis auf ein kurzes Zucken keine weitere Reaktion darauf, in Semliyas Blick schlich sich dagegen etwas wütendes, als er seinen Vater ansah.

„Dass ihr euch überhaupt wagt...! Ach, ihr macht nur Ärger, ich sollte euch verstoßen!“

Iradu erhob darauf überraschend schüchtern die Stimme; Ranisin fragte sich unterdessen, wie man so dämlich sein konnte.

„Aber... ich finde den Namen auch schön... klingt doch hübsch?“

Er sah sich unbeholfen um und Niray verzog kurz das Gesicht über den offensichtlichen Unsinn. Dherac fuhr bereits grantig zu dem kleinen Jungen herum, ehe Calyri ihr Glück letztendlich ebenso versuchte. Ihre Worte entsprachen nicht der Wahrheit, aber sie musste die Jüngeren doch schützen als ihre Schwester...

„Ich mag ihn auch! Seltsame Sitten für das seltsame Mädchen – Mutter, was sagst du?“

Kinashi mustere ihr Baby, das noch immer in den Armen seines ältesten Bruders lag, ehe sie für ihre Tochter zu ihrem Mann sprach – die junge Frau durfte zwar Dinge in den Raum werfen, aber niemals in diesem Ton zu einem Mann, ihrem Vater schon zwei Mal nicht, sprechen. Selbst die Mutter bewegte sich in unklarem Gebiet, aber besser sie als ihr ältestes Kind. Oder Tanest, der dazu ebenfalls noch etwas eingefallen wäre, die aber schlau genug war, sich heraus zu halten.

„Ich finde, Morny ist ein schöner Name, die Kinder haben recht. Ich würde sie gern so nennen... was denkst du, mein Mann? Wie soll Moconi es dem Stamm vorstellen?“

Dherac zischte, dann erhob er sich schwerfällig in dem engen Zelt und drängte sich etwas ungestüm zum Ausgang.

„Hier nimmt mich doch ohnehin niemand mehr ernst!“, grummelte er, als er beinahe draußen war, „Entmündigt von Kindern und Frau – macht doch, was ihr wollt, mich braucht ihr ja scheinbar nicht, ihr Unwürdigen!“
 

Teco seinerseits wusste nicht, ob er sich freuen oder – was viel logischer klang – in Verzweiflung ertrinken sollte. Ertrinken war ein gutes Stichwort, als er den Blick über den breiten Strom schweifen ließ, der in gewaltiger Geschwindigkeit an ihm vorbei rauschte. Das andere Ufer war kaum zu erkennen, so weit weg lag es – dabei war der Fluss noch gar nicht so weit von seiner Quelle entfernt... oder doch? Er wusste nicht genau, wie lange sie gegangen waren... eigentlich war er nicht schlecht darin, Entfernungen einzuschätzen, aber in diesem Land kannte er sich nicht aus und er musste sich eingestehen, dass Alaji ihn in dem ein oder anderen Moment auch etwas ablenkte...

Letztere riss ihn auch dieses Mal aus seinen Gedanken, als sie neben ihm zu sprechen begann. Er verstand sie natürlich nicht, schenkte ihr aber den Respekt, sie dabei trotzdem anzusehen und versuchte währenddessen, aus ihrem Gesicht zu lesen, was sie wohl meinte. Es gelang ihm selten... aber sie war hübsch...

Die blumige Farbe ihrer Augen hielt ihn davon ab, verstehen zu wollen, was sie mit ihrer Gestik bezweckte – und sie bemerkte nicht ernsthaft, dass er nicht bei der Sache war, so schloss sie ihre Rede lächelnd ab, drehte sich um und ging weiter, an dem Fluss entlang. Der Mann, nun aus seiner Starre gerissen, hüstelte.

Aufmerksamkeit, ja. Natürlich würde er ihr nicht zeigen, dass er nicht auf das, was sie ihm hatte mitteilen wollen, geachtet hatte, dachte er sich, während er ihr unauffällig folgte, bemüht um eine Idee, wie sie es auf die andere Seite schaffen konnten.

Die andere Seite des großen Stromes... wenn sie dort angelangten, war es nicht mehr schwer. Teco kannte sein Land, seinen Stamm und die Spuren, die er hinterließ; es würde nicht schwer sein, ihn zu finden. Und wenn er erst einmal wieder da war, würde es wieder so sein wie früher; zumindest wäre es zu hoffen, möglicherweise hatte man ihn ja auch schon vergessen und ersetzt... Tinash. Er erschauderte bei dem Gedanken daran, dass sein jüngerer Bruder ihn im Rat der Jäger vertrat... er hatte nichts gegen seinen Bruder. Sie waren von klein auf grundverschieden gewesen und hatten nie viel miteinander anzufangen gewusst, aber sie waren immer gut miteinander ausgekommen. Aber ihn mit Tinash zu ersetzen passte ihm nicht in den Kram; er war viel besser als Tinash!

Wie auch immer es war, er würde seinen rechtmäßigen Platz schon wieder zurückerlangen, das wusste er. Es musste einfach so sein nach all seinen Strapazen... hoffentlich nahmen sie ihn mit seinem halb verkrüppelten Bein überhaupt noch ernst.

Er erschauderte, als ein leichter Wind in seinem Rücken ihm unter die Weste fuhr. Er kam aus den Bergen...

Alaji war ein viel größeres Problem. Wie hätte er es verantworten können, sie seinem Stamm einfach zu überlassen? Nein, das ging nicht mehr. Er verabscheute sich in gewisser Weise dafür, sie nicht mehr als einfache Gefangene ansehen zu können, seit sie als Frau unter ihm gelegen hatte; gleichermaßen abstrus kam es ihm vor, sie überhaupt als Gefangene ansehen zu wollen. Sie waren ein Stamm von Jägern, nicht von Kriegern – was hatte Karem da nur angestellt, dass er seine Weltanschauung so verdreht hatte?

Ihm fiel auf, dass er viel verpasst haben musste. Vielleicht war Karem gar nicht mehr? Moconi hätte, so sehr Teco seinen Cousin auch verachtete, Recht daran getan, ihn wie Joru auszustoßen. Was wohl aus Joru geworden war?

Alaji sprach abermals, stehen bleibend und die Hände in die Hüften stemmend. Den Fluss visierte sie etwas säuerlich an, dann deutete sie auf das entfernte andere Ufer und schimpfte darüber, vermutlich, weil es so weit fort war. Ihr Begleiter hatte keine Ahnung, was sie vorhatte – letztendlich kam ihm dann aber dieselbe Idee wie auch ihr; einfach dem Lauf folgen und nach einer flachen Stelle suchen, an der man das Gewässer durchqueren konnte. Er fasste sie am Arm und zog sie sanft weiter, sie verschmitzt angrinsend, weil er seine Idee so intelligent fand.
 

„Hat deine Mutter die Geburt gut überstanden?“

Calyri schreckte aus ihren Gedanken. Die Sonne war beinahe untergegangen und die junge Frau hatte sich etwas von dem provisorischen Lager entfernt, um nach Feuerholz zu suchen. Sie hatte bemerkt, dass hier in der Nähe viel herum lag, was sich gut zum Verbrennen eignete; sie hatten zwar auch immer vorrätig etwas mit, aber wenn man schon eine gute Stelle fand, sollte man es auch ausnutzen. Leider war sie etwas spät dran, was es ein wenig gefährlich machen konnte, allein den Stamm hinter sich zu lassen, aber den Nachmittag hatte sie nun einmal damit verbracht, für ihre jüngeren Geschwister zu sorgen und hatte dabei nicht so weit gedacht, dass es ganz sinnvoll wäre, etwas von dem Holz zu sammeln. Ihr Vater war nicht da, er war später mit den Zwillingen irgendwohin verschwunden und eigentlich war es ihr auch ganz recht; sie konnte weder die schlechte Laune Dheracs noch den abartigen Charakter der beiden Jungen gut gebrauchen. Sie hatte gewartet, bis ihre Mutter eingeschlafen war, dann war sie gegangen und hatte die übrigen Kinder Ranisin überlassen – der war zuverlässig und würde sie auch nicht verraten.

An sich war es einer Frau schließlich verboten, ohne den Schutz eines Mannes das Lager zu verlassen – so war sie umso erschrockener, als plötzlich eine bekannte Stimme hinter ihr erklang.

Sie wandte sich errötend um.

„Moconi!“

Er stand da wie jeder andere Jäger in seinem Alter; bloß bekleidet mit einer einfachen ledernen Hose sah man ihm nicht an, dass er der Häuptling war.

„Ich... ja, alles gut. Mein Vater nimmt das Mädchen an... morgen musst du entscheiden, ob du das auch willst.“

Sie blinzelte ihn verschüchtert an. So lange hatte er sich nicht mehr um sie geschert – hatte er etwa endlich eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, länger auf Teco zu warten?

Er kam etwas auf sie zu und bückte sich, ehe er ebenfalls begann, im Gras nach trockenem Gehölz zu suchen.

„Gibt es etwa einen Grund, weshalb ich deine Schwester nicht annehmen sollte?“

Er sah sie nicht an, als sie sich ebenso wieder herab beugte und ihre Arbeit fortsetzte. Obwohl sie sich seit ihrer frühesten Kindheit kannten, machte er sie nervös.

„Ich weiß nicht...“, gab sie zu, „Sie sieht seltsam aus, aber ist gesund. Sie ist ganz weiß.“

„Ihr Aussehen soll sie nicht am Leben hindern...“, er hielt inne und suchte endlich ihren Blick, „Du bist töricht, Calyri, wie kannst du zu dieser Zeit allein das Lager verlassen?“

Sie schmollte schuldbewusst. Ja, darauf hatte sie gewartet.

„Ich kenne mich aus, ich hätte ein Raubtier bemerkt, wenn eines in der Nähe gewesen wäre...“

Er schnaubte, die aufgesammelten Stöcke neben sich ablegend und sich ihr endgültig zuwendend. Er hatte zugesehen, wie sie das Lager verlassen hatte... er war sehr besorgt gewesen, dabei hatte er sich doch eigentlich noch mit Porit treffen und beraten wollen. Er mochte seinen Onkel, es tat ihm Leid, ihn versetzt haben zu müssen.

„Ja, und was nützt es, ein Raubtier zu bemerken? Wenn ich umzingelt von Löwinnen bin, bemerke ich das auch, aber ich werde trotzdem sterben!“

Sie legte ihr Holz ebenfalls ab, zerknirscht die Brauen senkend über seinen Tadel. Na, so fing das aber gar nicht gut an... ihr fiel etwas auf.

„Und wie magst du mich beschützen? Du hast nicht einmal einen Speer dabei...“

Er errötete ertappt. Moment, Speer? Die lagen allesamt friedlich in seinem Zelt und warteten auf Benutzung, wie peinlich.

Genau das war der Grund, weshalb er sich seit Ewigkeiten schon als ungeeignet für einen Häuptling hielt... er war doch viel zu verstreut. Er hatte seine Kindheitsfreundin gesehen und war ihr einfach blindlings gefolgt, wie dumm.

„Eben, aus diesem Grund sollten wir schnell wieder zurückkehren!“

Er erhob sich und sie tat es ihm gleich, hielt ihn allerdings zunächst davon ab, sich nach dem gesammelten Brennholz zu bücken, indem sie ihn am Arm fasste, was ihr an sich nicht zustand. Sie musterte ihn unwillkürlich... er war so ein hübscher Mann. Schlank und stark und obwohl er es vermutlich nicht einmal wollte mit einem solchen Stolz in der Haltung, dass es bei ihr Herzrasen verursachte. Sie musste es endlich aussprechen.

„Worauf wartest du?“, fragte sie ihn direkt, „Teco ist ewig weg! Er wird nicht wieder kommen und du kommst langsam wirklich in ein Alter, in dem ein Mann eine Frau braucht! Bin ich dir nicht gut genug?!“

Sie war hochrot angelaufen. Er senkte den Blick etwas, dann schnaubte er, ebenfalls mit einem unverkennbaren Rotschimmer auf dem gebräunten Gesicht.

„Deine Zunge sitzt ganz schön locker, dafür, dass du nur ein junges Weib bist...“

„Ich darf das!“, behauptete sie trotzig und deutete auf die Krähenfeder an ihrem Ohr, offensichtlich etwas ärgerlich.

Er verstand sie ja... er seufzte.

„Es ist schwierig...“, begann er, sich dabei am Kopf kratzend und sein Haar noch mehr zerzausend als es ohnehin schon war, „Teco ist weg... ja. Aber das hat es noch schwieriger gemacht, ich meine, wie sieht denn das aus? Ich warte, dass er bei Seite geschafft ist, um mich über seine Braut herzumachen? Als Häuptling darf man sich auch nicht alles erlauben. Außerdem möchte ich Porit nicht verärgern... der übrigens auf mich wartet.“

Er sah sich verlegen um und bemerkte, dass die letzten Strahlen, die die Sonne ihnen an diesem Tag geschickt hatte, verschwunden waren. Sie sollten ernsthaft zurück...

Calyri stampfte keuchend auf.

„Teco! Immer nur Teco! Und ich? Ich wollte Teco nie, aber du hast mich einfach an ihn abgeschoben, nur damit der Stamm denkt, Ach, was haben wir einen rücksichtsvollen Häuptling, Saltecs Sohn ist wirklich ein guter Kerl, wir sollten uns alle ein Beispiel an ihm nehmen!, aber weißt du was, du bist in Wahrheit ganz furchtbar, weil du nur an dich denkst, nur an dein Ansehen! Einst waren wir Freunde, aber ich bin dir mittlerweile vollkommen egal! Und so jemandem wie dir renne ich nach, dabei hat mir meine Mutter den Stolz einer Frau eigentlich vererbt!“

Sie keuchte und fragte sich einen Augenblick, was sie da gerade angerichtet hatte. Ihr Mundwerk war viel zu groß gewesen... dafür hätte er sie gern ausstoßen können, das wäre sein Recht gewesen, oder sie einfach zu töten; sie zu erwürgen oder mit einem dicken Stück Holz zu erschlagen.

Als sie ihm in die Augen sah, wusste sie jedoch, dass es nicht geschehen würde. Er war so stolz und trotzdem wehrlos wie ein Kind...

„Ja.“, erwiderte er nur leise, „Da hast du wohl recht. Genau so wird es sein, immerhin verstehst du mein Motiv...“

Sie keuchte, ehe sie sich unbeholfen selbst durch das lange, braune Haar strich. Das konnte nicht sein Ernst sein...!

„DU bist der Häuptling, setze dich doch über Teco hinweg, nimm dir, was du willst, du kannst tun, was du willst, mach es doch einfach, du machst dir dein Leben nur unnötig schwer! Nimm mich doch einfach zu deiner Frau! Oder eine andere, damit ich weiß, dass ich nicht mehr hoffen muss, aber tu doch etwas!“

Ja, sie war wahrlich Kinashis Tochter, sie konnte sich behaupten, wenn sie wollte. Und sie hatte Recht – und es ärgerte sie, dass er es wusste und nichts dagegen tat.

Er senkte die Brauen, dann hob er das Brennholz auf und wandte sich ab.

„Das widerspricht meiner Natur, Calyri. Ich will dich, aber ich will damit niemanden verärgern.“

Ihr wurde heiß und kalt gleichzeitig. Er wollte sie? Er wollte sie!

„Ich nehme dich an, nimm meine Hand, niemand wird verärgert sein und wenn doch, es ist egal, du bist der Häuptling!“

Er blickte über die Schulter wieder zu ihr, wie sie ihm ihre Hand bereitwillig entgegenstreckte, und beinahe hätte er es getan, er hätte danach gegriffen und es damit besiegelt. Und dann sah er sie vor seinem inneren Auge, die Blicke, die Verachtung... sie würden ihn stürzen, wenn er einen Fehler beging, Teco war beliebt, obwohl er ein sehr großes Mundwerk hatte. Und seine eigene Familie verriet man schon zwei Mal nicht...

„Lass das, Calyri.“, bat er so ruhig, „Es geht nicht.“

Moconi war überrascht, wie wütend die junge Frau, die er schon so lange kannte und mochte, werden konnte, als sie ihre riesigen Antilopenaugen zu schmalen Schlitzen verengt hatte und die Hand wieder sinken ließ.

„Du bist kein Häuptling, du bist abgrundtief bedauerlich, du kleines Kind.“

Ihr eigenes Holz vollkommen vergessend schritt sie erhobenen Hauptes an ihm vorbei, wieder zurück in Richtung Lager. Sie wollte nichts mehr hören... sie wollte heulen.

„Ich weiß, dass ich ein Versager bin!“, rief er ihr mit zitternder Stimme nach, „Danke, aber ich habe es mir nicht ausgesucht!“
 


 

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Nach langer Zeit mal ein neues Kapi, yai, ich kann weiter schreiben. ♥

Moconi und Calyri sind ja soooh Drama, ey... XD Ich liebe Naya und Semmi <333

Drohung

Lafila hatte Schmerzen. Sie fragte sich, ob sie auch so stark gewesen wären, wenn Mahrran sie zur Frau gemacht hätte. Sie war bereit dafür gewesen, hatte sogar bereits ihre Blutung gehabt, eigentlich hätte es keine Probleme geben dürfen.

Sie seufzte und schloss die Augen, als sie sich tiefer in die rituellen Felle sinken ließ, schwach versuchend, sich von der blutgetränkten Stelle zu entfernen. Es war normal, dass eine Frau bei ihrem ersten Mal blutete, hatte man ihr beigebracht, manche mehr und manche weniger... aber von einer, die wie eine geschlachtete Ziege ausgelaufen war und sich vor Schwindel und Schwäche in den nächsten Tagen garantiert nicht auf den Beinen würde halten können, hatte die junge Frau noch nie gehört. Aber das, was sie in der vergangenen Nacht erlebt hatte, war auch nicht normal gewesen und bewegte sich hart an den Grenzen dessen, was noch im Willen ihrer Ahnen lag und was diese zutiefst beleidigte. Sie keuchte schwach, als sie durch den Höhleneingang blinzelte, wo sich die ersten Sonnenstrahlen ankündigten. Oh nein... bald würde der neue Tag anbrechen, und dann musste sie aufstehen...

Shiran hatte den Raum direkt nach dem Ritual verlassen. Seitdem hockte er auf einem der zahlreichen Felsen der heiligen Insel und sah dem Sonnenaufgang sehnsüchtig entgegen. Er wollte weg von diesem schrecklichen Ort... und das ging erst, wenn der Tag angebrochen war.

Er hoffte, dass das Ekarett-Mädchen den Weg bis zum Boot und vom Strand nach Hause halbwegs allein schaffte... er hatte sie verletzt. Er hatte es in seiner Not nicht vermeiden können... immerhin hatte er es so geschafft, dass sie in ihrer Gebärfähigkeit nicht dauerhaft eingeschränkt sein würde, aber sie würde dennoch so bald wie möglich eine medizinische Versorgung brauchen, damit sie nicht fiebrig wurde. An sich hatte er gewusst, dass er den kleinen, schäbigen Dolch aus Knochen – die einzige Hinterlassenschaft seines Vaters – nicht zur Verteidigung auf der einsamen Insel brauchen würde. Und dennoch widerte ihn der Gedanke daran an... beinahe so sehr, dass er die recht stumpfe, alte Waffe, die er mehr als nur sorgfältig gereinigt hatte, am liebsten ins Meer geworfen hätte. Er tat es nicht, es hätte den Geist seines Vaters erzürnt und dennoch hatte der Mann beschlossen, das Erbstück sobald er dazu Gelegenheit hatte unter seinem Schlaflager zu verstecken und nie wieder hervor zu holen.

Diese Nacht war eine einzige Zeitverschwendung gewesen. Es gab Wichtigeres als seine Bestimmung als Seher in diesen Tagen; diese Bestimmung diente ihm nur als kleine Unterstützung. Mahrran widerte ihn an, ebenso die Tatsache, dass er noch länger mit ihm zusammen arbeiten musste.

Er erhob sich und zischte. Es war Absicht gewesen!
 

Natürlich. Mahrran grinste bei dem Gedanken daran... hoffentlich hatte er dem Ekarett-Mädchen nicht zu weh getan... der junge Mann war sich ziemlich sicher, dass Shiran es nicht geschafft hatte, sie selbstständig zur Frau zu machen. Die Götter hatten sich darüber auch nicht gerade ausgeschwiegen...

Dass er es geschafft hatte, Nadeshda zu schwängern, musste ein Zeichen epischen Ausmaßes sein. Alle Schicksalsgötter hatten es so gewollt, es war gut, mit dem zugegebenermaßen ziemlich zwielichtigen Seher zusammen zu arbeiten. Und noch schöner war der Gedanke, eine gewisse Macht über ihn zu haben, die seine Schwester mehr und mehr verlor... oh ja. Er kicherte in die Dunkelheit hinein, Kili etwas fester an sich drückend. Und ein tolles Spielzeug hatte er, beinahe konnte ihm seine größenwahnsinnige Schwester leidtun. Wobei, wer wäre an ihrer Stelle nicht größenwahnsinnig gewesen...?
 

„Mahrran!“

Der junge Mann sah beinahe überrascht zu seinem winzigen Gegenüber hinab, dass sich mühsam zu seiner Zimmertür hervor gekämpft hatte, noch ehe er diese hatte öffnen können. Er war spät an, dafür, dass er das Mädchen nicht zur Frau hatte machen wollen, aber zu viele Leute hatten ihn aufgehalten, nach seiner Schwester gefragt und dem weiteren Vorgehen und auch nach dem Grund, weshalb er eine Menschen-Frau bevorzugte. Dass ihr Fleisch besser war hatten viele kichernd hingenommen, aber nun wollte er zu seinem liebsten Spielzeug, seiner kleinen Puppe.

„Du siehst schlecht aus.“, stellte er dennoch gespielt besorgt fest und die Magierin keuchte leise und wäre beinahe zusammengebrochen unter ihrem eigenen, geringen Gewicht. Ihre Knie waren geschwollen und rot.

„Ich weiß.“, schnappte Nadeshda da erschöpft, „Ich brauche deine Hilfe, Mahrran.“

Beinahe passend gaben ihre Beine nach und hätte er sie nicht im letzten Moment gehalten, so wäre sie einfach ungeschützt zu Boden gestürzt. Er zog sie rasch wieder auf die Beine und half ihr, sich gegen die Wand zu lehnen, ehe er schnell wieder etwas Abstand hielt. Sie verabscheuten es, sich gegenseitig zu berühren... sie taten es nur, wenn es gerade nicht anders ging. Und obgleich der Magier sie aus dem Weg schaffen musste, wäre es unvorteilhaft gewesen, sich das so offensichtlich anmerken zu lassen, das verstand sogar er, dabei war er nie der Stratege gewesen...

„Danke...“, sie grummelte mehr, als dass sie wirklich sprach, als sie sich absichtlich ein paar der sehr langen Strähnen vor ihr Gesicht fallen ließ. Sie wollte nicht, dass er ihre Schwäche aus ihren Augen las... das war gerade lächerlich genug gewesen.

Wenn es ihn amüsierte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

„War wohl selbstverständlich... sprich, wie kann ich dir helfen?“

Auch ohne die Fähigkeiten eines Sehers hatten die Götter Mahrran das Offensichtliche sofort verraten. Er hätte sie aufgebrachter erwartet... sie musste wahrlich sehr erschöpft sein. Shiran war genial... und dass Alaji nicht hier war, musste auch ein Geschenk der Götter sein. Eine weitere Bestätigung, dass sie das Richtige taten.

„Ich... habe einen Fehler gemacht.“, begann die junge Frau da, mit den Händen über den kalten Stein hinter ihr streichend, „Ich... misstraue Shiran... aber er ist ein schöner Mann. Er ist wirklich ein... sehr schöner Mann, weißt du? Letztendlich erwarte ich nun ein Kind, das es nicht wird geben dürfen... du weißt, was ich für unseren Clan-Zweig geplant habe. Ich kann es nicht vernichten, ohne mir selbst zu sehr zu schaden – meine Beine machen mich so schwach, es würde mich umbringen – also bitte, du musst mir den Gefallen tun und dafür sorgen, dass es bald geboren wird, ohne Leben. Es ist wichtig.“

Mahrran musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Wie peinlich es ihr war... die Dunkelheit war zwar ihr Element, aber dem Mann entging die leichte Röte auf ihren hinter einem seichten Vorhang aus Haar versteckten Wangen dennoch nicht.

Er hob scheinbar überrascht beide Brauen.

„Was?“, entfuhr es ihm, „Du hast mit ihm verkehrt? Wie konnte es dazu kommen?“

Das war gemein. Sie verengte ihre Augen etwas, obwohl sie den Blick abgewandt hatte.

„Frage nicht weiter. Entferne es einfach.“

Beinahe schade, er hätte gern etwas über jenen sicherlich sehr lustigen Moment gehört. Dennoch setzte er einen grimmigen Blick auf.

„So einfach nicht! Du bist zwar eine Tochter des Himmels, aber auch nur eine Frau – was bist du für ein Vorbild, wenn du dich nicht an die Regeln hältst? Weiß Shiran...? Natürlich weiß er. Du solltest ihn zum Mann nehmen, er wird sicher bald danach fragen. Was das betrifft ist er vernünftig, da bin ich mir sicher.“

Noch ehe Nadeshda ihre Starre des blanken Entsetzens überwinden konnte, hatte ihr Bruder sich abgewandt und die Tür zu seinem Raum geöffnet.

„Deine Pläne sind hinfällig... wenn du nicht auf die Zeit des Monats achten kannst, dann musst du ab jetzt den Weg einer normalen Frau gehen.“

Dann war er eingetreten und hatte sie stehen lassen.
 

Ein zögerliches Klopfen an seine Tür ließ ihn den Kopf heben. Er murrte. Musste das nun sein?

„Was ist?“

Sie öffnete sich einen Spalt, aber niemand trat ein. In diesem Moment war dem jungen Mann klar, wer es nur sein konnte. Er ließ sich ignorant zurück in sein Lager fallen.

„Was, Mabalysca? Hat es nicht Zeit?“

Es dauerte einen kleinen Moment, ehe die hohe Stimme der jüngeren Schwester erklang. In diesem Zeitraum begann Kili, aufzuwachen.

„Ich... weiß nicht. Shiran ist da. Gerade gekommen. Du hast doch in letzter Zeit viel mit ihm zu tun...“

Die Menschen-Frau vergrub ihr Gesicht an der nackten Brust des Magiers. Der fuhr sich müde über sein Gesicht, als schwaches Sonnenlicht durch sein nach Norden gerichtetes Fenster ihn berührte. Da war es doch schon später, als er gedacht hatte.

„Will er mich denn sehen? Hat er nach mir verlangt?“

Vermutlich, wenn Mabalysca an seiner Tür stand, aber irgendwie vermittelten ihm die Götter des Wassermondes ein anderes Gefühl. Sie zögerte kurz.

„Nein. Er ist bei Nadeshda... ich glaube, sie ist nicht froh darum.“
 

Das war sie definitiv nicht. Und er auch nicht – es kam selten vor, dass der Seher sich seine schlechte Laune anmerken ließ und an diesem Tage hätte die kleine Frau ihm für seine ungewöhnliche Ehrlichkeit am liebsten in sein Gesicht geboxt. Aber sie war zu schwach, so versuchte sie es gar nicht erst – sie war mehr beschäftigt damit, sich aus seinem festen Griff zu befreien, mit dem er ihre schmalen Unterarme gepackt hatte.

„Stell dich nicht so an!“, zischte er sie mit einem bösartigen Funkeln in den Augen an, „Du wirst keine andere Wahl haben! Du kannst dich entweder so lange zieren, bis jeder deinen Bauch sieht oder du nimmst mich an – was denkst du ist wohl peinlicher für dich?“

Sie schnaubte, dann quiekte sie, weil er sie dichter zu sich zog und komplett umklammerte, sodass sie keine Chance hatte, sich zu befreien.

„Peinlich!“, fauchte sie zurück, „Denkst du, für eine Frau wie mich ist „peinlich“ von Belang? Ein solch gestörtes Werteverhältnis haben nur Männer! Ich bin eine Tochter des Himmels, das Oberhaupt dieses Dorfes und ich werde niemals deine Frau werden!“

Trotz ihrer Schwäche, die man ihr nach Tagen und Wochen des Auszehrens durch ihre kranken Beine und ihre Schwangerschaft nun deutlich ansah, ließ ihr Tonfall keinen Platz für Zweifel.

Das strahlende Licht der Morgensonne fiel durch ihr Fenster und mit einem Mal wurde der Magierin klar, weshalb Shiran so ungewöhnlich aggressiv war.

Mahrran hatte ihn indirekt ziemlich gedemütigt. Das sollte ihr recht sein, auch wenn sie mit ihrem Bruder ebenso noch das ein oder andere ernste Wort zu wechseln hatte.

Mit einer seiner Hände griff der Mann unterdessen in ihr langes Haar und zog so ihren Kopf nach hinten, so dass sie gezwungen war, ihm in sein hübsches, aber bleiches Gesicht zu sehen.

„Dann beleidigst du unsere Ahnen! Du beleidigst alle jungen Frauen dieses Dorfes, die nach einer Unachtsamkeit ebenso schwanger wurden wie du und deren Väter sie gezwungen haben, die unsittlichen Narren zu ehelichen, welche ihnen das Leben in einem dummen Moment eingepflanzt haben! Du bist vielleicht noch das weibliche Oberhaupt dieses Dorfes, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis niemand dich mehr ernst nimmt, Nadeshda Tankana, du kleine Heuchlerin, denn dafür ist dieser Ort in zu vielen sicheren Händen.“
 

Sundri ahnte nicht, was sich gerade im Hause der Tankanas abspielte. Auch nicht, dass eine gute Freundin von ihr, die sie am Abend zuvor noch als neue Frau gefeiert hatten, nun fiebernd ihr definitiv nicht im Sinne der Ahnen verlaufenes Ritual auskurierte. Wie hätte sie auch sollen, sie war keine Seherin und obgleich ihre Götter dem eher unbegabten, aber aufmerksamen Mädchen, das eigentlich längst keines mehr war, vieles verrieten, so waren ihre Gedanken an diesem frühen Morgen ganz wo anders. Sie waren im Gebirge, das Zerit gerade durchquerte, um ein weiteres Mal mit dem Menschenstamm zu verhandeln – bloß dass die Bedingungen in diesen Tagen noch wesentlich unfairer sein würden als bei seinem ersten Besuch. Sie fand es im übrigen töricht, den jungen Mann ganz allein zu den Primitivlingen zu schicken, waren diese doch längst nicht so dumm und wehrlos wie viele noch immer annahmen. In ihr zog sich etwas schmerzlich zusammen, als sie auf dem kalten steinernen Boden saß und ihn wischte. Sie hatten Chejat etwas Schlimmes angetan... hoffentlich erging es Zerit nicht bald ebenso. Sie würden immer skrupelloser werden, je mehr sie das Volk der Kalenao kennen lernten. Das war verständlich und für ihr Überleben nötig, doch Sundri wäre es am liebsten gewesen, wenn sie nie wieder etwas mit den Menschen hätten zu tun haben müssen. Es hatte ohnehin bessere Möglichkeiten gegeben, als gleich einmal einen abzuschlachten, als Kajiras Brüder das fremde Land betreten hatten...

„Warum bemühst du dich schon so früh am Morgen, junge Frau?“

Die Blonde drehte ihren Kopf zu dem klapprigen alten Stuhl, auf dem der alte Mann saß und ihr sein eingefallenes Gesicht trotz seiner Blindheit wohlwollend lächelnd zugewandt hatte. Sie lächelte zurück, denn ebenso wie sein Enkel war er ein sehr passabler Magier und würde spüren, was sie in diesem Moment empfand.

„Ich möchte meine Arbeit einfach nur gut machen.“, gestand sie, „Zerit hat mich nicht aus Liebe zu sich genommen – genau genommen kennen wir uns kaum – aber er hatte seine Absichten, als er mich vor nicht all zu langer Zeit hergebracht hat. Ich habe ihm aus seinen Augen lesen können, was er sich gewünscht hat... Ihr seid ihm sehr wichtig.“

Sie wandte sich wieder ab und setzte das Säubern des verwitterten Bodens sorgsam fort. Es war seltsam gewesen, als sie einige Tage zuvor nichts ahnend durch den Ort gegangen war, hatte der etwas sonderbare junge Mann mit einem Mal vor ihr gestanden und ihr erklärt, dass sie ab nun seine Frau sein würde, mit der offiziellen Erlaubnis Nadeshdas. Dem bedurfte es keiner Widersetzung, auch wenn Sundri sich wie jedes Mädchen eigentlich erhofft hatte, eines Tages an der Seite eines Mannes zu gehen, den sie liebte. Zerit liebte sie nicht, aber sie war nicht ernsthaft traurig. Die Götter hatten ihr dieses Schicksal gegeben und sie würde das Beste daraus machen. Chejat hatte immer Recht gehabt, sie hatte einfach zu viel nachgedacht. Jetzt wollte sie einfach eine Frau sein. Sie wollte, dass Zerit staunte, wenn er in die kleine, schäbige Hütte zurückkehrte, weil sie strahlte wie frisch für ein Brautpaar höheren Standes erbaut. Sie wollte, dass er sich freute, weil es seinem Großvater gut ging und sie wollte, dass er sie begehrte – nicht aus Dankbarkeit, sondern als Frau. Sie errötete bei dem Gedanken, der ihr bisher immer fern gewesen war... natürlich hatte sie irgendwann einmal eine Gattin sein wollen, aber der Wunsch, unter einem Mann zu liegen und ihn glücklich zu machen war definitiv neu. Sie wischte automatisch schneller, als sie weiter dachte. Zerit war ein recht ansehnlicher Mann, die Vorstellung, ihn ganz nah ohne Kleidung zu sehen, ließ es in ihrem Unterleib kribbeln. Hoffentlich wollte er sich auch mit ihr vereinigen? Er hatte immerhin auch seine Pflichten als Mann, das musste er! Sie würde ihr hübschestes Kleid anlegen, überlegte sie sich, ohne störende Unterwäsche, und ihr blondes langes Haar würde sie offen tragen. Vielleicht würde sie es etwas schmücken... und sie würde sich mit dem guten Öl einreiben, das ihre Mutter ihr mitgegeben hatte als kleines Brautgeschenk. Man hatte schließlich nichts vorbereiten können... ob ihm ihr Körper überhaupt genügte?

Sie fuhr erschrocken auf, als der Alte leise lachte. Als sie sich ihm wieder zuwandte, hatte er seine Position kaum verändert. Die Morgensonne strahlte sanft durch das kleine Fensterloch neben ihm und enthüllte die gute Arbeit der jungen Frau in besten Licht. Hoffentlich würde Zerit an einem klaren Morgen zurückkehren...

„Wenn du ihm nicht genügen würdest, wärst du nicht hier, Sundri. Er hat nicht auf gut Glück gewählt... das passt nicht zu ihm, er überlässt nichts dem Zufall.“
 

Kajira fiel es schwer, sich an alles zu erinnern. Chejat war tot... und er war eine Weile fest davon überzeugt gewesen, dass er es auch war. Dann war er aufgewacht und sein von seiner mehr oder minder überstandenen Krankheit dröhnender Kopf hatte ihn schnell daran erinnert, dass er noch am Leben war – und bleiben musste. Das war er seinem Begleiter für gefühlte Ewigkeiten wahrlich schuldig. Jetzt lag er in einem anderen Zelt als dem, das er kannte, nicht gefesselt, aber auch unwillig, sich zu bewegen. Es stank nicht mehr so abartig nach irgendetwas Fauligem und das Innere war ordentlich und beinhaltete Dinge, die ein Mensch zum Leben brauchte, und nicht nur vergammelndes Fleisch. Augenscheinlich hatte irgendwer ihn mit in seine eigene Familienunterkunft genommen. Einen Moment lang wunderte er sich über diesen Leichtsinn, im nächsten fiel ihm ein, dass man ihm eigentlich ansehen musste, wie erbärmlich es ihm ging. Dennoch hatte er genügend Kraft, zusammen zu zucken, als sich ein Fellstück in der Außenwand zur Seite schob und ein junges Mädchen herein gekrabbelt kam, kurz inne haltend, als es entdeckte, dass er wach war. Es schien keine ernsthafte Angst vor ihm zu haben, bemerkte er jedoch recht schnell, denn in ihren braunen Augen stand nur wenig Verstand, obgleich sich bereits zierliche Rundungen an ihrem Körper abzeichneten. Es lächelte, dann murmelte es etwas auf seiner eigenen Sprache und kroch auf ihn zu, sich neugierig über ihn beugend. Er drehte sich schlapp auf den Rücken, positiv überrascht über die weichen Felle, auf denen er lag, und fletschte ohne wirklichen Elan kurz wirkungslos seine spitzen Zähne, als sie begann, mit ihrer dünnen Hand an ihm herum zu fummeln. Sie strich über seine Stirn, seine Wangen und durch sein Haar, vorbei an seinem Hals über seine Brust und auch seine Oberarme, dabei immer weiter auf ihn einredend. Er seufzte und schloss die Augen wieder, als er seine Götter leise flüstern hörte. Dieses Mädchen war nicht so weit, wie es aussah... es war nur ein kleines Kind, das ihn neugierig berührte, ohne weitere Hintergedanken. Aus Müdigkeit ließ er es geschehen, obgleich es dank seiner heftigen Kopfschmerzen zum Teil doch recht unangenehm war, dort berührt zu werden. Er musste leben... wenn er ihr etwas tat, war das wohl kaum vorteilhaft für ihn, auch wenn irgendetwas hartnäckig versuchte, ihm einzureden, dass das arme Ding keinem wirklich wichtig war.

Es wurde in seinem Spiel unterbrochen, als eine hagere Frau in das Zelt kam und ihre ohnehin schmalen Augen noch etwas verengte. Dann zischte sie und riss die Jüngere unsanft von dem Magier fort, ihr kräftig in ihr Gesicht schlagend. Kajira öffnete verwirrt die Augen, als das Mädchen wimmernd in einer anderen Ecke verschwand. Die dürre schwarzhaarige Frau musterte ihn kurz, dann legte sie ihm ein nasses Stück Fell, das sie mitgebracht hatte, auf die Stirn. Sie tat es definitiv nicht aus Zuneigung, auch wenn es gut tat, das machte sie mit ihren verächtlich gesprochenen Worten doch sehr deutlich. Wundervoll...
 

„Nadeshda hat Zerit schon wieder in das Menschen-Land geschickt.“

Irlak hob desinteressiert beide Brauen, als er Rato in einer Schale ein dunkelrotes Getränk servierte und sich mit einer eigenen zu ihm an den kleinen, hölzernen Tisch setzte. Unausgesprochen waren sie sich gegenseitig die Lieblingsbrüder unter ihren zahlreichen Geschwistern, so war es nicht seltsam, dass sie sich, wenn sich einmal die Zeit bot, kurz besuchten. Siwali, Irlaks Frau, hob bloß kurz den Kopf von ihrer kleinen Kochstelle, an der sie gerade etwas Holz aufgelegt und mittels eines Feuerzaubers entzündet hatte.

„Nicht einmal Mittag ist!“, schimpfte sie, „Müsst ihr euch da schon betrinken? Irlak, ich dachte, du hättest für besondere Anlässe gebraut!“

Der Mann verdrehte die Augen. Ja, das hatte er auch. Es war eigentlich für Lafilas Ritual gewesen, das er auf unschöne Weise geschwänzt hatte... Himmel sei Dank waren die Feuergötter Siwali nicht günstig genug gestimmt, um ihr seine schändlichen Machenschaften zu verraten. Sie hätte ihn dafür gehäutet...

„Gibt es denn in nächster Zeit welche?“, fragte er so mit gerümpfter Nase und eindeutiger Missgunst in der Stimme, „Lass mich doch mit meinem Bruder trinken!“

Die Frau schnaubte nur, sich wieder der Feuerstelle zuwendend.

„Wenn du mit allen deinen Brüdern einen trinken würdest, wenn du sie triffst, dann wärst du bald tot.“

Die Männer ignorierten die empörten Worte der Frau, die ohnehin nicht gewichtig waren, und Rato seufzte.

„Nein, mal ehrlich, ich glaube, es war ein Fehler.“, beinahe hätte Siwali gedacht, er bezöge sich auf den Alkoholkonsum am frühen Tage, hätte er nicht in jenem Moment aus seiner Schale getrunken. Er wandte den Blick auf den einfachen, dunklen Tisch. Er wollte ihm ja keine Vorwürfe machen...

Irlak trank ebenfalls.

„Ein Fehler? Moment, meinst du die Menschen?“

Er wandte sich um und warf kurz einen stolzen Blick auf den Schal aus guten Fellen, der ordentlich zusammen gelegt auf einem Schemel neben seiner Frau lag. Dann deutete er kurz grinsend darauf und sah dem Älteren wieder in sein Gesicht.

„Zu mehr taugen diese primitiven Dinger auch nicht.“

Rato senkte den Blick in sein Getränk. Er konnte sein Gesicht darin verschwommen erkennen, ehe er wieder aufsah.

„Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, wir waren damals zu voreilig. Sie sind so dumm... ich glaube, es wäre für Nadeshda ein Leichtes gewesen, das Land zu gewinnen, wenn wir ein klein wenig... nun ja, netter gewesen wären. Shiran hat ja gleich gesagt, es sei ein Fehler gewesen und...“

„Shiran?!“

Irlak verschluckte sich, als er seinen Bruder unterbrach. Auch Siwali hob kurz wieder den Kopf, enthielt sich aber – sie wurde ja ohnehin nicht ernst genommen. Diese törichten Spinner.

Der jüngere Mann schüttelte ungläubig den Kopf.

„Auf Shiran musst du nicht hören – solltest du zumindest nicht! Das ist ein Intrigant, vermutlich wäre es bloß für ihn besser verlaufen, wenn wir es anders gemacht hätten. Nein, wir sollten nur auf die Herrin hören.“

„Da hast du vollkommen recht! Bitte...“, seine Gattin war neben ihm getreten und hielt ihm eine Kochschale hin, die er ihr mit einer einfachen Handbewegung mit Wasser füllte, „Shiran war schon immer ein Egoist. Ich kenne ihn lange, ich habe immer in der Nähe von ihm gewohnt und in seinen Augen war immer etwas so zwielichtiges, dass selbst die Götter von mir unbegabtem Ding warnend gezischt haben. Aber hübsch ist er geworden, wenn ich an die Vogelscheuche denke, die er als Junge gewesen ist...“

Sie wandte sich ab und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

„Meine Güte, er ist wirklich, wirklich hässlich gewesen. Aber schief sind seine Zähne noch immer...“

Irlak sah ihr kurz nach.

„Na, die richten sich nicht von selbst. Was interessierst du dich für seine Zähne...?“

„Wie dem auch sei.“, Rato lenkte hüstelnd die Aufmerksamkeit wieder auf sich, ehe er sein Getränk in einem letzten, großen Zug austrank. Etwas zu heftig, stellte er fest, als eine bekannte Hitze zusammen mit leichtem Schwindel in seinem Kopf aufstieg und ihn kurz inne halten ließ, ehe er etwas brüchiger als zuvor wieder weitersprach.

„Irgendwie macht das, was er sagt, oder angedeutet hat, doch Sinn, oder? Auch wenn er es für den eigenen Vorteil gewünscht hat, aber wären wir weniger... brutal vorgegangen, hätte die Herrin es jetzt leichter bei ihren Verhandlungen mit dem Häuptling. Oder wie das heißt...“

Und vor allen Dingen, der seltsame Zerit wäre sicherlich auch erfolgreicher gewesen – dass der spontan auf sein Gegenüber eingehen konnte, glaubte Rato nicht wirklich. Der Spinner, der nicht einmal seine eigene Sprache akzentfrei beherrschte, war doch mental völlig verkümmert...

„Ich vertraue der Herrin!“, Irlak lehnte sich ebenso leicht angeheitert in seinem knarrenden Stuhl zurück, vor sich hin grinsend, „Sie wird es richten. Ich höre auf sie, was Shiran mit seinem schiefen Gebiss sagt, ist mir herzlich egal, so lange es Nadeshda erfreut.“
 

Teco war definitiv der mutigste Mann der Welt, dessen war Alaji sich absolut sicher, als er sie langsam aber sicher durch eine zwar recht breite, aber verhältnismäßig seichte Stelle des großes Flusses brachte. Das Wasser stand ihr zwar bis an die Hüften, aber dank der guten Führung des jüngeren Mannes setzte sie sicher einen Fuß vor den anderen. Er war den Weg zuvor todesmutig einmal allein gegangen, nur, um festzustellen, dass er auch für die junge Frau geeignet war. Dabei hätte es doch auch hier versteckt Riesenechsen mit Lederhaut und Raubtiergebissen geben können! So ein selbstloser Kerl, und das für jemanden wie sie... auch wenn es früher oder später dank ihm für sie dennoch vorbei sein würde, aber sie würde ihm verzeihen, denn er war immer gut zu ihr gewesen.

Das bei der Hitze erstaunlich kühle Flusswasser schwappte immer wieder an ihr herauf, ließ sie erschaudern, aber sich niemals beschweren, wie auch Teco es nicht tat. Nein, er hatte es zudem viel schwerer als sie; mit der einen Hand hielt er sie fest, mit der anderen seinen besten Speer, die weniger guten auf den Rücken gebunden. Das spärliche Gepäck, das sie sich auf ihrer Reise selbst hergestellt hatten und das nun in ein Stück ledrige Haut gewickelt war, balancierte er dabei gekonnt auf dem Kopf, sich weder von der Strömung noch von seinem lahmen Bein aus dem Gleichgewicht bringen lassend. Ja, das war ein Mann...

Sie seufzte dankbar, als sie merkte, dass ihr das Wasser immer weniger hoch reichte und sie bald das andere Ufer erreichen würden. Das Land von Tecos Ahnen, das nach dem Willen der Zwillinge auch bald das Land der Nachfahren der Magier sein würde, war soweit sie verstanden hatte zwar gefährlicher, aber auch wildreicher und schöner als das sumpfige Gebiet auf der anderen Seite des Flusses. Sie würden nach den Spuren des Stammes der Menschen Ausschau halten und ihnen folgen. Und wenn sie sie fanden...

Alaji wandte den Blick vom Ufer ab, als sie kurz davor waren, es zu passieren. Wenn sie sie fanden, dann war es vorbei. Man würde sie als Magierin umbringen oder quälen, vermutlich beides... und sicherlich entehren.

Und als sie ihre Füße wieder auf trockenes Land setzten, schenkte Teco ihr einen Blick, der ihr eindeutig sagte, dass er ganz genau wusste, was sie nun denken musste.
 

Einige Tage waren vergangen, als Zerit die Menschen erneut erreichte. Dieses Mal hatte Iavenyas Karte nicht gestimmt, er hatte auf seine Götter hören müssen, die ihm den Weg dafür aber auch sicher gezeigt hatten. Die Primitivlinge waren ein wanderndes Volk, das wusste er, und so hatte er auch gar nicht erst ernsthaft darauf geachtet. Seine geübten Augen erkannten auch, dass es sich bei dem vor ihm nur um ein Übergangslager handelte und nicht um ein Herbstlager – dafür waren die hiesigen Jagdgründe auch nicht ergiebig genug. Bald würde die Reise weiter gehen, er sah bereits von weitem, dass die Menschen damit beschäftigt waren, ihre Zelte abzuschlagen und sich auf den weiten Weg vorzubereiten.

Er verengte die gelben Augen minimal. Was sollte er den armen Maden androhen? Nadeshda wollte ewige Dunkelheit über sie bringen... er zweifelte nicht daran, dass sie es auch wirklich tun würde, sie war eine begnadete Schattenmagierin. Und sie konnte grausam sein...

Verschwendung. Er dematerialisierte sich in dunklem Nebel, um nicht schon aus Sichtweite vor Speeren flüchten zu müssen.
 

Das unbemerkte Wandern beherrschte er nahezu perfekt. Kaum einen Jäger, der ihm gefährlich werden konnte, fand er bei dem Häuptling vor, als er direkt vor ihm wieder seine eigentliche Form annahm. Ein rothaariger junger Mann, der einzige, der hier, etwas abseits der anderen, bei ihm im Gras gesessen hatte, sprang geschockt schreiend auf und einen Schritt zurück, ehe sein Gesicht die selbe Farbe wie sein Haar annahm vor Scham über sein Verhalten. Moconi erhob sich empört.

„Wie kannst du es wagen, noch einmal zu uns zurück zu kehren?! Wie hast du uns gefunden?!“, fragte er grantig in seiner Sprache, während Zerit sich wie beim ersten Mal keine Gedanken oder Regungen anmerken ließ.

„Ich habe meiner Herrin ausgerichtet, was ihr letztes Mal zu mir gesagt habt. Sie war bedauerlicherweise höchst erzürnt.“

Der Häuptling senkte seine Brauen tief und sein Begleiter reichte ihm mit vor Scham abgewandtem Gesicht einen Speer, der neben ihnen im verdorrten Gras gelegen hatte. Er griff den Schaft grob und brachte die Waffe in eine Position, mit der er es schnell würde beenden können.

„Deine „Herrin“ ist mir so egal wie der Staub im Trockenland! Verschwinde wieder dahin, wo du hergekommen bist, oder ich erlege dich wie eine Antilope und fordere die Frauen auf, dich auch genau so zuzubereiten, ohne deinen Geist zu ehren, damit deine Seele für immer verirrt durch die Welt streifen muss!“

Er streckte ihm den Speer demonstrativ noch etwas mehr entgegen. Zerit ging nicht darauf ein.

„Ich überbringe neue Nachrichten meiner Herrin.“, erklärte er bloß gleichgültig, als auch der Rothaarige es wagte, den Fremden wieder anzusehen, mit deutlicher Missgunst im Blick.

„Die sind mir vollkommen gleich, Bestie, verschwinde wieder!“

Moconi stach mit aller Kraft zu, war aber nicht wirklich verwundert darüber, dass sein Gegenüber sich in diesem Moment wieder in schwarzen Rauch auflöste und nur zwei Fuß weiter wieder in voller Pracht erschien. Der Mann ließ seine Waffe sinken und zischte.

„Feigling.“

Als wäre nichts gewesen sprach der Magier weiter.

„Euer Verhalten ist ziemlich respektlos einer überlegenen Rasse gegenüber, dabei waren wir sehr entgegenkommend. Meine Herrin...“

Der Rothaarige unterbrach ihn empört.

„Überlegene Rasse?! Wir sind doch keine Tiere! Ins Nichts sollt ihr euch scheren, ihr unverschämten Missgeburten!“

Missgeburten, ja. Sie waren nicht primitiv genug für das, was Nadeshda von ihnen erwartete. Und jetzt hatten sie keine Ohren mehr für ihn. Dann anders.

Er verengte seine Augen minimal, als er weiter sprach.

„Meine Herrin ist mächtig. Sie fühlt sich sehr beleidigt durch euer törichtes Verhalten, aber abermals möchte sie gnädig sein und euch die Wahl lassen – entweder, ihr geht auf unseren Tausch ein, oder sie wird euren Stamm in ewige Finsternis stürzen; und zweifelt nicht daran, dass sie das kann.“

Ernsthaft wundern, dass sich in die Augen der beiden jungen Männer ihm gegenüber dennoch Zweifel schlichen und sie auch nicht ernsthaft versuchten, diese zu verstecken, tat er sich jedoch nicht.

Der Himmel zog sich langsam zu, als Zerit wieder auf den Häuptling zu trat, der darauf seine Brauen tiefer senkte, aber nichts weiter sagte. Der andere schielte kurz nach oben, wo sich die Wolken zu Bergen auftürmten. Bald würde es ein Gewitter geben...

Als ein dumpfes Grollen ertönte, hob der Magier seine rechte Hand.

„Wisst ihr, was es bedeutet, wenn meine Herrin euch und euer Land in Finsternis stürzt?“

„Es kann nicht schlimm genug sein, um den Stolz und die Kraft dieser Männer und Frauen zu brechen!“, grummelte Moconi bloß in einem Ton zurück, der der Sturmwolke hätte entsprungen sein können. Sein Begleiter schien nicht erfreut über die für andere vermutlich beängstigend wirkende Autorität des jungen Mannes zu sein, denn in seinem Blick lag eine Bösartigkeit, mit der er den Magier wohl aufgespießt hätte, wenn er gekonnt hätte.

„Es würde mich wundern.“, seufzte Zerit da und ehe der Häuptling die Chance dazu hatte, auszuweichen oder zurückzuschlagen, da hatte er ihm grob auf die Brust geboxt. Er nahm seine Hand nicht wieder weg, als der Mann überrascht nach Luft schnappte, sondern hielt sie in sehr geringen Abstand zu der Stelle, unter der das Herz des Menschen schlug, der darauf abermals mit dem Speer ausholen wollte, aber auf das Erscheinen eines dunklen Nebels vor seiner Brust und einer eisigen Kälte in seinem Inneren gezwungen war, inne zu halten. Er keuchte und riss die Augen weit auf wie ein Tier, das gerade im Angesicht des Todes stand. Beinahe hätte Zerit etwas Mitleid mit ihm gehabt... was er tat, war eine grausame Fähigkeit der Schattenmagier. Die Seele erfrieren und alle Gefühle bis auf einen tiefen, inneren Schmerz verkümmern lassen, bis der Betroffene kläglich daran krepierte. Man konnte es schnell machen und qualvoll langsam... oder die grausamste Art, mit Pausen, in denen die bis dahin geistig verwirrten Opfer seelisch gefangen in einer Welt, die irgendwo zwischen ihrer und selbiger im Dunkelzeitalter lag, von zu vielen Eindrücken und Gedanken erdrückt immer wahnsinniger wurden. Der junge Magier war sich sicher, dass Nadeshda nicht zögern würde, den gesamten Stamm und alle Beutetiere des baldigen Winterlagers mit dazu auf diese Weise zu richten. Was er tat war nur eine Warnung... und als er die Hand wieder sinken ließ, bemerkte er zum ersten Mal die Speerspitze, die sich hart gegen seinen Hals drückte. Er schielte neben sich, wo der rothaarige Kerl stand, mit der Waffe des nun in sich zusammen sinkenden und schmerzverzerrt stöhnenden Häuptlings in der Hand. In seinen Augen stand unermessliche Wut und vermutlich würde er bei einem falschen Wort ebenso wenig zögern wie Nadeshda, um ihn tatsächlich so zu erlegen wie eine gehbehinderte Antilope. Aber er wusste sich zu helfen.

„Sprich, Moconi... das war eine Warnung, möchtet ihr denn, dass es eurem Stamm so ergeht wie dir gerade eben? Nur länger, langsamer... grausamer... es wird euch wahnsinnig machen. Willst du darauf ernsthaft eingehen?“

Er spürte, wie sich der bearbeitete Obsidian noch etwas fester gegen ihn drückte und an einigen besonders scharfkantigen Stellen seine oberste Hautschicht verletzte. Er ignorierte es.

Der Häuptling sah ungewohnt blass in dem gebräunten Gesicht zu ihm auf. In seinen Augen stand noch immer der Schock, den er ihm auf so einfache Art und Weise zugefügt hatte, als er antwortete.

„Wir Menschen haben unseren Stolz, Bestie. In diesem Land haben wir immer gelebt. In diesem Land hat immer schon die Schlange gelebt, die wir traditionsgemäß verehren. Dieses Land ist unsere Heimat. Wir können und werden nicht zulassen, dass es jemals entehrt wird. Und wenn der Schutz dieser heiligen Ehre unser aller Tod bedeuten soll, dann soll es eben so sein.“

„Denn ihr bekommt schon eure gerechte Strafe!“, fügte der Rothaarige an.

Zerit schenkte beiden einen kurzen Blick. Wunderbar, irgendwie hatte er es geahnt. Sie würden nicht so einfach aufgeben... da musste die Herrin sich doch etwas anderes überlegen.

„Wir sehen uns wieder, ihr Schlangenverehrer.“

Und damit verschwand der Magier abermals in dunklem Rauch.
 

„Das wird eine langwierige Sache.“

Shiran stand an seinem gewohnten Platz zwischen den Felsen am Meer. Die See war unruhig und grau und der wolkenbedeckte Himmel hing tief über dem Land, schien die Bergspitzen nicht weit entfernt gar zu berühren. Mahrran schüttelte zischend den Kopf, während er auf auf einem anderen Felsen neben dem Seher stand.

„Das ist Unsinn! Was schert sie sich überhaupt derart um diese abscheulichen Dinger? Wir gehen einfach dorthin, nehmen uns unser Land und der, der sich widersetzt, dem werden wir...“

„Und darum muss Nadeshda bald ihre Macht verlieren. Und das wird sie. Spätestens am Ende des nächsten Mondes wird keiner sie mehr ernst nehmen...“

Die beiden Männer schwiegen kurz. Als sie sich gleichzeitig anschielten, stahl sich jeweils ein Grinsen in das Gesicht der beiden. Grinsen verschiedenster Arten und dank verschiedener gedanklicher Hintergründe...
 


 

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Hm, viel ist glaube ich nicht passiert. Zerit und Sundri wurden etwas ungalant zum Pairing, glaube ich, yai! XD

Freundin Schlange

Mefasa war zufrieden. Sie vermisste Rhik zwar noch immer und an diesem Morgen fühlte sie sich unwohl, dabei war sie zu allem Übel auch noch gezwungen, durch den Nieselregen zu gehen, doch sie hatte wahrlich keinen Grund, sich zu beschweren. Während sie kaum etwas auf ihrem Rücken trug und das Gewicht ihres schlafenden Sohnes in ihrer Bauchtrage das Schwerste war, was gerade auf ihr lastete, trugen die Zwillingsbrüder Novaya und Semliya bereitwillig mehr als nötig. Sogar mehr, als man Jungen mit ihrer Statur zutrauen sollte, um zu beweisen, dass sie bereits Männer waren. Sie lächelte, als sie jedem der beiden kurz einen Blick zuwarf.

Sie sahen sehr angestrengt aus, wie sie versonnen hinter ihr her stapften, beinahe, als würden ihre schweren Rückentragen sie bald in dem weichgespülten Boden versinken lassen. Eigentlich waren sie nicht gruselig, dachte sich die Frau, es waren ganz bezaubernde junge Männer. Mit zwei verschiedenen Seelen... jeder Blinde bemerkte das, fand sie. Sie waren doch ganz verschieden!

Ziemlich zeitgleich bemerkten sie die Aufmerksamkeit ihrer Verlobten und sahen auf, ihr ein stolzes Lächeln schenkend. Sie bewunderte die Einheit der beiden... es war sehr gut, dass sie ihr eine solche Ehre zukommen ließen, sie zu teilen – Moconi gefiel das auch nicht und das machte Mefasa nur um so glücklicher... sie verabscheute den Häuptling.

Das war den Zwillingen auch klar. Sie teilten ihren Hass nicht... aber empfanden auch keine Zuneigung für den jungen Mann, der sie alle anführte. Sie wussten genau, dass er sie am liebsten verstoßen hätte... aber er konnte es nicht, so lange sie sich nichts absolut furchtbares zu Schulden kommen ließen. Sein Vater hatte den Jungen das Leben gewährt, das konnte Moconi nicht mehr rückgängig machen. Wobei sie sein Misstrauen irgendwo verstanden...

„Meint ihr, das schafft ihr auf Dauer?“

Sie wandten ihren Blick von der hübschen Frau ab und Sanan zu, der zwischen ihnen aufgetaucht war.

„Ah.“, machte Novaya, als er ihn erkannte, „Wir haben dich schon vermisst. Wir schaffen es, und du?“

Der Schwarzhaarige pfiff durch die schiefen Zähne, ehe er etwas gezwungen lächelte. Ja, er war klein und vor allen Dingen verhasst zierlich, aber zumindest sein eigenes Eigentum musste er tragen können. Musste einfach... seine Ziehmutter hätte ihm sicher gern geholfen, wie er sie kannte, aber diese Blöße wollte der junge Mann sich nicht geben. Er musste Saltecs Stamm Dankbarkeit zollen, dass er ihn trotz seiner offensichtlichen Schwäche aufgenommen und versorgt hatte und die Allgemeinheit so so wenig wie möglich belasten. Er war erwachsen... er schaffte das.

„Ich schaffe es auch.“, erwiderte er so erschöpft, aber selbstbewusst. Er war ein Mann! Im übrigen fand er den seltsamen Zerit ungemein ermutigend, der schaffte es nämlich tatsächlich noch zierlicher zu sein als der Schwarzhaarige... wie die Magier so wohl leben konnten?

Er verdrängte die Gedanken an das, was ihn heimlich immerzu belastete kurz und sah zwischen den beiden (fast) identischen Gesichter her.

„Ihr bemüht euch sehr... ist bewundernswert. Aber seid ihr euch wirklich ganz sicher damit... ich meine, ich weiß ja nicht.“

Semliya hob nur unbeeindruckt die Brauen.

„Kennst du dich denn aus?“

Das war auch so etwas. Der unbemerkt ältere Zwilling fand immer den richtigen Nerv...

Sanan seufzte leise. Es war nicht so, dass es keine Frauen gab, die er ansprechend fand, ganz und gar nicht... aber was das betraf teilte er mehr oder minder ein Problem mit dem verschwundenen Teco; von seiner Verehrten abgelehnt zu werden, war tief erniedrigend. Und so sehr der junge Mann auch darauf achtete, kein einziges weibliches Stammesmitglied gab ihm Hinweise darauf, dass sie sich seine Zuwendung wünschte, wie es Tradition war. Er war bestenfalls ein guter Freund... er bot einfach nicht das, was ein richtiges Familienoberhaupt haben musste. Er würde immer schwere Probleme haben bei der Jagd... und seine Söhne würden genau so klein und zerbrechlich sein wie er. Vielleicht war es besser, dass er allein bleiben musste.

Diese Erkenntnis anmerken lassen wollte er sich jedoch nicht.

„Ich bin immerhin keine zwölf mehr...“, schlug er schwach zurück, „Ich bin etwas reifer als ihr. Zumindest im Kopf... hey, ich bin auch noch größer als ihr, na sieh einer an.“

Er reckte lächelnd seine gerade Nase in die Höhe und die Zwillingsbrüder grinsten sich kurz an.

„Wie dem auch sei...“, Novaya bückte sich einen Moment später, unter der Last seiner schweren Rückentrage etwas unelegant, um irgendetwas kleines aufzusammeln, das wohl im hier relativ kurzen Savannengras gelegen hatte.

„Ranisin?“

Semliya begann scheinbar wissend zu grinsend, als sein ewiger Begleiter schwankend wieder auf die Beine gekommen war. Ihr wenig jüngerer Bruder, der dicht neben der älteren Calyri ging, wandte sich mit geweiteten Augen dem Gespann zu. Novaya winkte ihn herüber, in der anderen Hand irgendetwas versteckend.

„Wir haben ein Geschenk für dich.“, erklärte er feierlich grinsend und Sanan seufzte, weil er ahnte, was nun geschehen würde. Ranisin war, obwohl er nur wenig jünger war als die Zwillinge, noch zerbrechlich wie ein kleines Kind und weit von der körperlichen Reife der Älteren entfernt, was alle bei ihrer Verwandtschaft verblüffte. Nun ging er, klein und schmächtig wie er war, neben seinen Brüdern her, in seinen Augen die Angst eines Beutetiers umgeben von Löwen.

„Es ist etwas schönes.“, versicherte Semliya und Novaya hob seine Hand über das Gesicht des wesentlich Kleineren und öffnete sie, in dem Moment, in dem er nach oben sah. Auf seiner Nase landete eine kleine schwarze Spinne.

Es folgte ein schriller Schrei.

„Mach sie weg! Mach sie bitte weg, mach sie weg, sie wird mich beißen!“

Während die Zwillinge unter einem mittelschweren Lachanfall litten, bemühte sich Calyri genervt, den Jungen, der wie verrückt quer Feld ein rannte, wieder einzufangen. Was das betraf war der kleine Ranisin wahrlich seltsam; er war bestimmt der einzige Mensch auf der Welt, der sich vor den harmlosen, nahrhaften kleinen Tieren fürchten konnte. Er fürchtete sich überhaupt auch vor ziemlich vielen Dingen... das machte ihn zum geborenen Opfer. Und das würde er auch bleiben, viel mehr noch als Sanan.
 

Knochen... sauber abgenagt, zum Teil verletzt mit Steinmessern. Mancher Alte mit schlechtem Gebiss erleichterte sich das Essen so...

Teco erschauderte, als er auf die Überreste des Übergangslagers seines Stammes sah. Ja, sein Stamm, er erkannte es wieder. Sie mussten vor kurzem aufgebrochen sein... der Menge der Überreste nach zu urteilen war es nicht einmal mit Sicherheit ein Übergangslager, vielleicht hatte man hier bloß den Sturm der letzten Tage abgesessen? Das geschah oft auf dem Weg ins Winterlager, das Wetter verschlechterte sich eben, selbst in der warmen Savanne. Wenn man bedachte, dass das Unwetter erst in der vergangenen Nacht gänzlich abgezogen war, konnten sie noch nicht all zu weit entfernt sein...

Der Jäger grub seine kurzen Nägel verkrampft in den Speerschaft aus gutem Holz, die Brauen tief senkend. Er hatte keine Angst... er hatte nie Angst. Aber wenn sie ihn ersetzt hatten...? Würde er seinen Ruf, seine Stellung wiedererlangen können? Würde ihm auch nur ein einziger abkaufen, dass er mit seinem verkrüppelten Bein noch immer jagen konnte?! Und vor allen Dingen...

„Zato... wai...“

Er sah zu Alaji, die an den Überresten einer kleinen Feuerstelle kniete und die Finger neugierig in die schwarze Asche tauchte. Ja, was wurde aus ihr?

Er erinnerte sich etwas schmerzlich daran, dass er sich geschworen hatte, sie zu töten, wenn es soweit war... sie sollte nicht leiden, hatte er sich überlegt. Nur so konnte er sich seine Ehre vor den Göttern bewahren...

„Erkaltet, nicht?“, er trat neben sie, „Alles andere hätte mich auch gewundert, dann hätte man sie noch am Horizont sehen können müssen. Los... gehen wir...“

Davon rennen hatte keinen Sinn... das war auch der weißhaarigen Frau klar. Doch ihre Augen mit der blumigen Farbe verrieten nichts...
 

„Mach sie weg! Mach sie einfach weg... irgendwer... mach sie weg!“

Dherac wandte sich beschämt ab, als Ranisin jammernd durch die Reihen der Männer rannte. Porit zog dir Stirn in Falten, während er den verzweifelten Jungen mit dem Blick verfolgte und dann plötzlich nach Luft schnappte.

„Tinash, vorsicht!“

Sein zweitältester Sohn, der neben dem Häuptling an der Spitze ging, drehte sich irritiert zu seinem Vater um und konnte so knapp dem blindlings durch die Menge rennendem Jungen ausweichen.

„Du liebe Güte! Was... ach herrje!“

Ranisin ausgewichen war er blindlings in Calyris Bahn getappt, die schreiend über ihn stolperte und so beide umwarf. Sie landeten beide im weichen, aber nassen Savannengras. Die junge Frau hob verwirrt den Kopf und spuckte letzteres aus. Sie sollte sich angewöhnen, beim hinfallen den Mund zu schließen...

„Lass ihn doch rennen, irgendwann wird er müde.“, brummte ihr Vater verhalten und peinlich berührt darüber, dass dank seiner Kinder nach und nach die komplette Gruppe zum Stillstand kam. Wenigstens die weiter hinten bemerkten nicht sofort, wer Schuld hatte...

Moconi hob irritiert beide Brauen, als sein Cousin sich den Rücken, auf dem er gelandet war, reibend wieder erhob und Calyri freundlich wieder aufhalf. Sie nickte ihm höflich zu, den Ratschlag Dheracs befolgend. Irgendwann würde Ranisin erschöpft sein, es war immer so. Aber die Zwillinge gehörten nach wie vor geohrfeigt. Sie wusste, dass es nichts nützte... vor kurzer Zeit erst hatte ihr Vater es versucht... versucht, sie zu normalen jungen Männern zu bekehren. Und das war von reichlich wenig Erfolg gekrönt gewesen. Nicht, dass es jemanden überrascht hätte...

Sie verdrängte die Gedanken daran und senkte den Blick vor dem Rothaarigen kurz etwas unterwürfig.

„Tut mir sehr Leid, dass ich einfach in dich gerannt bin, Tinash, ich hoffe, du hast dir nicht weh getan?“

Er lächelte verhalten und hielt im Reiben des schmerzenden Rückens inne; da würde man sicher etwas von sehen, aber er würde sich sicher nicht beschweren. Dieses Mädchen hatte es schließlich schwer genug...

„Nein, es ist alles gut, nichts passiert. Ranisin kann sich über eine so bemühte Schwester wie dich wirklich freuen, denke ich.“

Sie errötete auf Grund des lieben Kompliments leicht und wagte sich darauf mit dem Stolz einer Frau im Blick, wieder aufzusehen. Tinash war Moconis Cousin, Tecos Bruder... ein ansehnlicher, ruhiger junger Mann. Sie hatte nicht viel mit ihm zu tun, aber er war ihr schon öfters als sympathisch erschienen...

„Deine Worte ehren mich.“, gab sie ehrlich zu und wollte gerade weitersprechen, vielleicht ein kleines Gespräch beginnen, als der Häuptling sich räuspernd einmischte.

Er errötete bei Calyris Anblick etwas, was ihm angesichts der anderen, vor allen Dingen der älteren Männern, peinlich war. Er konnte es nicht vermeiden... dabei gab es für einen Mann einer Frau gegenüber traditionell keinen Grund, sich für etwas zu schämen! Wofür schämte er sich eigentlich...?

Er konnte ihr jedenfalls nicht in die Augen sehen, als er mit ihr sprach.

„Geh bitte wieder zu den Frauen und Kindern nach hinten, damit wir weiter gehen können.“

Sie hielt einen Moment inne, einen Moment, indem er ihren Blick brennend wie die Sommersonne auf seiner gebräunten Haut spüren konnte. Dann wandte sie sich ab und kam seiner Forderung kommentarlos nach, Tinash noch ein kurzes Lächeln schenkend, das er bloß bedauernd erwiderte. Moconi drehte sich wieder nach vorn, kommentarlos, und brachte den Zug so langsam wieder in Bewegung.
 

„Häuptling...?“

„Nein.“

Tecos Bruder schnaubte. Ja, sie hatten sich schon oft darüber unterhalten, aber noch hatte Tinash nicht das bekommen, was er für richtig hielt, also gab er noch nicht auf. Er brummte, den Älteren von der Seite anschielend, während dieser starr geradeaus sah und unbeteiligt wirkte. Unbeteiligter als er an sich war.

„Calyri hat es nicht leicht in ihrer Familie, hast du es gemerkt? Es wäre gut, wenn sie eine eigene hätte, dann hätte sie keine so große Verantwortung mehr für ihre Geschwister...“

„Ja...“, stimmte Moconi monoton zu, „Teco kommt schon wieder. Und wenn er wieder hier ist, ist er auf der Stelle der offizielle Verlobte.“

Sein Cousin kam nicht dazu, sich über die törichte Unvernunft des jungen Häuptlings zu ärgern, da mischte sich Dherac ein. Der Mann trug schwer... seine beiden Zwillingssöhne fanden nicht besonders viel Gefallen daran, im Sinne der Familie zu handeln. Das hatten sie noch nie... es waren keine guten Menschen. Für einen Vater war diese Erkenntnis grauenhaft und so verzog er kurz das Gesicht, ließ es jedoch so scheinen, dass es von seiner Anstrengung her rührte.

„Dein Wort in den Ohren der Götter, Sohn von Saltec!“, er senkte die Brauen, „Aber so sehr ich es auch bedauere, ich glaube inzwischen auch, dass er nicht mehr zurückkehren wird. Verzeih mir, Porit... nimm sie doch einfach an!“

Moconi senkte die Brauen tief über seine dunklen Augen, während er weiter geradeaus starrte, die Landschaft jedoch kaum wahrnehmend dank der wütenden Hitze in seinem Inneren. Immer wieder dasselbe... jetzt fingen die auch schon an! Natürlich wollte Dherac seine Tochter endlich loswerden, nun, wo es noch ein hungriges Maul mehr in seiner Familie gab, aber dass er ihm nun so in den Rücken fiel, traf den jungen Mann.

Beinahe hätte er diese Tatsache auch laut ausgesprochen, da mischte sich sein Onkel Porit ein, der neben Dherac unweit hinter ihm ging, ebenso unter der schweren Last der Rückentragen leise schnaufend. Seinem Blick waren seine Gedanken nicht anzumerken, was untypisch für den teilweise chronisch verwirrten Jäger war...

„Neffe, Teco wird nicht mehr zurückkehren. Es ehrt mich, dass du ihm die Frau nicht nehmen willst, aber wir wissen alle, dass du ein hoffnungsloses Spiel spielst. Mein Kind ist verloren... verschwende die Frau, die von ihm so begehrt wurde, nicht einfach! Damit beleidigst du die Götter!“

Der Häuptling musste sich zwingen, weiter zu gehen und nicht langsamer zu werden bei den Worten, die seine Ohren so eben erreicht hatten. Er führte seinen Stamm selbstverständlich an und musste dafür sorgen, dass so bald wir möglich gute Jagdgründe erreicht wurden, da durfte er den Marsch nicht unnötig behindern. Dennoch starrte er eine gefühlte Ewigkeit zu Porit zurück, in der er über mehrere Steine und kleine Äste stolperte und beinahe hingefallen wäre.

Tinash lächelte seinem Vater für seine Worte dankbar zu. Das reichte nun hoffentlich...

Er wusste, dass es ihm schwer gefallen sein musste... Porit selbst hatte immer nur schwer Anerkennung gefunden, er war recht unbegabt und konnte sich meist nur schlecht behaupten. Dass er einen solch begnadeten Sohn wie Teco hatte zeugen können, hatte alle überrascht, ihn nun los zu lassen hatte ihm sicherlich das Herz gebrochen. Ebenso wie seiner Frau Tanest, die, so hatte Tinash das Gefühl, wenn er das momentane abendliche Verhalten seiner Eltern beobachtete, ziemlich krampfhaft versuchte, noch einmal schwanger zu werden.

Moconi wandte sich schließlich errötend wieder nach vorn. Er schwieg eine ganze Weile, ehe er das verkündete, worauf die Männer mit ihren Worten gewartet hatten.

„Wenn der späte Nachmittag kommt, werden wir rasten. Dann... werde ich mich um diese Sache kümmern. Ich tue es auf eure Verantwortung... niemand soll mir etwas vorwerfen, wenn wir im Winterlager eine Hochzeit feiern!“
 

Sie kamen schnell voran. Zu schnell für Tecos Geschmack. Dabei war es ausgerechnet Alaji, die ihn so antrieb... die sich scheinbar den Tod wünschte, auch wenn ihre Laune keineswegs darauf hindeutete. Er hatte sich beinahe gefreut, als sie im Laufe des Tages auf eine hungrige Großkatze getroffen waren und war dementsprechend tief enttäuscht gewesen, als er das Tier mit nur einem gezielten Speerwurf getötet hatte. Normalerweise freute er sich über sein massig vorhandenes Talent, aber an diesem Tage schien es ihm nicht wirklich ein Freund zu sein. Man hatte ihn immer bewundert... für seinen Mut, seine Zielgenauigkeit und sein Geschick. In diesem Augenblick wäre er jedoch lieber Tinash gewesen. Und Alaji hatte ihm beeindruckt zugejubelt und ihn auf ihrer Sprache in den Himmel gelobt... zumindest nahm er das stark an. Wenn er etwas toll machte, klangen die Sätze, die sie sprach, immer ähnlich...

Es wunderte den Mann nicht ernsthaft, dass sich alles an ihm derart dagegen sträubte, das einzig richtige zu tun. Der junge Jäger hatte seine Begleiterin als eine richtige Frau kennen gelernt, es lag nicht in seiner Natur, Menschen zu töten. Und nach allem, was sie geteilt hatten, war es beinahe unmöglich, Alaji als etwas anderes zu betrachten...

Es war eine Frage der Zeit, bis er es beenden würde. Bis sein Leben wieder zu dem werden würde, das es gewesen war, bevor er sich auf Karems wahnwitzige Reise eingelassen hatte. Zumindest beinahe... sein Bein würde nie wieder das sein, was es einmal war. Aber die Behinderung war nicht derart drastisch, dass er sich niemals damit hätte abfinden können.

Am frühen Nachmittag konnte man am Horizont eine lebendige Ansammlung erkennen... am späteren dann ein Lager. Ja... die Wolken sahen schon wieder nach Sturm aus, Teco verstand ihre Rast. Die Götter waren nicht mit ihm.

Alaji plapperte fröhlich vor sich hin, als er schließlich inne hielt. Er war ein Mann. Er wusste, was zu tun war und er musste – nein, er würde – im Sinne seiner Ahnen handeln. Es war keine überlieferte Tradition bekannt, die eine Regel über das Verfahren mit den Kalenao vorgab, soweit er wusste, aber er war sich sicher, dass der Hass auf die Magier in seinem Stamm gewaltig war. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, eine akzeptable Lösung sowohl für die weißhaarige Frau, als auch für die Menschen zu finden; sie musste sterben, kurz und schmerzlos.

Er blickte ihr entschlossenen in die rosafarbenen, hübschen Augen, die ihn klar ansahen. Sie wusste, was ihr blühte... und war dankbar. Vermutlich hatte sie ebenso geahnt, dass sie in den Händen des Stammes zunächst geschändet und gedemütigt worden wäre, ehe man sie langsam und schmerzvoll erlöst hätte.

„Das verdienst du nicht, Alaji. Ein einzelner Mann ist nichts, das weiß ich, ohne dich wäre ich nicht hier.“

Er blickte auf sein vernarbtes Bein und sie lächelte, scheinbar verstehend, was er zu ihr sagte.

„Ich glaube, du weißt, was geschehen würde, wenn du nun weiter an meiner Seite bleibst, deshalb werde ich...“

Teco hielt inne, als sie ihren Brustkorb demonstrativ weiter hervor reckte und vermutlich am liebsten „Ersteche mich!“ gerufen hätte. Als er es nicht tat, nahm sie an, dass er es nicht für die richtige Art und Weise hielt und stellte sich wieder normal, auf ihren Hals deutend. „Schneide mir die Kehle auf...“

Er keuchte.
 

Calyri tat es ihm gleich. Moconi hatte sie erschrocken, obwohl an sich der gesamte Stamm um sie herum am arbeiten war. Er als Häuptling hätte das an sich erst recht sollen, so schnaubte sie nur beleidigt und sah eingeschnappt zu ihm auf. Zu ihrer Überraschung lächelte er sie an. Sie erhob sich.

„Was wünscht der Häuptling?!“

Sie konnte es nicht vermeiden, säuerlich zu klingen. So lange waren sie gute Freunde gewesen, dann war er zum Mann und sie zur Frau geworden und mit einem Mal war alles so schwierig. Dabei hatte sie ihn eigentlich so unsagbar gern...

Wie oft lag sie nachts wach und stellte sich vor, in seinen Armen zu liegen? Ihm Kinder schenken zu dürfen und für ihn da zu sein... immer öfter fragte sie sich, weshalb eigentlich. Warum ausgerechnet er? Warum nicht Teco? Warum zogen sich bei dem Gedanken daran, sich mit ihm das Lager zu teilen, ihre Eingeweide zusammen? Warum widerte Teco sie so an und Moconi nicht?! Mit ihr konnte doch etwas nicht stimmen...

„Nur Gutes.“, war die nicht sonderlich aufschlussreiche Antwort des Mannes und als sie so an ihm empor blickte musste sie schwer gegen das altbekannte Kribbeln in ihrem Inneren ankämpfen. Er war so hübsch! Kein Mann konnte hübscher sein als ihr Häuptling! Auch wenn die anderen jungen Frauen sie wegen dieser Meinung immer verspottet und lieber Teco hinterher gesehen hatten... umso weniger Konkurrenz für sie, hatte Calyri sich lange gedacht, bis sie gemerkt hatte, dass Moconi sie trotz der begierigen Blicke, die er ihr schenkte, nicht annehmen wollte. Und da hatte der Kampf begonnen...

Er schlug den Blick bescheiden vor ihr nieder, bewusst einige neugierige Augenpaare auf sich und sein Gegenüber ziehend. Allen voran Tinash, dessen Grinsen eine seltsame Mischung aus Freude und Schmerz zeigte.

„Ich habe das Gefühl, keine Frau in diesem Stamm könnte mir eine bessere sein als du es sein wirst. Das heißt, wenn du noch möchtest... du bist stark und willensstark und vermutlich wirst du gute Kinder gebären können.“

Ihr Mund stand mit einem Mal weit offen. Sie verhörte sich wohl gerade? Er sprach weiter.

„Du weißt, wieso ich dich so lange habe warten lassen? Nun ja, ich denke, es ist an der Zeit, dass ich den Mut aufbringe, diesen Schritt zu tun... ich... ach, ich sollte mich schämen, so spricht doch kein Häuptling. Also, Calyri...“

Er fasste nach ihren Händen und sie schnappte hörbar nach Luft.

Nein... das geschah nicht. Geschah es? Diese Geste war sehr eindeutig. Es geschah!

Er lächelte ein hinreißendes Lächeln, ein Lächeln, das er ihr oft geschenkt hatte, als er noch kein Häuptling gewesen war, als er keine Rücksicht auf Teco hatte nehmen müssen. Sie hatte es so vermisst...

In ihre Augen stiegen Tränen der Freude...
 

Sie nahm an, dass das Raunen, das plötzlich durch die Menge ging, aufgrund von dem war, was nun gleich folgen würde und nicht darauf beruhte, was sie ohnehin für unmöglich hielt. Erst, als Tanest in schriller Euphorie aufschrie, schafften die beiden es, die verliebten Blicke voneinander abzuwenden. Vielleicht war es ein Fehler...

Porits Frau stürmte unterdessen durch die in ihrer Arbeit erstarrten Menge quer durch die Ansammlung halb aufgebauter Zelte zum Anfang des Schlechtwetter-Lagers, an dem nun jemand inne hielt, den Calyri niemals in ihrem Leben zuvor so dermaßen verabscheut hatte wie in diesem Moment. Und Moconi auch nicht.

Er war der Häuptling, er hätte sich über die überraschende Rückkehr eines seiner besten Jäger freuen sollen. Er hätte ihn sofort empfangen müssen, strahlend, ihn in die Arme schließen und sofort anordnen, alles für ein möglichst großes Fest vorzubereiten. Aber er tat es nicht. Er krallte sich nur verkrampft an die mit einem Mal eiskalten Hände der jungen Frau, während Tanest sich an den Hals ihres ältesten Sohnes warf und hemmungslos zu weinen begann.

Teco starrte apathisch über das Lager, verharrte kurz auf dem Gesicht seines Vaters, dessen Starre sich daraufhin löste und ihn auf sich zu treten ließ.

„Du bist wieder da! Ich wusste, dass du wieder kommen würdest! Mein Teco! Mein Junge! Mein bestes Kind!“

Seine Mutter gab sich keine Mühe, sich zusammen zu reißen, sie war überglücklich. Ihre Freude riss ihren Sohn in die Realität zurück. Er war zurück – er war zurück!

Glucksend erwiderte er ihre innige Umarmung und im nächsten Moment fiel der hauptsächlich positive Schock von den Menschen ab und lachend und rufend stürzten sie auf den Heimgekehrten zu.

Moconi zog zischend die Luft ein, als er wieder zu Calyri sah. Die Tränen, die nun in ihren Augen standen, kamen sicherlich nicht von Freude. Sein Blick war bitter wie giftige Wurzeln, als er sein Haupt unbemerkt von allen anderen Stammesmitgliedern, die entweder außer Reichweite oder um Teco geschart waren, senkte, seine Stirn sachte gegen die ihre lehnend.

„Ich... muss dazu nichts sagen. Oder? Außer, dass...“

Sie blinzelte kurz, als er sein Gesicht noch ein winziges Stück weiter senkte und sie nach kurzem Zögern sachte auf die Lippen küsste. Ganz kurz nur – und so berauschend es auch war, Calyri wünschte sich im Nachhinein, er hätte es nicht getan. Es würde ihre Sehnsucht ins unermessliche steigern...

„Außer, dass es mir unsagbar leid tut. Bitte... tu das, was alle von dir erwarten... um des Friedens Willen.“

Er wandte sich ab und folgte den Menschen zu seinem Cousin.
 

Nicht alle hatten sich um ihn geschart, stellte Calyri irgendwann später fest – wie lang genau, wusste sie nicht. Sie hatte keine Ahnung, was geschehen war, sie wusste bloß, dass sie bebte, dass sie das dringende Bedürfnis hatte, jemanden zu töten. Jemand bestimmtes. Sie stürzte durch das halb aufgebaute Familienlager auf die Speere ihres Vaters zu und hielt ehe sie sich versehen hatte auch einen in der Hand, die Tatsache, dass es einer Frau absolut verboten war, die Jagdutensilien eines Mannes ohne dessen Erlaubnis zu berühren, völlig ignorierend. Oh ja, sie würde es beenden, auch wenn sie nicht den blassesten Schimmer hatte, wie genau, sie würde es tun! Ihr ganzer Körper brannte vor Wut, das Blut rauschte in ihren Ohren, so dass ihr die aufgeregten Stimmen um sie herum vollkommen entgingen und erst registrierte, dass sie nicht allein war, als Ranisins Arme sich von hinten um ihre Taille schlangen, Novaya sie am rechten Arm und Semilya sie am linken gepackt hielt und sie es verwunderlicher Weise noch immer schaffte, vorwärts zu kommen. In blinder Wut schlug sie mit dem stumpfen Speerende ohne nachzudenken nach ihren Brüdern, dabei traf sie Semliya mehrmals an der Schulter, doch loslassen tat er sie nicht. Sie riefen ihren Namen... sie erschreckte sich mit einem Mal über eine zitternde Hand, die ihr unbeholfen durch ihr Haar strich, um sie irgendwie zu beruhigen. Sie gehörte zu Novaya, zu dem sie abrupt das vor Wut verzerrte Gesicht wandte.

Moment. Was?

Sie prügelte auf Semliya ein und Novaya streichelte sie? In seinen unnatürlich hellen Augen erkannte sie einen ungeahnten Schock wieder, der sie erstarren ließ. Mit einem Mal konnte sie wieder hören.

„Lass den Speer doch endlich fallen, bitte!“, hörte sie Ranisin, der ihren Körper umklammerte und gefesselt von ihrer abstrusen Situation schaffte Semliya es, ihr die Waffe abzunehmen und weg zu werfen. Hoffentlich war sie nicht kaputt gegangen...

„Du kannst ihn doch nicht erstechen!“, klagte Novaya sie da auch in einem so verwirrten und geschockten Tonfall an, dass Calyri selbst davon eine Gänsehaut bekam. Was hatte sie da vorgehabt, dass selbst die Zwillinge entsetzt waren? Sie keuchte und lehnte sich etwas gegen die Hand ihres Bruders, die noch immer über ihren dichten Haarschopf strich.

„Alles wieder in Ordnung?“

Semliya ließ vorsichtig von ihr ab, um sich seine malträtierte Schulter zu reiben. Als das Mädchen keine Anstalten machte, irgendeinen Unsinn zu tun, ließen auch die beiden anderen von ihr. Sie keuchte verwirrt.

„Ich bin ein schlechter Mensch... ich hasse ihn!“

Mit einem Mal verschwand alle Kraft und hinterließ eine gähnende Lehre in ihrem Inneren, die ihr den Boden unter den Füßen fortzog und sie in sich zusammen sinken ließ. Ihr kamen die Tränen.

„Er hat mir nie etwas getan! Er liebt mich! Und ich verabscheue ihn... so sehr, ich will, dass er stirbt!“

Sie bereute ihre eigenen Worte mit jedem weiteren Atemzug, denn sie wusste, dass sie die Götter verärgerten über ihre maßlose Undankbarkeit und ihren Unwillen, sich in ihr Schicksal zu fügen.

„Willst du, dass er stirbt? Oder willst du bloß nichts mit ihm zu tun haben?“, fragte Novaya sie ruhig zurück und Semliya fügte etwas leiser an, „Du willst, dass er stirbt, weil du denkst, du entkommst ihm nicht anders.“

Vermutlich war es so. Die junge Frau weinte bittere Tränen und schämte sich, sich vor ihren jüngeren Brüdern so ehrlos auf dem feuchten Boden zu zeigen und keine Kraft zu haben, dagegen etwas zu unternehmen. Ihre Mutter würde sie ohrfeigen... und ihr Vater sie prügeln dafür, dass sie seinen kostbaren Speer hatte benutzen wollen.

„Wein doch nicht mehr... sicher wird alles wieder gut.“

Ranisins lieb gemeinte Worte verfehlten ihre Wirkung vollkommen. Sie zischte nur und riss in plötzlich zurückkehrender Wut ein Büschel Gras aus, das sie nach dem Jungen warf. Er wich aus, rempelte dabei jedoch Novaya an, der ihn unbeeindruckt zurückstieß, so dass er wieder sicher auf zwei Beinen landete.

Die Zwillinge hockten sich zu ihr, sie aus ihren hübschen Gesichtern einen Moment lang stumm musternd. Dann sprach der Jüngere.

„Sorge dich nicht. Es gibt immer einen Weg.“

„Freundin Schlange wird dir helfen...“, schlug Semliya darauf zweideutig vor und Novaya schenkte ihm kurz einen interessierten Blick, ehe er wohl verstand, was sein Zwilling meinte.

„Freundin Schlange hilft gern, wenn sie es kann. Sie kann es. Füge dich, sei seine Frau und wir bitten unsere Freundin Schlange um ein Geschenk. Wir werden es dir geben und du kannst damit kochen...“

„Und bist bald wieder frei.“

Einige Augenblicke starrte die junge Frau ihre Brüder stumm an, dann erschauderte sie, nickte aber. Ranisin öffnete empört seinen Mund, als er verstand, was die Zwillingsbrüder meinten... das ging doch nicht!

„Dann... dann hätte sie ihn ja auch mit dem Speer erstechen können!“

Die älteren Jungs fuhren synchron zu ihm herum, ihm todbringende Blicke schenkend, die in ihm eine Gänsehaut aufkommen ließen. Sie waren böse...

„Man hätte sie geschändet, erniedrigt und verstoßen, wenn sie das getan hätte!“, empörte Novaya sich dann und Semliya schnaubte empört, „Aber was kann sie dafür, wenn ihr Mann plötzlich krank wird und stirbt?“

Das ergab Sinn. Der Jüngste senkte errötend sein Haupt... das hier ging ihn nichts an. Sie würden ihn dafür bei der nächsten Gelegenheit bestrafen, das wusste er... er trat etwas zurück.

Die Zwillinge wandten sich wieder ihrer verstörten Schwester zu.

„Freundin Schlange sucht immerzu unsere Nähe... überlasse es uns. Nennen wir es... ein Hochzeitsgeschenk an unsere einzige ältere Schwester.“

Die Jungen grinsten.
 

Am Abend gab es ein großes Fest. Alle waren in heller Aufregung, seit Teco plötzlich zurückgekehrt gewesen war, und so hatte es sich einfach ergeben, dass bei Einbruch der Dunkelheit auf dem Mittelpunkt der Schlechtwetter-Lagers trotz aufziehender, grollender Wolkenberge ein großes Feuer brannte, der komplette Stamm darum versammelt. Der mutige Heimgekehrte saß an sich neben dem Häuptling, war aber bereits nach kurzer Zeit so sehr in seine abenteuerlichen Geschichten vertieft, dass er immerzu um die Flammen herum tigerte, um jedem einmal in die Augen blicken zu können, während er sprach und stolz von den Gefahren berichtete, die er alle hatte allein überstehen müssen.

„Das Tier, das mich angegriffen hat, muss eine Bestie der Götter persönlich gewesen sein! Sie scheinen den Kalenao wohlgesonnen zu sein, denn wie wir wissen, sind die ihnen näher als wir normale Menschen... ich hätte das Monster an sich dennoch nach wenigen Atemzügen erlegen können, doch ich hatte das Problem, dass ich doch noch die kleine Bisswunde am Beim hatte, die mich aufhielt und ablenkte. Ich muss einräumen, das war etwas schwach von mir, aber ich habe nur aus Sorge um meine ärmste Cousine Kili gehandelt.“

Die Frauen, vor denen er gerade inne hielt und sein Haupt bescheiden senkte, seufzten gerührt. So ein guter Mann...

„Ich habe sie überall gesucht, nun, dann traf ich auf die Bestie. Ich habe sie in so viele Stücke zerfetzt, wie es Sterne am Firmament gibt – es war absolut nötig, denn ansonsten wäre das Böse immer wieder in seinen Körper zurückgekehrt! Doch trotz alledem hat das Monster es geschafft, mich für mein Leben zu zeichnen... ihr seht, wie ich gehe.“

Nun vor den Männern inne haltend, zog er sein langes Hosenbein ein Stück weit nach oben und präsentierte seinen vernarbten Unterschenkel. Ein Raunen ging durch die Reihen.

Dherac pfiff durch die Zähne.

„Wie konntest du das überleben?! Wie kann es sein, dass du damit überhaupt noch gehen kannst?!“

Teco reckte seinen Kopf weit nach oben, stolz grinsend. Sein übel zugerichtetes Bein versteckte er wieder unter seiner Hose aus gutem Fell.

„Mein Wille, Kili zu retten, hat mir die Kraft gegeben, damit klar zu kommen. Ich kann jagen, vielleicht besser als je zuvor durch all die Erfahrungen, die ich allein in der Wildnis habe sammeln dürfen, also erklärt mich nicht zum Krüppel, auch wenn ich das gute Bein hinterher schleife. Nun... jedenfalls habe ich sehr, sehr lange nach ihr gesucht, doch die Götter haben mich auf Irrwege geführt und mir den Zutritt zum Land der Kalenao versperrt, ich bin nun zurückgekehrt, weil der Winter ansteht und ich mich um eure Jagderfolge gesorgt habe...“

Er verstummte genau in dem Augenblick, in dem sein Stamm zu jubeln begann. Einschließlich Calyri und dem Häuptling.

Der junge Mann grinste zufrieden. Das hatte er gut gemacht... die Wahrheit hätte ihn alles gekostet. Und selbst wenn nicht, wer war er denn, wenn er zugab, dass er es nicht vermocht hatte, die Bestie in den Bergen zu erlegen und er nicht zurückgekehrt war, weil er sich verlaufen hatte? Nein, das ging nun wirklich nicht. Gütig, wie er nun einmal war, hatte er sich dazu entschlossen, nicht einmal Karem zur Verantwortung zu rufen – er wusste, dass er ihn in der Hand hatte, das reichte aus. Nun stand zunächst etwas anderes an...

Er blickte zu der etwas apathisch das Feuer anlächelnden Calyri, die dicht neben ihrer Mutter saß, die die weiße kleine Schwester in ihren Armen trug. Sie hatte applaudiert und ihn angefeuert, ihn gelobt... wann gab es schon eine bessere Möglichkeit?

Zähnefletschend grinsend schritt er wieder um die Flammen herum, sein schlechtes Bein wie immer seit seiner Rückkehr hinter sich her schleifend. Als er vor der jungen Frau zum stehen kam, grollte der Himmel.

„Steh auf.“, befahl er mit freundlichem Nachdruck und sie gehorchte ohne jegliche Widerworte auf der Stelle. Die Menschen waren verstummt.

Er fasste nach ihrem Händen... und sie nach seinen.

„Ich denke... ich habe zu genüge bewiesen, wie kurz das Leben ist, so ist es jetzt an der Zeit für uns. Wird Calyri Tecos Frau?“

Eine unangenehme Stille lag über dem Stamm. Als die Antwort folgte, erhellte ein greller Blitz den abendlichen Himmel.

„Das wird sie.“
 

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Yai, Aggro-Calyri und Evil-Zwillinge XD

Rückkehr

Sie kauerten hinter einem einsamen, kleinen Felsvorsprung, mitten in der Savanne. Der einzelne Felsen wirkte in dem flachen Land wahrlich verloren... aber er war leicht zu entdecken gewesen. Ob das nun gut oder schlecht war...

„Du... musst wirklich ein sehr begabter Mann sein, wenn du wusstest, dass ich komme. Ich danke dir, dass du auf mich gewartet hast.“

Ein weiterer Blitz und lautes Donnergrollen ließen die junge Frau zusammenzucken, während sie starr in den Platzregen vor sich starrte. Wie seltsam es war, zu sprechen und ernsthafte Antwort erwarten zu können...

„Die Götter haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Dass ich gewartet habe, war reiner Eigennutz.“

Zerit kaute gelangweilt an einem Stück geräuchertem Fisch herum, während sein Blick dem ihrem folgte. Dieses Land kannte er... und es gefiel ihm nicht. Hier gehörten sie nicht hin.

„Nadeshda geht es nicht gut... du bist ihre Heilerin, es wird ihre Wut mildern, wenn ich ihr dich zurückbringe.“

Alaji senkte den Blick bedauernd ein Stück. Oh ja... wie hatte sie ihre Herrin nur so vergessen können? Ihre armen Beine brachten sie inzwischen sicher fast um, es tat ihr sehr Leid, wenn sie bedachte, was sie ihr mit ihrer Abwesenheit ungewollt angetan hatte... sie musste das Rezept für die helfende Salbe unbedingt einmal weiter verraten, damit so etwas nicht mehr vorkommen konnte.

„Und... sie möchte den Stamm tatsächlich... auskühlen?“

Sie benutzte ein sehr harmloses Wort für das, was die kleine blauhaarige Frau mit den Menschen vorhatte... es würde entsetzlich sein.

„Und Mahrran scheint sie abschlachten zu wollen... na ja. Es sind nur Menschen, sei froh, dass du nichts mehr mit ihnen zu tun hast. Ich werde diesen Weg sicherlich noch öfters gehen dürfen...“

Er aß missmutig auf, der Frau absichtlich nichts anbietend. Sie schien wohlgenährt zu sein und er hatte das Essen im Eifer seiner Reise tatsächlich etwas verdrängt. Da fiel ihm ein, wartete zuhause nicht jemand auf ihn? Na, hoffentlich war die Wahl, die seine Götter ihm geraten hatten, nicht schlecht gewesen...

„Ich möchte die Menschensprache auch beherrschen... ich würde den Weg freiwillig machen. Vielleicht würden sie auf eine Frau besser reagieren als auf dich...?“

Sie lehnte sich seufzend gegen den kühlen Stein. Es roch modrig...

Ihre Erinnerungen gehörten Teco. Teco, der ihr nicht nur die Schande erspart hatte, sie von seinen Leuten erniedrigen zu lassen, sondern ihr sogar ihr Leben gelassen hatte. Zuerst hatte er es beenden wollen... und sie war ihm dankbar dafür gewesen und willig, sich seiner Entscheidung hinzugeben. Doch dann hatte er sie an der Schulter gepackt und von sich gestoßen... sie wusste nicht, was er gesagt hatte, doch er hatte in Richtung der Berge gezeigt, so lange, bis sie verwirrt begonnen hatte, seinem Fingerzeig zu folgen. Als sie noch einmal zu ihm zurückgesehen hatte, hatte er ihr zugenickt. Dann hatte er sich umgedreht und war dem Lager seines Stammes entgegengegangen...

Er war so ein guter Mann. Sie wollte ihn wieder sehen... und wenn Zerit bisher mit dem Leben davon gekommen war, warum dann nicht auch sie? Aber sie sprach diese Sprache ja nicht...

„Bezweifle ich. Sie hassen uns.“

Zerit war ihr hingegen nie als besonders umgänglich erschienen. Dennoch war sie den Göttern dankbar, dass sie auf ihn getroffen war, denn es erschien ihr als sehr unangenehm, allein durch die Berge gehen zu müssen... im Gegensatz zu ihr war der Grünhaarige ein sehr begnadeter Magier, der sich durchaus zu verteidigen wusste. Beneidenswert.

Sie musterte ihn eine Weile schweigend, wie er das letzte Bisschen seines Proviants verschlang. Es war nicht schlimm, sie war nicht hungrig... sie wagte, ihn nach etwas zu fragen.

„Woher kannst du die Sprache der Menschen so gut? Manche sagen, du kannst sie besser als unsere eigene Sprache, dabei lehren die Götter sie uns doch ohnehin...?“

Er sah sie nicht an, hielt jedoch kurz in der Bewegung inne, als er dabei war, sich mit dem Ärmel über den Mund zu wischen. Dann schüttelte er nur den Kopf.

„Man hat sie mir beigebracht. Man hat verhindert, dass ich unsere Sprache spreche, ich habe sie zum ersten Mal benutzt, da stand ich kurz davor, ein Mann zu werden. Und nein... ich bringe sie dir nicht bei, ich bin nicht als Lehrer geboren. Dass der Herr und die Herrin zum reinen Vergnügen Unterricht bei mir nehmen, ist mir schon ausreichend zuwider.“

Mehr sagte er nicht. Er wusste so viel, was sie interessierte... aber sie wagte nicht weiter, sich danach zu erkundigen... er war seltsam und sie war schüchtern. Sie freute sich nur darauf, wieder zuhause zu sein.
 

Dabei hätte sie nie mit einer solchen Begrüßung gerechnet, wie sie ihr widerfuhr, als Zerit ihr schließlich nicht gestattete, sofort zu ihrem kleinen Haus zu gehen, sondern sie ihn an diesem klaren Morgen sofort zur Berichterstattung zum Heim der Zwillinge folgen musste. Es war sehr seltsam, den Seewind wieder zu riechen... wieder daheim zu sein. Sie freute sich auf ihre Mutter, fiel ihr auf. Sicherlich hatte die sie längst abgeschrieben...

Nadeshda überraschte sie jedoch so sehr, dass sie den Gedanken an ihre liebe Mama kurzzeitig vergaß. Zunächst einmal, weil sie anscheinend tatsächlich nichts von ihrem Erscheinen geahnt hatte... das war für eine derart begabte Magierin wie sie es war höchst seltsam und da ein Gedanke zum nächsten führte, schämte Alaji sich schon bald um so mehr, dass sie zugelassen hatte, dass das alte Leiden so sehr Besitz von der kleinen Frau ergriff, dass sie sogar die Verbindung zu den Göttern zu verlieren schien. Die nächste, weit größere Überraschung war jedoch, wie das Dorfoberhaupt nach einem kurzem Augenblick der Überraschung trotz der schwer angeschlagenen Knie aufsprang und sie mit einer solchen Hingabe in die Arme schloss, dass es sich beinahe so anfühlte, als empfand Nadeshda so etwas wie Zuneigung für sie. Das war lächerlich und vermutlich beruhte die Geste auf Erleichterung, doch irgendwie machte es die Heilerin glücklich.

„Wo ich sie zurückbringe... ist es doch sicher nur noch halb so schlimm, wenn es den Menschen vollkommen gleich ist, was Ihr mit ihnen vorhabt, nicht? Ich will da nicht mehr hin...“

Er hasste diesen Moconi. Oder zumindest die Beziehung, in der sie zueinander standen, vielleicht hätten sie sich zu einer anderen Zeit unter anderen Bedingungen gut verstanden – was der geborene Einzelgänger sich nun nicht unbedingt vorstellen konnte, was jedoch durchaus möglich war – aber jedes Mal beleidigt und mit Speeren beworfen zu werden passte Zerit so gar nicht. Er hatte schließlich auch seinen Stolz.

„Später dazu!“, japste die Blauhaarige nur, Alaji scheinbar überhaupt nicht mehr loslassen wollend, „Komme am Nachmittag noch einmal, dann klären wir das. Jetzt geh!“

Er hob beide Brauen, dann nickte er und leistete ihrem Befehl folge. Verstand einer die Frauen...
 

„Ich... es tut mir so Leid, dass ich nicht früher zurückkehren konnte! Es... es ist schwierig, man... man hielt mich gefangen...“

Es war mutig, Nadeshda anzulügen, doch angesichts der Tatsache, dass es ihr im Moment sehr schlecht gehen musste, wagte Alaji es sich. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? „Ich habe mich verirrt, aber der Menschen-Mann war wirklich ein wunderbarer Begleiter, ich vermisse ihn sehr!“? Nein, das kam nicht in Frage. Sie senkte dennoch errötend ihr Haupt, als die Gleichaltrige sie los und sich sofort wieder auf ihr Lager sinken ließ. Relativ unelegant, aber das konnte ihr die Heilerin angesichts ihrer geschwollenen Knie nicht verübeln.

„Es... ist in Ordnung. Du bist da, du bist eine gute Frau. Ich weiß, dass du bereits früher zurückgekehrt wärst, hättest du eine Möglichkeit gehabt... ich vergebe dir. Kannst du mir so bald wie möglich meine Salbe bringen?“

Es war mehr ein Befehl als eine Bitte, doch das war bei der Stellung der Frau absolut legitim, so verneigte sich Alaji höflich und bestätigte.

„Noch etwas, ehe du nach Hause gehst...“

Nadeshda wandte ihren Blick ab, dem Fenster zu. Sie schien das schöne Wetter zu betrachten... ihr Gast legte irritiert den Kopf schief.

„Gibt es eine Möglichkeit, Kinder zu entfernen, ohne, dass eine Gefahr für die werdende Mutter besteht?“

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, ließ keinen Einblick in ihre Gedankenwelt zu. Die Heilerin hob irritiert beide Brauen. Moment – was?

„Völlig ohne Risiko für die Mutter? Tut mir Leid, nein, ich kenne keine. Bist... bist du schwanger?“

Sie erlaubte sich das „du“. Sie kannten sich ewig und ewig war ihr die kleine Magierin schon dankbar für die guten medizinischen Dienste, so ging es in Ordnung. Die Blauhaarige senkte den Blick kurz.

„Ja... sonst wäre es mir egal. Das Kind, das mein Bruder früher oder später mit seinem Haustier zeugen wird, ist mir gleich, kann er meinetwegen behalten, es wird eh nicht vollwertig sein. Doch meines...“

Sie zischte, dann sah sie der anderen Frau mit einem Blick in die Augen, den diese einen Schritt zurückweichen ließ. Nadeshda war zwar angeschlagen, aber sehr mächtig. Daran gab es keine Zweifel.

„Ich bin zu wertvoll, um mich irgendeinem Risiko auszusetzen; ohne mich klappt das alles nicht! Also musst du mir helfen... wenn es soweit ist, dann nimm das Kind und töte es auf der Stelle! Kenne keine Gnade, folge deinem Blutdurst... den hast du schließlich. Es darf nicht leben.“

Alaji erschauderte, als das Dorfoberhaupt wütend auf seiner Unterlippe knabberte und weiter nachzudenken schien, während der gefährliche Blick scheinbar ziellos durch den Raum huschte.

„Aber... aber das ist gegen das Gesetz! Keine Mutter darf ihr Kind töten...“

„Deshalb habe ich dir ja die Anweisung gegeben, es zu tun. Wir wollen es nicht zu genau nehmen... wir können nicht.“
 

Zerit hob beide Brauen. Da dachte man an nichts böses und plötzlich wurde man mit der geballten Macht der Weiblichkeit konfrontiert...

„Das ist... gut.“

Er schritt durch das kleine, strahlend saubere und aufgeräumte Haus. Die morgendlichen Sonnenstrahlen ließen es noch schöner erscheinen. Sein Großvater saß stumm grinsend auf seinem Stuhl.

„Du magst es? Ich habe schon befürchtet, ich hätte übertrieben...“

Sundri strich sich verlegen lächelnd eine blonde Strähne hinter ihr linkes Ohr. Er sah sie zum ersten Mal mit offenem Haar... war ja nicht schlecht. Er gab sich keine Mühe zu verstecken, dass er sie musterte... er war jetzt immerhin ihr Mann. Und sie war seine Frau, die sich in einem durchaus vorteilhaften Licht präsentierte. Sie trug ein kurzes, schlichtes, jedoch körperbetontes Kleid, war geschmückt mit einer Muschelkette und duftete nach gutem Öl – sie wusste, wie sie alles aus sich heraus nehmen konnte. Obgleich er an sich niemand war, der sehr auf Äußerlichkeiten bedacht war, entschloss er sich angesichts ihrer Bemühungen darauf einzugehen. Er hatte sie einfach aus ihrem Leben gerissen und zu sich genommen... das war zwar rechtens, aber es wunderte ihn, dass sie sich derart um ihm bemühte.

Er grinste.

„Lass uns... in den Garten gehen.“

Der Garten war noch immer nicht mehr als ein schmaler Streifen zwischen dem Häuschen und dem steinernen Fuß eines Berges, an dem Kräuter wuchsen. Dieses kleine Gebiet war unberührt geblieben... vermutlich verdankte Zerit das seinem Großvater, der seiner eifrigen Frau erklärt hatte, dass sein Enkel es nicht guthieß, wenn man hier herum pfuschte. Sundri ihrerseits schien etwas verunsichert... vielleicht hätte sie den Garten doch etwas pflegen sollen?

„Hör zu.“, lenkte er ihre Gedanken davon ab, „Ich... bin unbegabt darin, mich für etwas zu bedanken, besonders, wenn es mein Recht ist. Nun... trotzdem, danke. Du willst noch etwas...“

Sie verstand zunächst nicht, worauf er hinaus wollte und war bereits im Begriff, bescheiden die Hände zu heben und zu versichern, dass sie zufrieden sei, da trat er auf sie zu und griff um sie herum, sie näher zu sich ziehend. Sie stutzte, als er mit einem leichten Rotschimmer an ihr vorbei sah.

„Ich... will es nicht tun, wenn mein Großvater es mitbekommt...“

Sie erstrahlte.
 

Der Nachmittag kam schnell. Es war ein guter Tag für den frühen Herbst, die Sonne stand hoch und schien angenehm warm, aber nicht so warm, dass die empfindlichen Kalenao um ihre Haut fürchten mussten. Alaji durchschritt ihr Dorf versonnen. Viele sahen ihr seltsam nach, grüßten sie verwundert und teilten ihr mit, dass sie sich freuten, sie wieder zu sehen. Sie lächelte und erwiderte, dass die Freude ganz ihrerseits war. Sie hatte ihre Mutter wiedergesehen, sich ordentlich gewaschen und umgezogen und konnte ihren lächerlichen Haarschopf wieder verstecken, sie fühlte sich tatsächlich sehr wohl. Und dennoch kam ihre eigene Heimat ihr inzwischen fremd vor... sie vermisste Teco. Es überraschte sie, dass sie das ernsthaft tat und weil es so abstrus war, redete sie sich ein, es würde bald vergehen. Aber es trübte ihre Freude...

„Willkommen zurück... Heilerin.“

Sie sah auf und verengte ihre Augen minimal. Na wunderbar, sie wollte doch Nadeshda endlich ihre Salbe bringen...

Iavenya saß kichernd auf ihrer kleinen Türschwelle. Etwas besseres hatte sie wohl nicht zu tun...

„Danke...“

Ihre Höflichkeit verbot ihr, der Schwarzhaarigen in ihr Gesicht zu sagen, dass sie sie nicht mochte und dass sie sie gefälligst in Ruhe lassen sollte. Noch ein Grund mehr, weshalb es bei Teco angenehmer gewesen war... sie hatte ihn zwar nicht verstanden, so hatte sie sich jedoch auch keinen Unsinn anhören müssen. Ob Teco wohl überhaupt Unsinn gesprochen hatte...? Sie hätte die Menschensprache gerne beherrscht.

Die Natter erhob sich.

„Dann wird das kleine Mädchen wohl bald wieder mobil sein, wie?“, sie deutete auf den Korb in Alajis Händen, in dem unverkennbar ein Salbengefäß transportiert wurde, „Und bald wird es ganz viel Nachwuchs im Dorf geben.“

Ganz viel? Alaji zuckte kurz mit den Brauen. Dann war wohl schon bekannt, dass Nadeshda ein Kind erwartete... und sie schien nicht die einzige zu sein, auch wenn sich ihr Iavenyas Worte nicht ganz erschlossen...

„Abwarten.“, riet sie so bloß und wollte bereits all ihren Mut zusammennehmen und die andere Frau einfach stehen lassen, wie es jeder andere an ihrer Stelle längst getan hätte, da fiel ihr noch etwas ein, „Es... scheint sich ja herumgesprochen zu haben. Ich bin nicht ganz auf dem Laufenden... aber wer ist denn der Vater von ihrem Kind?“

Die wusste es sicher, die wusste immer alles, was anderen irgendwie unangenehm sein konnte. Zu ihrer Überraschung verharrte sie bloß kurz wie versteinert, dann legte sie den Kopf schief und grinste ein mehr als ungewöhnliches Grinsen.

„Von ihrem Kind?“, sie legte sich eine Hand auf den Bauch und kicherte etwas aufgesetzt, „Ähm... was?“

„Ähm, was?!“, wiederholte die Heilerin irritiert und fasste sich an den Hut. Wie gut, dass sie keinen Namen gesagt hatte... Moment, das hieß...?

„Du?!“

Ihre Geste war relativ eindeutig. Hier hatte sich scheinbar sehr viel verändert, seit sie auf ihre Reise in die fremde Welt gegangen war... in ihrer Erinnerung hätte kein Mann des Dorfes die Natter auch nur mit einem Stock angepiekt, obgleich sie eine recht ansehnliche Frau war... ihre Zunge war einfach zu giftig.

Ihr Grinsen wurde wieder gewohnt breit.

„Ja. Wer sonst? Der Vater muss jedoch erst noch überzeugt werden... ich meine... ich bin besser, als man denkt...“

Sie zwinkerte und kicherte dann mädchenhaft, während Alaji sie mit offenem Mund musterte. Da hatte sie aber jemanden übel abgefüllt...
 

Die Menschen hatten aufgehört zu wandern. Die Berge waren nicht mehr so weit entfernt wie einst... und mit ihnen die Heimat.

Kajira saß artig neben der erst am Morgen aufgebauten Hütte. Sie war noch nicht ganz fertig... zumindest werkelten ihre Bewohner noch immer daran herum. Der junge Mann nicht, obgleich er auch darin lebte... aber selbst, wenn er gewollt hätte, er hätte weder gedurft, noch gewusst, was er hätte machen sollen. Genau genommen arbeiteten auch nur die Mutter und die beiden jüngsten Kinder daran... der ältere Sohn und der Vater, der im übrigen der Anführer der Gruppe gewesen war, auf die sie hinter den Bergen gestoßen waren, hatten am Morgen die gröbste Arbeit verrichtet und waren dann mit einigen anderen Männern und älteren Jungen aus dem Lager gegangen. Er vermutete, dass sie auf Jagd gingen... zumindest erzählten das seine Götter. Seine Götter... oft spielte er mit dem Gedanken, Magie anzuwenden, um in die Freiheit zu gelangen. Sein Teleport war noch schwach... und Windmagie? Er traute sich nicht... wenn etwas schief ging, war es vorbei für ihn. Es waren so viele... er war allein. Und er hatte Chejat versprochen, zu überleben... und Mabalysca, ihr Mann zu werden. Er seufzte, als er sich das Gesicht der hübschen jungen Frau vorstellte. Seine Mabalysca... er wollte sie gern umarmen.

Die Mutter ließ ihn zusammenzucken. Er durfte nichts... also musste man sich um ihn kümmern. Eine Zeit lang hatte das seltsame, dümmliche Mädchen das übernehmen sollen, das jetzt mit seinem anderen Bruder spielte. Das war eine schlechte Idee gewesen, es schaffte es nicht einmal, sich selbst umzuziehen, hatte er gelernt, dabei war es an sich schon eine junge Frau. So hatte die Mutter sie bestraft, wie sie es oft tat und sich schlecht gelaunt wieder um den ungeliebten Gast gekümmert. Heute stand das noch aus... er erschauderte, als er sein ungekämmtes Haar mit den Fingern kämmte. Gut, dass sie es ihm gestern noch gewaschen hatte, heute war sie so unglaublich schlecht gelaunt, dass er nicht all zu viel Zeit mit der dürren Frau verbringen wollte. Er zog die Knie an und umschlang sie mit seinen Armen, während er beobachtete, wie sie irgendetwas an ihrer Hütte befestigen wollte, was ihr seit Ewigkeiten partout nicht gelingen wollte. Kurz sah sie auf und schnaubte wütend, als sie den fortgeschrittenen Sonnenstand bemerkte. Ihre dumme Tochter kicherte unterdessen über irgendetwas, was scheinbar nur sie bemerkte. Kajira seufzte über ihr unüberlegtes Handeln... sie musste diese jähzornige Frau doch mit am besten kennen!

Die Mutter fuhr in diesem Moment zu ihr herum und fauchte sie giftig wie eine Schlange an, ehe sie sie grob am Oberarm packte und in den Dreck schubste, wo die Jüngere verängstigt liegen blieb. Daraufhin schielte sie kurz zu ihrem missglückten Aufbauversuch und dann zu dem jungen Magier, der den Blick demütig vor ihr senkte. Er fürchtete sie... irgendwann würde er sich an ihr rächen!

Er hörte das von der Sommersonne unwiderruflich verbrannte Gras vor sich knistern, als sie auf ihn zukam und ihn an seinen Haaren zu sich hoch zerrte. Sie war verglichen mit den anderen Menschenfrauen eher klein, aber mindestens ebenso stark wie sie, stellte er zum wiederholtem Male fest, als er sich zischend ihrer Handlung ergab und sich aufrichtete.

Als sie ihm daraufhin irgendetwas verächtliches entgegen murrte, verstand er sie wie immer nicht. Er wollte auch nicht ernsthaft wissen, was sie ihm verletzendes an den Kopf warf... bloß dass sie sich immer mehr in Rage redete, registrierte er, bis sie ihn schließlich ebenso wie ihre Tochter von sich stieß und er ihm trockenen Gras landete. Daraufhin entfernte sie sich kurz von ihm.

Als er sich gedemütigt wieder aufsetzte und sich mehr denn je wünschte, den Mut aufzubringen, auf seine Windmagie zu setzen, kehrte sie zurück. Er registrierte erst, was sie vorhatte, als es beinahe zu spät war. In ihrer Hand lag nicht der bekannte Knochenkamm... das war ein Steinmesser. Moment. Was?

Er wich empört ein Stück zurück, ehe er wieder auf die Beine kam und weitere Schritte rückwärts vor ihr flüchtete. Sie fauchte ungehalten und sauer. Ja, seine Haarpflege nervte sie... aber sie konnte ihm doch nicht sein schönes Haar abschneiden! Er liebte sein Haar...

Sie langte abermals nach ihm und er schlug ihre Hand grob bei Seite. Um sein Leben bemüht hatte er bisher alles stumm über sich ergehen lassen, aber das ging zu weit. Mabalysca mochte sein Haar sehr gern... und es war das einzige, was ihn von seinen Brüdern unterschied und das war bei einer Familie wie seiner durchaus etwas wert. Und er selbst mochte sein Haar, es hatte lange gedauert, bis es so lang gewachsen war, wie es nun war. Das wollte er nicht einbüßen!

Sie fasste abermals fauchend nach ihm. Als er wieder rückwärts ausweichen wollte, stolperte er über irgendwelche Materialien, die sie zuvor noch zum Aufbau der Hütte gebraucht hatte und landete unsanft auf dem Rücken, worauf ein ziehender Schmerz sich in diesen ausbreitete. Er stöhnte schmerzerfüllt und war kurzzeitig nicht in der Lage, sich zu rühren. Windmagie... Götter... er musste seine Haare retten!

Sie beugte sich über ihn und ergriff sein Haar ebenso grob wie immer... und hielt dann inne.
 

„Und, wie gedenkst du, weiter vorzugehen?“

Mahrran lehnte sich mit gesenkten Brauen gegen die kalte steinerne Außenwand von Shirans kleinem Haus. Dieser Unhold hatte ihn nicht hereingebeten, als er angeklopft hatte, sondern war zu ihm herausgekommen. Zu seinem Glück war das Wetter angenehm, die Sonne erhellte den von Natur aus dunklen Himmel so gut sie konnte, es war wolkenlos und der Seewind sanft. Der Seher hatte sich im übrigen einen sehr hübschen Platz zum Bauen seines Hauses ausgesucht, etwas außerhalb des Ortes auf einer kleinen Anhöhe am Fuße eines Berges, umgeben von einem an diesem Platz eigentlich sehr seltenen Gut – Gras. Irgendwann einmal hatte es mehr davon gegeben, zu dieser Zeit waren auch des Öfteren Schafe und Ziegen aus dem Gebirge gekommen, die sie hatten verwerten können, doch es war zurückgegangen, ebenso wie die Fische im Meer. Bedenklich...

„Wir müssen bald handeln.“, erwiderte Shiran da, ohne seinen Gast anzusehen. Er stand unweit entfernt auf einem kleinen Felsen und überblickte die See, auf die man von hier aus einen unverschämt guten Blick hatte, „Alaji ist zurückgekehrt. Sie behandelt Nadeshda gerade... und ihr Körper gewöhnt sich langsam an ihren Umstand. Ihre Schwäche schwindet und bis das Dorf ihre Schwangerschaft bemerkt, wird es noch etwas dauern, in dieser Zeit ist sie stark – sie ist in ihrer Position mächtiger als ich – und hat mehr Einfluss als du.“

Er wandte sich vom Meer ab und trat einige Schritte auf den Jüngeren zu, der auf sein zwielichtiges Grinsen die Brauen senkte.

„Greifen wir an?“

Das Verhalten des Sehers beleidigte ihn – er war wichtiger als dieser Nichtsnutz!

Wenn letzterer die empörten Gedanken seines Gegenübers las, so ignorierte er sie. Er grinste noch aufgesetzter, dabei seine schiefen Zähne schamlos präsentierend.

„Mahrran, ist das denn meine Entscheidung? Ich weiß, was gut für unser Volk ist... und das ist, wenn du die Macht hast. Dabei kann ich dir helfen, doch entscheiden musst du selbst.“, sein Ausdruck wurde wieder etwas ernster, „Aber ja, wenn wir Nadeshda ein Schnippchen schlagen wollen, dann sollten wir das tun. Sie möchte den Stamm einfrieren... mitsamt seiner Nahrung. Das würde ihre Rachegelüste über Moconis Zurückweisung ihrer lächerlichen Bedingungen zwar stillen, sinnvoll für uns wäre es jedoch nicht. Es herrscht rascher Handlungsbedarf, so, wie es aussieht im Moment nur mit roher Gewalt.“

Er legte eine kurze Pause ein, als ein etwas stärkerer Wind aufkam und er den Blick wieder zum Meer wandte, worauf die Luft sein Haar etwas durcheinander brachte. Mahrran nahm dies mit seinem einen Auge nur wenig wahr, als er gespannt auf weitere Worte die Arme vor der Brust verschränkte. Dieser eingebildete Spinner...

„Ich... heiße es nicht gut, diese Leute anzugreifen, um ehrlich zu sein. Es ist unverschämt und dreist... ich bin der Meinung, es soll sie dazu bewegen, freiwillig von dannen zu ziehen. Wir sollten sie nicht grausam niedermetzeln, nicht alle... lassen wir Frauen und Kinder am Leben. Und jeden Mann, der die Intelligenz besitzt, sich zu ergeben, ebenso. Ich sorge dafür, dass das Volk sich heute zu Sonnenuntergang auf dem großen Platz am Brunnen versammelt... du legst dir Worte zurecht, die unsere eigenen Männer zu Kriegern machen.“
 

„Ich muss dieses Rezept an jemanden weiter geben... vielleicht an dich, Nadeshda, dann bist du im Notfall von niemandem mehr abhängig.“

Die junge Frau schwieg, während Alaji ihr die Knie verband. Der Schmerz war dumpf geworden... bald würde er beginnen, zu schwinden. Der Gedanken befriedigte sie. Vielleicht war es nicht schlecht, wenn die Heilerin ihr die komplizierte Formel beibrachte... wer wusste, was mit ihr geschehen würde? Sie musste zur Not auch ohne sie klar kommen, die Götter hatten keine leichten Zeiten angekündigt... und Mahrran und Shiran taten eindeutig zu viel hinter ihrem Rücken.

Mahrran. Es wäre ihm so ein leichtes gewesen, sie von dem ungewollten Ding in ihrem Inneren zu befreien, doch er weigerte sich vehement und gab vor, im Sinne des Volkes zu handeln. Dabei war sein Vorhaben so furchtbar offensichtlich... um so ärgerlicher, dass sie nichts dagegen tun konnte. Bis jetzt. Alaji brachte sie wieder auf die Beine, ihm wahrsten Sinne des Wortes. Sie würde ihre Chance nutzen, wenn es noch nicht zu spät war.

„Ich werde dir zuhören in einem geeigneten Moment.“, erwiderte sie der Gleichaltrigen so, die sich daraufhin erhob und ihr bandagiertes Werk kurz zufrieden musterte. Nadeshda blieb auf ihrem Lager sitzen. Sie durfte die Götter nicht beleidigen und musste Dankbarkeit zeigen.

Sie versuchte es mit Aufmerksamkeit – keiner ganz uneigennütziger, im übrigen.

„Wie war das Leben bei den Menschen, Heilerin?“, wollte sie wissen und ihr Gegenüber zuckte überrascht zusammen, ehe es leicht errötete und dem Blick der Blauhaarigen auswich. Man merkte ihr leicht an, wenn ihr etwas unangenehm war...

„Hat man dir großes Unrecht angetan?“, erkundigte sich die andere einfach weiter. Angesichts ihrer Geschichte wahrscheinlich, jedoch waren ihre Götter gänzlich anderer Meinung...

„Ich... ich... nein. Nein!“

Sie wandte sich ab und setzte sich schräg gegenüber des Lagers auf einen kleinen Schemel, den Blick tief gesenkt haltend. Nadeshda hob beide Brauen, entschied sich jedoch, ihren Gast einfach sprechen zu lassen.

„Ich bin nie in diesem Lager gewesen. Ich... wir haben uns etwas verlaufen... ein Mann und ich. Ein... beinahe Junge noch bei uns, aber er schien wie ein Mann. Teco hieß er und hat fünfzehn Jahre gelebt, mehr weiß ich nicht, denn wir sprachen nie die selbe Sprache. Er... er war gut zu mir! Ich habe nicht gelitten... nun ja, wenig... ich meine, ich weiß nicht, was mit den anderen ist, die entführt wurden. Ich weiß nur, dass Teco mir keines meiner dürftig vorhandenen Haare gekrümmt hat, im Gegenteil.“

Sie nahm ihren Hut ab. Normalerweise mochte Nadeshda diesen Anblick nicht, es war so lächerlich und beleidigte ihre Augen, doch anders als gewohnt fiel ihr ihr dünnes Haar nicht wie ein Haufen Spinnenfäden über die Schultern, sondern war ordentlich hochgesteckt mit einem knöchernen Kamm, den sie jedoch löste, um ihn ihr zu zeigen.

„Den hat er mir gemacht. Ich meine... ein Geschenk von ihm! Er war sehr geschickt. Ich mochte ihn.“

Sie sah der Blauhaarigen tapfer in ihr Gesicht. Sie war nicht dumm... sie würde sie schnell durchschaut haben. Aber irgendetwas in ihr hatte danach geschrien, sich mitzuteilen... und vor der Reaktion ihrer Mutter hatte sie sich mehr gefürchtet als vor der des Himmelskindes, das darauf beide Brauen hob und sie eine Weile stumm musterte. Aus Nervosität steckte Alaji sich ihr Haar ordentlich hoch und bedeckte es wieder.

„Vielleicht sollte ich mich mehr mit Mahrrans Kili beschäftigen.“, kam dann schließlich von Nadeshda, die sich keinerlei Regung anmerken ließ, „Anscheinend können Menschen eine sehr interessante Wirkung haben. Ich sah sie bisher immer nur als Fleisch. Ihr habt gelernt, sie zu schätzen.“

„Kili?“, lenkte die Heilerin unbewusst ab und die Gastgeberin grinste leicht.

„Ja, Kili. Eine Menschenfrau, die von Sklavin über Spielzeug inoffiziell zur Frau meines Bruders aufgestiegen ist. Sie ist hier irgendwo... er bringt ihr unsere Sprache bei... und umgekehrt. Wenn du magst, suche sie dir nachher. Du interessierst dich sicher für ihre Worte...“

Sie errötete stärker, als die andere sich gleichgültig durch ihr langes Haar strich. Sie hatte sie durchschaut, aber sie schien nicht erzürnt. Vermutlich hatte sich wirklich viel verändert, als sie fort gewesen war. Nadeshdas Vorschlag würde sie jedenfalls nachkommen...

Sie wollte irgendetwas sagen.

„Ich bin vorhin auf Iavenya getroffen.“, begann sie und die Kleinere hielt kurz inne.

„Das tut mir sehr leid.“

„Oh... danke. Sie hat behauptet, sie sei schwanger von... irgendwem.“

Frauengespräche, das war gut. Die Blauhaarige setzte sich etwas mehr auf. Die Natter? Da musste sie ihre Götter doch glatt um etwas größere Auskunft bitten... dieses Weib mit der hinterrücks sehr giftigen Zunge war ihr doch schon öfters aufgefallen.

„Wie seltsam. Sicher war es Shiran, den es überkommen hat. Die beiden stehen etwa auf dem selben Niveau.“
 

Kajira setzte sich verblüfft auf. Die Mutter bebte vor Zorn, aber nun viel mehr auf die braunhaarige junge Frau, die nun vor ihr stand und sie scheinbar mit sanften Worten zu beruhigen versuchte. Es gefiel ihr nicht wirklich und sie schrie die augenscheinlich Jüngere grantig an, ehe sie sich umdrehte und davon stapfte. Die andere seufzte, dann nahm sie den Magier an der Hand und zog ihn auf die Beine, matt lächelnd irgendetwas erklärend. Er verstand sie nicht... aber wenn es ein menschliches Wesen gab, das er mochte, dann sollte es diese Frau sein – sie hatte sein schönes Haar gerettet! Sein Haar und sein Leben, das musste er irgendwie beschützen, schwor er sich. Er musste doch zumindest halbwegs gut aussehen, wenn er seine Verlobte endlich wieder sah... hoffentlich hatte sie inzwischen nicht schon jemand anderes geheiratet. Heiraten müssen.

Die Frau rief nach dem dümmlichen Mädchen und trug ihm etwas auf... kurz darauf brachte es den knöchernen Kamm, mit dem die Mutter ihn normalerweise gekämmt hatte. Absichtlich gequält, im übrigen, sie war nicht unbedingt sanft dabei gewesen. Die andere gab sich mehr Mühe, als sie ihm die Hände auf die Schultern legte und ihn sachte gen Boden drückte, damit er sich ordentlich hinsetzen und sie ihn kämmen konnte. Sie wusste, wie das ging...

Er grinste. Vielleicht würde sie ihm ja helfen...?
 

Alaji kam sich seltsam vor, als sie an Mahrrans Zimmertür anklopfte. Sie war zu wertlos... sie durfte das nicht! Dabei hatte Nadeshda es ihr doch erlaubt... aber sie fühlte sich zu minderwertig.

„Du bist wieder da?“

Sie zuckte heftig zusammen, als ohne Vorwarnung hinter ihr eine Stimmer erklang. Mabalyscas Augen waren beinahe tellergroß, als sie sich zu ihr umdrehte. Dann erstrahlte sie wie eine kleine Sonne, als sie sich die Hände auf ihr Herz schlug und mit ungewöhnlich viel Elan weitersprach.

„Du bist frei! Wie hast du das gemacht? Die Götter sagen, Kajira lebt, aber er kommt einfach nicht zurück... wie geht es ihm?“

Vielleicht kam er ja nicht zurück, weil er ein ganz wunderbares Menschenmädchen kennen gelernt hatte... Sie senkte schüchtern ihr Haupt und deutete eine Verneigung an, unbeholfen lächelnd. Mabalysca war so unglaublich jung... und so verliebt. Es würde ihr weh tun, ihr zu sagen, dass sie keine Ahnung hatte, was mit Kajira war... sie suchte nach Hoffnung.

Nein, das brachte sie nicht übers Herz.

„Er... er konnte noch nicht gehen, denn... denn sie passen zu gut auf ihn auf. Aber sorge dich nicht... er... er bekommt gut zu Essen und sie zollen ihm Respekt.“

Als sie in das Gesicht der Kleineren linste, war sie sich nicht sicher, ob sie wirklich darauf hereinfiel oder ob sie sich einfach über das freute, was sie hatte hören wollen. Wie die meisten Tankanas war sie in der Magie begnadet... die Götter würden so eine einfache, schlechte Lüge an sich sofort entlarven, da war die Heilerin sich sicher. Doch die Jüngere freute sich einfach nur und nickte übermütig.

Gerade, als sie noch etwas sagen wollte, öffnete sich Mahrrans Zimmertür.

Zum Vorschein kam eine junge Frau mit braunem Haar, verglichen mit Teco blass, gut genährt und bildhübsch. Unter ihrem an sich neutralen Blick sank Alaji etwas zusammen... selbst die sah wichtiger aus als sie, so schien es. Mahrran begehrte sie... irgendwie hatte er doch einen guten Geschmack, auch wenn er sie kaum überragen mochte.

Kili, so hieß sie, musterte das für sie unbekannte Gesicht verblüfft.

„Ja?“, kam dann etwas unsicher und Mabalysca hob beide Brauen.

„Die Puppe meines Bruders spricht noch nicht besonders gut. Aber er übt mit ihr.“

Das hatte Alaji gehört und es war ihr recht, es war mehr, als sie erwartet hätte. Sie bemühte sich, freundlich und etwas selbstsicherer zu lächeln.

„Hallo Kili... unterhältst du dich mit mir? Ich bin Alaji.“

Sie legte die Stirn kurz in Falten und schien zu überlegen, ob es wohl angebracht war, zuzustimmen, dann nickte sie. Was sollte daran schon falsch sein? Außerdem war sie nur der Mensch... und darum ging es auch, auch wenn ihre Sprachkenntnisse in der Tat noch sehr bescheiden waren.

„Ich... ich war lange mit jemandem aus deinem Stamm unterwegs, weißt du?“, begann die Heilerin, als sie sie etwas abseits des hübschen Hauses begleitet hatte und erhielt so die volle Aufmerksamkeit von Mahrrans Freundin. Mabalysca hatte abermals bestätigt, dass in Ordnung ging, was sie tat und so hatte sie sie einfach mit nach draußen genommen. In Räumen fühlte sie sich neuerdings beengt, hatte sie festgestellt. Vermutlich lag es daran, dass sie so lange unter freiem Himmel gelebt hatte, sie wusste es nicht. Obgleich sie in der Zivilisation aufgewachsen war, hatte es ihr bei Teco erstaunlich wenig ausgemacht, nicht in dieser zu leben.

„Jemand...dän?“, fragte Kili da zurück und sah kurz zum Dorf hinab, es nach etwas absuchend. Einen Augenblick später schenkte sie der Heilerin wieder ihre volle Aufmerksamkeit.

„Ja. Jemand, ein... junger Mann. Teco. Kennst du Teco?“

Sie versuchte, sicher zu klingen – Mahrran vermittelte ihr sicher, dass die Magier über ihr standen, sie wollte seine Arbeit nicht zerstören, indem sie sich eine Blöße vor der jungen Frau gab. Das fiel ihr nicht leicht...

Die folgende Antwort erfreute sie.

„Teco? Ja... Teco... mein äh... nein... Kind von Bruder von Vater. Teco gut?“

Sie lächelte unwillkürlich, als Kili es auch tat. Sie schien beinahe etwas euphorisch – sie hatte lange nichts mehr von irgendwem aus ihrem Stamm gehört. Teco war auch noch ihr Cousin.

„Teco ging es gut, als ich ihn zum letzten Mal sah. Er ist sehr nett!“

Die Jüngere dachte kurz nach, dann strahlte sie weiter.

„Nett... wenig, ja. Gute Jäger.“

„Ja, in der Tat. Ich... wollte dich das einfach fragen, weil...“

Die Magierin hielt inne, als ihr Gegenüber den Kopf leicht schief legte. Warum eigentlich? Was konnte ihr dieses Mädchen schon groß erzählen mit seinen mäßigen Sprachkenntnissen? Und weshalb? Teco war vorbei, er war weit weg und es war gut, dass es so war, denn wäre er es nicht, dann wäre er unglücklich gewesen.

Und trotzdem vermisste sie ihn.
 


 

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Ein bisschen Geplah bei den Magiern. Jo.

Offenheit

Grillenzirpen. Penetrantes Grillenzirpen. Zwischendurch die Laute, mit denen sich die Bisons der Legende nach unterhielten.

Moconis Brustkorb hob und senkte sich stärker, je länger er versteckt hinter den hohen Savannengräsern lag. Je näher seine Nase an dem pflanzenbewachsenen Untergrund war, desto schwerer fiel ihm das Atmen. Als würden sich seine Luftorgane mit jedem Augenblick, der verging, weiter verengen... er mochte es gar nicht. Noch weniger den Gegenwind...

Für die Jagd war er günstig. Die Bisons würden ihre Jäger nicht riechen und sie erst bemerken, wenn sich die Speere tief in ihr Fleisch bohrten. Doch so bekamen die Männer, die sich verteilt um die Herde verbargen, viel von dem unangenehmen Bisongeruch ab. Er roch streng und... abartig. Moconi wurde immer wieder übel davon... er schämte sich dessen, so gab er es auch nicht zu. Ebenso wenig wie seine immer wiederkehrenden Atemprobleme.

Er zuckte unweigerlich zusammen, als eines der Kälber am Rande der Herde in seine Richtung blickte und alarmiert mit den Ohren wackelte. Leiser atmen... es musste leiser atmen. Die Gruppe wartete auf seinen Befehl... aber noch war es ungünstig und zu viele Tiere zu dicht beisammen, das Risiko, dass jemand zertrampelt wurde, war zu groß. Das konnte sich der Stamm in Zeiten wie diesen nicht leisten. Sein Vater hatte sich früher gerne einmal übermütig in die Herden gestürzt, wenn es ihm zu lange gedauert hatte. Es hatte immer geklappt... aber Moconi traute es sich nicht. Noch etwas, wofür er sich schämte, obgleich ihm zumindest das niemals jemand vorgehalten hatte...

Er keuchte, als ein erneuter Windhauch ihm mehr von dem abartigen Gestank ins Gesicht wehte. Sie mussten mehr Tiere erlegen als sonst. Es würde eine Hochzeit geben. Beim Gedanken daran hätte er fast gewürgt.

Er schielte zwischen den Halmen hindurch zu Teco, der vom vorteilhaftesten Platz aus starten würde, weil er der vielversprechendste Jäger war. Gewesen war.

Wir werden ja sehen, wie lange noch., überlegte der junge Mann düster, während er seinen Cousin anvisierte, der hochkonzentriert ihre baldige Beute beobachtete, Mal sehen, wie schnell du mit deinem verkrüppelten Bein aufkommst. Hätte man es dir nur abgerissen und zerfleischt... ein Fehler, Teco, und es war dein letzter Jagdzug, du elender Krüppel.

Er konnte nicht anders, als ihm zu zürnen. Die Wut in seinem Inneren war heiß wie die Sommersonne... beinahe wäre es gut gewesen, beinahe hätte er seine Braut bekommen! Und dann hatten die Götter diesen arroganten Angeber zurückgebracht, es war so... erniedrigend. Vielleicht nicht ganz so erniedrigend wie das, was auf seine düsteren Gedanken folgte.

Teco starrte zurück. Einen Moment lang war der Häuptling irritiert, mit welcher unverschämten Direktheit er ihm ins Gesicht sah, und verstand seinen verärgerten Ausdruck gar nicht, bis er überdeutlich mit dem Kopf in Richtung der Herde deutete. Er folgte seinem Blick zu langsam... die Tiere entfernten sich zum Grasen etwas voneinander.

Verdammt. Er sprang auf und stieß den traditionellen Schrei aus, der den Jägern das erwartete Zeichen gab. Ebenso wie alle anderen war auch sein Cousin darauf vorbereitet gewesen und ließ sich keineswegs lumpen, er verstand es sehr gut, mit seiner Behinderung umzugehen. Anders als Moconi, der nach wenigen Schritten inne halten musste, weil ihm schwarz vor Augen wurde. Als er seinen Speer heben konnte, waren die meisten Tiere längst geflüchtet. Er warf ihn einer alten Kuh hinterher, doch verfehlte sie weit. Die Waffe kam auf einem kleinen Felsen auf und zerbrach.
 

Gedemütigt fiel es ihm schwer, sich über den großen Erfolg seiner Jäger zu freuen. Er half ihnen bei der Zerteilung des Fleisches und dem Verladen auf die Rückentragen, ohne ein einziges Wort mit ihnen zu wechseln. Sie ließen ihn auch weitgehend in Ruhe, doch das ein oder andere spöttische Grinsen entging dem jungen Mann nicht und so zerfetzte er in seiner Wut bei seinem ungeschickten Umgang mit dem Steinmesser die besten Teile des größten Tieres, das natürlich Teco erlegt hatte.

Dieser schien davon nicht begeistert. Gestärkt durch seinen Erfolg wies er ihn zurecht.

„Halte dich etwas zurück, du zerstörst das gute Fleisch! Wie soll Calyri das denn garen, wenn sie es in keine ordentlichen Stücke schneiden kann, weil der Häuptling es so schlecht zerteilt hat? Es sieht aus wie von einem Raubtier zerfetzt!“

Moconi hielt in seiner Bewegung inne, wie auch alle anderen Männer, die dezent zu den beiden schielten. Der Häuptling grinste aufgesetzt.

„Verzeih mir, Teco. Das war keine Absicht, ich bin nun einmal recht ungeschickt. Aber du kannst deine Arbeit auch gerne selbst verrichten, ich werde an anderer Stelle sicher auch gebraucht. Ich möchte Calyris Kochkünste nicht einschränken...“

Calyri hätte für ihn kochen sollen. Er zitterte bei dem Gedanken und bemerkte, wie ihm vor Neid und Abscheu abermals schlecht wurde.

„Nicht so grantig, mit etwas Übung wird das schon noch.“, entgegnete Teco da und hob seine Brauen, „Aber du scheinst heute nicht ganz bei dir zu sein, liege ich richtig? Ich meine, beinahe hätten wir die gute Gelegenheit verpasst, weil du so verträumt warst...“

Karem pfiff durch die Zähne und arbeitete kopfschüttelnd mit Dherac weiter. Porit und Tinash hielten die Köpfe gesenkt.

Moconi erhob sich.

„So lange es dich gibt, muss sich ja niemand sorgen, Teco! Ich sollte mich vor allen bei dir bedanken dafür, so wie du alle über meine Unachtsamkeit unterrichtet hast, wie es in Familien üblich ist!“

Er hasste es, wenn er sich seine Gefühle anmerken lassen musste, aber er konnte nicht anders. Dieser abartige Kerl, er verdiente Calyri nicht, er würde sie ihm wegnehmen vor den Augen aller!

Teco erhob sich ebenfalls, unverschämt elegant mit seinem verkrüppelten Bein.

„Oh, oh... seine Fehler sollte man sich schon eingestehen können oder denkst du, ich sei der einzige, der es bemerkt hätte? Nein, ich spreche es bloß aus, du siehst mich in letzter Zeit viel zu grantig an, ich finde, du solltest meine Anwesenheit viel mehr zu schätzen wissen.“

Er grinste breit, aber auch in seinen Augen stand eine zurückgehaltene Wut, die freigelassen werden wollte. Wie ein Raubtier schlich er um den Kadaver herum und stellte sich dem wenig größeren Häuptling gegenüber. Dieser reagierte auf die Provokation mit der entwürdigendsten und ehrlosesten Geste, die es unter den Jägern des Schlangenstammes gab; er spuckte auf Tecos Beute.

Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer, als der jüngere Mann die Augen in stummem Entsetzen weit aufriss. Moconi kicherte bebend.

„Die Traditionen verbieten Krüppeln die Jagd, dein Tier ist minderwertig und wird nicht verspeist werden. Du wirst einen Tag hinter uns zurückbleiben, um dem Geist des Bisons in Ruhe Ehre erweisen zu können.“

Er wischte sich die von der vorangegangenen Arbeit blutigen Hände an seiner Hose aus gutem Leder ab, ehe er sich von der Gruppe entfernte.

„Der Rest arbeitet weiter. Ich muss mich dem nicht widmen, ich bin der Häuptling.“

Und er ließ sie stehen.
 

Als Moconi außer Sichtweite war, fiel der Schock über die unerwartet harten Worte des jungen Mannes von den Jägern ab. Nicht ganz überraschend fand Teco seine Worte als erster wieder, während er noch immer die Stelle, an der sein Cousin im vom Sommer verdorrten Gebüsch verschwunden war, apathisch anstarrte.

„Wurde der irgendwie... vom Blitz getroffen?!“

„Ich glaube auch!“, Dherac erhob sich empört schnaubend von seinem Bison und warf ein Stück Fleisch achtlos auf den staubigen Boden vor sich, sich mit der blutigen Hand über die Stirn wischend, „'Ich muss mich dem nicht widmen, ich bin der Häuptling.', wie? Einen Dreck bist du, sechzehn Mondzyklen alt bist du, man sollte dich Respekt lehren!“

Wieder ging ein Raunen durch die Reihen der Männer, die sich nach und nach perplex ob des vorangegangenen Szenarios von ihrer Arbeit erhoben. Nur Tinash blieb auf dem Boden hocken, sein Haupt tief gesenkt, als hätte er sich geschämt.

„Dherac, er... ist weg, das hört er nicht mehr.“

Karem grinste den sehr jungen Mann höhnisch an.

„Ja, du gibst ihm Rückendeckung... wie immer. War mir ja klar.“

Er schüttelte den Kopf, der Jüngere rührte sich nicht.

„Nein... überhaupt nicht. Er hat sehr töricht gesprochen, das ist unentschuldbar, deshalb werde ich es auch gar nicht versuchen. Aber... ich mag das nicht hören, diese schlechte Stimmung... Teco heiratet, wir sollten guter Laune sein...“

Er schenkte seinem älteren Bruder einen kurzen Blick, worauf dieser ihn einen Moment lang stumm musterte. Dann grinste er verzerrt und bewegte sich auf das Gestrüpp zu, in dem Moconi verschwunden war.

„Ich heirate die Frau, die ihm gefällt. Haha, sein Pech, er hatte so lange Gelegenheit, sie an sein Feuer zu nehmen, jetzt ist es vorbei. Und er benimmt sich wie ein Kind...“

„Das Kind, das er auch noch ist...“, stimmte Porit ihm stirnrunzelnd zu und begrüßte es, als Tinash sich erhob und seinem Bruder folgte. Vielleicht sollte er sich auch besser in der Nähe der Jüngeren aufhalten...
 

Teco musste nicht lange nach seinem Cousin suchen. Er war nicht weit entfernt an einem Tümpel und warf ihm einen vernichtenden Blick zu, als er ihn bemerkte.

„Nicht einmal in Ruhe pinkeln kann man.“, brummte der Ältere garstig und nestelte tatsächlich an seiner Hose herum. Sein Gegenüber hob kurz die Brauen.

„Das gute Wasser.“, er schüttelte den Kopf, „Versteh mich nicht falsch, ich habe ein großes Mundwerk, ich weiß das auch. Aber mit Recht! Du fällst vor dem Stamm in Ungnade, wenn du deine Abneigung weiter so heraus lässt... seien wir doch ehrlich, du hattest deine Chance. Nimm es wie ein Mann.“

Er grinste sein schiefes Grinsen, bei dem alle Frauen schwach wurden, und hielt ihm eine Hand entgegen. Er wollte nicht als Krüppel gelten... er war der beste Jäger dieses Stammes, ihm gebührte viel Respekt!

Moconi hielt kurz inne, dann ging er tatsächlich auf die Geste ein und ergriff die Hand seines Gegenübers, auch seine Mimik imitierend.

„Du bist so... unverschämt!“

Teco nahm nicht wirklich wahr, wie sein Gegenüber mit seiner Linken ausnahm, erst, als sie auf sein Gesicht traf und sein Nasenbein ein unschönes Knacken von sich gab, bemerkte er, was geschehen war.

Er keuchte und wankte von einem betäubenden Schmerz gepackt fassungslos einige Schritte zurück, nach seinem brennenden Gesicht fassend. Seine Nase blutete wie ein frisch erlegter Bison aus der Halsschlagader.

Und Moconi erinnerte ihn an einen wütenden Bisonbullen... einen verdammt gerissenen. Er reichte ihm die rechte Hand zum geheuchelten Frieden und schlug ihn mit seiner linken, seiner stärkeren, nieder. Dieser widerliche...

„Du respektlose Made! Du wusstest genau, dass ich Calyri seit langer Zeit begehre! In meiner Position konnte ich sie dir nicht nehmen... aber es wäre an dir gewesen, sie mir zu überlassen, du Egoist!“

Ewigkeiten hatte er darauf gehofft, dass es irgendwo in seinem Cousin doch so etwas wie einen Funken Anstand gab, aber scheinbar hatte er sich geirrt. Dieser Kerl lebte nur für sich selbst!

„In... in welcher Welt lebst du? Deine Traditionen sind heute nichts mehr wert, ich weigere mich, nach ihnen zu leben, wenn sie mir unsinnig erscheinen – und ich sage, den Göttern ist es egal, wer wen zur Frau nimmt, die haben nämlich wichtigeres zu tun!“

Noch ehe Moconi sich über die unverschämte Mutmaßung über die Freizeitgestaltung der Götter empören konnte, fuhr er unter einem harten Schlag in die Magengrube selbst keuchend zusammen. Das Blut aus Tecos Nase tropfte auf seine Stirn, als er kurz gekrümmt vor ihm inne hielt. Es war ehrlos. Aber das ließ er sich nicht bieten.

Ohne sich wieder aufzurichten stürzte er nach vorne und warf den anderen Mann zu Boden. Er hätte ihm sicher alle Zähne ausgeschlagen, hätte er in jenem Moment, als er seine linke Hand über den perplexen Jüngeren erhob, nicht selbst einen kleinen Stein an den Kopf bekommen und gleich darauf noch einen, was ihn unter dadurch verursachtem Schwindel inne halten ließ.

Irritiert blickten beide nach rechts, wo Tinash empört die Arme vor der Brust verschränkte. Jetzt wusste Moconi, warum man ihn „Der, der die Vögel ohne Waffe und Falle tötet“ nannte, das waren definitiv Präzisionswürfe gewesen...

„Also ganz bei Trost seid ihr nicht mehr, wie?“, fuhr der Rothaarige sie da auch schon an und trat einige Schritte auf sie zu. Der Häuptling erhob sich schwankend, ebenso Teco, der fluchend nach seiner grausam schmerzenden Nase fasste. Sein Bruder schenkte ihm einen missbilligenden Blick, ehe er sich dem Stammesoberhaupt zuwandte.

„Er hat schon ein verkrüppeltes Bein, musstest du ihn jetzt auch noch entstellen?“

Verwirrt von dem grantigen Ton des Jüngeren wich er ein Stück zurück. Moment, was? Tinash hielt zu Teco – und nicht zu ihm?

„So benimmt sich kein Häuptling, Moconi!“, belehrte der Jüngere ihn weiter, „Ewig zurückhalten und dann ausrasten, das ist nicht in Ordnung. Du solltest dich nicht beschweren, du hattest wirklich lange genug Zeit!“

Teco nickte seinem Bruder dankbar über die Zustimmung kurz zu, worauf er jedoch leise stöhnte, weil die Bewegung seiner Nase nicht bekommen war. Moconi schnappte nach Luft.

Klar. Sie waren alle gleich.

„Was weiß ich, wie ich mich benehmen muss, ich wollte es nie sein! Ich werde doch ohnehin immer kritisiert, egal, was ich tue!“

Er wandte sich ab und stapfte an den Brüdern vorbei, durch das Gebüsch zurück. Vielleicht sollte er doch weiter bei der Zerteilung helfen.

Er erschauderte.

„Aber dass dir Tecos Heirat gut passt, ist mir klar, Tinash.“
 

„Sie werden bald zurückkehren.“

„Dann ist es soweit.“

Calyri sah kurz zu den jüngeren Zwillingen auf, während sie vor Karems Hütte hockte und seinem Gefangenen die eigenartigen langen Haare in der Farbe des Himmels flocht. Sie waren ganz weich... sie kümmerte sich gern darum. Und wenn sie es tat, war der Junge ganz friedlich.

„Ja, ich weiß. Ich werde es sicher nicht vergessen.“

Sie kam nicht dazu, danach zu fragen, weshalb die beiden nun bei ihr auftauchten, da hielt Novaya ihr eine winzige, aus einem tierischen Beckenknochen geschnitzte Schale entgegen. Sie hatten ihren wertvollen Inhalt mit einem Stück eingefetteten Leder, das sie darüber gespannt hatten, geschützt.

Die junge Frau weitete die Augen.

„Ihr habt wirklich...?“, sie nahm das Gefäß verblüfft entgegen. Die Jungen grinsten ihr schiefes, schelmisches Grinsen – wie immer synchron.

„Wir haben es versprochen.“

„Wir halten uns an unsere Versprechen.“

Ihr Grinsen erstarb. Kajira, wie der Gefangene hieß, errötete unwillkürlich, als Calyri seinen Kopf in Gedanken zu streicheln begann, während sie ihre Brüder ansah.

„Aber hör zu, Schwester...“, sprach Novaya da weiter, „Wir sind auf eine wirklich gute Freundin Schlange getroffen... wenn du verstehst, was „gut“ bedeutet. Du musst sehr vorsichtig sein, wenn du kochst. Es darf nicht einmal deine Haut berühren.“

Sie erschauderte bei dem Gedanken daran, in welche Gefahr die Zwillinge sich wohl begeben hatten. Sie wusste nicht, wie sie es geschafft hatten... vermutlich würde sie es auch niemals erfahren. Alles was sie wusste, war, dass diese beiden Jungen etwas ganz besonderes waren... und das vielleicht nicht nur im negativen Sinne, auch wenn ihre Tat von abgrundtiefer Bosheit zeugte.

Sie hielt die Schale fest in der Hand.

„Ich danke euch... sehr. Aber ihr verratet mich auch nicht?“

„Das wäre dumm von uns.“, bemerkte Semliya nur monoton, „Du könntest uns dann schließlich zurück verraten und wir sind bekanntlich wesentlich weniger vertrauenswürdig als du.“

„Vertrau uns. Wir sind nicht die freundlichsten Menschen, aber wir sind deine Brüder.“

Novaya lächelte leicht, Semliya nickte ihr zu, einen missbilligenden Blick auf Kajira werfend, der ganz ruhig, ohne aufzusehen, da saß.

„Gut erzogen...“

Calyri lächelte matt. Das weniger.

„Er mag es nur, wenn man sein Haar kämmt... er hat sich gegen Ardoma gewehrt, als sie es ihm abschneiden wollte, seitdem kümmere ich mich darum. Vermutlich gilt das bei den Kalenao als hübsch, was meint ihr?“

Die Jungen warfen sich einen kurzen Blick zu, dann bückten sie sich zu ihr und dem Gefangenen, der darauf sichtbar verängstigt die Augen schloss.

„Ob du uns wohl auch erwürgen willst...?“, brummte Novaya, als er ihn prüfend musterte, während sein Zwilling sich seiner Schwester zuwandte.

„Vielleicht, wir würden unser Haar nicht so tragen wollen... wie dem auch sei. Mefasa vermisst dich, glauben wir. Wir verstehen sie ja schlechter als du... aber du bist lange nicht bei ihr gewesen, sie scheint unglücklich.“

Wo er es ansprach, er hatte recht. Sie fasste sich an die Stirn, während sie das Gefäß in der anderen Hand noch sicher festhielt. Sie musste es gut verstecken.

„Ich werde bald nach ihr sehen, versprochen.“
 

Sie stillte Rhiks kleinen Sohn, als Calyri am späten Nachmittag Zeit dazu fand. Dabei stellte sie erfreut fest, wie ordentlich und gut ihre Hütte aufgebaut worden war und dass auch ihre alte Freundin gesund und entgegen Semliyas Worten zufrieden wirkte. Anfangs war es ihr sehr schwer gefallen, zu glauben, dass die Zwillinge sich tatsächlich aus reiner Liebe so an die rothaarige Frau klammerten, aber wenn sie sich das so ansah, musste sie dieser Behauptung beinahe glauben. Wenn sie daran dachte, wie die beiden miteinander umgingen, fiel es ihr so wie so schwer, den Gesprächen der alten Frauen Glauben zu schenken, sie seien gefühllose Dämonen. Seit ihrer Geburt teilten sie sich ein Schlaflager, in dem sie Arm in Arm schliefen, seit sie lebten. Sie hatten ihre Herzen... sie hoffte, dass sie mit Mefasa glücklich wurden, so seltsam das auch erschien.

Letztere sah nun mit leuchtenden Augen zu ihr auf. Da sie ihr Kind hielt, konnte sie ihre Freundin nicht in ihrer simplen Zeichensprache begrüßen, aber das war nicht von Belang. Calyri setzte sich einfach zu ihr, sah ihr zu und lauschte den schmatzenden Geräuschen des kleinen Kindes beim Trinken, bis es satt war und seine Mutter es auf sein kleines Lager legte, damit sie die Hände frei hatte.

Sie erklärte lächelnd, dass sie glücklich sei und sich schon gefragt hatte, wo sie nur steckte. Sie musste sich so viel um ihren Jungen kümmern, es war schwer für sie, nach Calyri zu suchen.

Das glaubte sie gern. Sie seufzte leise.

Sie beneidete die wenig Ältere um ihr Kind... ihr erster Mann war zwar bereits tot, doch sie hatte es mit ihm in tiefer Liebe gezeugt... der Gedanke daran, dass vielleicht keines ihrer zukünftigen Kinder dieses Privileg würde genießen dürfen, machte sie beinahe krank. Ihr fiel das gute Gift ein, das sie sicher hinter ihrem Lager versteckt hatte...

Mefasa formte weiterhin fröhlich die Handzeichen, mit denen sie sich seit jeher ausdrückte... sie hatte viel zu erzählen, wie es schien. Sie tat es so schnell, dass Calyri ihr nur halbherzig folgte, weil es ihr zu anstrengend wurde... sie musste wirklich glücklich sein. Wie war Semliya nur darauf gekommen?

Sie erzählte von ihrem Kind, von ihrer Hütte und von den guten neuen Fellen... von ihren Männern und davon, dass sie vermutete, dass neues Leben in ihr wuchs.

Und wäre sie in ihrem „Redeschwall“ nicht durch das Baby, das sich von seinem Lager gerollt hatte, unterbrochen worden, so wäre der Jüngeren vermutlich nicht einmal aufgefallen, dass sich ihr Gegenüber sehr heftig versprochen hatte.
 

Die Jäger kehrten am nächsten Tag zurück. Die Frauen und Kinder jubelten, als sie sahen, was für einen guten Vorrat an Fleisch sie mitgebracht hatten, und bereiteten sich sofort auf die Bearbeitung davon vor. Ein Teil der Beute würde sofort zum Verzehr vorbereitet werden – Tecos Heirat stand schließlich bevor – den größeren Rest davon würde man jedoch trocknen und haltbar machen. Zwar waren die Herden Berichten zu Folge in die Richtung des Lagers unterwegs, doch wusste man nie, was die Zukunft brachte und wie hart der Winter werden würde.

Calyri ihrerseits kümmerte sich bloß benommen und Tecos Nase. Sein halbes Gesicht war geschwollen und alles, was sich in der Nähe seiner Verletzung befand, war von Blutergüssen geziert, doch empfand die junge Frau nicht den geringsten Hauch von Mitleid für ihren baldigen Mann, als sie ihm eine nach alter Tradition hergestellte heilende Paste in sein Gesicht rieb.

„Ich wollte nicht hässlich sein.“, erklärte der Mann dabei ungefragt, „Deshalb habe ich sie mir richtig gebogen. Aber ich glaube, damit habe ich es nur schlimmer gemacht. Jetzt ist die Nase zwar wieder gerade, aber mein Gesicht ist grün und blau und deformiert wie eine schlecht bearbeitete Speerspitze. Nicht, dass ich Ahnung von schlecht bearbeiteten Speerspitzen hätte... meinst du, das heilt wieder?“

„Mhm.“, entgegnete sie nur halbherzig und massierte die ölige Paste absichtlich fester ein, als es nötig gewesen wäre. Teco stöhnte dabei leise auf, wurde jedoch nicht wütend.

„Was für starke Hände meine Fast-Frau doch hat...“, kommentierte er es bloß, „Damit kannst du auch sicher gut unsere zahlreichen Kinder erziehen.“

Wenn ich von dir jemals ein Kind erwarten sollte, dann werde ich es eigenhändig erwürgen...

Sie war schlau genug, ihre Gedanken nicht auszusprechen. So seufzte sie nur leise und schweifte ab, während sie den Mann vor sich noch immer versorgte.

Mefasa erwartete ein Kind... von einem der Zwillinge. Himmel, es waren doch noch Jungen! Ihre Verlobte hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie sich versprochen hatte, sie hatte fröhlich weiter herum gefuchtelt, nachdem sie ihr Baby wieder auf sein Lager verfrachtet hatte.

Es war eine Schande. Nicht nur das, es verstieß auch gegen die Tradition, und das heftig. Früher oder später würde man die Rundung an ihrem Bauch bemerken... und dann würden die Brüder noch immer nicht das Mannesalter erreicht haben. Sie waren sogar noch jünger als Karem, als er Joru gezeugt hatte, und das war bereits schlimm gewesen...

Mefasa war ihre beste Freundin. Novaya und Semliya waren ihre Brüder, die sie trotz ihrer Kaltherzigkeit tief in ihrem Inneren sehr liebte. Es lag ihr an sich fern, die drei zu verraten... aber was war mit dem Stamm? Sie war sich sicher, dass ein derartiger Gesetzesbruch sie in große Probleme stürzen würde... vielleicht konnte man die Götter irgendwie besänftigen? Sie wollte mit Moconi sprechen... sie wollte ihn um Rat fragen. Er sollte es nicht gleich allen eröffnen... vermutlich wussten die Zwillinge nicht einmal selbst von ihrem Glück.

Nein, sie konnte nicht schweigen. Am Ende würde der gesamte Stamm ins Unglück stürzen... und dann war sie daran mit Schuld!

Teco hüstelte.

„Calyri? Bist du nicht langsam mal fertig?“
 

Kili wusste nichts von alledem. Alle Sorgen, Ängste und Wünsche ihres Stammes waren weit von ihr entfernt, als sie vor dem Haus der Zwillinge auf einem Stein saß und im herbstlich-kühlen Seewind fröstelte. Sie hatte es an sich aufgegeben, sich nach ihrer Heimat zu sehnen... wie konnte sie Mahrran böse sein? Er behandelte sie wie eine Göttin, obwohl er nach eigener Aussage nicht einmal so genau wusste, weshalb er es tat. Er mochte sie einfach... er war doch gut zu ihr. Es war leichter, wenn sie sich seiner Zuneigung einfach hingab, als chancenlos dagegen anzukämpfen. Dennoch brannte die Sehnsucht heiß in ihrem Inneren...

Die Sonne stand tief und ließ die unendlichen Weiten des Meeres hell glitzern. Zu Beginn war der Anblick höchst seltsam für sie gewesen... eine so große Ansammlung von Wasser hatte die junge Frau bisher nicht gekannt. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Es sah schön aus...

Mahrrans Stimme drang leise zu ihrem Ohr. Er war weit entfernt, unten im Dorf und hielt eine wichtige Rede vor seinem Volk. Sie wusste nicht genau, worum es ging, aber das war ohnehin nicht ihre Sache. In seine Politik wollte sie sich keinesfalls einmischen...

Sie keuchte erschrocken, als sie plötzlich eine kalte Hand auf ihrer Schulter spürte, die sie erschaudern ließ. Aus den Augenwinkeln sah sie die für die Magier typischen, klauenartigen Nägel, die sie immer wieder verängstigten.

„Keine Sorge, ich tu dir doch nichts.“

Sie erhob sich und wandte sich ihrem größeren Gegenüber zu, trotz ihrer Abneigung vor ihm höflich den Kopf neigend.

Shiran grinste, als er ihren Widerwillen erkannte. Kili ihrerseits fand sein Grinsen noch abartiger als ihn selbst... seine schiefen Zähne verschandelten sein ganzes Gesicht. Nicht, dass es sie stören sollte...

„Ich muss dir ja nicht gefallen, ich möchte nur mit dir verhandeln.“, murrte er dann etwas, als er ihre Gedanken ebenfalls erkannt hatte und sie errötete. Seit wann war der denn so empfindlich?

„Ich habe nichts gesehen und nichts gehört.“, wehrte die Jüngere darauf jedoch ab, als ihr in den Sinn kam, aus welchem Grund er sie aufsuchte.

Tatsächlich hatte sich das Verhältnis der Zwillinge deutlich abgekühlt. Sie ignorierten sich oder Nadeshda zischte ihrem Bruder bösartige Worte hinterher, die Kili mit ihren mäßigen Sprachkenntnissen nur schlecht verstand. Wobei letzteres sicherlich nicht so wichtig war, die kleine Frau erwartete schließlich ein Kind und da konnten solche Reizungen auftreten. Das hatte sie bereits häufig erlebt.

„Deine Gedanken sprechen für sich.“, erwiderte der Mann darauf wieder im gewohnten Ton, „Erzähl mir mehr. Erzähl mir, was Mahrran zu dir sagt.“

Sie verzog das Gesicht.

„Das werde ich nicht. Du kannst mir nichts tun, Shiran.“

Als sie die Arme vor der Brust verschränkte, schloss er kurz die Augen. Sie wusste nicht so genau, weshalb, vielleicht, um sich zu beruhigen. Er schien an diesem Tag ohnehin ziemlich gereizt zu sein...

Als er sprach, klang er tatsächlich gezwungen gefasst.

„Ich bin der Seher. Ich weiß vieles, aber vielleicht nicht alles. Mir ist nicht bewusst, wie weit sich die Macht eines Götterkindes auf mich auswirken kann. Ich möchte kein Risiko eingehen. Und das sollte auch in deinem Willen sein.“

Er öffnete seine Augen wieder, schenkte ihr einen ernsten, durchdringenden Blick.

„Dein Stamm ist in Gefahr. Mahrran möchte sein Dorf retten – ebenso wie Nadeshda – aber er kennt wenig Mitleid mit deiner Familie und deinen Freunden, Menschenfrau. Glaube mir, ich bin kein aggressiver Mann, ich verabscheue Gewalt. Ich würde sogar versuchen, die Menschen davor zu bewahren, wenn du mir hilfst.“

Das klang ihr etwas zu rosig. Shiran war ihr suspekt, sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr helfen konnte... oder es wollte. Was Mahrran betraf, so wollte sie eigentlich gar nicht genau wissen, was er vorhatte, es war angenehmer.

„Mahrran erzählt mir nicht viel.“, schnappte sie so simpel, „Ich weiß nicht, was er vorhat oder welche Probleme er mit seiner Schwester hat, frage ihn halt selbst, ich dachte, ihr seid Freunde.“

Darauf erwiderte der Mann nichts. Sie rechnete damit, dass er ihr irgendetwas antat – wenn sie tot war, war sie tot, dann brachte auch Mahrran sie nicht wieder zurück und der Seher wusste sich sicher gegen ihn zu behaupten. Kurz bereute sie so ihre Worte... aber auch nur kurz. Dann wandte er sich von ihr ab und entfernte sich, ohne noch einen weiteren Satz zu sprechen.
 

„Was er wollte?“

Sie zuckte ein weiteres Mal zusammen, als sie Nadeshdas unangenehme Stimme in ihrem Rücken hörte. Sie sah wütend aus, bemerkte Kili schnell, als sie sich zu ihr drehte, vermutete jedoch, dass diese Wut nicht ihr galt.

„Ich... ich weiß es nicht so genau. Er möchte etwas von mir wissen, was ich gar nicht verstehe...“
 

Moconi rührte sich nicht. Es war inzwischen tiefe Nacht... und er wünschte sich, sie würde niemals enden. Die Finsternis hüllte das Leben ein, bannte es für einen kurzen Zeitraum... einen kurzem Zeitraum, der einen stressigen Tag der Ankunft von einem Hochzeitstag trennte. Ja... morgen war es soweit. Und er hatte so jämmerlich versagt.

Seine Hände krallten sich in seine Schlaffelle, die er sich bis unter die Nase gezogen hatte. Beinahe hätte er seinen Vater für das, was er aus ihm gemacht hatte, verflucht. Und die Kalenao, weil sie ihm Kili gestohlen hatten. Kili... er vermisste sie so. Sein Vater hätte sie längst zurückgeholt... aber er wusste nicht, wie er es hätte anstellen sollen. Die Magier waren gefährliche Monster... er verstand nicht, was sie davon hatten, die junge Frau festzuhalten. Es erschloss sich ihm nicht... es ergab keinen Sinn. Vielleicht kam ihm das auch nur so vor, weil er so furchtbar feige war.

Feigheit... er zuckte bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammen, so auch bei dem Rascheln der Felltür zu seiner kleinen Hütte. Er konnte sich denken, wer es war. Normalerweise stellte er sich einfach so lange schlafend, bis sein Besucher ihm fröhlich mitteilte, dass er wusste, dass er wach war, und dann bei ihm blieb. Heute würde es nicht so sein.

Er fuhr ruckartig auf und packte den Jüngeren grob am Kragen seiner Weste, die er sehr genau kannte.

„Was willst du hier, du elende Made, du Verräter, du elendes Stinktier?! Wie kannst du es wagen, dich einfach in meine Hütte zu schleichen, nachdem du mich derart gedemütigt hast?! Für so dumm habe ich nicht einmal dich gehalten!“

Es war schwierig, gepackt von einer solch fürchterlichen, inneren Wut leise zu bleiben, irgendwie hatte er es aber offenbar geschafft. Zumindest gab es aus den Nachbarhütten keinerlei Reaktionen.

Tinash riss sich los.

„Sprich nicht so mit mir!“, brummte er mit unterdrückter Stimme ebenso erbost, „Hör mich erst einmal an, ehe du mir die Nase brichst, Häuptling!“

Moconi zischte, wagte es jedoch nicht, ihn weiter zu unterbrechen. Dabei durfte er es. Er durfte ihn töten, wenn er wollte. Aber er wollte es nicht. Er war schwach...

„Ich wollte mit dir sprechen.“, sprach sein jüngerer Cousin da ruhig weiter, „Hör mir einfach zu, ja?“

Er schob den Häuptling ein Stück bei Seite und setzte sich neben ihn auf seine Schlaffelle.

„Sei nicht so unhöflich.“ Moconi murrte, lauschte aber wie gefordert.

„Du bist sauer auf mich.“, stellte Tinash darauf zunächst richtig fest, „Kann ich mir denken und irgendwie hast du wohl recht. Ich bin dir ziemlich in den Rücken gefallen, dabei habe ich jetzt mondelang zu dir gehalten. Ja... ich weiß es nicht so genau, aber irgendwie tat es mir weh, wie du mit Teco umgegangen bist.“

Er seufzte leise und kratzte sich am Kopf, ohne in die Richtung zu sehen, in der er das Gesicht seines Cousins vermutete. Es war stockfinster.

„Weißt du... er hat ein großes Mundwerk, das ist wahr. Aber die Götter haben ihm ein solches Talent geschenkt! Und er hat viel erlebt... viel überstanden. Er hat deine Behandlung nicht verdient, Moconi!“

Der Häuptling zischte verächtlich. Er enttäuschte ihn langsam ernsthaft.

„Nur die Götter wissen, was er wirklich erlebt hat, Tinash. Vermutlich hat er sich aus Dummheit selbst verkrüppelt und dann verlaufen, wer weiß. Mich interessiert es auch nicht und ich werde es noch durchsetzen, dass der Rat ihm das Recht auf die Jagd entsagt. Er entehrt unsere Beute! Das wird die Götter auf Dauer viel mehr entehren als mein Ausrutscher es getan hat...“

Davon war er zur Abwechslung tatsächlich überzeugt. Allerdings musste er sich auch eingestehen, dass ihn der Gedanke daran, aus Teco eine mittellose Belastung zu machen, irgendwie befriedigte. Er hatte tatsächlich eine sadistische Ader, stellte er fest... vielleicht sollte er sich beim nächsten Treffen mit Zerit – und der kam garantiert zurück – daran erinnern.

Er erahnte ein Kopfschütteln Tinashs.

„Nein... nein! Das tust du nicht für den Stamm, sondern nur für dich selbst. Calyri ist jetzt sein, ich habe dir oft genug gesagt, du sollst sie zu deiner Frau machen, es ist zu spät! Wenn du...“

„Wenn du der Meinung bist, du seist ein besserer Häuptling als ich es bin, dann übertrage ich dir morgen gerne mein Amt. Noch ein Grund mehr zu feiern, nicht?“

Der Jüngere schnaubte auf den mehr als deprimiert klingenden Vorschlag. Er verstand das einfach nicht... er mochte Moconi. Er mochte ihn sehr, er wollte ihn doch nur vor einem Unheil bewahren...
 

Er ergab sich seinem Schicksal. Zumindest hatte er es vor. Als er am nächsten Morgen half, auf dem Mittelplatz des Lagers eine große Feuerstelle aufzubauen, schickte die Sonne sanfte, fast spätsommerliche Sonnenstrahlen hinter dem Gebirge hervor. Abermals packte eine unterschwellige Sehnsucht nach seiner jüngeren Schwester den Mann, doch er zwang sich, sie zu ignorieren. An diesem Tag musste er alle Gefühle ignorieren. Tinash hatte Recht, er musste sich wie ein guter Häuptling benehmen und nicht wie ein unreifer Junge. Auch wenn es schmerzhaft war...

Calyri, die mit einem Mal hinter ihm stand und verlegen den Blick gesenkt hielt, besserte seine Situation nicht ernsthaft. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sie zu ignorieren, aber das wäre falsch gewesen... wenn sie auch vieles nicht waren, Kindheitsfreunde blieben sie. Und sie kannten sich. Wenn der jungen Frau etwas unangenehm war, dann musste man sie dazu auffordern, zu sprechen, ansonsten tat sie es nicht, so gern sie es auch wollte.

So strich er sich ein paar wirre Strähnen aus dem Gesicht, die sich dank seines fehlenden Stirnbandes schlecht bändigen ließen, und lächelte sie matt an.

„Möchtest du mit mir sprechen?“

Sie nickte und folgte ihm wortlos, als er an ihr vorbei schritt.

Sie verließen das Lager und landeten an einem kleinen Bachlauf. Die Lager wurden immer in der Nähe von frischem Wasser errichtet, das war sehr wichtig und erleichterte das Leben ungemein. Lange Wege waren gefährlich und kosteten unnötig Kraft.

„Rede.“, forderte der Mann sie auf und sie starrte errötend ihre nackten Füße an. Soweit es möglich war mied sie Schuhwerk, sie mochte das eingeengte Gefühl darin überhaupt nicht...

Nein, sie durfte sich nicht weiter von Nebensächlichkeiten ablenken lassen. Vor ihr stand Moconi und kein wahnsinniger Kalenao, der sie jederzeit verschlingen konnte... es gab keinen Grund zur Furcht. Sie sah ihm ins Gesicht.

„Es... es geht nicht um das, was heute mit mir geschehen wird!“, stellte sie sofort klar und erzielte sofort die erwartete Wirkung, als ihr Gegenüber verwundert die Brauen hob. Oh Himmel... er war so viel hübscher als Teco...

„Worum dann, Calyri? Ist es wirklich wichtig genug, mich vom Aufbau fern zu halten? Nach allem, was ich in letzter Zeit falsch gemacht habe, wirkt das leider nicht so gut...“

Ob sie wohl ahnte, dass er sein Amt für sie derart aufs Spiel gesetzt hatte? Er wollte es eigentlich gar nicht so genau wissen...

Sie nickte.

„Ja, allerdings. Ich... ich weiß etwas. Ich möchte es nicht verraten, aber ich fürchte... ich fürchte, die Götter würden es mir sehr übel nehmen! Und ich kann unmöglich mein eigenes Wohlergehen über das des gesamten Stammes stellen!“

Auch wenn sie es unwillkürlich tun würde, wenn sie in den nächsten Tagen für ihren neuen Mann kochte, fiel ihr nebenbei ein, verdrängte es jedoch. Moconis Blick verfinsterte sich.

Wunderbar, noch mehr Schwierigkeiten.

„Sag es mir, Calyri.“

Sie seufzte. Es tat ihr so Leid für Mefasa und die Zwillinge... sie mussten es ihr verzeihen.

„Novaya und Semliya... sie haben eine der wichtigsten Regeln gebrochen, sie haben bereits mit Mefasa verkehrt. Und... sie haben ihr neues Leben gemacht!“
 


 

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Ich vergesse immer, hier hochzuladen... o_o' Sorry... ^^'

Vorbereitungen

„Es ist... Zeitverschwendung.“

„Es ist sinnvoll.“

Mahrran grinste seine Zwillingsschwester schelmisch von der Seite an, als beide nebeneinander von der Anhöhe, auf der sie lebten, auf das Dorf hinab sahen, wo man sich offensichtlich auf eine wichtige Reise vorbereitete.

„Es ist amüsant.“

Sie zuckten zusammen, als mit einem kurzen, violetten Lichtschein Shiran hinter ihnen erschienen war und nun neben sie trat.

„Eure Uneinigkeit amüsiert mich. Dabei wollt ihr doch an sich beide nur... das Beste für unser Volk, nicht wahr? Immerhin da sind wir uns alle einig.“

Mahrran nickte ihm kurz zu, ehe er zufrieden weiter die Vorgänge am Fuße des Berges beobachtete. Es war ein klarer, wenn auch kühler Morgen... er mochte dieses Wetter. Und er mochte die Tatsache, dass er alle so von seinem Vorhaben hatte überzeugen können. Jetzt überlegte er nur noch, wie er das Kili am besten erklären sollte...

„Mische dich nicht in unsere Angelegenheiten ein.“, warnte Nadeshda den violetthaarigen Mann währenddessen und dieser grinste darauf nur belustigt und beugte sich zu ihr herab, ihr den Kopf tätschelnd.

„Das würde ich nie wagen... wie geht es meiner Frau denn heute, hm?“

Er strich ihr durchs Haar und nach vorn über ihre Wangen, die sich dank eines böswilligen, aufgesetzten Lächelns verkrampften.

„Wunderbar. Und deiner Impotenz?“

Er sollte sich wirklich Kili widmen, überlegte sich Mahrran, in einem kühlen Windhauch kurz schaudernd. Shiran wollte sie doch heiraten, um sie zu entmachten – dann sollte er auch die Gelegenheit dazu bekommen, sich um sie zu bemühen.

„Ich habe zu tun.“, verabschiedete er sich so und wandte sich guter Laune ab.
 

„Ich weiß ja nicht, scheinbar nicht so gut.“

Der Seher erlaubte sich, aufgesetzt fürsorglich ihre sehr zierliche Bauchrundung zu tätscheln. Schade, dabei hatte sie ihn so gern damit treffen wollen... nicht, dass seine Reaktion sie wunderte. Und auf seinen einmaligen Glückstreffer, der da in ihr heranwuchs wie ein kleiner Parasit, war er wohl ziemlich stolz... was er wohl damit vorhatte?

„Es wird ohnehin nicht lange leben.“, warnte sie ihn düster vor und er zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern.

„Allerdings. Du willst Alaji dazu anstiften, es zu zerfleischen... ich wollte es eigentlich ertränken, aber bitte. Das spart mir Zeit.“

Einen Moment lang überlegte sich der Mann, dass es eine Beleidigung der Götter war, dieses gesunde Mädchen, das unter Nadeshdas Herzen heranwuchs, einfach so zu töten, aber was sollte er damit bitte tun? Es war nur ein Mittel zum Zweck, ein Druckmittel auf die kleine Frau, ihn zu heiraten und ihm somit ihre Macht zu übertragen, weil sie es freiwillig niemals getan hätte und sich auch jetzt noch sträubte. Er hatte nichts gegen Kinder... aber er bezweifelte, dass er sich um eines ernsthaft kümmern konnte, vor allen Dingen, da er sich seiner Gattin dann auch so bald wie möglich wieder entledigen wollte. Es war besser für das Baby... ein solches Leben verdiente die Kleine nicht.

Das kalte Lachen der kleinen Frau riss ihn aus seinen Gedanken.

„Wie pragmatisch! Du widerlicher Intrigant... nenne mir einen Grund, weshalb ich dich nicht töten sollte für diese Schande, die du mir angetan hast, Shiran.“

Sie schlug seine Hand von ihrem Bauch, ihn absichtlich mit ihren außergewöhnlich scharfkantigen Nägeln kratzend. Sie waren pechschwarz... das war nicht typisch.

Diese ganze Person war nicht typisch... er hob seine Rechte vor sein Gesicht und musterte kurz den kleinen, blutenden Schnitt, den sie verursacht hatte, dann leckte er amüsiert den dunkelroten Lebenssaft von der Wunde.

„Weißt du...“, antwortete er, „Ich glaube, das kannst du gar nicht. Ich bin viel zu interessant und harmlos, es würde dir nicht das Geringste bringen... glaube ich.“

Harmlos? Interessant? Noch ehe sie sich darüber empören konnte, wandte er sich von ihr ab. Das hatte für heute keinen Sinn mehr.

„Oder...“, überlegte er im Gehen weiter, „Oder du hast Angst vor mir. Ich weiß es nicht so genau.“
 

Mahrran war irritiert. Er hatte Kili als eine aufmerksame junge Frau kennengelernt, die sich ihm noch immer mit einem gewissen Maß an Vorsicht näherte – was er im Übrigen nicht gut hieß, sie sollte ihm doch vertrauen.

An diesem Tag aber saß sie einfach nur auf dem Lager und starrte ihren Schoß an, ohne ernsthaft auf sein Erscheinen zu reagieren. Er seufzte.

Wieso genau war er gleich noch einmal so um sie bemüht?

Er betrachtete sie etwas unbeholfen. Sie war hübsch... sie gefiel ihm mehr als es je eine andere Magierin getan hatte... nur etwas zu dürr war sie ihm, das Leben in der Savanne war sicher nicht leicht, wenn man nicht über das Wissen der Kalenao verfügte. Oder war das bei denen etwa schön so? Wie auch immer, für ihn musste da noch etwas mehr dran sein und daran arbeitete er auch eifrig... und sein Essen schien ihr zu schmecken.

Es war rechtens, dass er sie mochte, sagten die Götter ihm immer wieder. Also tat er es, auch wenn der Spott aller anderen ihm überhaupt nicht gefiel.

Spott... spotten würden sie sicher nicht mehr lange über ihn.

„Kili... was stimmt nicht?“, fragte er sie in ihrer Sprache, ohne sicher zu sein, ob die Worte, die er sprach, auch die waren, die er meinte... und ob die Reihenfolge stimmte.

Sie zuckte zusammen und sah zu ihm auf. Dann erschauderte sie.

„Ich... ich mag Shiran nicht.“, begann sie überraschend und strich sich eine ihrer dunkelbraunen Haarsträhnen aus dem Gesicht, „Er ist seltsam. Er sagt seltsame Dinge über dich... ich möchte ihm nicht glauben. Du-...“

Sie stockte und wandte sich wieder ab. Sie fürchtete sich schon wieder. Er hasste es, wenn sie sich fürchtete, sie sollte ihm doch vertrauen!

Um dagegen vorzugehen, setzte er sich neben sie und zog sie, wenn auch etwas grober als beabsichtigt, in seine Arme.

„Was ist mit mir? Oder Shiran?“

Wenn dieser widerliche Fischkopf ihr auch nur ein Haar gekrümmt hatte, dann würde er mit seinem Leben büßen, egal, was geplant gewesen war. Kili war am wichtigsten... warum auch immer sein Herz ihm das sagte.

Letzteres machte einen freudigen Sprung, als er bemerkte, wie die junge Frau sich nun doch vorsichtig an ihn schmiegte, wie sie es an sich gern tat, wenn auch heimlich noch immer etwas gezwungen – Mahrran würde es ihr irgendwann ausgetrieben haben.

„Ich glaube Shiran nicht.“, versicherte sie, ohne es ernst zu meinen, „Aber... er sagte... du würdest meinem Volk böses wollen.“

Er hob beide Brauen, als sich zum ersten Mal seit langer Zeit Tränen in ihren Augen sammelten. Sie klammerte sich an ihn.

„Bitte, Mahrran... ich bleibe bei dir, für immer und ewig, aber du darfst meinem Stamm nicht weh tun! Mein Bruder... mein Bruder ist ein guter Mensch! Was auch immer du im Land meiner Ahnen willst, rede mit Moconi darüber, er wird dir entgegen kommen... da bin ich mir sicher...“

Sie spürte, wie Trauer und Angst ihr die Luft abschnürten. Sie mochte diesen Mann, mittlerweile verzehrte sie sich nach ihm, wenn er nicht bei ihr war... und trotzdem fürchtete sie die grausame Macht, die ihm inne wohnte, die sie jedes Mal erneut selbst fühlen konnte, wenn sie sich liebten.

Als sie in seinem Gesicht versuchte, etwas über seine Gedanken herauszufinden, scheiterte sie kläglich... ja, Moconi. Bei dem war es ihr leicht gefallen. Aber alles, was sie bei Mahrran anstarren konnte war das milchige, blinde Auge, dessen Lid sie in zärtlichen Momenten schon oft geküsst hatte. Ganz von selbst, im übrigen, was den für sie kleinen Mann auch immer wieder überrascht hatte.

Er hob seine Hand und strich ihr durchs Haar. Dann lächelte er.

„Ich... muss leider etwas Gewalt anwenden, denn dein Bruder zeigt sich nicht kooperativ. Aber ich verspreche dir, Kili, ich werde mich... auf das Nötigste beschränken. Lass dir keine Angst machen.“

Sie seufzte schaudernd.
 

Es war nicht wirklich Shirans Absicht gewesen, der Menschenfrau auf irgendeine Art und Weise Angst einzujagen, hatte er doch kein falsches Wort gesprochen. Sie hätte nur kooperieren müssen... nun gut, so musste er quasi blind agieren, aber das ging sicherlich auch in Ordnung.

Etwas falsch fühlte es sich ja an, stellte er fest, als er mit einem hölzernen Eimer zu der kleinen Quelle in der Nähe seines Hauses ging, sich kurz vor diesem sinnlosen Angriff mit so alltäglichen Dingen zu beschäftigen wie Wasser holen. Aber er war hungrig und musste essen – und da er kein Wassermagier war, musste er zur Quelle. Er genoss es, durch seinen abgelegenen Wohnort immer an das frischeste Wasser zu gelangen – die Bewohner des tiefer liegenden Dorfes bekamen es erst, wenn es schon in einem kleinen Bach auf das offene Meer zufloss. Er hatte es sich bisher freundlicherweise jedoch verkneifen können, hinein zu pinkeln, wie es sicher der ein oder andere an seiner Stelle längst getan hätte... vielleicht sollte er es doch einmal tun, wenn er das nächste Mal schlechte Laune hatte.

In sinnlose Gedanken vertieft hörte er die leisen Stimmen in seinem Kopf nicht wirklich. Vermutlich war er der einzige Seher seiner Zeit, der es schaffte, die Stimmen der Götter zu verdrängen... dementsprechend erschrocken war er auch, als die Quelle in Sichtweite kam.

Es dämmerte bereits, so waren die kleinen Lichterscheinungen um den noch winzigen Bachlauf deutlich zu erkennen. Kleine, tanzende Flämmchen...

„Irrlicht?!“, gab der Mann ihnen einen Namen, doch zu seiner Überraschung verschwanden sie darauf nicht, wie er eigentlich beabsichtigt hatte. Fünf grüne, ein blaues... seine Nackenhaare stellten sich auf.

Irrlichter erschienen nicht vielen und wenn, dann nicht öfters als einmal im Leben. Was das betraf war es eine Ehre, die die Götter Shiran erwiesen, doch irgendwie ängstigte ihn der Anblick.

Er grinste, während die Flämmchen weiter tanzten, immer um den hier noch kleinen Bach herum.

„Ich glaube... Abendessen wird überbewertet.“

Als Kind und in seiner Jugend hatte er selten welches gehabt. Außerdem hatte er so wie so keinen Hunger, genau. Er wandte sich ab und hastete zurück.
 

Anderswo war man da anderer Meinung. Auch wenn die Nahrung dürftig war, Sundri hatte mit aller Macht versucht, einen guten Eintopf zu kochen. Großvater wusste das zu ihrer Freude zu schätzen.

„Köstlich, gutes Mädchen!“, lobte er sie und wirkte gesünder als jemals zuvor, „Mein Enkel kann einiges, aber kochen kann er nicht.“

Zerit schnaubte, sagte aber weiter nichts dazu und trank die eher suppenähnliche Mischung aus. Er konnte nicht gut loben... schon gar nicht, wenn ein Außenstehender es mitbekam. Wie gut, dass der alte Mann blind war, so konnte er zumindest mit einem kurzen, unwirklichen Lächeln zeigen, was er dachte. Sundri erwiderte es mit strahlenden roten Augen.

Inzwischen hatte sie sich eingelebt – an sich hatte es nicht wirklich lang gedauert. Ihre ständigen Sorgen hatte sie leichter verdrängen können, als ihr an sich lieb war, schließlich hatte sie ihr gesamtes Leben damit verbracht, alles zu hinterfragen, aber eine Ehefrau zu sein gefiel ihr zu gut, als dass sie riskieren wollte, durch ihre Verträumtheit nicht mehr perfekt zu sein. Wobei sie perfekt sicherlich nicht war... Zerit rieb es ihr nur nicht unter die Nase, wenn ihm etwas nicht passte. Er war ein guter Mann... sie mochte es, wenn sie sich das Lager teilten, er konnte das gut.

Sie errötete unwillkürlich etwas und versteckte sich hinter der getöpferten Schale, in der sich ihr Eintopf befand, den sie nun auch austrank. War tatsächlich nicht schlecht... ihre Mutter hatte ihr beigebracht, wie man gut kochte. Ihre Mutter war weise, sie hatte sehr viel Lebenserfahrung, denn sie hatte schon mehr als vierzig komplette Mondzyklen gelebt. Damit galt sie an sich bereits als alte Frau, aber niemand wagte sich, die gesunde, lebensfrohe und gescheite Magierin als eine solche zu bezeichnen. Sie hatte Sundri sowohl ihr blondes Haar, als auch ihren Scharfsinn vererbt.

Sie schielte kurz zu Zerit und fragte sich, ob die Weise, in der sie mit ihm zusammen lebte, wohl richtig war – das, was man unter einer Ehe verstand. Bei ihren eigenen Eltern war das seit jeher anders gewesen, auch das hatte ihre Mutter ihr erklärt und als sie älter geworden war, hatte die junge Frau es auch bemerkt.

Ihr Vater war sehr, sehr viele Jahre jünger als ihre Mutter, die ihn irgendwie auch mehr wie einen Sohn behandelt hatte als wie einen Ehemann. Er hatte nie viel zu sagen gehabt und hatte auch nie den Anschein erweckt, viel sagen zu wollen – das erste Mal, dass er die Initiative zu irgendetwas ergriffen hatte war wenige Tage, bevor seine Tochter das kleine Haus verlassen hatte gewesen. Er hatte eine Forderung gestellt, die sowohl Sundri, als auch ihre Mutter in höchstem Maße überrascht hatte – er wollte noch ein Kind. Er war ein Mann in den besten Jahren, während seine Gattin – rein logisch betrachtet – jeden Moment tot umfallen konnte, und er hatte keinen Sohn, ja, nicht einmal eine Hütte voller hübscher kleiner Töchter, sondern gerade einmal ein Mädchen, das sie bald verlassen würde. Er war sauer gewesen und hatte erklärt, dass er genau wusste, dass seine Frau darauf achtete, nicht noch ein Kind zu empfangen, und sie hatte ihm versprechen müssen, es nun nicht mehr zu tun.

Daraufhin war er zufrieden und gehorsam wie immer gewesen. Die junge Frau fragte sich, ob sie wohl wirklich in den nächsten Monaten noch ein Geschwisterkind bekommen würde... oder ob ihre gescheite Mutter einen Weg fand, der ungewollten Belastung zu entgehen. Das wiederum hätte ihr für ihren kindischen Vater, der beinahe selbst ihr Bruder hätte sein können, etwas leid getan...

„Wirst du wieder aufbrechen?“

Der alte Mann riss sie aus ihren Gedanken, als er seinen Enkel ansprach. Der sah bloß kurz zu ihm auf und brummte dann.

„Nein... vorerst nicht. Ich weiß nicht, was sie noch vorhat – das heißt, ob sie das, was sie mir sagte, auch so umsetzen wird.“

Er schielte kurz aus dem Fenster zum Meer, über dem bereits die Nacht hing.

„Ehrlich gesagt ist es mir aber auch egal... ich will nicht hier weg.“

Das wollte er wirklich nicht. Er kannte das Land der Menschen... er kannte es gut. Am Meer fühlte er sich seit jeher wohler. Konnte es wirklich Wille der Götter sein, dass sie dieses gute Dorf verlassen mussten?

„Ich auch nicht.“, stimmte seine Frau ihm unterdessen zu. Als er wieder zu ihr blickte, lächelte sie ihn so bezaubernd an, dass er errötete.

„Ich mag auch nicht, wenn du immer weg gehen musst... nur weil du etwas kannst, was die anderen nicht können. Da fällt mir ein, bringst du mir die Menschensprache auch bei...?“

Wissbegierig würde sie bleiben, für immer, das hatte sie sich geschworen, denn das war ihr Geist. Großvater grinste amüsiert, als Zerit sich schnaubend abwandte.

„Es ist schlimm genug, dass ich es den Zwillingen beibringen musste... ich bin kein Lehrer.“

Er erhob sich und stellte seine Schale bei Seite. Dann trat er neben seine Frau, als diese ihr Haupt etwas deprimiert senkte... er hatte wirklich keine Lust dazu. Aber wenn er sie so ansah...

Er beugte sich etwas zu ihr und drehte ihr Gesicht sanft zu seinem. Als sie ihn anblickte, lächelte er sein leichtes, selten erscheinendes Lächeln.

„Und falls du diese Sprache jemals solltest gebrauchen können... bin ohnehin immer ich mit dabei.“
 

Iavenya ließ sich nicht beirren. Sie lehnte sich grinsend an Irlaks Hauswand, den empörten Mann amüsiert beobachtend.

„Du dummer Mann!“, verspottete sie ihn, während die eingetretene Dunkelheit einen Großteil ihrer Gestalt verhüllte und nur ihre Stimme sie verriet, „Jede Frau braucht einen Gefährten... und wenn niemand mich freiwillig nimmt, muss ich mir wohl einfach einen... nehmen.“

Sie trat zwei Schritte auf ihn zu und er erkannte in ihrem schemenhaften Gesicht ein leichtes Grinsen. Er erschauderte.

„Was verlangst du da? Und warum ausgerechnet ich, Schlange?!“

Niemand im Dorf mochte die Natter, das war kein Geheimnis – aber er gehörte doch eindeutig zu denen, die sie am meisten verachteten und dies auch am deutlichsten zeigten. Er war oft zu ihr gegangen, als er bemerkt hatte, dass sie sich zumindest für die Nacht eignete, ohne wirklich weiter darüber nachzudenken – seine naive Frau bemerkte so etwas nicht wirklich – mit solchen Konsequenzen hatte der Mann nicht im Entferntesten gerechnet.

Er fuhr sich durch sein gelocktes blaues Haar. Er durfte die Götter nicht erzürnen...

„Ich meine... ich traue dir Biest auch zu, das Kind einfach zu erwürgen, aber falls nicht... meinetwegen gebe ich euch von meinem Fang ab! Oder Jagderfolg, was auch immer die Götter uns für eine Zukunft bescheren mögen...“

Demnächst würden sie schließlich als Krieger in das Land ihrer Sehnsucht ziehen, um die Menschen zu vertreiben... oder niederzumetzeln. Er würde dem endgültigen Befehl gehorchen, das war am einfachsten.

Ihr eiskaltes Kichern riss ihn aus seinen Gedanken, während der ebenso kühle Wind ihn erzittern ließ.

„Oh nein, oh nein, dieses Kind ist von unschätzbarem Wert für mich, du wirst es dir nicht vorstellen können. Es wird leben, ja... es wird zu einem guten Mann werden, das weiß ich.“

Irritiert von ihren Worten konnte er nicht rechtzeitig ausweichen, als sie ihre schlanken Arme um seinen Nacken schlang und sich an ihn schmiegte, eines ihrer Beine leicht anhebend und mit sanfter Bestimmtheit gegen seinen Schritt drückend. Er keuchte, vermochte es jedoch nicht, sich von ihr zu entfernen. Sie war eine durchaus ansehnliche Frau...

„Ja und... was verlangst du nun von mir?“ Er keuchte. „Meine Frau ist im Haus, lass das sein, Giftschlange.“

Die Tatsache, dass er seine Arme um ihre Taille legte, machte seine Worte nicht sonderlich glaubwürdig. Iavenya war zufrieden.

„Ich verlange von dir...“, während sie sprach, schmiegte sie sich inniger an ihn, ihr Gesicht in fast nichtiger Entfernung zu seinem haltend, „... dass du mein Mann wirst. Dass wir noch viele Kinder machen... dass du dein Leben mit mir genießt.“

Erst auf diese Worte gelang es Irlak, sich aus ihrer verführerischen Umarmung zu befreien und sie gewaltsam von sich zu stoßen, sodass sie mit dem Rücken gegen die steinerne Hauswand prallte, vor Schmerz aufkeuchte und dann durch ein Zischen ihrem zweifelhaften Titel alle Ehre machte.

Was bildete sich dieses verfluchte Weib bitte ein?!

„Haben die bösen Windgeister dein Hirn nun völlig zerfressen?! Ich hasse dich! Ich verabscheue dich! Nur dein Körper reizt mich – und das reicht mir nicht, um mich an dich zu binden, wenn ich doch eine richtige Frau habe, deren Charakter ich auch ertragen kann! Verschwinde und belästige mich nie wieder – ich versorge dich, wenn ich genug Nahrung beschaffen kann, das reicht. Und wenn nicht... dann wird dir ohnehin niemand glauben, selbst wenn dein Balg eine Kopie meiner selbst sein sollte, einfach... weil du es bist.“

Nun war er es, der grinste. Sie erwiderte seinen Ausdruck, sich dennoch die rechte Schulter reibend. Das würde nicht leicht werden...

„Weil ich es bin.“, wiederholte sie seine Worte und trat abermals auf ihn zu, hielt jedoch in respektvollem Abstand dann wieder inne, „Weil ich die Schlange bin. Die Schlange ist listig. Sie kriecht auf dem Boden wie niederstes Getier... und trotzdem ist sie tödlicher als vieles, das größer ist als sie selbst. Die Schlange bekommt immer das, was sie möchte.“

Sie wandte sich ab, erhobenen Hauptes in Richtung ihres eigenen Hauses. Sie mochte die Verwirrtheit des Mannes, der einmal ihr Mann sein würde. Sie brauchte ihn... dringend. Ihre Wahl war auf ihn gefallen, weil er ihr ihrer Meinung nach noch etwas schuldete dank seiner Respektlosigkeit ihr gegenüber. Sie würde bekommen, was sie wollte, da war sie sich sicher...

„Übrigens könnte auch die Schlange im Land der Menschen euch beißen, ihr... Krieger.“
 

Die folgenden Tage lieferten einen Ausnahmezustand.

Es regnete oft, während das Volk der Kalenao fügsam den von seinen jungen Anführern geplanten Angriff auf den Schlangenstamm vorbereitete. Vermutlich hätte es es auch dann getan, wenn es sich nicht vor der tödlichen Macht der Himmelskinder gefürchtet hätte, denn selbst dem dümmsten Mann war inzwischen klar, dass ihre Heimat ihnen nichts mehr bot, dass ihre Zukunft vom Gelingen ihrer Mission abhing. Lange würden sie nicht mehr in diesem undankbaren Land leben können, sie mussten die Menschen so schnell wie möglich aus dem Inland verschwinden lassen, um selbst überleben zu können – und das war in aller Interesse.

Die Frauen waren damit beschäftigt, die Reise vorzubereiten, während die Männer trainierten – nicht jeder von ihrem Blute war auch ein begabter Magier oder konnte mit irgendwelchen Waffen umgehen, an die die meisten von ihnen mit ihrem niedrigen Rang ohnehin nicht gelangen konnten. Es war sowieso ersteres, das sie von ihren Gegnern unterscheiden sollte, denn vermutlich konnte jeder der Jäger der Savanne wesentlich besser mit seinem Speer umgehen als sie mit all ihren in ihrer reinen Beschaffenheit weniger nützlichen Waffen zusammen und auch in körperlicher Kraft waren sie den Kalenao bei weitem überlegen. Zumindest, wenn diese nicht dem Blutrausch verfielen... und selbst, wenn das geschah, wer konnte ihnen schon mit Sicherheit sagen, dass mit den Menschen nicht das Selbe passieren konnte?

Die Magie war also wichtig, neben ihrer großen Anzahl sogar der am meisten bedeutende Punkt in der simplen Strategie, einen Überraschungsangriff zu wagen und dann gegen das Menschenpack vorzugehen und sich das Land zu nehmen, das ihnen rechtmäßig auch zustand.

Es war keine leichte Zeit. Nur wenige junge, starke Männer hatten den Auftrag, im Land ihrer Ahnen zu bleiben, und während die anderen ganz und gar damit beschäftigt waren, zu blutrünstigen Kriegern zu werden, wie Mahrran es ihnen befohlen hatte, mussten diese die geringen Fischbestände und das noch viel geringere Vorkommen an Wild mehr denn je beanspruchen, denn alles sollte so schnell von Statten gehen, dass auf der Reise kaum Zeit zur Jagd bleiben würde – folglich brauchte die kleine Armee einen ordentlichen Vorrat.

Zerit gehörte zu denen, die sich um letzteren kümmern sollten. Er wusste nicht, ob es ihn freuen oder ärgern sollte – einerseits musste er vorerst nicht mehr in das verhasste Land der Menschen, andererseits gehörte er normalerweise zu den Dorfbewohnern, die sich ihre Nahrung durch Tausch (meist handelte es sich bei seiner Tauschware um seine sorgsam gepflegten Kräuter) verdienten, anstatt sie selbst zu erlegen oder zu fangen. Er hatte nie einen Vater gehabt, der ihm das ernsthafte Fischen hatte beibringen können, und sein Großvater war bereits damals blind gewesen, woher sollte er wissen, wie man das tat?

So stand er missmutig auf einem Felsen an der Küste und tötete vorbei schwimmende Fische mit Magie, was sich jedoch ebenfalls schwieriger gestaltete als angenommen. Er war ein guter Magier, doch er war ein Kind des Feuermondes und mit Feuer einem Fisch im Meer zu schaden war nahezu unmöglich. So benutzte er seine angeborene Fähigkeit der Schattenmagie und raubte ihnen schmerzlos die Seelen. Sundri, die knietief im Wasser stand, sammelte die verendeten Tiere in einem Korb ein, wenn die Strömung sie zu ihr trieb, aber es war nicht einfach. Schattenmagie einzusetzen war wesentlich anstrengender als normale Feuermagie... aber seine kleine Frau beeindruckte es.

„Du musst wahrlich sehr begabt sein!“, rief sie ihm freudig zu, als er sich nach einer Weile erschöpft in den Sand hinter den Felsen sinken ließ und sie sich mit einem vollen Korb zu ihm gesellte. So viele waren es doch gewesen... ohne Sundri hätte er jedoch nicht gewusst, wie er es hätte schaffen sollen. Sie hatte ihm wirklich geholfen und er hatte das Gefühl, das wusste sie auch. Sie lächelte so selig... und schien im Gegensatz zu ihm völlig fit zu sein.

„Nicht außergewöhnlich.“, tat er es bescheiden ab und blickte zwischen den im Gegenlicht seltsam glänzenden Felsen hindurch auf das Meer. Hinter dem Ende der Welt kam die Nacht angekrochen. Er hatte weder bemerkt, wie die Sonne gewandert war, noch, wann der letzte heftige Regenschauer geendet hatte. Der Sand war noch feucht... ebenso wie er und seine Frau es noch waren, es machte also nichts. Sie würden sich später ohne nasse Kleidung gemeinsam in das viel zu kleine Schlaflager legen und sich von der Anstrengung des Tages gebührend erholen. Er freute sich darauf. Das blonde Mädchen sprach mit funkelnden Augen weiter.

„Aber dass du Schattenmagie beherrschst ist eine besondere Gabe! Ich beneide dich! Und ich... bin stolz auf dich.“

Sie errötete etwas und starrte die toten Fische an. Sie würde sie auf dem Rückweg zu ihrer Mutter bringen, die sie weiterverarbeiten würde, damit die Krieger sie bald auf ihre Reise mitnehmen konnten, ohne, dass sie verdarben. Als sie gehört hatte, dass Zerit nicht mitgehen sollte, war sie erleichtert gewesen. Man brauchte ihn unbedingt wegen seiner Sprachkenntnisse, hatte es geheißen, zur Verständigung und ohnehin als Anführer nahmen sie Shiran mit, der die Sprache der Menschen ebenfalls beherrschte, wenn auch nicht im Ansatz so gut wie der Feuermagier. Aber ihren Vater schickten sie mit...

Sie zuckte zusammen, als sie spürte, wie er einen Arm um sie legte und dichter zu sich zog.

„Ich beherrsche sie nicht besonders gut.“, versuchte er, ihr einzureden, während er noch immer der Nacht dabei zusah, wie sie langsam vom Meer über das Land kroch, „Mehr als Fische kann ich auf diese Weise nicht töten. Und es ist anstrengend. Aber anders kann ich es nicht.“

Sie lehnte ihren Kopf seufzend gegen seine Schulter. Wenn er das sagte... Zerit ließ sich nicht loben. Nie, das hatte sie gelernt, also schwieg sie darauf einfach und genoss die zärtliche Umarmung. Inzwischen dankte sie den Göttern von ganzem Herzen, sie zu ihm gebracht zu haben.
 

„Vielleicht stirbst du ja. Dann hätte sich die Sache mit dem Kind erübrigt.“

Nadeshda ließ zu, dass Shiran seine flache Hand eine Weile prüfend auf ihrem wenig gerundeten Bauch liegen ließ. Vielleicht aus guter Laune, vielleicht, weil sie keine Lust hatte, sich dagegen zu wehren oder auch einfach, weil es ihr egal war. Dafür, dass ihm an dem Leben des Babys nichts lag, besuchte er sie relativ oft, um ihren Zustand zu überprüfen – und das, obwohl die Götter es ihm an sich verrieten. Er war sehr misstrauisch... sie war sich nicht sicher, weshalb.

„Keine Sorge, mir wird nichts geschehen.“, vertraute er ihr jedoch leicht grinsend an, ihren Bauch musternd, während sie ruhig ein heißes Getränk aus Kräutern trank.

„Schade. Dann wäre diese Zeitverschwendung wenigstens für eine Sache gut gewesen... ich hätte es viel leichter und effektiver machen können.“

Aber beunruhigt war sie noch nicht. Ihr Volk würde schon noch von selbst bemerken, auf was es sich da eingelassen hatte und schon bald die von ihr vorgeschlagene einfachere Alternative vorziehen. Und noch ehe jemand das Kind in ihren Leib bemerkte, würde sie alleinige Herrscherin über dieses Dorf sein.

Es war nicht so, dass sie besonders machthungrig gewesen wäre – zumindest nicht mehr als jeder andere Tankana auch – doch hier ging es einfach um das Prinzip. Ihr eigener Bruder und der Seher des Dorfes, der ihr eigentlich hätte treu ergeben sein müssen, versuchten sie bei Seite zu schaffen, nur damit sie selbst die Kalenao in den Ruin treiben konnten. Und das würden sie... Nadeshda hielt weder Shiran, noch Mahrran für besonders geeignete Anführer. Es wunderte sie, dass das Volk ihnen überhaupt gehorchte, ohne dass auch ihr scharfer Blick auf allem lag... vermutlich war das widerliche Auge ihres Zwillings wieder einmal daran schuld, damit hatte er schon immer alle verängstigen können. Dabei war es eigentlich nur eine Behinderung...

„Diese leichtere und... effektivere Art, wie du es nennst, wäre Schwachsinn. Sie würde mehr zerstören, als dass sie uns nützen würde, und deine göttlichen Eltern wären mit Sicherheit alles andere als erfreut darüber, auf welch grausame Art du ihre menschlichen Kinder von innen heraus zerstörst.“

Er erhob sich – er würde sicher nicht länger vor ihr knien als nötig, wenn sie ihm schon nicht entgegen kam – und wandte sich ab, zum Fenster schreitend. Es ging gut voran... in wenigen Tagen würde die Reise beginnen. Ihm grauste es etwas davor... aber diese Gelegenheit ohne Mahrran musste er nutzen.

Seine wahren Absichten würden beiden Teilen des Zwillingspaares die Luft abschnüren, kannten sie sie.

„Ach, und das Niedermetzeln dieser minderwertigen Wesen ist weniger grausam?“, die Frau gluckste und trank ihr Getränk aus, den getöpferten Becher achtlos auf den Boden neben ihrem Lager stellend, „Ich bin gespannt, wie viele unserer Männer euch noch folgen werden nach diesem ersten dämlichen Versuch, den Ameisenhaufen von außen zu zerstören... dabei weiß jeder, dass das nur von innen passieren kann, wenn es von Erfolg gekrönt sein soll.“

Sie erhob sich ebenfalls und trat glucksend neben ihn. Ihre Beine schmerzten kaum noch... wie sehr sie Alaji dafür dankte! Sie schwor sich, diese Frau mit ihrem Leben zu beschützen, falls sie in Gefahr sein sollte, denn sie war das Beste, das die Götter ihrem Dorf seit einigen Generationen geschenkt hatten. Natürlich behielt die kleine Magierin diese Gedanken für sich und hoffte, dass Shiran daraus keinen Nutzen ziehen konnte.

Er schien es nicht bemerkt zu haben.

„Wenn alles so läuft, wie wir es wollen, dann folgen uns alle... falls noch ein zweiter Versuch nötig sein sollte.“

Falls. Er wusste es nicht. Es war nicht so, dass die Götter schwiegen – sie berichteten von Erfolg und von seinem eigenen Überleben und dennoch führten all seine Gedanken ins Leere. Er wusste nicht, woran es lag... kurz kamen ihm die Irrlichter wieder in den Sinn.

Er musste ein wahrlich schlechter Seher sein.

Nadeshda erwiderte nichts, sie wandte sich ab und dem Eingang ihres Zimmers zu, in dem ihre Schwester Mabalysca erschienen war. Sie hielt ein mit einem Deckel verschlossenes Tongefäß in den Händen.

„Entschuldigt meine unverschämte Störung...“, begann sie leise und bescheiden, „Aber Alaji ist vorhin kurz da gewesen. Sie hat neue Salbe gemacht. Ich dachte, ich bringe sie dir lieber jetzt, ehe ich sie vergesse...“

Die Ältere nickte ihr zu und nahm die Medizin entgegen, während Shiran sie ignorierte und bloß stumm weiter in die Finsternis vor dem Haus starrte. Mabalysca schenkte ihm kurz verstohlen einen Blick, dann riss ihre Schwester sie aus den Gedanken, als sie mit der freien Hand nach einer ihrer Hände griff und sie musterte.

„Hör auf damit.“, zischte sie dann grantig, „Das bringt dir Kajira nicht wieder zurück, es lästert nur den Göttern, die entschieden haben, dir eine Seele zu geben.“

Sie errötete heftig und wandte sich von ihren Verletzungen ab. Als Shiran sich schließlich doch einmischte, überraschte es beide Frauen.

„Vielleicht bringe ich ihn dir mit, Mabalysca.“

Er hatte sich nicht umgedreht. Die Augen der Jüngsten begannen zu funkeln bei dem Gedanken daran, dass sie ihren geliebten Verlobten bald würde wiedersehen können. Sie mochte Shiran nicht, doch täte er ihr diesen Gefallen, so war sie sich sicher, dass sie nicht anders gekonnt hätte, als sich vor Freude weinend in seine Arme zu stürzen.

Nadeshda war skeptisch.

„Vielleicht? Versprich es oder lass es bleiben, aber mache ihr keine Hoffnungen, die du dann wieder zerstörst!“

Der Mann drehte sich zu ihnen. Seine Antwort galt jedoch nicht der Frau, die sein Kind unter ihrem Herzen trug, sondern ihrer Schwester, die ihn aus verblüfften Augen musterte.

„Ich bin nur ein Gefäß, durch das die Götter sich mitteilen. Doch sie sind launisch... vielleicht lügen sie auch?“

Er lächelte freundlich, wenn auch aufgesetzt.

„Aber ich werde es versuchen.“

Mabalysca erschauderte vor Dankbarkeit, während die Ältere sich nicht erweichen ließ. Vielleicht hatte sie auch recht damit.

„Du willst ihr... einen Gefallen tun? Oh nein, das lass lieber. Dann beauftrage ich lieber Rato oder Irlak damit, ihren Bruder mitzubringen – wie ich sie einschätze, werden sie das ohnehin versuchen – als dass ich das in deine Hände lege. Jeder weiß, dass du nichts tust, ohne dass du selbst einen Nutzen davon hast. Und ich lasse nicht zu, dass du meine Schwester für eines deiner dreckigen Spielchen benutzt.“

Eben jene senkte ihren Blick. Sie wusste nicht, auf wen sie hören sollte. Shirans Worte streichelten ihre verletzte Seele, während Nadeshdas einfach nach der reinen Wahrheit klangen. Sie bewunderte ihre Schwester dafür... und war froh, dass diese die Verantwortung für die gesamte Situation übernahm. Sie hätte es nicht gekonnt.

Shirans Blick bohrte sich einen Moment lang in den des kleinen Dorfoberhauptes. Dann grinste er ein bitteres Grinsen, kurz seine abstrus schief gewachsenen Zahnreihen präsentierend, die wohl das einzig unansehnliche an seinem Gesicht waren.

„Verschwende keine Worte, Mutter meiner Tochter.“, belehrte er die junge Frau nur, „Ich habe nie auf dich gehört, du bist niemand, vor dem ich mich fürchte, denn deine Macht kann mir nichts anhaben... ich weiß schließlich, was du vorhast. Ich werde das tun, was ich für richtig halte... nicht mehr und nicht weniger.“
 

Das tat Mahrran auch. Er nutzte den Schutz der Dunkelheit... auch wenn er nicht wusste, wozu er ihn überhaupt benötigte. Vielleicht schenkte er seiner Rede die notwendige Ernsthaftigkeit. Wie immer, wenn er zu seinem Volk sprach, stand er auf dem Rand des Brunnens in der Mitte des Dorfes, doch umringte ihn zu seinen Füßen nicht der komplette Ort, sondern nur die Krieger, die er bald über die Berge in das Land der Menschen schicken würde, um es für sein Volk zu beanspruchen. Dass Shiran, der die Gruppe anführen würde, nicht dabei war, war Absicht. Er würde es auch nicht bemerken...

Kein Feuer brannte und es war kühl im späten Herbst. Es nieselte und wäre der Mann kein Kind des Wassers gewesen, so hätte auch er sicher gefröstelt. Natürlich beschwerte sich auch keiner der Magier ernsthaft, auch wenn es welche des Feuers waren, denn in einer Schlacht gegen die barbarischen Menschen musste man mit etwas Pech mehr aushalten als den klebrigen kalten Regen, der das Meer ihnen schickte.

„Hört mich an!“, lenkte der blauhaarige Mann die Aufmerksamkeit auf sich und das Murmeln der anderen erstarb. Er konnte ihre Silhouetten durch das durch die dicke Wolkendecke stark gedämpfte Licht des gerade erst aufgegangenen Erdmondes schwach erkennen. Hätte er Lichtmagie benutzt, hätte er vielleicht mehr gesehen... aber er war es ja gewohnt, nur die Hälfte zu bemerken.

„In Kürze werdet ihr aufbrechen! Das Ziel ist klar – vernichtet die Menschen, tötet die Schlange! Ich muss heute abermals zu euch sprechen, denn ich werde euch nicht begleiten können, stattdessen Shiran... und zwischen uns herrscht in einem kleinen Punkt Uneinigkeit.“

Ein leises Raunen ging durch die Menge. Er wusste, dass viele an die Allianz des Dorfoberhauptes mit dem Seher geglaubt hatten, aber es kam Mahrran gerade recht, dass er das richtig stellen konnte. Wäre seine intrigante Schwester bei Seite geschafft, so würde niemand ihren Platz einnehmen, nicht einmal Shiran... höchstens Kili.

„Uneinigkeit gefährdet die Mission und wir wissen alle, dass von der Mission das Leben unserer Nachkommen abhängt – das Überleben der Kalenao in diesem Teil der Welt!“

Zustimmende Worte. Mahrran schnappte kurz nach Luft und straffte seine Haltung, als er weitersprach.

„Ich bin euer Dorfoberhaupt, Mahrran Tankana. Shiran Fassar ist mein Berater – auch euer Berater, aber was er rät muss niemand von uns auch einhalten! Im Gegensatz zu meinen Worten, die wie die meines Vaters, die des Vaters meines Vaters und all meinen Vorvätern seit Anbeginn der Zeit Gesetz sind! Und deshalb sage ich euch – lasst euch von dem Seher in Sicherheit führen, aber hört auf den Befehl dieses Mannes: Vernichtet den Schlangenstamm. Zerfetzt die Männer, Zerfleischt die Kinder und bedient euch in allen Hinsichten an den Frauen, ehe ihr sie dahin befördert, wo sie hingehören: In die nächste Welt! Dieses Land hinter den Bergen bietet keinen Platz mehr für diesen Stamm, wenn wir es beanspruchen – Shirans Vorschlag, ihn zu ängstigen und dann zu vertreiben ist schlicht nicht umsetzbar! Wenn ihr leben wollt, dann haltet an den Worten von Mahrran Tankana fest, egal, was der Seher euch sagen wird – denn ihr seid mein Volk, das ich mit all meinem Wissen und meinen Entscheidungen beschützen werde!“
 


 

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Muahaha, Mahrran ist böse. XD

Konsequenzen

Die Zwillinge ahnten nichts. Sie saßen vor Mefasas Hütte und sangen ihrem kleinen Sohn Lieder vor, die dieser nachsingen sollte. Stattdessen ereiferte sich der Junge nur an den Namen der Brüder, indem er abwechselnd auf Novaya, den er dann als „Naya“ betitelte, und dann auf Semliya, den er „Semmi“ nannte, zeigte. Die beiden ließen sich jedoch nicht beirren und versuchten ruhig weiter, das Kind zum Singen zu bringen – es war ein Lied, das traditionell bei Hochzeiten gesungen wurde. Dass ihre ältere Schwester heulend an einem kleinen Bachlauf neben dem Lager saß, ahnten sie nicht im entferntesten und als ihr Häuptling mit seltsam starrem Blick auf sie zukam, gefolgt von ihrem erbleichten Vater, waren sie sichtlich irritiert.

„Braucht ihr uns bei den Vorbereitungen? Wir dachten, wir...“

Novaya konnte nicht aussprechen, er schrie entsetzt auf, als Moconi ihm das stumpfe Ende seines Speers so heftig gegen sein Gesicht schlug, dass er stürzte und Blut spuckte. Semliya hatte keine Chance, zu reagieren, denn im nächsten Moment hatte der Häuptling ihn schon am Kragen seiner festlichen Weste gepackt und unsanft zu sich gezogen. Er brachte nur ein leises Fiepen heraus, als er den fürchterlichen Zorn in dem Gesicht des nur wenige Jahre älteren Mannes erkannte.

Er würde sie umbringen!

„Was... ?!“, keuchte Novaya am Boden da und Mefasas Sohn begann vor Schreck zu weinen.

„I-ihr... ihr hättet nur etwas sagen müssen! Wir... wir hätten doch geholfen, wenn ihr...“, keuchte sein Bruder verzweifelt, dem das Atmen in Moconis brutalem Griff zunehmend schwer fiel. Sie hatten sich doch schon oft vor so etwas gedrückt, warum kam jetzt der Häuptling persönlich, zusammen mit ihrem Vater, und griff sie ohne Vorwarnung so an?!

„Halt den Rand, du Missgeburt, du seelenloses Monster!“, schnitt der Mann ihm da das Wort ab und Dherac schloss bebend für einen Moment die Augen, während seine Söhne die geisterhaft hellblauen vor Entsetzen weiteten.

„Semmi! Naya!“, Rhiks kleiner Sohn kreischte hysterisch die Namen seiner Ersatzväter, wurde aber ignoriert.

„Ihr seid so dumm, ihr seid solche naiven, kleinen Kinder!“, warf Moconi ihnen weiter vor in einem Ton, der die angeblich nicht vorhandenen Seelen der Zwillinge gefrieren ließ, „Ihr bringt uns alle um, aus reinem Egoismus, ohne es auch nur zu bemerken! Ich lasse es nicht zu. Ich bin kein besonders guter Häuptling und unsere Nachfahren werden meinen Namen in wenigen Generationen lange vergessen haben, aber ich schwöre, an diesem Tag werde ich richtig handeln und ich werde es nicht bereuen, denn euch zu töten wird nicht schwieriger sein als eine alte Puppe ins Feuer zu werfen!“

Dherac öffnete seine dunkelblauen Augen wieder, sagte jedoch nichts. Novaya setzte sich zitternd wieder auf, sich die Wange haltend.

„Was bei allen Göttern des Himmels haben wir bitte getan, dass du... du uns töten willst?!“, empörte der Junge sich und sein Bruder wand sich verzweifelt in Moconis Händen, als sein Gesicht blau anzulaufen begann.

„Lass ihn bitte los... ich... erkläre es ihnen.“, brachte Dherac gepresst hervor und der Häuptling gab mit einem bösartigen Zischen nach und trat zurück. Semliya schnappte für den ersten Moment erleichtert nach Luft.

„Gut.“, schnarrte Moconi darauf und zeigte ein widerliches Grinsen in seinem vor Wut abstrus verzerrten Gesicht, „Dann suche ich das rothaarige Biest!“

Als hätte das Baby diese Bezeichnung bereits öfter gehört, schrie es nun lauter.

„Mama!“

Vermutlich war es ein Fehler von Novaya, in plötzlicher Angst um seine baldige Frau den Häuptling beim Vorbeistapfen am Fuß zu packen und zu Boden zu reißen. Im nächsten Moment wurde Moconi seinem eher unehrenhaften Nachruf „Nasenbrecher“ abermals gerecht. Er schenkte dem Jüngeren nur ein schäbiges Grinsen, als er sich wieder erhob und unbeeindruckt in Mefasas Hütte verschwand. Dherac umklammerte unterdessen Semliya, der Saltecs Sohn in blanker Wut unbedingt nachsetzen wollte.

„Was haben wir getan?!“, schrie er schrill mit seiner Stimme, die noch nicht ganz die eines Mannes war. Hinter den Nachbarhütten erschienen immer wieder neugierige Gesichter, die es letztendlich aber für intelligenter hielten, sich heraus zu halten. Vermutlich war es das auch.

Novaya richtete sich unterdessen unter Tränen die zertrümmerte Nase, sodass sie wieder gerade zusammenwachsen konnte – einen kleinen Buckel hatten die Jungen ohnehin von ihrem Vater geerbt, aber das war etwas anderes.

„Mein schönes Gesicht!“, jammerte er aufgelöst, während sein Zwilling in blanker Verzweiflung auf Dherac einprügelte.

„Er wird Mefasa etwas antun! Er hasst sie! Wir müssen sie beschützen, Vater!“

„Halt den Rand!“

Der Mann war stärker als sein Sohn. Er hielt ihn mit seinen muskulösen Armen fest umklammert, sodass der Junge keine Möglichkeit hatte, sich aus seinem Griff zu winden. Letzterer stieß einen gellenden Verzweiflungsschrei aus. Er ließ seinen Vater nicht zu Wort kommen, als er sich zischend an Novaya wandte.

„Steh auf! Beschütze Mefasa! Steh auf, Novaya!“

Der geringfügig Jüngere kam schwankend auf die Beine und hätte dem Befehl seines Bruders vermutlich Folge geleistet, hätte er sich nicht den bitterbösen Blick Dheracs eingefangen. Oh Himmel, was war hier los?

„Zuerst hört ihr mir zu!“, er brummte, als Semliya sich abermals zu befreien versuchte, „Moconi wird ihr sicher nichts antun, was ihr zu sehr schaden würde – das ist gegen die Tradition und an die hält er sich bekanntlich.“

Er spürte, wie der Junge sich in seinen Armen entspannte und erschauderte selbst, als er in Novayas blutüberströmtes Gesicht sah. Und trotzdem hatte sein Ausdruck sich wieder gefangen, in seinen Augen lagen Furcht und Stolz vermischt. Welch starke Söhne die Götter ihm doch geschenkt hatten...

„Moconi hat erfahren, dass ihr das Lager mit Mefasa geteilt habt und... dass einer von euch ihr wohl neues Leben gemacht hat.“

In Novayas verblüfftem Blick sah er auch den Ausdruck seines Zwillings widergespiegelt.

„Ich muss euch wohl nicht fragen, wer es nun gewesen ist, das wisst ihr vermutlich selbst nicht und wahrscheinlich ist es auch nicht weiter von Belang. Ihr habt beide das Gesetz gebrochen und würdet das Kind sicherlich beide als eures ansehen, wie Rhiks kleinen Erben dort.“

Er schielte kurz zu dem kleinen Kind, das wimmernd im Gras lag und immer wieder die Namen seiner Ersatzväter murmelte. Es tat dem Mann leid.

„Dann hat Calyri uns wohl verraten...?“, stellte Semliya in seinen Armen fest und er spürte, wie sein Körper erschlaffte, „Es kann nur sie gewesen sein, vermutlich hat sie es von Mefasa erfahren und nur sie spricht mit ihr... dabei haben wir ihr doch geholfen, warum hat sie das getan...?“

Dherac zischte.

„Weil ihr beide ein sehr wichtiges Gesetz missachtet habt! Das bringt den gesamten Stamm in Gefahr, versteht ihr? Es wäre unverantwortlich von ihr gewesen, hätte sie sich nicht an Moconi gewandt! Wegen euch kann sie heute nicht heiraten, wegen euch wird aus dem Freudentag ein Tag der Angst und der Beratungen.“

Er hielt kurz inne.

„Ich weiß nicht, was Moconi mit euch vorhat. Ich weiß nicht, ob er sich von seiner Wut hat leiten lassen, als er euch den Tod prophezeit hat, oder ob er sich das wirklich wünscht... falls dem so wäre, könnte ich euch nicht helfen.“

Das Zischen einer Frau riss die Aufmerksamkeit aller auf sich, als Mefasa von ihrem Häuptling aus ihrer Hütte gescheucht wurde. Inzwischen hatten sich einige alte Frauen sehr auffällig versammelt... sie wurden ignoriert.

Die Rothaarige schenkte den beiden Jungen einen verletzten und mitleidigen Blick... sie wusste, worum es ging, ohne, dass Moconi sich ihr mit Worten hatte mitteilen können. Die Hand, die auf ihrem flachen Bauch lag, sprach ohnehin für sich.

Zur Beruhigung der Zwillinge wirkte ihre Frau zwar etwas durch den Wind, schien aber unversehrt.

Der Häuptling keuchte.

Seine dunklen Augen schweiften über die Versammlung. Er versuchte, sich zu beruhigen, wieder klar zu denken. Calyri hatte sich an ihn gewandt... das war vollkommen richtig von ihr gewesen. Und mit einem Mal war seine Sehnsucht nach ihr weit im Hintergrund seiner Gedanken verschwunden. Sein Stamm hatte ohnehin genügend Probleme... und nun das. Die Götter würden sie alle bestrafen... ihm schnürte etwas die Kehle zu, als er an Kili dachte, weit weg, nun sicher in noch größerer Gefahr, und das nur wegen dieser beiden seelenlosen Monster. Am liebsten hätte er beide auf der Stelle niedergestochen... aber das wäre nicht klug gewesen, eines Häuptlings nicht würdig. Es hätte die Götter nur noch mehr erzürnt.

Nein, er würde den Rat einberufen. Sie würden gemeinsam über den weiteren Verbleib von Dheracs Zwillingen beraten, damit er sich nicht mit der Schuld einer falschen Entscheidung beschmutzen musste... zumindest nicht allein. Und er würde den Rat zu diesem Anlass vergrößern, überlegte er sich, er würde nicht nur die besten Jäger, sondern alle erwachsenen Männer dazu einladen, damit jeder die Möglichkeit hatte, sein Wort einzubringen – sie würden jede gute Idee brauchen, um die Götter zu besänftigen und ihre Gemeinschaft zu retten.

Doch zuerst fiel ihm etwas anderes ein. Zwar hieß er die Heirat seines Cousins Teco mit Calyri nicht gut, doch hatte er sie ihm an diesem Tage zugestanden, es war rechtmäßig gewesen. Daraus würde nun nichts werden. Er senkte seine Brauen tief.

„Dheracs Söhne werden nun zu Teco gehen und ihm erklären, weshalb er heute nicht seine Frau an sein Feuer nehmen darf. Dann werden sie so lange aus dem Lager verschwinden, bis sie wieder gerufen werden – sie nehmen nichts mit. Keinen Speer, nichts zu essen. Die Götter allein sollen über ihren Verbleib an diesem Tag entscheiden.“

Dherac nickte ihm zu und ließ Semliya los, der darauf kraftlos beinahe zu Boden gesunken wäre und von Novaya aufgefangen wurde. Sie schenkten Mefasa einen sehnsüchtigen Blick, den sie traurig erwiderte, dann schleppten sie sich schwankend fort in Richtung der Mitte des Lagers, wo eigentlich ein großes Fest vorbereitet wurde.

„Dherac lädt alle erwachsenen Männer des Stammes zum Rat ein. Wir beginnen auf dem großen Platz, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat.“

Der Mann nickte und folgte seinen Söhnen schwankend. Ein Raunen ging durch die Reihen an alten Frauen, das abrupt verstummte, als Moconi sich ihnen zuwandte.

„Ihr kümmert euch um die gesetzesbrüchige Frau und ihr Kind. Nehmt es ihr weg.“
 

Es hatte weder Novaya, noch Semliya gewundert, dass Teco sie geschlagen hatte, so heftig, dass der jüngere Zwilling kurzzeitig sein Bewusstsein verloren hatte. Sein Bruder hatte ihn sich darauf über die Schultern geworfen, um mit ihm artig das Lager zu verlassen, war nach wenigen Schritten jedoch unter dem Gewicht und seinen vor Schrecken weichen Knien mit ihm zusammengebrochen. Er wusste nicht, wie lange er verzweifelt im Dreck gesessen hatte und sich nicht hatte rühren können, er wusste bloß, dass giftige Stimmen ihn immer wieder dazu aufgefordert hatten, zu verschwinden. Irgendwann war Sanan gekommen – der kleinste, zierlichste und schwächste Mann im ganzen Stamm – und hatte Novaya für ihn aus dem Lager getragen, während die anderen ihnen nur verächtliche Worte nachgerufen hatten. Als sie dann im offenen Grasland gewesen waren, hatte ihr einziger, gemeinsamer Freund sich mit einem mitleidigen Blick abgewandt und die Zwillinge sich selbst überlassen. Sie nahmen es ihm nicht übel.
 

Normalerweise hielt man Rat in einer eigens dafür aufgebauten Ratshütte, oder zumindest in der Hütte des Häuptlings, wenn das Lager klein war. An sich bestand der Rat auch nur aus einigen wenigen guten Jägern und falls vorhanden weisen Alten. Letztere gab es zu Moconis Leidwesen momentan leider nicht, aber sie hatten ihn gelehrt, dass besondere Situationen besondere Maßnahmen erforderten, so stand er nun im Mittelpunkt des Lagers an der Stelle, an der eigentlich das große Feuer hätte aufgebaut werden sollen, auf Brennholz und -knochen, damit er etwas aus der Menge herausstach, alle anderen Männer um sich herum versammelt und weiter außen alle Frauen mit ihren Kindern, um zuzusehen und zu lauschen. Er war gespannt, was nun genau mit Mefasa und ihrem Kind geschehen war, er würde sich später danach erkundigen. Das war der Nachteil daran, wenn man ungenaue Anweisungen gab...

Ein Raunen ging durch die Menge, nachdem er mitgeteilt hatte, was sich ohnehin schnell herumgesprochen hatte. Teco, der nur unweit von ihm entfernt stand, schnaubte verärgert. Er hatte bereits begonnen, sich für die Zeremonie herzurichten, und sah mit dem ganzen Schmuck aus Federn, Knochen und kleinen Steinen wichtiger aus als der Häuptling selbst.

„Ich würde sie am liebsten töten für das, was sie mir heute angetan haben – sie haben mich entehrt!“

Sein Cousin senkte die Brauen. Egoist.

„Nicht nur dich, sie haben den ganzen Stamm in Gefahr gebracht. Ich fürchte, heute hätte mit diesem Wissen ohnehin niemand feiern können und...“

Der Jüngere hob abwehrend die Hände.

„Nein – das hätte ich auch nicht gewollt! Ich habe Verständnis für deine Entscheidung, das Fest zu verschieben, nicht jedoch für die Verantwortungslosigkeit dieser beiden Dämonen!“

Murmeln der Zustimmung. Moconi nickte zufrieden über die Antwort des stolzen Jägers – Tinash hatte recht gehabt, es war besser für ihn, wenn er sich nicht derart offensichtlich gegen ihn stellte. Der Stamm liebte diesen Dummkopf schließlich...

„Und was gedenkst du jetzt zu tun, Häuptling?!“, riss ihn Karems Stimme aus seinen Gedanken und der junge Mann senkte ernst seine Brauen. Das war eine gute Frage... von einem guten Kandidaten.

„Vielleicht kannst du es mir sagen, Karem, kennst du dich nicht mit... einer solchen Situation aus?“

Ein Raunen ging durch die Menge, doch der Mann, der dasselbe Gesetz einst vor vielen Jahren selbst gebrochen hatte, ließ sich nicht lumpen. Er trat aus der Menge zu dem Häuptling und blickte ihm mit offener Verachtung in sein dunkles Gesicht.

„Ich bin mir nicht sicher.“, entgegnete er mit lauter, selbstbewusster Stimme, „Ich war eineinhalb Mondzyklen älter als Dheracs Missgeburten und nicht im Wissen darüber, dass das Mädchen schon eine Frau war.“

„Und ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich gegen die drei spricht... immerhin war Mefasa zumindest ehrlich!“, bemerkte Tanest bei den Frauen leise und alle, die sie hörten, stimmten ihr murmelnd zu. Ardoma schenkte ihr einen tödlichen Blick aus den schmalen, schwarzen Augen.

„Meine Blutzeit... geht niemanden etwas an.“

„Stimmt!“, kicherte eine noch sehr junge Mutter, „Ich habe dich seit ich lebe noch nie in der Bluthütte gesehen, und trotzdem hast du Kinder – teilst du dir das Lager etwa auch mit Karem, wenn du die Kaninchenfelle mit deinem Frauenblut tränkst?!“

Über die Lippen der Schwarzhaarigen huschte ein gespenstisches Lächeln, als sie sich wieder der Versammlung der Männer zuwandte.

„Wenn es dich so sehr interessiert... dann klatsche ich dir meine Felle in dein Gesicht.“

„Damals hat es trotzdem eine Hungersnot gegeben, das Wild wollte einfach nicht mehr vor unsere Speere!“, merkte Porit unterdessen an und alle älteren Männer stimmten ihm brummend zu. Karem ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Wille der Götter, ich glaube nicht, dass es an mir gelegen hat. Saltec hat es auch nicht geglaubt... und zu dieser Zeit hat er noch weise gesprochen. Der Geist deines Bruders wird in der nächsten Welt spüren, wie du ihm in den Rücken gefallen bist, Porit, wie ein Speer wird es sich in seinen Rücken bohren und ihn aufspießen... also sei lieber etwas vorsichtiger mit deinen Worten, Vater von Teco.“

Während Porit beschämt den Blick senkte und Tinash Teco brüderlich auf die Schultern klopfte, um seinen Zorn über die Schwäche ihres Vaters zu vertreiben, biss sich Sanan nervös auf die Unterlippe.

Er war ein grauenhaft schlechter Jäger, nie hatte er mitberaten dürfen. Es war das erste Mal, dass er seine Meinung miteinbringen durfte... aber für eine solche Situation hatte er es sich nicht gewünscht.

Es kostete ihn Überwindung, seine Stimme vor dem kompletten Stamm zu erheben... aber wer, wenn nicht er, würde es sonst tun?

„Ich finde...“, er zuckte unter den vielen Augenpaaren, die plötzlich auf ihn gerichtet waren, merklich zusammen, „Saltec hat damals klug gesprochen. Schließlich geht es dem Stamm heute... soweit gut, nicht wahr? Ich meine... lasst die beiden doch einfach die Prüfung machen... und dann warten wir ab, was geschieht... vielleicht sind sie ja bereits tatsächlich schon Männer.“

Auf kurzes Schweigen erhoben die Jäger laut ihre Stimmen – Sanan wusste selbst nicht so genau, ob in Zustimmung oder Ablehnung, man sprach respektlos durcheinander, bis Moconi mit dem stumpfen Ende seines Lieblingsspeers, den er in seiner Linken hielt, auf sein wackeliges Gerüst aus Knochen und Holz klopfte und damit die Aufmerksamkeit wieder erlangte (und sein Gleichgewicht beinahe verlor).

„Dein Wort in den Ohren der Götter, Sanan. Einerseits wüsste ich nicht, weshalb man mit ihnen anders verfahren sollte, als mit Karem... andererseits bin ich mir nicht sicher, ob die Entscheidung meines Vaters damals richtig war. Der Stamm geriet in große Schwierigkeiten...“

Er verstummte und einige pfiffen von irgendwo empört über seine Respektlosigkeit seinem Vater gegenüber. Nein, er hieß nicht gut, was Saltec getan hatte... damals war es bei einem fast erwachsenen Jungen eine Hungersnot gewesen, was würde heute geschehen, bei gleich zwei nicht einmal entfernt erwachsenen Kindern? Er dachte mit Schaudern an die Kalenao und war sich mit einem Mal vollkommen sicher, dass bald etwas sehr schlimmes geschehen würde.

Ein Ruf von irgendwo weiter hinten riss ihn aus seinen Gedanken.

„Tötet sie! Spießt sie auf!“

Grölen der Zustimmung. Der junge Mann musste sich eingestehen, dass der Tod der Zwillingsbrüder ihm nichts bedeutet hätte. Sie machten nur Ärger...

Sanan senkte sein Haupt tief. Er hatte es versucht... er seinerseits stellte zum ersten Mal in seinem Leben fest, dass seine kaltblütigen Begleiter ihm tatsächlich etwas zu bedeuten schienen. Er war dankbar, als Kinashis laute Stimme sich plötzlich über alles andere hinweg setzte.

Vom Kinder erziehen wusste sie bereits, welchen Ton sie wann anlegen musste, um Aufmerksamkeit zu erlangen.

„Ich verlange eine gerechte Behandlung, wie Sanan sie vorgeschlagen hat! Beschämt nicht die Frau, die diesem Stamm noch viele Kinder schenken wird und ihren Mann, einen stolzen Jäger, indem ihr ihre ersten Söhne ungerechtfertigt in den Tod schickt! Die Götter werden euch bestrafen!“

Sie klammerte sich an Morny, ihr schneeweißes kleines Baby, das sie in einer Bauchbinde trug. Das kleine Mädchen war wach, quengelte jedoch nicht und schmiegte sein helles Köpfchen bloß versonnen an den Busen seiner Mutter.

„Aber dieser Stamm hat nie Zwillinge gebraucht! Nicht einmal gewollt!“, brummte Tanest darauf.

„Wir können sie ja verstoßen, anstatt direkt zu töten, Frau von Dherac...“, schlug jemand anderes vor und Kinashi zischte.

„Das wäre ihr Tod nur herausgezögert, halte mich nicht für dumm!“

Sie hätte noch etwas angefügt, da mischte sich ihr Mann gemeinsam mit einem seltsam kühlen Windhauch ein. Er klang mürrisch und ermüdet...

„Lass sie die Prüfung machen, Moconi. Sie werden es schwerer haben als Karem damals, es wird auch sicher gefährlicher werden...“, er senkte seine Brauen ernst, „Bisher haben sie nur kleine Beute gejagt. Großwild – und vor allen Dingen Raubtiere – zu erlegen erlernt man erst, wenn man sein vierzehntes Lebensjahr begonnen hat, das haben meine Söhne noch nicht. Sie müssten es also vollkommen ohne jegliche Erfahrung und absolut ahnungslos machen...“

Der Häuptling hob skeptisch beide Brauen. Das war wahr... die Zwillinge hatten kaum eine Ahnung, wie sie sich zu verhalten hatten. Er grinste.

„Gut, dann... weiß ich, was wir tun. Und falls sie zurückkehren sollten, werde ich mir noch etwas überlegen...“
 

Als Novaya und Semliya wieder ins Lager kamen, brannte auf dem großen Platz das Feuer, aber niemand feierte. Der Stamm saß in düsteren und ersten Mienen versammelt, während die Brüder allein einmal an allen vorbei mussten, um vor den Häuptling zu treten. Niemand sprach auch nur ein Wort, doch die Jungen konnten die Todeswünsche aus den Gesichtern aller lesen. Als sie an Calyri vorbei kamen, senkte sie ihr Haupt so tief, dass sie mit dem Gesicht beinahe den Boden berührt hätte. Als Novaya darauf kurz inne hielt und ihr seine Hand auf den Kopf legen wollte, um ihr zu zeigen, dass sie sie nun nicht mehr oder weniger verabscheuten als zuvor, schlug ihm eine alte Frau neben ihr so fest darauf, dass er kurz zischte und seine Schwester nur noch mehr in sich zusammensank. Darauf folgte er seinem Zwilling sich die schmerzende Stelle reibend wieder ohne Umschweife, um dem Häuptling und den besten Jägern unter die Augen zu treten.

Sie konnten nicht bestreiten, dass Moconi einen imposanten Eindruck machte an jenem Abend, wie er mit seinem Federschmuck, seiner Kette mit den Zähnen von Berglöwen und seiner besten Hose aus dem edelsten Leder, die Kili für ihn gemacht hatte, vor ihnen stand. Neben ihm standen Karem und Porit, die sich beide, soweit es ihnen zustand, ebenfalls sehr beeindruckend geschmückt hatten, was besonders zu letzterem nicht wirklich passen wollte. Doch auch in seinem Blick lag die eisige Kälte, die an diesem Abend den ganzen Stamm erfasst hatte.

„Semmi?“, hauchte Novaya, als sein Blick kurz über die Versammlung gehuscht war. Seine Stimme war nicht lauter als das Knacken des Brennholzes im Feuer, vermutlich hörte auch bloß sein Zwilling ihn.

„Der Tod greift mit eisigen Händen nach uns. Was...-“

Er wurde unterbrochen, als Moconi seine Stimme erhob. Sie klang monoton, beinahe seelenlos...

Mefasa und ihr Sohn waren nicht am Feuer.

„Wir haben entschieden, was mit euch geschieht. Wir haben entschieden, eure Zukunft – und die Zukunft eures Stammes – in die Hände der Götter zu legen.“

Er schielte kurz zu Karem.

„Ihr werdet die Möglichkeit haben, euch nach alter Tradition als Männer bewähren zu dürfen. Je nachdem, ob ihr das schafft und wie ihr es schafft, wird der Rat entscheiden, was mit euch geschieht.“

Die hellblauen Augen der Zwillinge weiteten sich minimal. Man würde sie nicht sofort verstoßen? Das war überraschend, aber durchaus positiv. Die Brüder fassten neuen Mut, Würde schlich sich in ihre Haltung.

Moconi sprach weiter.

„Porit wird morgen früh, bevor die Sonne hinter den Bergen erscheint, mit Novaya losziehen. Übermorgen zur selben Zeit wird Karem mit Semliya folgen. Ihr sollt Selbstständigkeit lernen.“
 

Diese Worte trafen dort, wo sie treffen sollten. Calyri beobachtete schaudernd, wie Dherac die ganze Nacht mit Novaya in Finsternis und Kälte vor der Familienhütte verbrachte, ihn bestimmte Wurftechniken lehrte, ihm erklärte, wovor er sich in acht nehmen musste und was er auf gar keinen Fall tun durfte. Es war so viel, was den Zwillingen an Wissen noch fehlte, dass die junge Frau sich beinahe sicher war, dass keiner von ihnen so zurückkehren würde, dass aus ihnen noch anständige Jäger werden konnten. Mit etwas Glück wurden sie nur verkrüppelt...

Letzteres erinnerte sie an Teco, den sie heute nicht geheiratet hatte, mit dem sie sich dennoch bereits die Hütte teilen musste, vor der sie nun auch saß. Der Mann selbst hatte sich sehr schlecht gelaunt auf sein Lager fallen lassen und schlief jetzt. Sie hatte gute Sicht auf sein mitgenommenes Bein, wenn sie innen war... es widerte sie an. Sie wollte nicht seine Frau sein... sie wollte es wirklich nicht.

Sie sank in sich zusammen, als sie sich wieder ihrem schlechten Gewissen hingab. Sie brachte doch nur Ärger... Teco verdiente eine bessere als sie es war, eine, die ihn nicht bei der erstbesten Gelegenheit töten würde. Und die Zwillinge...?

Sie wusste nicht, ob das, was sie getan hatte, richtig gewesen war. Sie hatte im Sinne des Stammes gehandelt, aber in ihrem Herzen fühlte es sich falsch an.

Beinahe noch größere Sorgen machte sie sich jedoch um Mefasa. An sich durfte man einer schwangeren Frau nicht schaden – zumindest nicht so sehr, dass das Kind in ihrem Leib gefährdet wurde. Leider geschah letzteres gar nicht so leicht und das wussten die alten Weiber mit Sicherheit. Und Rhiks Sohn hatte irgendwer irgendwann Kinashi in die Arme gedrückt, weil sie sich gut um Kinder kümmern konnte, wie bekannt war. Sie hatte ihn angenommen, ob nun gern oder nicht nicht verratend, denn es waren ihre Söhne, die den Stamm vermutlich in den Ruin geschickt hatten. Hätte sie sie nicht geboren, wäre das nie geschehen... der kleine Junge seinerseits war leichenblass gewesen, trotz seiner deutlich gebräunten Haut war sein Gesicht am Abend beinahe so hell wie das von Morny gewesen und gesprochen hatte er auch nichts mehr, geschweige denn gegessen oder sonst etwas getan. Er stand völlig unter Schock... sein Vater hätte das nicht gut geheißen.

Hatte man Rhik denn schon vollkommen vergessen? Und die anderen Männer, die getötet worden waren? Und Kili... Moconi musste sie grauenhaft vermissen, so ganz allein in der großen Häuptlingshütte war das Leben mit Sicherheit nicht angenehm.

Nein, Moconi hatte es nicht leicht... sie aber auch nicht.

Sie zuckte zusammen, als das kurze Savannengras neben ihr in der Finsternis leicht knisterte. Ein kurzer Blick nach vorn verriet ihr, dass ihr Vater und ihr Bruder verschwunden waren und kurz stieg Panik in ihr auf. Gerade in dem Moment, in dem sie sich in die Hütte hatte flüchten wollen, erkannte sie die Silhouette des Mannes wieder, dem ihre Gedanken die ganze Zeit über gehört hatten. Sie erschauderte.

„Moconi!“

Es war nicht mehr als ein leises Seufzen gewesen. Ihre angespannten Glieder entspannten sich und sie setzte sich wieder bequem zurecht, als er sich gekonnt leise dicht neben sie setzte. Sie merkte, wie er kurz hinter sich in das geöffnete Innere ihrer Hütte schaute um festzustellen, dass Teco schlief. Sie fragte sich, ob er es wohl wirklich wegen seiner ungewöhnlich guten Augen erkannte oder einfach nur auf das leise Schnarchen lauschte... vermutlich von beidem etwas. Er wandte sich ihr wieder zu.

„Tut mir leid.“, begann er leise und sie sah ihm verblüfft ins Gesicht – oder zumindest dorthin, wo sie es vermutete.

„Was meinst du?“

Er seufzte und sie bemerkte überrascht, wie er zögerlich einen Arm um sie legte.

„Alles. Ich meine... mit deinen Brüdern. Und Mefasa. Und... Teco.“

Die junge Frau senkte ihr Haupt. Genau genommen hätte sie sich eine Närrin schelten sollen, überlegte sie sich, dass ihr Herz diesem Mann gehörte, der ihr in so vielen Bereichen so weh tat, aber sie konnte nicht anders. Die Götter wollten, dass sie die Mutter seiner Kinder war... genau genommen hatte das für sie bereits festgestanden, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie würde nicht glücklich werden, so lange sie nicht an seinem Feuer kochen konnte.

„Du hast das getan, was ein Häuptling tun muss.“

Er hatte recht, sie nahm es ihm übel. Aber in ihren Worten lag keine Lüge, denn sie wusste, dass es richtig gewesen war. Ihr Verstand arbeitete gegen ihr Herz.

„Ich weiß.“, erwiderte Moconi da verblüffend, „Aber ich habe trotzdem ein schlechtes Gefühl dabei.“

Calyri wurde warm. Sie war für diesen Mann geboren worden, da war sie sich nun sicherer als jemals zuvor.

„Ich fürchte mich.“, gab er darauf zu, „Ich fürchte mich vor Kilis Schicksal. Ich fürchte mich vor der Strafe der Götter. Ich will doch niemandem schaden... aber ich muss doch handeln. Vielleicht hätte ich doch Karem mein Amt...“

„Nein! Nein, du machst das gut. Hab etwas mehr Selbstvertrauen, als wir klein waren warst du noch nicht so, Krähenfeder.“

Sie lächelte und fasste ihm kurz an seinen Ohrschmuck, den sie selbst genau so trug. Einst hatten beide Federn dem damals noch kleinen Jungen gehört, daher sein Name – oder eher umgekehrt, letzteren hatte er bekanntlich länger als seine Schmuckfedern – und irgendwann, kurz, bevor er ein Mann geworden war, hatte er ihr eine geschenkt.

Wir schließen ein Bündnis., hatte er gesagt und sie angelächelt, Wenn ich ein Mann werde und du eine Frau, werden wir erst einmal eine Weile wenig Zeit füreinander haben. Aber wir dürfen uns nicht vergessen! Also sollst du jetzt eine davon tragen. Dann sieht auch jeder, zu wem du gehörst.

Sie hatte sie gerührt angenommen und wie er an ihrem linken Ohr befestigt. Sie trug sie seitdem mit Stolz, denn ein solches Geschenk hatte noch nie jemand von dem jetzigen Häuptling bekommen. Heute hatte es beinahe keinen Wert mehr...

„Als ich klein war, war ich der Sohn des Häuptlings und der Enkel eines der weisesten Männer, die dieser Stamm je gesehen hat. Heute muss ich vorsichtiger sein.“

Er brummte bloß finster und zog sie noch etwas dichter zu sich. Nicht, dass sie es nicht gut geheißen hätte, aber es brachte sie dennoch zum Stirnrunzeln.

„Du hast mich Teco gegeben.“, erinnerte sie ihn, „Was du tust ist nicht rechtens...“

„Es sieht aber keiner.“, unterbrach er sie überraschend grimmig und lehnte seinen Kopf an ihren, „Ich bin... müde. Ich will das alles nicht. Tut mir Leid, wenn ich dich jetzt vom Schlafen abhalte, aber du bist doch die einzige, mit der ich reden kann...“

Sie lächelte irritiert.

„Und Tinash?“

„Der versteht das nicht. Der gibt mir dann immer komische Ratschläge, die ich nicht befolgen will...“

Er hüstelte verlegen und sie kicherte leise. Er wollte sie nicht befolgen? Na das klang ja wunderbar, jetzt wusste sie auch, weshalb er den Rat nicht mochte...

„Und ich? Ich gebe dir überhaupt keinen Ratschlag, oder?“, wollte sie wissen und lehnte sich dabei nun auch an ihn. Es war nicht ihre Schuld, er war zu ihr gekommen, genau...

„Deshalb schätze ich deine Gesellschaft ja!“, erklärte er darauf wenig sinnig und sie gab sich mit einem Seufzen zufrieden. Mit ihm an ihrer Seite fror sie nicht mehr... am liebsten wollte sie die ganze Nacht hier so mit ihm sitzen. Und er tat ihr den Gefallen und blieb noch lange bei ihr.
 

Novaya war nervös. Er hatte kaum Gepäck – so, wie es sich der Tradition nach auch gehörte – und Speere, die nicht ihm gehörten. Er hatte nur „Kinderspeere“ besessen, mit denen sie Kleinwild gejagt hatten, für alles weitere waren er und sein Zwilling von ihrem Alter ausgehend noch nicht reif gewesen. Sein Vater hatte ihm drei seiner Speere anvertraut... die übrigen drei, die Dherac besaß, würde er am nächsten Tag Semliya leihen. In diesem Moment war der Junge beinahe froh, kaum Gepäck dabei zu haben, denn die drei gut gemachten Waffen waren viel schwerer als alle Wurfspieße, die er je in der Hand gehabt hatte. Er hatte noch nie einen solchen Speer geworfen... plötzlich verstand er, weshalb Sanan solche Probleme bei der Jagd hatte. Einen Speerarm dafür musste man sich wirklich antrainieren... und er hatte keinerlei Zeit dazu gehabt, stellte er völlig übernächtigt fest. Er schenkte seinem Vater, der regungslos neben ihm stand, einen kurzen Blick. Hoffentlich zerstörte er nicht seine wertvollen Waffen... oh, er würde es garantiert tun. Ihm war immer vollkommen egal gewesen, was seine Eltern von ihm dachten, heute bereute er es... er würde sein Bestes geben.

Was geschah eigentlich, wenn einer von beiden die Prüfung schaffte und der andere nicht?

„Bist du bereit, Novaya, Sohn von Dherac?“, fragte Moconi ihn da in würdevoller Haltung und todernster Miene. Beinahe konnte man ihn schon ernst nehmen, überlegte sich der Junge und musste ein Grinsen unterdrücken. Dieser Idiot...

„Ja, ich bin bereit.“ Das war wohl eine glatte Lüge gewesen und das wussten auch alle Beteiligten. Dennoch trat der Häuptling zurück und machte Porit Platz, der Novaya nur einen kurzen Blick schenkte und Dherac dann zunickte.

„Dann komm.“

Und Novaya gehorchte.
 

Mefasas Körper bebte vor Wut und Demütigung. Jetzt saß sie in der Hütte der alten Weiber fest und durfte sie bedienen, während sie sich über sie die Münder zerrissen – und um das zu bemerken musste die junge Frau kein Gehör besitzen. Nun saß sie am frühen Morgen bereits vor der so ziemlich schlechtesten Feuerstelle der Welt und versuchte irgendwie, etwas von dem vergammelten Fleisch genießbar zu bekommen, während Kinashi ihren Sohn füttern durfte.

Sie zischte, ohne es selbst zu bemerken.

Ihr Baby! Rhiks Baby! Wie sie ihren Mann nur vermisste... hätte er noch gelebt, wäre sie an diesem Tag nicht in dieser Situation gewesen. Aber er war tot... und die Jungen konnten nichts dafür. Sie schloss verbittert einen Moment die Augen.

Sie hatte sich verrechnet. Um beinahe zehn Tage hatte sie sich verrechnet, sie war so dumm gewesen! Es war ihre eigene Schuld, dass einer ihrer Verlobten ihr neues Leben eingepflanzt hatte... sie hatte doch nicht von den Zwillingen erwarten können, dass sie sich mit dem Zyklus des Frauenblutes auskannten!

Und jetzt war sie die Sklavin der verschrumpelten Alten... oh, sie verabscheute sie. Sie hatte doch selbst so eine schöne Hütte... Rhik hatte alle ihre Einzelteile zusammengetragen und in diesem Lager hatten Novaya und Semliya sie ihr aufgebaut. Sie liebte diese Hütte.

Etwas in ihrem Inneren zog sich schmerzhaft zusammen, als ihr einfiel, was den Jungen nun bevorstand. Calyri hatte sich bei ihr entschuldigt und ihr erzählt, was geschehen war... am liebsten hätte sie geweint vor Angst. Die Berge waren schlecht. Rhik hatte sie dort verloren... und der war ein erfahrener Jäger gewesen! Ihre neuen Verlobten waren doch noch so jung... und sie hatte sie so lieb gewonnen.

Sie keuchte, als eine der Alten ihr mit einem aus einem verkrüppelten Stück Holz bestehenden Gehstock heftig gegen den Oberarm schlug, weil sie träumte.

Oh, diese Monster, sollten die Magier kommen und sie bei lebendigem Leibe fressen...

Sie zischte verächtlich, tat dann aber wie ihr geheißen und vermisste dabei weiter ihren Sohn.
 

Die Sonne hatte beinahe ihren höchsten Stand erreicht. Es war heiß an diesem Tag, viel zu heiß für die Zeit des Jahres, und sehr schwül. Über den immer näher rückenden Bergen brauten sich Wolkenberge zusammen, die Regen versprachen. Novaya blickte sie im Gehen skeptisch an und seufzte.

„Es wird bald regnen.“, stellte er sachlich fest und bemühte sich mit Porit Schritt zu halten. Sie hatten noch keinerlei Pause gemacht.

„Richtig.“, war die knappe Antwort des ansonsten freundlichen Mannes und der Junge runzelte die Stirn. An sich interessierte ihn das Wetter nicht ernsthaft, nass sein war zwar unangenehm, aber es kühlte auch. Viel mehr hatte er ein Problem mit dem anhaltenden Schweigen des Mannes. Er fühlte sich... einsam.

„Ich muss mich mal erleichtern.“, redete er so weiter und sein Begleiter hielt inne und seufzte.

„Dann tu es halt.“

„Danke!“

„Nichts zu danken.“

„Ach doch.“

„Unsinn.“

„Man muss doch höflich sein.“

„Ach so.“

„Ja, auf jeden Fall.“

„Mach einfach!“

Porit schnaubte, als Novaya ihn etwas dümmlich anblickte. Oh, es war ein Fehler gewesen, er wusste es. Er hätte es Moconi ausreden sollen... warum musste auch ausgerechnet er jetzt zusehen, wie sich dieses seelenlose Kind zerfleischen ließ? Er hob verständnislos die Brauen, als der Junge sich nicht rührte.

„Was?!“

Novaya blickte sich kurz zu beiden Seiten um. Dann seufzte er theatralisch.

„Hier sind keine Büsche.“

Ja. Natürlich nicht, sie hatten ja auch schon das Ödland erreicht. Und das nannte sich bekanntlich Ödland, weil es öde war – und wo es öde war, waren Büsche eher selten. Wofür brauchte der jetzt bitte einen Busch?!

„Dann mach halt einfach irgendwo anders hin!“, schlug der Mann irritiert vor und der Junge verzog das Gesicht.

„Ich kann nicht, wenn ich mich beobachtet fühle.“

Porit hustete. War der immer so...? Nicht, soweit er sich daran erinnerte. Mit seinem Zwilling war er dem Mann ja beinahe lieber...

„Mach jetzt, oder ich setze dich aus, Novaya!“, brummte er und der Jüngere schnaubte empört.

„Nein, so geht das nicht!“

„Dann gehen wir jetzt eben weiter.“

„Aber ich muss mal...“

Der Junge blickte ihm eisern ins Gesicht, als Porit ihn mit offenem Mund anstarrte. Das... war nicht sein Ernst? Wie hatte dieses Kind mit einer Frau schlafen können?! Oh Himmel. Karem hätte jetzt sicher gewusst, was er hätte tun müssen... es war ein Fehler gewesen, die Zwillinge zu trennen.

„Und wie verbleiben wir jetzt?“, brummte er so und rieb sich entnervt die Schläfen. Er wollte nach Hause...

„Wir könnten ja zurück gehen und einen Busch suchen.“, war der glorreiche Vorschlag Novayas. Ja... zurück gehen, ganz langsam. Und dann würden sie rein zufällig bald von Semliya eingeholt werden, genau. Sie waren doch nicht dämlich, so leicht ließen sie sich doch nicht voneinander trennen... dummer Moconi.

Noch dümmerer Porit.

„Nein, verdammt! Entweder du machst jetzt oder es geht in die Hose! Wir gehen weiter!“

Der Mann wandte sich ab und stapfte wütend weiter auf die Berge zu. Novaya starrte ihm entsetzt nach.

„Verfluchter Mist...“, schimpfte er und rannte ihm trotzig nach.
 

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Das Zwillinge-Diss-Kapi, hihi.

Verwirrung

Shiran hatte ein ungutes Gefühl, als er auf einem der kühlen Felsen im Aufstieg des großen Passes stand und auf die Männer zu seinen nackten Füßen hinab sah – mit Schuhwerk hätte er das glatte Gestein kaum erklimmen können. Jetzt fröstelte es ihn, während sich über dem Meer, das sich entfernt hinter der Meute noch sichtbar erstreckte, die Morgenröte ankündigte.

Seine Nackenhaare sträubten sich etwas, als die Gesichter seiner Begleiter ihm etwas zu vermitteln versuchten, was nicht ausgesprochen werden durfte – was auch die Götter nicht aussprachen. Er konnte es nicht benennen, also musste er weitermachen.

„Dieser Weg ist länger als die, die bisher genommen wurden. Aber nur so können wir alle gemeinsam in das Land der Menschen einziehen... da wir noch nicht genau wissen, was uns erwartet, ist das von großer Bedeutung.“

Natürlich konnte er zumindest ungefähr absehen, wie es laufen würde, aber Shiran kannte sich... wenn er sich irrte, wollte er nicht für den Tod vieler seiner Blutsbrüder verantwortlich zu sein, also ging er lieber sicher.

„Es wird vermutlich einige Tage dauern, bis wir die Berge hinter uns gelassen haben... drei, wenn wir keine großen Pausen machen. Aber wir sollten einige Dinge beachten...“

Das Gefühl, das etwas nicht so war, wie es hätte sein sollen, schnürte dem Mann beinahe die Luft zum Atmen ab. Was war falsch? Wo hatte er sich verrechnet? Die Götter schwiegen. Langsam aber sicher begann er sich ernsthaft zu fragen, ob er wirklich Seher war oder einfach nur etwas begabter mit der Magie als seine Eltern es gewesen waren...

„Welche Dinge denn?“

Beinahe wäre er zusammengezuckt, als die Stimme eine Mannes zu seinen Füßen ihn aus seinen Gedanken riss. Verdammt, was stand er da und starrte wie zu Stein erstarrt zum Sonnenaufgang?! Die Regenwolken waren weitergezogen...

„Wir sollten beachten, dass wir nicht einfach blind alles, was uns in die Quere kommt, abschlachten dürfen.“, Shiran ging nicht auf seinen kleinen Aussetzer ein, in der Hoffnung, die Männer würden ihn bald wieder vergessen haben, „Wir sind den Göttern näher als die Menschen, dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass auch sie deren Kinder sind. Die Götter würden es nicht gutheißen, wenn wir einfach habgierig nach diesem Land greifen... wir dürfen das nicht. Andere Meinungen?“

Schweigen. Irgendwo weiter hinten brummte jemand etwas davon, dass das Fleisch der Menschen doch wunderbar schmeckte, aber niemand widersprach. Zumindest nicht mit Worten.

Der Seher verengte seine ohnehin relativ schmalen Augen zu Schlitzen. Die See blies ihm einen salzigen Wind entgegen... irgendwie ließ ihn das Gefühl, er würde bald eine unschöne Überraschung erleben, nicht los.

„Haltet euch von den Frauen und Kindern fern. Lasst die Männer flüchten, wenn sie es wollen. Das Land hinter den Bergen ist groß und unvorstellbar weit. Wenn sie uns die besten Jagdgründe überlassen, ist das mehr als genug, sie zu vernichten ist nicht von Nöten. Und beachtet, dass ihr ihren Häuptling am Leben lasst, ein Anführer ist für sie unglaublich wichtig in Krisenzeiten.“

Irlak unterbrach ihn. Er konnte seinen blauhaarigen Schopf nirgends erkennen, aber seine Stimme war dem Mann bekannt und die Götter präsentierten ihm seinen missbilligenden Blick.

„Und woher sollen wir wissen, welcher von denen der Häuptling ist? Die sehen doch alle gleich aus!“

Murmeln der Zustimmung. Wo er recht hatte, hatte er recht, musste Shiran sich eingestehen, für ihn sahen die Menschen auch allesamt irgendwie gleich aus, und dennoch...

„Ich glaube nicht, dass eine solche Menge an Kriegern sich vollkommen unsichtbar wird heranpirschen können, vermutlich wird er sich mit einem auffälligen Federkopfschmuck auszeichnen. Krähenfedern, wahrscheinlich...“

Er nickte der Menge zu und wollte seine Ansprache damit beenden und von dem Felsen absteigen, um endlich wieder in seine Sandalen schlüpfen zu können, da fiel ihm noch etwas ein.

„Ach ja. Und noch jemanden, dem ihr keinesfalls schaden dürft, sie brauchen ihn... sagen wir, zur Jagd. Ein junger Kerl, gerade ein Mann, schwarzes Haar, blaue Augen, verglichen mit den anderen von ihnen klein und zerbrechlich, mit tätowierter Stirn. Achtet auf ihn... und krümmt ihm ja kein Haar, das ist sehr wichtig.“
 

„Na, hast du die armen Männer in ihren Ruin geschickt?“

Mahrran schnaubte, als er die hölzerne Tür hinter sich schloss und murrend an seiner Zwillingsschwester vorbei trat, die ihm kichernd folgte. Diese kleine nervige Ziege... wie oft hatte er es ihr nun erklärt?!

„Halt einfach den Rand. Hast du schon jemanden Essen machen geschickt?“

„Mabalysca ist gerade dabei.“

Der Mann ließ sich an den gut gearbeiteten Tisch sinken und strich sich durch sein relativ kurzes blaues Haar. Von einem Magier seines Standes hätte man eigentlich erwartet, dass er sein Haar lang trug, wie es dem Schönheitsideal entsprach, aber Mahrran demonstrierte seine Position nur mit zwei längeren Strähnen vorn – er hatte schlicht und ergreifend keine Lust, sich viel um seine Frisur zu kümmern, das hatte er mit seiner jüngeren Schwester gemeinsam. Auch wenn er zugeben musste, dass er ihren Verlobten Kajira schon das ein oder andere Mal um seine Haarpracht beneidet hatte – aber egal, der war ohnehin weg, vermutlich würde er aus Versehen mit drauf gehen, wie ärgerlich.

Ein bisschen Verlust gab es immer.

Er sah finster auf, als Nadeshda sich leichtfüßig auf die Tischplatte schwang und sich genau vor ihn setzte, ihm dumm ins Gesicht grinsend. Was freute die sich denn so...?!

„Hat der Geist des neuen Lebens in dir dich jetzt in eine normale Schwangere verwandelt, Schwester? Das ist mir unheimlich.“

Sie gehörte doch schlecht gelaunt. Oder plante sie etwas...? Shiran hatte gesagt, sie würde einfach abwarten und sich sicher sein, dass ihr Volk sich nicht in einem Leben als Krieger wiederfände, sodass es ihm und dem Seher der Meinung der kleinen Frau nach schon sehr bald ganz von selbst den Rücken kehren würde, er solle seine Macht als Götterkind für wichtigere Anlässe aufsparen – und das war im Prinzip meistens ein guter Rat, denn die Trance kostete jedes Mal sehr viel Energie und legte Mahrran für eine Zeit lang als Magier komplett lahm. Ein hohes Risiko... aber warum freute die sich so, wo ihr Bruder doch so schlechter Laune war?

Vielleicht hatte es denselben Grund.

„Dein Haustier übergibt sich schon wieder. Meine Güte, es übergibt sich öfters, als es isst...“, sie verschränkte elegant die Beine übereinander, „Dabei war es dir doch zu mager, nicht? Du wolltest doch etwas... wie sagtest du, zum anfassen, hm?“

Sie kicherte. Es war kein Geheimnis, dass ihr Bruder fülligere Frauen bevorzugte – wobei aus dem Menschen noch immer keine Frau wurde, nur wenn er ordentlich zu essen bekam, fand die junge Frau, und ihr Gegenüber verzog ärgerlich das Gesicht.

Oh ja. Kili war es die ganze Nacht schlecht gegangen, ihr war schwindelig gewesen und am frühen Morgen hatte sie begonnen, sich immer wieder zu übergeben... er war sehr besorgt.

„Lach nicht darüber, du Ziege! Ruf lieber deine Freundin Alaji, damit sie sich um meine Frau kümmert.“

War ihm egal, was sie nun dachte, er war ein erwachsener Mann höchsten Ranges und er hatte nun einmal entschieden, dass die Häuptlingsschwester nun seine Frau war. Er fragte sich mitunter noch immer selbst, weshalb er so vernarrt in sie war, weshalb er halb wahnsinnig wurde, wenn er sie nicht ständig sehen und berühren konnte, aber immer nur flüsterten ihm seine Götter zu, dass es recht so war. Es gab wohl keinen bestimmten Grund... sie wussten vermutlich bloß, was gut für ihn war. Kili war gut für ihn. Aber nun war sie krank.

Nadeshda hob gespielt nachdenklich ihre Brauen.

„Moment, bitte. Alaji ist keine Tier-Heilerin, sie hat auch ihre Würde.“

Noch ehe Mahrran sich über ihre Frechheit empören konnte, hatte sie sich elegant wie eine Gazelle wieder von dem Tisch geschwungen und tänzelte kurz um die Feuerstelle herum, wie es an sich doch sehr seltsam für sie war.

„Außerdem kann selbst ich diese Diagnose mittlerweile stellen und ich kenne mich nun so gar nicht aus damit.“

Sie strich sich durch ihr zu vielen Zöpfen geflochtenes langes Haar und schielte kurz verträumt aus dem Fenster zum Sonnenaufgang. Ihr Bruder fragte sich unterdessen, ob diese Hexe seine Kili wohl vergiftet hatte...

Sie widerlegte seine Gedanken schnell, als sie sich ihm seltsam lächelnd wieder zuwandte und sich demonstrativ über den leicht gerundeten Bauch strich.
 

Kili lehnte müde an der Fensteröffnung von Mahrrans Zimmer, als dieser dort eintrat, und kehrte ihm so etwas schwer atmend den Rücken. Sie musste wirklich sehr erschöpft sein... sie bemerkte ihn überhaupt nicht. Dabei war sie zu Beginn so aufmerksam gewesen... ihm fiel auf, dass sie vermutlich schon eine ganze Weile schwanger von ihm war, sie hatte sich schon länger seltsam benommen und ihr Busen war ungewöhnlich prall. In seinen Fingern kribbelte es, als er lächelnd an sie herantrat und seine Arme um ihre Taille legte, um sich dann dicht an sie zu drücken, worauf sie leise seufzte. Sie war so groß... und stämmiger als er. Aber das war ihm egal, sie war bildschön. Nur noch immer etwas zu mager, da hatte Nadeshda leider recht. Das würde sich schon bald erübrigen...

„Du weißt es schon, nicht wahr?“, fragte er sie in seiner bestmöglichen Menschensprache und sie lehnte sich etwas zurück und gegen ihn.

„Was?“, kam darauf nur leise und er kicherte ihr ins Ohr, das er darauf sanft küsste.

„Dass ein Baby in deinem Bauch wächst.“

Sie fuhr in seinen Armen zusammen und erschauderte heftig, als ein kühler Wind in den Raum blies. Er ließ mit einer Hand kurz von ihr ab und griff zu dem hölzernen Laden, mit dem die Öffnungen im Winter die meiste Zeit des Tages verschlossen blieben, um ihn zu schließen. Sie hatte bereits eine Gänsehaut, das ging doch nicht... er umarmte sie wieder.

„Bitte... schlag mich jetzt nicht! Bitte bestrafe mich nicht, Mahrran! Ich... ich habe mich nicht getraut, dich davon abzuhalten, in den Tagen, als ich fruchtbar war! Bitte, verzeihe es mir... ich... oh Himmel...“

Er keuchte verblüfft als sie zu ihm herumfuhr und im nächsten Moment heulend zusammenbrach. Er fing sie verwirrt auf und war irritiert von ihren Worten nicht wirklich in der Lage, etwas sinnvolles zu erwidern. Was sagte sie da?!

„Oh... ich wollte das doch alles nicht!“, jammerte sie unter Tränen weiter, „Ich... ich wollte doch nie hierher! Ich wollte mein erstes Kind umsorgt von den Frauen bekommen, die ich kenne... die... die sich auskennen! Niemand hier kennt sich mit den Geburten aus, die Menschenfrauen durchmachen müssen! Und... und... oh nein! Oh mein Himmel, meine Mutter war so schlecht im Kinder bekommen! Wenn ich nun nach ihr komme, ich fürchte mich so!“

Sie weinte hemmungslos und er sank mit ihr zu Boden, als er sie nicht mehr tragen konnte. Das ging nun sehr schnell... sie betrachtete die Situation erstaunlich anders als er. War er zu naiv? Seine Götter vermittelten ihm ein positives Gefühl... das konnte doch nicht falsch sein.

Er zwang sich zu einem Lächeln, als er ihr zärtlich durch ihr dichtes braunes Haar strich.

„Beruhige dich, meine Frau. Es ist gut, es ist recht so... ich wollte ohnehin Kinder mit dir! Ich bin sehr erfreut darüber und du musst dich nicht fürchten, du bist hier in besten Händen.“

Sie sah verblüfft zu ihm auf und Mahrran verfing sich in einem sein Hochgefühl ausdrückenden Grinsen. Das war doch wahrlich ein Geschenk der Götter!

„Kann... das denn überhaupt gehen? Ich meine... wir sind nicht dasselbe...“, stammelte Kili darauf leise und schmiegte sich bebend an den für sie kleinen Mann, der ihr darauf einen zärtlichen Kuss auf den braunen Schopf setzte.

„Natürlich.“, belehrte er sie, „Es wird die Himmelsmagie einbüßen...“

Ihm fiel ein, dass sie sich damit ohnehin nicht auskannte und entschloss sich dazu, mit dem Positiven fortzufahren.

„Es wird ein gutes Kind. Es wird meine Magie beherrschen und so schön kräftig sein wie du...“

Seine eigenen Worte ließen ihn vor Vorfreude erschaudern. Was für gute Kinder sie ihm gebären würde! Oh, wer brauchte schon Himmelsmagie? Alle würden ihn um seine starken Söhne beneiden!

Er merkte erleichtert, dass die junge Frau in seinen Armen sich entspannte und sich die Tränen aus den Augen zu blinzeln begann.
 

So sehr sie die Situation ihres Bruders und seiner „Frau“ auch amüsiert hatte, Nadeshda war an diesem Tage nachdenklich gestimmt, als sie schließlich allein mit ihrer jüngeren Schwester Mabalysca dasaß und das gute Essen, das irgendeine unbedeutende Dorffrau ihnen zubereitet hatte, zu sich nahm. Mahrran und Kili aßen gemeinsam in seinem Zimmer... vermutlich mästete er das arme Tier nun wieder, aus Angst, es würde aufgrund der morgendlichen Magenbeschwerden vom Fleisch fallen... er war seltsam. Noch ein Grund mehr, warum er sie nie attraktiv gefunden hatte, fiel Nadeshda beiläufig auf und sie brummte unwillkürlich, sich versonnen ein Stück Fisch in den Mund schiebend. Niemand fand sie attraktiv, sie war der Inbegriff der Zierlichkeit und bei ihrem Volke galten Rundungen als schön. Auch wenn Mahrran ihres Wissens nach dann doch wieder etwas aus der Reihe fiel, weil er sie ausgeprägter bevorzugte als andere Männer... ob es bei Shiran nicht so war? Sie blickte unwillkürlich zu ihrem langsam, aber stetig wachsenden Bauch, was die Aufmerksamkeit der kleinen Schwester auf sich zog.

„Wie ist das eigentlich?“, erkundigte sie sich leise und schob ihre Schale mit kaum angerührtem Essen beiläufig von sich, „Wenn da ein Baby in einem wächst? Ist das schön?“

Die Ältere verzog angewidert über die Fragen das Gesicht. Das war nicht ihr Ernst...

„Du hast gesehen, wie es Mahrrans Menschenfrau heute morgen gegangen ist? Mir ging es nicht anders. Es ist grauenhaft.“

Und damit hatte sich das Thema für sie erledigt. Nicht aber für Mabalysca, auf deren Gesicht sich ein leichtes Lächeln schlich, als sie den Kopf versonnen abstützte und verträumt weitersprach.

„Aber da ist ein kleines Baby in dir und wächst... ich stelle mir das wundervoll vor...“

Nadeshda war sich nicht sicher, weshalb sie ihre Schwester nicht in ihrer üblichen, grantigen Art zurechtwies. Vielleicht war es, weil sie zum ersten Mal seit langer Zeit nicht todunglücklich da saß und apathisch durch die Gegend starrte. Sie betete dafür, dass ihre Hoffnungen auf ein baldiges Wiedersehen mit ihrem Verlobten nicht vergebens waren.

So seufzte die Ältere nur und zwang sich zur Geduld, den Blick ihrem Essen zuwendend.

„Ich will dieses Kind nicht. Vielleicht wäre es so, wenn ich es gewollt hätte, aber ich sehne mir immerzu nur den Tag herbei, an dem ich es endlich loswerde und davon frei bin.“

Ihr Gegenüber senkte seufzend den Blick. Sie tat es ihm gleich.

„Ich werde heute noch zu Alaji gehen.“, kündigte Nadeshda schließlich nach einer Weile des Schweigens an und schob ihre Schale ebenfalls bei Seite, „Die Götter sprechen seltsame Dinge... ich bin besorgt.“

Es wunderte sie nicht wirklich, dass ihre Schwester ihre Gedanken darauf erriet – sie war schließlich ebenso eine Tankana und die Götter sprachen zu ihr oft und deutlich.

„Sie bekommt auch ein Baby. Viele Frauen bekommen Babys...“

Das war richtig. Ihr Volk musste seine Heimat verlassen, weil es seine Ressourcen überstrapazierte, weil es so groß geworden war... und gerade jetzt, in dieser schweren Zeit, bekamen mehr Frauen denn je Kinder, um das Ganze noch einmal drängender zu machen – seltsame Frauen waren es zudem, Frauen, die nicht dazu geneigt waren, welche zu bekommen. Das Dorfoberhaupt, die menschliche Gefangene, die Heilerin, die Natter... und hatte nicht eine leise Stimme sogar davon berichtet, dass Zerits Frau Sundri nach so langer Zeit nun große Schwester wurde?

„Die Götter spielen seltsame Spiele...“
 

Im Dorf war es ruhig. Das war nicht verwunderlich, denn die meisten Männer waren fort. Die junge Frau fröstelte im kühlen Sehwind, der ihre zahlreichen Zöpfe aufwirbelte, während sie den beinahe unbekannten Weg zu dem kleinen Haus ging, das Alaji mit ihrer Mutter bewohnte. Der Erdmond stand hoch am Himmel... bald würde ein weiteres Jahr enden. Die Kälte kam...

Nadeshda fragte sich, wann sie wohl umsiedeln konnten – denn auf welche Weise die Menschen nun beiseite geschafft wurden, der große Umzug würde unweigerlich geschehen. Wenn es im letzten Drittel des Erdmondes oder den ersten beiden des Wassermondes sein sollte, war das schlecht... irgendwie hatte sie das Gefühl, es war keine gute Idee, ihr Volk zu dieser Zeit durch das Gebirge zu führen. Aber vielleicht dauerte es ja auch noch viel länger, weil Shiran und Mahrran es nicht hinbekamen – nein, das geschah sogar ganz sicher! – dann erübrigte sich diese Frage von selbst.

Das Heim der Heilerin war bescheiden, aber nicht so sehr, dass man sie zur Unterschicht hätte zählen können. Das kleine Gebäude war wie viele in dem vermutlich bald toten Dorf ursprünglich aus Sandstein gebaut und dann mit Bruchstein dürftig ausgebessert, weil die wütenden Windgeister des Meeres viele Schäden an den Bauten verursachten. Oh ja... der Seewind war salzig. Salzig wie die Tränen jener, die um die weinten, deren Seelen der Ozean für immer verschlungen hatte. Vielleicht hätten sie dieses Land bereits viel früher verlassen sollen.

Nadeshda klopfte an die hölzerne Tür. Sie war spröde und kalt.

Drinnen war es warm, als Alaji ihre Herrin verblüfft eintreten lassen hatte, dennoch pfiff der Wind an manchen Stellen durch das Haus. Da auch hier alle Fensteröffnungen verschlossen waren, war es dunkel, nur eine kleine Talglampe erhellte den Raum. Die Mutter der Heilerin saß auf ihrem Lager und nähte, als die kleine Frau erhobenen Hauptes eintrat. Sie nickte ihr verblüfft zu.

„So hoher Besuch!“, bemerkte sie verwundert, legte ihr Werkzeug bei Seite und erhob sich. Sie schien besser wirken zu wollen, als sie es war, als sie darauf auch ihr altes rotes Kleid glatt strich und sich das Kopftuch richtete. Auch sie verbarg ihren dürftigen Schopf wie ihre Tochter normalerweise – die trug ihr Haar momentan mit dem knöchernen Kamm hochgesteckt.

„Ja, lass dich nicht stören, arbeite einfach weiter. Ich bin nicht deinetwegen hier.“

Die Ältere hob kurz die beiden kaum vorhandenen Brauen, dann nickte sie abermals und setzte sich wieder auf ihr Lager, ihre Arbeit sichtlich irritiert wieder aufnehmend. Ihrer Tochter ging es nicht besser.

„Was verschafft mir die Ehre?“, wollte sie wissen und bot Nadeshda in Ermangelung eines ordentlichen Sitzplatzes an, sich auf ihrem eigenen Lager niederzulassen, was diese darauf auch tat, „Brauchst du neue Salbe?“

Sie schüttelte den Kopf und winkte die Gastgeberin zu sich. Irgendwie war es unangenehm, wenn ihre Gesprächspartnerin die ganze Zeit mitten im Raum herumstand...

„Du wolltest mir noch das Rezept dafür beibringen, erinnerst du dich?“

„Oh!“, kam darauf erleuchtet und Alaji wollte sich bereits wieder erheben, um entsprechendes Material zusammen zu suchen, da hielt ihre Besucherin sie zurück. Sie war noch aus einem weiteren Grund hier – und der nannte sich Neugierde...

„Nicht so eilig.“, sie sprach mit gedämpfter Stimme und die Heilerin ahnte, in welche Richtung das Gespräch wohl verlaufen würde, als sie verstohlen zu ihrer Mutter schielte, „Die Götter sprachen von dir. Nicht nur mein Bruder hat einen Halbmenschen gezeugt, du... trägst auch einen in dir, nicht wahr?“

Halbmenschen. Gleich zwei Stück – Nadeshda fragte sich, ob es sich dabei wohl um ein besonderes Zeichen handelte. Eine unweigerliche Verbindung zweier Völker...?

Sie erschauderte kurz. Wohl kaum – nur über ihre Leiche. Eine Vermischung stand außer Frage.

Alajis Gesicht verfärbte sich hochrot.

„Ich... ich... ja. Ja, ich habe mit Teco verkehrt wie mit einem richtigen Mann, es tut mir sehr leid. Bitte... verzeihe mir diese Schande.“

Sie trug es mit mehr Fassung als es Kili allem Anschein nach getan hatte – sie war eben erwachsener, eine Kalenao – und daher gescheit. Die Kleinere kicherte, kurz zu der werdenden Großmutter schielend, die sehr geschickt verbarg, dass sie lauschte.

„Du hast ihn wohl sehr in dein Herz geschlossen, deinen Entführer, wie?“, stellte sie fest und die andere verzog schmerzlich das Gesicht.

„Ja.“, erwiderte sie abermals ehrlich, „Ja, ich fürchte mich grauenhaft davor, dass ihm etwas geschehen wird... ich will nicht, dass ihm etwas geschieht.“

Nadeshda senkte versonnen den Blick. Um sie herum geschahen seltsame Dinge...

„Liebe, hm? … Zeig mir nun besser, wie man diese Salbe herstellt...“
 

Es waren zwei Tage vergangen, als Shiran seinem Gefolge erlaubte, eine Nacht lang zu pausieren. Kalenao konnten unter den richtigen Bedingungen durchaus eine lange Zeit ohne Schlaf auskommen; gefallen tat es ihnen dennoch nicht. Nun rasteten sie auf einem hohen Plateau und der Seher war von dem unguten Gefühl geplagt, dass sie zu auffällig waren.

„Das sind zu viele Feuer.“, brummte er und überblickte missmutig die Meute, von der jeder zweite Mann meinte, für die Nacht unbedingt ein warmes Lager haben zu müssen. Ihr Proviant war getrocknet, man musste ihn nicht mehr zubereiten... also was sollte das?!

„Unsinn.“

Er drehte sich missmutig um, wo auf einem kleinen Felsen Irlak saß und genüsslich getrockneten Fisch nach nicht unbedingt wohlerzogener Art verspeiste. Rato neben ihm tat es ihm gleich, ebenso wie zwei weitere Ekarett-Männer, die bei ihnen saßen.

„Er hat recht.“, sprach Rato da auch weiter, „Wir sind viel zu weit weg, die werden unsere Feuer nicht sehen und für den Rauch ist es heute Abend zu dunkel. Selbst, wenn sie jetzt näher am Gebirge lagern...“

Er hielt im Sprechen inne, als der Blick des Sehers immer tödlicher wurde. Er verkniff sich eine Antwort und wandte sich wieder den anderen Kriegern zu.

Das wusste er doch alles, das war ihm klar. Er hatte mehr das Gefühl, dass sie auf anderem Wege auffallen würden...

Und zu seinem eigenen Ärgernis war er sich relativ sicher, dass das Löschen der Flammen nichts gebracht hätte. Ein kühler Wind ließ ihn erschaudern... er konnte seine Begleiter schon verstehen.

Es war dunkel und kalt... dicke Wolken zogen am nächtlichen Himmel entlang und verdeckten den normalerweise lichtspendenden Erdmond die meiste Zeit. Es war Winter geworden. Kurz bereute er, dass er nur seine Sandalen trug, da riss ein warnendes Zischen ihn aus seinen Gedanken.

Eine Gruppe junger Männer lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie saßen da an ihrem Feuer, aßen, tranken und scherzten und freuten sich ohne Hintergedanken, dass sie sich in dieser Nacht würden ausruhen können. Shiran gönnte es ihnen, aber irgendetwas vermittelte ihm das Gefühl, dass die Schicksalsgötter etwas dagegen haben konnten...

Neben ihnen führte ein schmaler Pfad hinauf zu den Berggipfeln. Der Mann wusste es, ohne jemals dort gewesen zu sein, soweit reichten seine Fähigkeiten dann noch... er hatte ein ungutes Gefühl bei diesem Weg, der hinter einigen Felsblöcken versteckt so unscheinbar wirkte.

„Jemand sollte dort Wache halten.“, warf er in die Runde, ohne jemanden Bestimmtes zu meinen, doch durch seine Blickrichtung fühlten sich die, die er in Gefahr fürchtete, automatisch angesprochen.

„Hier?“, erkundigte sich einer von ihnen, ein rothaariger Mann wenige Jahre älter als Shiran. Sundris Vater, wenn er das richtig erkannte.

„Da, ja. Ich habe ein schlechtes Gefühl.“

Auf dem Plateau war es ruhig geworden. Ein schlechtes Gefühl bei dem Seher bedeutete meist wirklich nichts gutes.

„Wenn ich so darüber nachdenke, ich auch.“, kam schließlich von einem anderen der gefährdeten Männer, seinerseits wieder einer der Ekaretts. Er erschauderte und kehrte dem schmalen Pfad demonstrativ den Rücken, ließ so leicht seine Furcht erahnen.

Sundris Vater hob beide Brauen, als er in dem nur dürftig vorhandenen Licht den dunklen Weg mit dem Blick verfolgte, so weit es möglich war.

„Lauert uns jemand auf? Oder wie jetzt?“

Jemand oder etwas. Sie waren bewaffnete Magier, was konnte ihnen schon geschehen?

Er hatte keine Zeit, seine Gedanken zu einem Ergebnis kommen zu lassen, als plötzlich ein markerschütterndes Brüllen und anschließend ein schreckliches Fauchen zu hören war. Es war ein furchterregendes, gelbes Augenpaar, das den Pfad herab eilte, über die Felsen sprang und sich mit einem Mal verwirrt in der Menge der Krieger wiederfand. Dank Shirans Warnung hatten sich alle im letzten Moment retten können, doch nun stand die riesige Katze in mitten der perplexen Versammlung. Sie brummte, legte die Ohren an und drehte sich einmal um sich selbst, ihr monströses Gebiss warnend präsentierend.

„Was... bei allem, das heilig ist, ist das bitte für ein dämliches Vieh?!“, empörte Irlak sich schließlich als Erster und trat einen Schritt auf den beinahe ängstlich wirkenden Kuguar zu, einen Wasserzauber in seinen Händen entstehen lassend, „Bist du extra hier in unser Nachtlager gesprungen, damit du für uns zur Nahrung werden kannst?!“

Die Katze brüllte und wich verwirrt von dem Zauber einige Schritte zurück. Shiran senkte skeptisch die Brauen. Kuguare waren intelligente Tiere, ein solches Verhalten war nicht typisch – niemals würde einer von selbst in eine solche Ansammlung „anderer Tiere“ springen, wenn er nicht... verfolgt wurde.

Wirklich verwundert war der Mann im nächsten Moment nicht, als das Raubtier haarsträubend aufschrie, als sich plötzlich scheinbar aus dem Nichts ein beinahe monströser Speer in seinen Bauch bohrte und eine garantiert tödliche Wunde verursachte. Irlak ließ seinen Zauber perplex wieder verschwinden und starrte wie alle anderen auch in die Richtung, aus der die Waffe scheinbar gekommen war – über die Felsen hinweg kletterte blindlings fluchend ein Junge, der jedoch augenblicklich erstarrte, als er erkannte, dass sich hier nicht nur seine jämmerlich verblutende Beute, sondern eine riesige Ansammlung bewaffneter Männer befand; und alle sahen ihn an, wie er da stand, mit offenem Mund und nicht wirklich wusste, wo er hinsehen sollte.

„Nicht nur die Katze.“, fand abermals Irlak als erstes seine Sprache wieder, „Jetzt bekommen wir auch noch einen Menschen. Was für ein guter Tag!“

Er ließ seinen Zauber wieder erscheinen, wurde jedoch von Shiran zurückgehalten, als der Junge alarmiert einen zweiten Speer, den er bei sich trug, in Wurfbereitschaft hob und dem blauhaarigen Magier irgendwelche Worte in seiner Sprache grantig zuzischte. Der Seher analysierte ihn kurz – dann grinste er.

„Nein, wir essen weder das Tier noch den kleinen Menschen.“, so klein war er eigentlich gar nicht, „Man würde uns trotzdem verraten, selbst wenn er nicht zu seinem Stamm zurückkehrt... lasst uns wenigstens einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen.“

Irlak schnaubte, als er seinen Zauber erneut verschwinden lassen musste.

„Schon recht. Auch wenn ich nicht verstehe, was du schon wieder meinst, aber gut.“

Die ungewöhnlich hellen Augen des Jungen hefteten sich misstrauisch an Shiran, als er um das verendete Tier herum langsam auf ihn zutrat; wenige Schritte von ihm entfernt hielt der Mann gezwungenermaßen inne, als das Kind ihm irgendeine seltsame Beleidigung in seiner Sprache an den Kopf warf und dann mit dem Speer nach ihm stach. Der Magier grinste bloß.

„Das war ein außergewöhnlich guter Wurf, Semliya.“, sprach er ihn in seiner sehr akzentgezeichneten Menschensprache an, die er nur dank seiner Götter beherrschte und sein Gegenüber fuhr überrascht zusammen, war letztendlich jedoch weitaus weniger beeindruckt, als der Mann sich erhofft hatte.

„Ich kann gleich noch einen nachlegen, Bestie.“, erwiderte es scharf. Shiran senkte die Brauen kurz... er hatte eine seltsam eigene Art zu sprechen, er verstand ihn kaum. So sprachen hoffentlich nicht alle Menschen – wenn doch, war er wie nun abermals auf die Worte seiner Götter angewiesen, die ihm übersetzten, was die Primitivlinge meinten.

Er hob abwehrend die Hände, ihm ein falsches Lächeln schenkend.

„Aber, aber, nicht so voreilig, niemand will dir etwas Böses – wohl eher umgekehrt, wenn man bedenkt, wie du in unsere Versammlung gestürzt bist und die Katze vor dir her gescheucht hast.“

Semliya schielte kurz zu seiner Beute, dann verfestigte er den Griff um den Speerschaft.

„Der da.“, brummte er dann und deutete mit dem Kopf kurz zu Irlak, „Der hat etwas... komisches gemacht. Mit Wasser. Wenn er es noch einmal tut, werde ich ihn abstechen. Ihr seid alles Mörder und... und Entführer, ihr habt die Schwester unseres Häuptlings.“

Das Grinsen des Sehers verschwand. Oh, alles bieten lassen musste er sich nicht – auch wenn die anderen, ungeduldigen Männer gar nicht verstanden, was sie sprachen.

„Dir liegt nicht das Geringste an Kili, wäre sie tot, wäre dir das vollkommen egal, Semliya. Du musst nicht lügen, ich durchschaue dich, ich kenne deine Gedanken und ich weiß, wer du bist. DU bist es, der in Schwierigkeiten steckt, und nicht nur, weil du inmitten deiner Feinde gelandet bist... dein Stamm ist dir auch alles andere als wohlgesonnen gerade, nicht wahr?“

Sein falsches Lächeln kehrte zurück, als er zufrieden beobachtete, wie der Junge deutlich in sich zusammen sank. Oh ja... es war nicht schwierig gewesen, herauszufinden, wen er dort vor sich hatte. Ein interessantes Exemplar der Gattung Mensch...

„Aber wir müssen nicht deine Feinde sein... nimm deinen Kuguar und vergesse einfach, dass du uns getroffen hast; wir brauchen nicht mehr Gewalt als wir ohnehin schon erlebt haben...“

„Worüber redet ihr da bitte?!“, brummte Irlak missgelaunt und Semliya senkte seinen Blick auf seine Beute.

„Das kann ich nicht.“, entgegnete er überraschend, erklärte sein Anliegen jedoch sofort, „Ich muss das Tier schlachten und... ich... kann es doch nicht anders mitnehmen.“

„Dann werden wir das tun.“

Die Versammlung blickte auf, als über besagte Felsen ein weiterer Mensch kletterte, dieses Mal ein bewaffneter erwachsener Mann. Rato hob eine Braue, als er ihn kurz gemustert hatte.

„Den kennen wir doch.“

Er hatte die Gruppe an Menschen angeführt, die sie vor nicht all zu langer Zeit getroffen hatten... zu der auch Mahrrans Menschenfrau gehört hatte. Und das Gesicht erinnerte ihn noch immer an noch einen anderen Jungen, den er vor etwas längerer Zeit einmal getroffen hatte...

„Wir bieten unsere Hilfe an.“, sprach Shiran den Jäger an, der ihm nur einen missbilligenden Blick schenkte. Er war ein deutliches Stück größer als der Seher, wesentlich stattlicher und wirkte definitiv eindrucksvoller als dieser.

„Wir brauchen keine.“, brummte der nur als Antwort und warf dem perplexen Jungen eine Art knöchernes Messer zu, „Prüfung bestanden, neuer Mann. Aber die Art, auf die du es getan hast, gefällt mir gar nicht.“

Einige Magier zuckten überrascht unter dem abscheulichen, bösartigen Blick des Mannes zusammen. In seinen Augen stand Hass – und mit einem Mal blickten die Krieger gar nicht mehr so weit auf die herab, deren Land sie für sich selbst beanspruchen wollten.

Es war totenstill, als die beiden Menschen die Beute schlachteten und die brauchbarsten Teile mit beneidenswertem Geschick und in beeindruckender Geschwindigkeit reisefertig machten. Niemand regte sich, als sie sich schließlich erhoben und sich abwandten – der Jäger wandte sich ihnen noch einmal zu.

„Und wagt es nicht, noch einmal in unser Land einzudringen, ich warne euch, die Götter sind auch mit uns.“, er schielte kurz zu Semliya, der den Blick mit starrer Miene erwiderte, „Er ist zwölf Jahre alt. Können eure Söhne das auch in dem Alter?“

Er deutete auf die Reste der Großkatze, die sie nicht mitnehmen würden und so noch zu ihren Füßen lagen. Als Shiran seine Stirn in Falten legte, zeigte er ein überhebliches Grinsen und schickte sich mit seinem offensichtlich wesentlich jüngeren Begleiter zum Gehen. Der hatte aber schöne Zähne...
 

„Du meine Güte. Die waren aber unheimlich.“, bemerkte Sundris Vater schließlich als erstes, als die beiden Menschen schließlich verschwunden waren und eine merkwürdige Spannung beinahe sichtbar vor der Meute abfiel. Unheimlich war gut gesagt... Shiran fragte sich, ob er seine eigenen Warnungen eigentlich selbst ernst genug genommen hatte. Alle Pläne hatten leicht geklungen, zu diesem Zeitpunkt hatte er jedoch noch nie dem gegenübergestanden, was er gewaltsam vertreiben wollte. Nicht nur Mahrran und Nadeshda waren verblendet... auf die Realität konnten nicht einmal die Worte der Götter vorbereiten. Wie sollten sie denn eine ganze Horde von solchen Kerlen verängstigen?! Das mussten sie, denn er wollte sie nicht abschlachten, was letztendlich wohl bedeutend einfacher gewesen wäre.

Er seufzte und blickte gen Himmel. Eine Lücke in den Wolken erlaubte einen kurzen Blick auf den vollen Erdmond. Er wirkte kühl...

„Was haben die gesagt?!“, wollte irgendwer von dem Seher wissen und der schloss die Augen.

„Nichts, was von Belang gewesen wäre. Ich hoffe, ihr versteht jetzt meine Mahnungen...“

Rato sah etwas ratlos an sich herab.

„Ich bin froh, dass ich zumindest halbwegs der Magie mächtig bin.“, murmelte er dumpf, „Der hätte mir ja alle Glieder brechen können.“

„Ein richtiges Monster!“

„Sind die alle so?“

Shiran sparte sich eine Antwort. Jetzt wussten sie, worauf sie sich eingelassen hatten.
 

Siwali weitete perplex die Augen. Es war tiefe Nacht und so hatte sie sich bloß ein dünnes Kleid übergeworfen, das zum Trocknen gerade über der Leine neben ihrem Bett gehangen hatte. Ihr dunkelgrünes Haar war durcheinander und sie war verschlafen – man musste die Zeit ja nutzen, wenn der schnarchende Mann nicht da war. Wenn man denn gelassen wurde.

„Was machst du denn hier?“

Ausgerechnet die? Was sollte das denn bedeuten? Sie war eine schlechte Magierin, ansonsten hätten ihre Götter es ihr sicher verraten können...

„Oh, ich wollte mit dir sprechen, von Frau zu Frau. Die Nacht eignet sich besser dazu als der Tag...“

Die Natter schenkte ihr ein grauenhaft falsches Lächeln. Sie sah unnatürlich schön aus... gerade so, als hätte sie sich extra hübsch gemacht. Für sie? Siwali trat irritiert bei Seite. Was konnte die schon wollen?

„Ja, dann...“

„Vielen Dank.“

Sie trat ein und blickte sich in dem bescheidenen, aber hübschen kleinen Haus um. Die Ekaretts waren sehr angesehen, niemand von ihnen lebte wirklich ärmlich... in einem abgetrennten Bereich schliefen die beiden kleinen Kinder.

„Sprich bitte leise.“, bat Siwali da auch gedämpft, als sie dem Blick der Natter gefolgt war. Ja, Irlak hatte von seinem Nachwuchs erzählt... er war noch sehr klein, der Junge war vier und das Mädchen zwei. Der Mann hatte stolz von ihnen gesprochen... es war seltsam gewesen, er hatte wenig mit ihr geredet, was nicht vollkommen verächtlich oder entwürdigend gewesen wäre. Ein bitteres Lächeln stahl sich in ihr Gesicht.

„Um eine Sache klar zu stellen.“, begann sie und sah der etwas kleineren Frau in die Augen, „Du hast gute Kinder da. Wirklich gute Kinder, Irlak ist sehr stolz auf sie.“

Siwali hob verblüfft beide Brauen. Da klopfte sie dieses seltsame Weib mitten in der Nacht aus dem Schlaf, um ihr Komplimente über ihre Kinder zu machen? Das war... verrückt.

„Ja... ja, da hast du recht, danke. War das alles? Ich bin müde.“

Iavenya kicherte seltsam und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Ach, sie würde noch genug schlafen können.

„Ich mag deine Kinder.“, erklärte die Frau dann weiter, „Und ich bin sicher, sie werden gut mit ihrem neuen Geschwisterchen zurechtkommen.“

Oh ja, heute würde sie alles erfahren. Es war Recht so. Siwali kratzte sich gähnend am Kopf.

„Bitte was...? Ich bin nicht schwanger, glaube ich. Wie kommst du auf so etwas?“

Sie war wirklich müde. Träumte sie nur?

Iavenya streichelte sanft über ihren flachen Bauch.

„Ach, wer spricht denn von dir? Du wirst Irlak sicher kein Kind mehr gebären. Deine Zeit ist vorbei.“

Es kribbelte warm in ihr, als ihr Gegenüber plötzlich wesentlich wacher als zuvor die Augen weitete und endlich verstand, worum es ging. Sie hätte es einfacher machen können, lautloser, schneller... aber so gefiel es ihr besser.

„Was... was hast du getan, damit mein Mann... zu dir gekommen ist?!“

Sie keuchte empört und begann vor Entsetzen zu zittern, als sie ihre Hände verkrampft zu Fäusten ballte. Das konnte nicht sein! Irlak verabscheute diese Frau! Es musste eine Lüge sein!

Aber das war es nicht.

„Nicht viel. Er liegt gern zwischen meinen Schenkeln, das Ergebnis ist seine eigene Schuld. Damit muss er leben. Er wird mich schon schätzen lernen...“

„Du kannst ihn mir nicht weg nehmen! Er ist mein Mann!“, sie keuchte entsetzt, als ihr die Komplimente über ihre Kinder wieder einfielen, „Und meine Kinder bekommst du auch nicht! Du Hexe! Hure! Verschwinde aus meinem Haus, du widerliche... argh!“

Siwali hätte nicht damit gerechnet, dass eine Frau einen solchen Schlag haben konnte, als sie benommen auf ihr Lager stolperte. Sie konnte sich nicht aufrichten, da war die Natter plötzlich über ihr und damit ihre dürren Hände an ihrem Hals.

„Sei still, Siwali, du nichtsnutziges Waschweib, ich nehme mir nur, was mir zusteht.“

In ihrem Blick stand das pure Böse, wie die verzweifelt nach Luft schnappende Frau in dem schlechten Licht erkennen konnte. Sie wehrte sich mit aller Kraft, die ihr inne war, doch aus irgendwelchen ihr unverständlichen Gründen war die wesentlich schneller verbraucht, als es für sie natürlich gewesen wäre.

„Keine Sorge... die Kinder sind bei mir gut aufgehoben.“

Und dann wurde es schwarz.
 

Iavenya richtete sich seufzend wieder auf und strich ihr hübsches, violettes Kleid behutsam glatt.

„Mama?“

Sie lächelte, als sie den abgetrennten Kinderbereich betrat, wo die Geschwister beide müde, aber wach in ihren Lagern saßen und sie irritiert musterten. Sie kannten sie kaum.

„Keine Sorge, meine Kleinen. Eure Mama ist gerade etwas krank... ich kümmere mich um euch.“
 

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Böööse Natter, haha. XD Und einer der Zwillinge (Semmi? oO) hat einen Random-Auftritt ^_^

Ankunft

Es regnete und mit einem Mal war es kalt. Dunst lag über dem in das Gebirge mündenden Ödland an jenem Morgen und nur einige langbeinige Vögel waren zu hören, wie sie in ihren seltsamen Lauten nacheinander riefen. Selbst erkennen konnte man sie nicht... sie waren bloß entfernte Silhouetten im Nebel.

Porit hatte momentan ohnehin keine Ohren für dieses elendige Kreischen. Er deutete es bloß als schlechtes Zeichen...

„Freue dich bitte einmal.“, brummte er, zu Novaya schielend, der das hübsche, aber noch unbearbeitete Fell eines Berglöwen trug, sowie sein bestes Fleisch in Ledertaschen eingepackt, die seine Tat beweisen würden, „Dein Leben ist vermutlich gerettet! Und nur ein paar Kratzer...“

Das Kind sollte gefälligst zufrieden sein... nun gut, der Mann. Das war er nun offiziell vor den Augen des Stammes... und dennoch schlurfte er bloß mit winzigen Schritten und tief gesenktem Haupt hinter dem Erwachsenen her. Es ärgerte Porit.

„Du hast mir die Katze quasi in den Speer gelockt.“, sprach Novaya die Wahrheit laut aus und der Ältere hielt inne und zischte empört. Die Götter hörten doch zu!

„Unsinn, das war Zufall!“

Er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, den Jungen völlig sich selbst zu überlassen... jetzt hatte er den Stamm sicher komplett zerstört, aber zumindest sein Gewissen gegenüber seines armen Schützlings war rein. Und alle anderen würden vielleicht seinetwegen sterben... na wunderbar, er war eindeutig zu weich.

Vielleicht war es ja auch wirklich nicht so schlimm, redete er sich nervös ein, der tödliche Wurf war letztendlich ja dann doch von Novaya gekommen. Der brummte nur unverständlich weiter.

„Was hast du denn?“

Etwas Dankbarkeit konnte man doch erwarten. Dabei lag es nicht wirklich an ihm...

Der Jüngere drehte sich um, warf dem Gebirge einen skeptischen Blick zu, ehe er sein Haupt wieder senkte. Verzweiflung schlich sich in sein Gesicht.

„Mein Bruder!“, jammerte er, „Ich weiß nicht, wo er ist! Es macht mich wahnsinnig!“

Es war eine ganz und gar grauenhafte Einsamkeit, die ihm immer wieder die Luft abzuschnüren drohte... und die Ungewissheit. Was, wenn er die Prüfung nicht bestanden hatte?!

„Ach, den siehst du schon wieder!“

Es fiel ihm schwer, Porits gut gemeinten Worten Glauben zu schenken. Er verstand das nicht... der Mann lebte schon eine ziemlich lange Weile ohne einige seiner Geschwister, ihm machte es wohl nicht viel aus... wie merkwürdig.

So machte er sich mit einem mehr als grauenhaften Gefühl in der Magengegend auf den Rückweg zum Lager... vermutlich hatte sich ihre Lage ohnehin nicht viel gebessert. Moconi war so ein fürchterlicher Tölpel.
 

Teco war ganz seiner Meinung. Er saß am frühen Morgen da und besserte einige Speere aus, weil ein seltsames Taubheitsgefühl in seinem schlechten Bein ihm den Schlaf geraubt hatte. Wenn es doch wenigstens einfach geschmerzt hätte... ein Mann wie er hätte damit leicht umgehen können. Aber ein solch gefühlloses Bein würde ihm auf Dauer nur im Weg sein. Es wurde schlimmer... Alaji hatte ihm helfen können. Alaji hatte gewusst, was sie tun musste, damit die Wunde sich kaum auf die Funktionalität des Körperteils auswirkte. Doch diese Behandlung brauchte er noch immer... und Alaji war weit weg. Er zischte leise in den verhangenen Morgen hinein. Und Kili war auch weg! Er musste dringend einen Weg finden, das Leben wieder zurück in sein Bein zu führen, ansonsten würde er sich Moconis Willen, ihm das Recht zum Jagen zu entziehen, wohl beugen müssen. Und das war bei allen Göttern das Letzte, was er nur irgendwie gebrauchen konnte...

Er war wütend auf den Häuptling. Nicht mehr wegen seines Schlags, der sein Gesicht beinahe entstellt hätte – das hatte er wieder richten können – sondern wegen seiner unglaublichen, unterschwelligen Ausdauer. Oh, er hatte sehr wohl gemerkt, wie er immer wieder bei Calyri gewesen war... wie er sie mit unverschämten Händen immer wieder berührt hatte, wenn er dachte, dass ihr rechtmäßiger Mann schlief. Das war letztendlich auch der einzige Grund, weshalb er an dieser Frau festhielt.

Er senkte den Blick bitter.

Was war Calyri schon? War sie besonders schön? Nein. Kili war besonders schön, aber nicht mehr hier. War sie besonders geschickt? Nein. Tanest war sehr geschickt, aber sie war seine eigene Mutter und somit Porits Frau. Das einzige, was ihn an sie band, war das Prinzip. Moconi sollte sie nicht bekommen, dieser Idiot... Karem war nicht der einzige, der sich über Saltecs Entscheidung über seinen Nachfolger ärgerte. Wenn der schon einen wirklich jungen Häuptling hatte haben wollen, dann wäre er doch viel perfekter gewesen als sein Cousin... er war eine Anführerpersönlichkeit. Und zumindest seinen hohen Rang unter den Jägern würde er sich nicht aberkennen lassen, indem er offen zugab, dass er ein Krüppel war... und von Calyri abließ.

Einst hatte er sie wirklich begehrt, fiel ihm ein. Es war vielleicht zwei Monde her... jetzt war das anders. Er fragte sich, wie es wohl werden würde mit ihr am Feuer. Im Moment lebte sie zwar bereits bei ihm, aber es war noch nicht besiegelt, etwas fehlte... und wenn Teco ehrlich war, hätte es auch ruhig weiter fehlen dürfen.

Er hatte sein Herz erneut verloren – nein, nicht erneut, zum ersten Mal wirklich. Und das war gar nicht gut für einen stolzen Mann wie er es war... vor allen Dingen, wenn die Frau des Begehrens als Bestie bezeichnet wurde. Am liebsten wäre er den Rest seines Lebens einfach weiter mit ihr durch das weite Land gezogen... auch wenn dieser Rest dabei vermutlich ziemlich gering gewesen wäre.

Er seufzte und zuckte zusammen, als sich hinter ihm etwas regte.

Calyri. Im Prinzip mochte er sie noch immer... doch das fiel ihm zunehmend schwerer; es bekam seinem Stolz überhaupt nicht gut, dass sie hinter seinem Rücken weiter mit Moconi liebäugelte, aber noch weniger, dass er genau wusste, dass sie ihn nicht mochte. Er mischte sich in ein Leben, das ihn an sich nichts anzugehen schien...

„Du bist ja schon wach...“, vernahm er da ihre leise, teilnahmslose Stimme und sie setzte sich neben ihn vor den Hütteneingang. Sie hatte sich noch nicht zurecht gemacht.

„Ja. Ich muss über wichtige Dinge nachdenken...“

Er hatte sich angewöhnt, alles zu tun, um in jeder Situation seriös zu wirken... dabei musste er allerdings auch lügen, mit etwas Pech auf die Kosten anderer...

Er selbst würde jedenfalls definitiv nicht erwähnen, dass er sein Bein kaum noch bewegen konnte...

Die Frau ging jedoch überhaupt nicht auf seine Worte ein. Sie blickte kurz über das noch still scheinende Lager.

„Bist du hungrig? Soll ich dir Essen machen?“

Sie sah ihn nicht an, als sie ihm lieblos diese Frage stellte. Alaji hatte ihn meistens angesehen, wenn sie ihm etwas erzählt hat... und dabei hatte sie nicht einmal seine Sprache gesprochen. Sie hatte immer liebevoll geklungen und sie hatte auch immer und immer weiter gefragt, obwohl auch ihr klar gewesen war, dass sie sich nie verstehen würden. Sie war so niedlich gewesen...

„Nein. Aber mach dir ruhig etwas, wenn du möchtest.“

Es war nicht gut mit ihnen. Weder Teco noch Calyri würden auf diesem Wege jemals glücklich werden, das war beiden klar.
 

Und nicht nur ihnen. Moconi zog sich seufzend seine Schlaffelle über die Ohren, während er merkte, dass der Morgen graute. Ein weiterer wundervoller Tag... voller Sorgen, Angst und ohne Calyri an seinem Feuer, die besten Voraussetzungen also.

„Guten Morgen!“

Alleine war er dennoch nicht. Er verdrehte die Augen, als sich Tinash über sein Gesicht beugte... zumindest vermutete er, dass er es tat, es war dunkel in der Hütte. Was, bei allen Göttern, war an diesem verdammten Morgen bitte gut? Und warum war sein Cousin zu dieser Zeit überhaupt schon so munter? Er verstand das nicht und zeigte das mit einem missbilligenden Brummen.

„Halt den Rand.“, tat er ihn unfreundlich ab und schloss die Augen wieder, weil er ohnehin nicht sonderlich viel erkennen konnte, und der andere gluckste.

„Häuptling, wie lange willst du schlafen?!“

„So lange, bis die Sonne aufgegangen ist...“ Das war ja wohl das Mindeste, was er verlangen konnte, fand er und hielt die Augen konsequent geschlossen. Der andere lachte und zupfte an seinen Fellen.

„Ich glaube, die ist gerade dabei!“

„Wenn sie dabei ist, habe ich ja noch Zeit.“, er drehte sich auf die Seite und wandte ihm so nun den nackten Rücken zu, „Vielleicht sollte ich auch einfach behaupten, die Sonne würde gleich am Himmel stehen, dann kommt sie sicher nicht und ich kann in Ruhe weiterschlafen. Das wäre gut.“

Tinash legte seinen Kopf schief über den Sarkasmus in der Stimme des Häuptlings. Oh je... ja, da war etwas gewesen. Er seufzte.

„Ach, bitte. Der Stamm braucht dich, deine schlechte Einstellung tut ihm nicht gut.“

Moconi öffnete die Augen abermals, wandte sich ihm jedoch nicht zu. Genau das war der Grund, weshalb er in letzter Zeit unerlaubter Weise öfters den Kontakt mit Calyri gesucht hatte... mit ihr konnte man reden, ohne irgendwelche altklugen Ratschläge und Tadel zu erhalten, auch wenn sie noch so gut gemeint waren. Sie nervten ihn... er wollte selbst entscheiden, denn zumindest in einem Punkt hatte er recht: Moconi war der Häuptling. Und als solcher wollte er auch agieren. Er konnte sich nicht erinnern, dass sein Vater jemals solche Dinge hatte hören müssen... war er denn so viel schlechter als er es gewesen war?

Er setzte sich auf, worauf Tinash etwas zurückschreckte.

„Das ist keine schlechte Einstellung.“, belehrte er ihn und fuhr sich durch das dicke, braune Haar, das abenteuerlich zu allen Seiten von seinem Kopf abstand, „Das ist die Realität. Du siehst doch, wie es ist... die Götter hassen mich.“

Der Jüngere weitete entsetzt die Augen, während er merkte, dass sein Gegenüber wohl nach seiner Kleidung griff und sich nun doch fertig zu machen schien.

„Wie kannst du so etwas behaupten?!“

Moconi zischte. Und das fragte er noch?

„Denke nach! Was ist geschehen, seit ich Häuptling bin? Viele unserer Männer sind tot! Meine einzige überlebende Schwester wurde entführt – nur die Götter selbst wissen, ob sie noch lebt, die elendigen! Ich habe nicht genügend auf Dheracs Dämonen acht gegeben, jetzt wird alles noch schlimmer werden! Und ich bin ein einziges Unglück auf zwei Beinen; Teco ist in dem Moment zurückgekommen, als ich um Calyris Hand anhalten wollte!“

Er steigerte sich weiter in seine Wut hinein und schimpfte auch weiter, als er gefolgt von Tinash die Hütte verließ. Draußen war noch nicht viel los, nur einige wenige Frauen schürten bereits Kochfeuer. Der Häuptling brummte bei ihrem Anblick.

„In diesen Genuss werde ich nie kommen!“, prophezeite er düster und deutete auf die Damen seines Stammes, die darauf verwirrt aufsahen, „Eher wirst du eine Frau an dein Feuer nehmen als dass ich dazu komme, zu heiraten!“

Entsprechend seinen aggressiven Worten versuchte er mit einem kleinen knöchernen Kamm, den er scheinbar mit nach draußen genommen hatte, seine wirre Haarpracht zu bändigen. Sein Cousin grinste errötend.

„Also... das glaube ich jetzt nicht.“
 

Moconis Verhältnis zu den Göttern musste wahrlich ein ganz besonderes sein. Tinash würde es an diesem Tage noch lernen.

Er seufzte, als er durch das morgendliche Lager schritt, um zu seiner eigenen Familienhütte zurück zu gelangen. Langsam erwachte das Leben... alles schien wie immer, bloß, dass ein paar bekannte Gesichter fehlten. Es fiel dem jungen Mann schwer sich vorzustellen, dass sich das alles nur wegen der Zwillinge und Mefasa ändern sollte. Diese drei... wie krank konnten Menschen sein, fragte er sich da mitunter – auch wenn er selbst krank war, das, was Calyris Brüder in ihrem Alter bereits trieben, fand er doch deutlich kränker.

Er hielt inne, als er eine Stimme vernahm, die der von Novaya und Semliya – die beiden sprachen nahezu identisch – ziemlich ähnelte. Zumindest beim ersten Hören, es stellte sich heraus, dass diese Stimme höher und kindlicher war als die der Wahnsinnigen. Und, das war wohl der deutlichste Unterschied, während die Zwillingsbrüder gute Sänger waren, traf diese Person nicht ansatzweise einen Ton in dem allem Anschein nach selbst gedichteten Lied über Blumen, Tierkinder, noch mehr Blumen und gutes Wetter. Tinash hob eine Braue, als er an einer Hütte vorbei lugte und fündig wurde.

Er räusperte sich verhalten, um die Aufmerksamkeit des kleinen Ranisin auf sich zu lenken, der längst zertrampelte Blumen pflückte und scheinbar bester Laune war.

Der Junge fuhr zusammen und starrte den Älteren an, als wäre er ein Raubtier. Immerhin hatte er so den fürchterlichen Gesang stoppen können. Der Rothaarige lächelte freundlich.

„Du bist aber guter Laune!“, stellte er fest und der Kleine entspannte sich merklich wieder. Tinash hatte nie etwas mit dem jüngeren Bruder der Zwillinge zu tun gehabt, aber nun, wo er ihn so erschrocken hatte, hätte er sich irgendwie schlecht gefühlt, wenn er nach einem einfachen Morgengruß weiter gegangen wäre.

„Äh... ja.“, gestand Ranisin da und lächelte flüchtig, den Blick auf seinen etwas hässlichen Blumenstrauß senkend. Er errötete. Das schickte sich nicht für Jungen...

„Und warum, wenn ich fragen darf?“, Tinash sah kurz über ihn hinweg und kratzte sich dann am Kopf, „Es ist bewölkt. Also so schön sieht das Wetter nicht aus.“

Der Kleine nickte uns seufzte dann, ehe er leise antwortete.

„Ja, meine Schwester Niray wird sich unwohl fühlen...“

Ach ja, da war ja etwas. Tinash fragte sich, wie man sich vor so etwas selbstverständlichem derart fürchten konnte... Kinashis Kinder waren seltsam.

„Und warum singst du dann so... schön?“

Der Junge sah grinsend zu ihm auf.

„Einige Tage sind vergangen!“, erklärte er eifrig, „Und die beiden Monster sind noch nicht zurück! Vielleicht sind sie tot!“

Er kicherte und zerdrückte in seinem Eifer die ohnehin toten Blumen noch mehr als sie es schon waren. Tinash konnte sich nicht ernsthaft über seine Einstellung empören... er kannte Ranisin nicht besonders gut, aber was er bisher mitbekommen hatte, rechtfertige definitiv seine Todeswünsche gegenüber den Zwillingen. Sie quälten ihren kleinen Bruder beinahe in den Wahnsinn... dass er überhaupt noch einen halbwegs vernünftigen Eindruck machte, war mehr als beeindruckend, überlegte sich der junge Mann und lächelte matt.

„Böse Wünsche.“, kommentierte er seine Worte dennoch, „Wünsche dir lieber, dass die beiden erwachsener geworden sind.“
 

Semliya war zumindest der Meinung, dass es so war, als er wie bereits seit einigen Tagen mit bleichem Gesicht neben Karem herging.

Eine Frage brannte ihm auf seiner Seele. Was würde sein Begleiter Moconi sagen? Wenn er herausfand, dass eine ganze Horde an Kalenao sich irgendwo in den nahen Bergen befand, würde er sicherlich ihm und Novaya die Schuld daran geben. Dabei hatte er sich doch artig als Mann bewiesen... ob seinem Zwilling das auch gelungen war? Er seufzte unwillkürlich. Gewiss. Er spürte es deutlich... sein Herz stach kurz schmerzhaft und er hielt inne, worauf der ältere Jäger es ihm wenige Schritte vor ihm gleich tat und sich ihm irritiert zuwandte, als der nun junge Mann sich keuchend an die Brust griff.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich stirnrunzelnd und Semliya schloss die ungewöhnlich hellen Augen, als mit einem Mal der Boden unter seinen Füßen zu verschwimmen begann. Der noch unbehandelte Pelz der großen Katze lastete mit einem Mal ungewöhnlich schwer auf seinen Schultern und schien ihn nach unten drücken zu wollen... Er war selbst überrascht, als ihn ein überwältigendes Gefühl des Schwäche in die Knie zwang, er sein Bewusstsein jedoch nicht gänzlich verlor, so glaubte er zumindest. Sein Schädel pochte heftig, als er an seinen Zwilling dachte... an Novaya. An Novaya, der so viel tapferer als er war... den er so grauenhaft vermisste. Er zwang sich mit aller Kraft, die er hatte, es sich vor Karem nicht anmerken zu lassen, aber am liebsten hätte er vor Sehnsucht geschrien. Er war so müde... er konnte ohne Novaya doch nicht schlafen...

„Was ist denn los? Hey! Wach auf! So weit ist es nicht mehr!“

Er blinzelte. Über ihm erkannte er das Gesicht von Karem... verschwommen. Hatte er das Bewusstsein etwa doch verloren?! Was für eine peinliche Schwäche!

Sein Begleiter schien das nicht so zu empfinden, zumindest zeigte er es ihm nicht sofort, als er ihm half, sich wieder aufzusetzen... er hatte scheinbar gelegen. Sein Herz stach noch immer etwas...

„Du isst nicht genug!“, ermahnte der Mann ihn da grummelnd, „Und ich glaube, richtig schlafen tust du auch nicht. Das ist der Dank, reiß dich endlich zusammen!“

Ja, er ermahnte ihn... und nannte Gründe. Gründe, an denen es sicher nicht allein lag. Sehnsucht machte seinen Geist krank.

Er erschauderte.

„Es ist nicht mehr weit, sagst du...“, der Jüngere erhob sich schwankend und fasste sich an den Kopf, „Dann beeilen wir uns.“

Semliya ging auf zittrigen Knien einige Schritte und Karem erhob sich ebenfalls wieder und folgte ihm brummend, als er noch einmal inne hielt und den Blick tief senkte.

„Was hast du nun vor?“, wollte Dheracs Sohn verhalten wissen und zu dessen eigener Überraschung wusste der Jäger sofort, was er meinte mit seiner unpräzisen Frage.

„Ich weiß es noch nicht. Einerseits ist es wohl meine Pflicht, Moconi zu warnen – die werden wohl sicher nicht nur der Landschaft wegen dort gesessen haben – andererseits ist mir auch klar, was euch blühen würde. Weißt du was...?“

Der Junge sah mit seinem gewohnten, unerfindlichen Blick zu ihm auf. Karem grinste matt.

„Ich überlasse es dir und deinem Bruder, ob ihr es sagen wollt. Ich möchte das nicht entscheiden... wenn ich schon nicht an mein rechtmäßiges Amt als Häuptling komme, dann will ich in diesem Bereich auch keine Verantwortung mehr tragen müssen.“
 

Es begann zu regnen.

„Ich hasse das.“

Tinash blickte seufzend zur Seite, wo seine kleine Schwester Bylema neben ihm saß und so trübe vor sich hinblickte, wie das Wetter es war. Und der komische kleine Ranisin hatte es am Morgen auch noch besungen... die Götter schienen ja nicht ernsthaft mit ihm zu sein. Wenn das so war, musste Mefasa sich immerhin keine Sorge um ihre Männer machen... sie würden sicher heil zurückkehren. Aber ihr das mitzuteilen sollte dem jungen Mann ohne Hilfe von Calyri denkbar schwer fallen und da es nicht mehr als eine vage Mutmaßung war, sparte er sich den Aufwand. Er war nicht weise oder besonders intelligent, was ihm da in den Sinn kam war kaum etwas wert.

„Ich würde gerne mit Niray spielen.“, beschwerte seine Schwester sich da weiter und für einen Moment hatte er beinahe vergessen, warum das nun nicht ging.

„Dann tu es doch. Der Regen wird euch sicher nicht auflösen...“

„Aber sie fürchtet sich vor den Wolken, die Dumme!“, empörte Bylema sich und lehnte sich schnaubend gegen einen Stützpfeiler ihrer relativ geräumigen Familienhütte, vor der sie mit dem Älteren saß. Das war wirklich nervig...

„Sei nicht so streng. Jeder hat irgendetwas mehr oder weniger seltsames an sich... sie würde es auch lieber ändern, glaube es mir...“

Er wandte sich ab, als das Mädchen ihm einen denkbar seltsamen Blick schenkte. Sie war noch klein, sie verstand nicht, was er meinte...

Sie zuckten beide merklich zusammen, als die garstige Stimme ihrer Mutter aus der Hütte heraus erklang.

„Tinash?!“

Er schob die Felltür bei Seite und lugte hinein.

„Ja?“

Tanest war offensichtlich dabei, ihren jüngste Sohn Ubane in seine neue Lederjacke, die sie für ihn gemacht hatte, zu zwängen, der darauf nur maulige Geräusche von sich gab.

„Es wird bald noch kühler werden, zeige Dankbarkeit!“, verlangte die Frau und der kleine Junge schenkte ihr einen nahezu tödlichen Blick.

Tinash grinste mitleidig. Er verstand seinen Bruder... die Kleidung, die Tanest herstellte, sah meist sehr hübsch aus, war jedoch nur sehr schwer dauerhaft zu tragen, besonders, wenn sie aus reinem Leder bestand, denn das bekam sie nicht einmal im Ansatz geschmeidig. Es war eine Qual, sich darin zu bewegen.

„Was ist denn, Mutter?“, machte er noch einmal auf sich aufmerksam, während sie an dem Kind zog und zerrte und Ubane sich nur wenig behilflich zeigte.

„Erkundige dich einmal bei deinem Freund Moconi, ob ich mir Mefasa leihen darf.“

Ihr älterer Sohn blinzelte verblüfft. Moment, leihen?

„Inwiefern?“

„Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, diese dumme Jacke fertig zu bekommen. Ich habe noch viel zu tun und... ehrlich gesagt keine Lust, schau dir meine armen Hände an!“

Sie präsentierte ihre in der Tat sehr geschundenen und mit von harter Arbeit zeugenden Blasen übersäten Hände, während das Kind vor ihr erleichtert über die Auszeit leise seufzte. Es würde gleich weitergehen, er kannte sie ja...

„Aber sie ist doch keine Sklavin!“

Tanest ließ ihre Hände wieder sinken. Sie sah ihrem zweitältesten Kind ernst in die Augen.

„Moconi hat sicher kein Problem damit. Tu mir den Gefallen, Tinash. Oder hast du Lust auf Frauenarbeit?“
 

Irgendwo hatte Tinash dann auch seinen Stolz. Er schnaubte, als er durch den Nieselregen schritt, zwischen den dunklen Hütten mit den etwas betrübt dreinschauenden Menschen hindurch. Er verstand ihre Sorgen... das war alles schlecht. Nur wenige waren an diesem Tag außerhalb... es war ein ungewohnter Anblick.

In seine Gedanken versunken bemerkte er die schmale kleine Person nicht, die sich ihm von hinten näherte. Erst als sie mit leiser, beinahe unbekannter Stimme seinen Namen nannte, fuhr er überrascht herum – um darauf noch perplexer die Augen zu weiten.

„Lauy?!“, fragte er irritiert zurück und das kleine Mädchen nickte scheu.

Lauy war eine Tochter von Karem und seiner mehr als seltsamen Frau Ardoma, genau genommen war sie deren ältestes weibliches Kind. Da ihre komplette Familie anders war, war es nicht verwunderlich, dass dies auch für sie galt... obwohl sie schon zierliche Rundungen einer Frau aufwies (und die würden wenn sie nach ihrer Mutter kam nicht viel weiter ausreifen), war ihr Geist der eines Kleinkindes, das gerade erst laufen gelernt hatte. Sie konnte nichts, nicht einmal anständig sprechen... hatte der junge Mann gedacht. Er hatte nie etwas mit dem Mädchen zu tun gehabt, es wunderte ihn sehr, dass es überhaupt seinen Namen kannte.

Nun schenkte es ihm einen Blick aus den treuen braunen Augen, ehe es heftig erschauderte. Lauy musste schon länger im Regen umherirren... seit einer Weile war der Niederschlag nun bereits gering, doch sie war nass bis auf die Knochen. Ihr rötliches Haar klebte an ihrem Körper und auf ihren nackten Armen hatte sich eine verräterische Gänsehaut ausgebreitet.

Niemand kümmerte sich um sie... er musste sie zurückbringen!

Er vergaß seinen Entschluss, als sie ihm nächsten Augenblick zu reden begann – deutlich, nicht ansatzweise zu vergleichen mit dem sinnlosen Gebrabbel, das sie sonst von sich gab.

„Ich suchte dich... Tinash.“

Sie senkte den Blick errötend und er öffnete verblüfft den Mund. Moment – was wurde hier gespielt?!

„Mich?!“

Er hatte es nicht vermeiden können, beinahe empört zu klingen. Lauy war darauf schüchtern zusammen gezuckt. Einen Moment lang vermutete er, irgendjemand hätte sie dazu angestiftet, doch niemand war zu sehen. Die Menschen versteckten sich in ihren Hütten an diesem trüben Tag.

„Ja... so heißt du doch... Tinash?“, sie sah wieder auf, „Teco heißt dein Bruder. Ich weiß, dass du Tinash bist. Glaube ich.“

Ihre Finger gruben sich in das triefnasse Fell, aus dem ihr simples Kleid bestand. Ihr Gegenüber lachte verwirrt.

„Das stimmt schon, ich bin Tinash, da hast du recht... ja. Was ist denn los?“

Sie schenkte ihm einen befremdlichen Blick, den er nicht ansatzweise zuordnen konnte.

„Tu mir einen Gefallen, bitte!“, sie griff nach seinen Händen, „Heirate mich!“
 

Im Nebel tanzten die Geister. Semliya fragte sich, ob es wirklich Geister waren, die er sah, während er durch die Trübe stapfte und sich allein auf Karem verließ, denn der Junge allein hätte den Weg zum Lager wohl niemals wieder gefunden, zumindest nicht im Moment. Er fühlte sich grauenhaft schwach... was war nur mit ihm los? Bei Gelegenheit musste er sich an seine Mutter wenden.

„Wir sind nicht allein.“

Er sah zu dem älteren Jäger auf. Obwohl er nur wenige Schritte von ihm entfernt war, erkannte er ihn nur verschwommen... es war wohl der Nebel.

„Also... sehe nicht nur ich die Geister.“

Karem drehte ihm irritiert den Kopf zu, hielt jedoch nur kurz inne. Wäre Dheracs Sohn ihm nicht vollkommen egal gewesen, dann hätte er spätestens jetzt begonnen, sich Sorgen zu machen. Er ging nicht weiter darauf ein.

„Nun ja, Geister... ich sehe zwei Silhouetten... zwei Menschen. Hoffe ich zumindest...“

Zwar dachte er nicht in erster Linie an Tiere, von denen sich bei dieser Witterung einige nicht ganz ungefährliche durchaus auf der Jagd befinden konnten, doch auch andere Wesen konnten hier ihr Unwesen treiben, wie er sehr gut wusste. Und er dachte auch nicht an Geister... er packte einen seiner Speere fester.

Entsprechend überrascht war er, als er merkte, als Semliya plötzlich überrascht aufsah und sein etwas trüber Blick plötzlich wieder so klar und scharf war wie er es von ihm gewohnt war.

„Nimm den Speer herunter!“, forderte er befehlsgewohnt und beschleunigte seinen Schritt, zielsicher auf das, was sie gesichtet hatten, zusteuernd.

„Bitte?!“, empörte der Mann sich noch, hatte aber keine andere Wahl, als dem Jüngeren zu folgen. Er verstand bald darauf sein Motiv, nicht jedoch seinen unnatürlichen Instinkt.
 

Novaya fuhr keuchend herum, worauf Porit sich zunächst erschreckte, dann jedoch verstand und erleichtert seufzte. Dann konnte er diese unnötige Pause nun endlich bald beenden...

Es hatte beinahe etwas niedliches an sich, stellte der Mann fest, als sein Schützling seinem Zwilling wortlos entgegen rannte und sich schweigend in seine Arme stürzte, ungewillt, ihn jemals wieder loszulassen. Karem tauchte irritiert irgendwo hinter Semliya auf und schenkte den Brüdern einen verwirrten Blick, wie Saltecs Bruder mit viel Mühe erkennen konnte, dann kam er auf seinen Jagdkameraden zu.

„Erfolgreich, wie ich sehe.“, war seine Begrüßung, dabei deutete er mit dem Kopf auf die Jungen. Ja... mehr oder weniger. Er konnte es ja nicht wissen, so nickte Porit einfach.

„Warum seid ihr erst hier?“, fragte der andere da weiter und Novayas Begleiter seufzte verlegen. Oh Himmel, er hatte ja so etwas von kein Durchsetzungsvermögen.

„Er ging nicht mehr weiter. Er wollte auf seinen Bruder warten. Da war nichts zu machen.“

Wirklich überzeugend klang das nicht. Karem schüttelte nur den Kopf, dann drehte er sich zu den Zwillingen um und pfiff durch die Zähne.

„Seid ihr bald fertig? Dann gehen wir weiter.“

Doch die beiden dachten nicht daran, ihre Umarmung zu lösen.
 

Tinash bemerkte überhaupt nicht, dass es wieder zu regnen begonnen hatte. Die kühlen Tropfen rannen seinen Körper hinab, über sein Gesicht und seine nackten Arme und blieben auf dem Fell seiner Kleidung förmlich kleben, was sie nach und nach unweigerlich sehr schwer machen würde. Es war ihm egal.

Was genau war ihm entgangen? Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft an der Beantwortung dieser Frage, während er das Mädchen vor sich aus riesigen Augen anstarrte. Er kannte Lauy nicht! Oder doch? Was wusste er von ihr? Sie war zurückgeblieben... zumindest hatte es so geschienen. Und ihre Eltern gingen alles andere als gut mit ihr um. Schön... das war es.

Konnte sie ihn da kennen? Wohl kaum. Seine Brauen senkten sich, als er seine Hände grob zurückzog.

„Wie kannst du es wagen, mir eine solch unverschämte Frage zu stellen, Tochter von Karem?!“, wollte er wissen und sie schnappte nach Luft. Eine Frau hatte gar nicht das Recht, einen Mann nach Heirat zu fragen. Und ein Mädchen schon zwei Mal nicht!

„Weil du mich selbst bestimmt nicht gefragt hättest!“, entgegnete Lauy da und warf den Älteren mit ihrer Direktheit wieder aus dem Konzept. Gut erkannt. Weshalb hätte er auch sollen?!

„Und wie kommst du dann darauf, dass ich mir ausgerechnet dich als meine Frau wünsche? Im übrigen bist du noch ein Mädchen.“

Sie schüttelte den Kopf, worauf ihr nasses Haar in wirren Strähnen um ihren Kopf flog.

„Nein! Nein, ich habe schon vier Mal als Frau geblutet! Vater kam noch nicht dazu, mit dem Häuptling zu sprechen! Aber er wird es tun, wenn du ihn nach mir fragst!“

Na gut, wenn sie das sagte, er kannte sich damit sicherlich nicht aus. Tinash schnaubte. Und warum ausgerechnet er?

„Ich habe kein Interesse an dir oder irgendeinem anderen Mädchen und das werde ich auch nie haben! Egal, wie du darauf gekommen bist, vergiss es!“

Er wollte sich abwenden und Karems verrückte Tochter einfach im kalten Regen stehen lassen, da ergriff sie ihn abermals an der Hand und hielt ihn zurück. Beinahe hätte er sie dafür geschlagen, doch sein gutmütiges Wesen erlaubte es ihm nicht, so zischte er nur bösartig.

„Vergiss es, sagte ich!“

„Nun hör mir doch zuerst einmal zu!“, forderte sie darauf lauter als zuvor und in einer Hütte neben ihnen regte sich kurz etwas, erscheinen tat jedoch niemand.

Tinash brummte missbilligend, als Lauy errötend den Blick senkte.

„Ich finde dich nett! Ich habe dich immer angesehen! Du musst mich nicht als Frau mögen, meine Kinder wären sicher ohnehin dumm! Ich dachte, du hilfst mir vielleicht!“

Er hob beide Brauen. Helfen? Na das wohl eher. Er seufzte und das Mädchen sah verlegen zu ihm auf. Irgendwie hatte er das dämliche Gefühl, dass sie sich grundsätzlich weniger intelligent machte, als sie eigentlich war...

„Ich fürchte mich vor meiner Mutter! Ich will nicht bei ihr sein... deshalb will ich ein Kind bleiben.“

Natürlich, als Kind musste sie nicht viel tun, als junge Frau musste sie jedoch von Ardoma lernen.

„Deshalb mag mich niemand. Kein Mann mag mich. Nur einer.“

Wenn sie nun seinen Namen nannte, würde das verblendete Ding sich aber wirklich eine fangen, schwor er sich.

„Das ist der Bruder meiner Mutter. Das ist Randary. Aber ist hasse ihn mehr als meine Mutter! Lauy gehört nicht an Randarys Feuer!“

Sie schluchzte und wandte ihren Blick wieder ab. Und deshalb wollte sie sich nun lieber dem nächstbesten anderen in die Arme werfen? Na, das war ja eine tolle Lösung. Wobei er sie verstand... Randary war ein seltsamer Mann, nicht größer als Sanan, aber im Gegensatz zu ihm genau so stämmig und stark wie die anderen Stammesmitglieder. Er ähnelte seiner Schwester sehr... und irgendwie war er auch genau so unheimlich. Wenn Tinash um Lauy bat, würde er sie auf jeden Fall bekommen, denn Verwandte bekamen Mädchen immer nur, wenn niemand anderes da war, der Interesse hatte, Lauys Gedanken diesbezüglich waren überhaupt nicht dumm.

Und dennoch...

„So Leid es mir für dich tut, ich lasse mich nicht dafür benutzen, damit musst du schon alleine klar kommen.“

Und er ließ sie stehen.
 

Am Abend war das Wetter wieder besser geworden. Man wunderte sich, dass erwartete Stürme bisher ausgeblieben waren, das war untypisch für die Jahreszeit, kam im Prinzip aber gerade recht. Schlechte Zeiten kamen gewohnheitsmäßig immer wieder von selbst, die Menschen würden sie niemals missen müssen, bis an das Ende der Zeit nicht.

Der Himmel leuchtete schwach rot, als Karem, Porit und die Zwillinge das Lager erreichten. Einige Wolken zogen friedlich über sie hinweg und leuchteten abstrus, während das unendlich weite Land in ein nahezu unheimliches Licht getaucht war. Es war unheimlich ruhig... Einige Guanako grasten friedlich in einiger Entfernung... und am Horizont brannten die Kochfeuer des anderen Stammes, den man nicht kannte.

Die eigenen Leute verrichteten nun Arbeiten, die eigentlich früher am Tag erledigt wurden, vermutlich hatten das schlechte Wetter und die durch die momentane Situation fehlende Motivation sie früher davon abgehalten... Karem zischte leise. Bei Saltec hätte es eine solche Faulheit nicht gegeben. Er war zwar fröhlich und gutmütig gewesen, aber er hatte auch durchaus durchzugreifen gewusst. Oh ja, bessere Zeiten, viel bessere Zeiten... er würde Moconi sicher nicht von der Horde an Magiern erzählen, die sie entdeckt hatten. Was die wohl nun taten...?

Im Lager war das Erstaunen riesig. Niemand hatte damit gerechnet, dass beide Brüder die für sie an sich viel zu schwierige Prüfung auch nur überleben würden, am wenigsten sie selbst. Aber es war so gewesen und nun traten sie mit einem gewissen Maß an Stolz durch die Meute, ehe sie wie zufällig auf Calyri trafen, die sie mit leuchtenden Augen empfing.

„Ihr seid wohlauf! Und ihr habt es geschafft!“

Sie musterte bewundernd kurz die guten, noch unbearbeiteten Felle, die beide trugen. Das von Novaya hatte eine schöne goldbraune Färbung, Semliyas war etwas heller mit schwarzer Musterung. Oh, was man daraus schöne Dinge schaffen konnte! Kili hätte bei dem Anblick vor Freude geschrien...

„Wir tragen Verantwortung.“, erwiderte Novaya darauf knapp, zuckte dabei jedoch kurz mit einem Mundwinkel nach oben, als wolle er ihr ein winziges Lächeln schenken, welches sie auch freudig wahrnahm.

„Wo ist unsere Frau?“, wollte Semliya da wissen und seine Schwester senkte seufzend den Blick. Noch ehe sie zur Erklärung ansetzen konnte, erschien Moconi zwischen den Hütten, der inzwischen wohl von irgendwem gerufen worden war. Sein Blick war seltsam, weder erfreut, noch ärgerlich, als er ihnen gegenüber trat und sie beide kurz musterte.

Wie seltsam... das waren doch Jungen! Jungen, die das konnten, was von einem Mann verlangt wurde... und dem musste er den nötigen Respekt zollen. Er nickte beiden zu.

„Gut gemacht. Ich bin ehrlich gesagt ziemlich überrascht... ihr habt es geschafft. Wie ihr seht ist hier im Lager auch alles beim Alten... ich werde den Rat einberufen. Dann werden wir sehen, wie es mit euch weiter geht... ich glaube, eure Chancen stehen gut.“

Wenn die Zwillinge erleichtert waren, so sah man es ihnen nicht an. Sie wandten sich respektlos wie eh und je nach einem kurzen Nicken von dem Häuptling ab und wieder Calyri zu, die interessiert zwischen ihren Brüdern und Moconi her gesehen hatte.

„Was ist mit unserer Frau?“

Sie kam abermals nicht dazu, zu antworten, denn im nächsten Augenblick ließ ein freudiges Kreischen die Menschen zusammen zucken.

Kinashi eilte zu ihren Söhnen, ihre kleine weiße Tochter in den Armen.

„Ihr seid wieder da! Ihr seid wieder da, nun seid ihr Männer, ich bin so stolz!“

Sie küsste beide auf die Stirn und lächelte verzerrt über ihre bereits erreichte Körpergröße. Ja, sie waren tatsächlich bereits Männer... schon länger als Mefasa schwanger war.

Sie seufzte.

„Ich bin so stolz auf euch.“

Die jungen Männer lächelten.
 


 

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Verdämmt, ich musste es umbenennen, es hieß genau so wie Kapitel 16... oô'

Zusammentreffen

„Sie wissen es genau... sie erwarten uns.“

Shiran blickte zu seinen Männern hinab, die sich in von Erdmagiern geschaffenen Erdkuhlen versteckt hielten. Das Lager war nicht weit entfernt... und mit ihm auch nicht die furchteinflößenden, breitschultrigen Jäger. Gegen deren Speere waren ihre Waffen Dreck. Und dennoch waren sie ihnen überlegen... sie waren mehr. Und sie beherrschten die Magie... die Götter standen auf ihrer Seite. An diesem Tage würden sie sich das nehmen, was ihnen rechtmäßig zustand.

Irlak schenkte seinem scheinbaren Anführer ein falsches Grinsen, worauf dieser zwar kurz mit den Brauen zuckte, jedoch nicht weiter reagierte. Oh ja, von wegen vertreiben, Mitleid zeigen... sie würden das sein dürfen, was diese primitiven Missgeburten in ihnen sahen: Bestien. Und er freute sich so sehr auf das Blut, dass es in seinem ganzen Körper kribbelte und heiß wurde... verdammt, warum hatte er keine Frau dabei? Er dachte unweigerlich zuerst an Iavenya, verdrängte diesen Gedanken beschämt jedoch rasch wieder. Nun war keine Zeit für solche Dinge...

„Ihr kennt den Plan...“, sprach Shiran scheinbar sinnlos weiter, „Jeder weiß, wem er zu folgen hat. Und was zu tun ist.“

Aber so etwas von. Der würde sich noch wundern, und wie...

Kurz blickte der Mann mit dem violetten Haar noch einmal prüfend zu dem Lager, dann brüllte er:

„LOS!“

Und sie folgten ihm... sie kamen aus allen erdenklichen Richtungen, was die Nähe der menschlichen Behausungen zum Gebirge zu dieser Jahreszeit ungemein begünstigte.
 

Sie wollten niemanden warnen – darin lag bereits der erste Verrat, der den Seher stutzen ließ, als er mit einer Gruppe dem Angriff folgte. Es war auch nicht nötig, denn in jenem Moment stürmten die Jäger der Menschen bereits hinter ihren Hütten hervor, bemalt, geschmückt und ihrerseits wild brüllend. Shiran erkannte sie... er hatte sie alle gesehen in seinen Träumen. Und Moconi trug tatsächlich seinen Federschmuck, wie erfreulich, dass er zumindest damit recht behalten hatte...

Er erschreckte sich über erste Verluste in den vorderen Gruppen, weil die flinken Menschen ihre Speere geworfen hatten, ehe die Magier hatten zaubern können.

„Was soll das?!“, schrie der Mann über die Menge hinweg, „Das war so nicht geplant!“

Und er merkte, dass er nicht als Schlachtführer geboren war. Eine Gänsehaut überkam ihn, als auch sein Gefolge endlich zum Angriff ansetzte... als die Menschen von Wassermassen davon gespült wurden, während ihre Brüder wenige Fuß entfernt bei lebendigem Leibe verbrannten, andere vom Wind zerrissen und von Erdbrocken erschlagen wurden... und die, die es nicht wurden, rächten sich, indem sie die Angreifer aufspießten, als seien es Beutetiere.

Ja, so war es geplant gewesen. Es waren wohl nur wenige Augenblicke vergangen, bis der karge Boden zerklüftet und blutgetränkt gewesen war... und dennoch erschien es dem Seher beinahe unspektakulär, mit welcher Selbstverständlichkeit diese beiden Völker sich gegenseitig abschlachteten, als sei es ein normales Ritual. Es war eine Schande... und diese Schande wäre ihm beinahe zum Verhängnis geworden.

„Ich sagte, ihr sollt es nicht wagen!“, schrie der Mann namens Karem ihm plötzlich voller Abscheu in seiner Sprache ins Gesicht, ihm einen gewaltigen Speer an die Kehle haltend. In seinen Augen stand blanker Hass... eine Platzwunde am Kopf machte ihn blutüberströmt. Sein beeindruckender Anblick hatte sich nicht verändert... Shiran unterbrach sich selbst, als ein brennender Spieß nur knapp surrend an seinem Kopf vorbei sauste und auf dem noch nassen Boden neben ihm zerbrach und erlosch.

„Wir mussten es. Es war unsere Aufgabe.“, erwiderte er darauf ruhig, ohne sich zu rühren. Er wollte nicht unbedingt sofort einen Kopf kürzer gemacht werden...

„Und meine Aufgabe ist es jetzt, dich dafür zu zerfetzen!“, brüllte der Größere zurück und sein Gegenüber seufzte, scheinbar unbeeindruckt. Dann hob es eine Hand.

„Tut mir Leid, aber das glaube ich nicht.“

Im nächsten Moment wurde der Mann einige Meter rückwärts geschleudert. Er landete schreiend auf dem Hinterkopf und rührte sich kurzzeitig nicht, benommen von dem an sich nicht wirklich heftigen Telekineseschlag des Magiers; jedoch nicht benommen genug, um einer scharfen Windklinge im letzten Augenblick ausweichen zu können, die Shiran zielgenau auf seinen Hals angesetzt hatte. Er sprang taumelnd wieder auf die Beine, keuchte und brüllte dann vor Wut und Hass. Der Seher konnte es ihm nicht verübeln... aber er durfte auch keine Gnade kennen.

Erst recht nicht, als sein Feind sich grölend und in unnatürlicher Geschwindigkeit abermals auf ihn stürzte, den mächtigen Speer voran, wobei er ihn tatsächlich beinahe aufgespießt hätte. Und fast schon lustig erschien sein Aufschrei voller Zorn, als Shiran sich mit Teleport wieder hinter seinen Rücken flüchtete und ihn gerade ein weiteres Mal auf seine Art zerfetzen wollte, als der andere Mann dann auf weniger amüsante Art zu ihm herum fuhr und ihn an seinen erhobenen Armen packte.

„Na, was tust du jetzt, Zauberer?“

Karem entblößte sein unverschämt gut gewachsenen, fast weißes Gebiss in einem breiten, bösartigen Grinsen. Gar nicht so dumm... auf diese Weise war es tatsächlich schwer, Magie anzuwenden, zumindest sie zu lenken. Er versuchte kurz, sich zu befreien, machte sich damit aber eher lächerlich, als dass es viel brachte. Für Teleport brauchte er Konzentration... Der Jäger lachte schallend und übertönte damit kurzzeitig sogar das Schreien und Grölen der anderen um sie herum, ebenso das Donnern der Zauber.

Menschen waren körperlich viel stärker als Kalenao. Der Seher verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen und zischte. Aber in seinem Volke war er weder klein, noch schwach! Obwohl sein Feind das annahm... und das war sein Fehler. Er rechnete nicht damit, dass der, den er nun besiegt glaubte, sich mit einem Mal abenteuerlich verrenkte und ihm mit aller Kraft, die ihm inne war, in den Bauch trat. Er krümmte sich Blut spuckend, ließ den Seher los und taumelte ein Stück rückwärts, ehe er stolperte und zu Boden ging. Durch den erneuten Aufprall auf dem Hinterkopf verlor er sein Bewusstsein.
 

An sich hatte er, wie viele seiner Brüder auch, Kajira befreien sollen. Aber Irlak achtete nicht mehr darauf... er hatte seine Zuneigung zu dem Jüngeren vergessen. Dabei war er der Einzige gewesen, von dem er mit Sicherheit gewusst hatte, dass er nicht nur sein Halbbruder war...

Sein Blutdurst war zu gewaltig, als dass er ihn hätte ignorieren können. Er kämpfte in erster Reihe... und es fiel ihm so leicht! Keiner dieser Primitivlinge schaffte es, sich ihm zu nähern, wenn er es denn nicht wünschte... wenn er ihnen nicht unbedingt die Kehle zerreißen wollte, was er nun aber auch schon bei einer Hand voll Männern getan hatte.

Seine Augen visierten das Lager mit den einfachen Hütten an... da waren sie. Da waren die Frauen und die Kinder... Kinder... frisches Fleisch. Er leckte sich irre kichernd über die Lippen, während er eine ganze Horde an Jägern mit einer einzigen Handbewegung von sich schleuderte – so schlecht war er mit der Wassermagie nicht. Ja, er würde sich die Kinder nehmen, damit auch keine dieser Parasiten jemals nachkommen und das Land möglicherweise wieder für sich beanspruchen konnte, genau... aber vielleicht musste er ja auch überhaupt nicht so weit gehen? Vielleicht gab es schon einen kleinen Vorgeschmack für ihn...

Er blieb regungslos auf dem Schlachtfeld stehen, während alles um ihn herum weiter ging. Sein Augenmerk lag auf einem bekannten Gesicht... das war der Kerl, der die große Katze erlegt hatte! Zwölf Jahre war der alt... und kämpfte schon wie die Großen. Er zischte empört, als er erkannte, wie dieser Junge einen von seinen Brüdern verletzte. Oh ja, Rache.

Ohne die anderen zu beachten stapfte Irlak in seinem Rausch ohne weiteres durch die zertrampelte, matschige Wiese, ignorierte Feuerbälle, Erdbrocken und Speere, die dicht an ihm vorbei geschleudert wurden völlig. Er wollte Blut, das war alles... und wenn es ihn das Leben kostete.
 

Der Katzentöter bemerkte ihn zu spät. Er stand da und starrte mit weit aufgerissenen, blauen Augen auf den Magier herab, der gerade verletzt zu seinen Füßen zusammengebrochen war. Verkrampft klammerten sich seine vergleichsweise noch kleinen Hände an den Speer... er zögerte, ihn zu töten. Sein Körper zitterte angesichts der für ihn wohl vollkommen abstrusen Situation und er schrie gellend auf, als ein Wasserschwall ihn plötzlich ohne Vorwarnung von den Beinen warf. Als er aufsah, blickte er in Irlaks Gesicht.

Der hob kurz eine Braue. Der Kleine erkannte ihn nicht... und seine Tätowierung hatte die Gesichtshälfte gewechselt. Irritierend... aber bedeutungslos. Der Mann grinste dreckig und lachte schließlich schallend auf, als der Jüngere panisch nach seinem Speer griff, den er ebenfalls hatte fallen lassen, ihn aber dank seiner Nervosität nicht richtig zu fassen bekam und er letztendlich nur noch weiter wegrollte, so dass er außerhalb seiner Reichweite war. Als er es bemerkte, schrie er dem Magier in seiner Sprache irgendetwas grell entgegen und versuchte, sich aufzusetzen, wurde von einem weiteren Wasserschlag jedoch wieder zu Boden zurückgeworfen und war vor Schreck letztendlich zu überhaupt keinem Ton mehr fähig. Als Irlak sich über ihn beugte und seine unnatürlich spitzen Zähne fletschte, war er sich sicher, dass der Tod bald nach ihm greifen würde.
 

Auf einen dumpfen Schlag auf den Kopf verschwamm vor den Augen des Blauhaarigen kurz die Welt. Als sie sich kurz darauf wieder klarte und er sich aufrichtete, um zu sehen, wer es gewagt hatte, ihn zu stören, stand er einem anderen schwarzhaarigen Mann gegenüber, nicht größer als er, aber auch ein Mensch. Die Spitze war scheinbar von seinem Speer abgebrochen, er hatte ihm den Schaft übergezogen... wundervoll.

„Halt du mich nicht ab, du Witzfigur!“

Er musterte ihn kurz und bemerkte, dass der Kerl auf Shirans Beschreibung passte... ach, war doch egal, er gehorchte wenn überhaupt Mahrran. Und seinem Stolz. Und seinem gewaltigen Blutdurst...

Der Störenfried hob kurz irritiert die Brauen, als Irlak sich jedoch wieder dem verzweifelten Jungen am Boden zuwenden wollte, nahm er abermals aus und schlug ihm den hölzernen Schaft mit aller Macht gegen den Rücken, worauf der Magier schmerzerfüllt aufschrie und sich kurz krümmte. Diese Zeit nutzte sein Opfer um sich zu erheben und panisch die Flucht zu ergreifen. Sein Retter wollte es ihm im nächsten Moment auch schon gleich tun, da setzte der Verletzte ihm fauchend hinterher und packte ihn gewaltsam an den Schultern, selbst noch taumelnd.

„Dafür wirst du bluten, du dreckige Made!“

Er hatte ihm sein Frischfleisch verdorben... dafür würde er ihn zerfleischen, aufs Grausamste. Oh ja... er würde aus seinen Eingeweiden Spielzeug für seine Kinder herstellen, genau!

Der Mensch wand sich verblüfft aus seinem Griff, war aber zu perplex, um die Flucht auf der Stelle zu ergreifen, als sein Gegenüber zwischen seinen Händen einen bedrohlichen Wasserwirbel entstehen ließ.

Der Anblick faszinierte, wie auch lähmte sein Opfer. Es riss seine Augen erschreckt weit auf, war jedoch nicht in der Lage, sich zu rühren, als Irlak den tödlichen Zauber für seine Möglichkeiten perfektionierte und auf ihn schleudern wollte.
 

Shiran fuhr zusammen. Ohne einen Grund zu wissen, versetzte er einem Mann, der ihn wie viele andere zuvor auch hatte aufspießen wollen, einfach achtlos einen Telekineseschlag, der ihn einige Fuß weit zurückschleuderte. Der Seher fuhr herum, während sich in ihm etwas verkrampfte.

Irlak wandte einen Zauber an. Gegen Sanan – das durfte nicht wahr sein. Er schwankte kurz, als Bilder, die die Götter ihm aus irgendwelchen Gründen einfach vorenthalten hatten, flackernd vor seinem inneren Auge aufblitzten. Mahrran hatte ihn hintergangen... die Erkenntnis schnürte ihm kurzzeitig die Luft zum Atmen ab. Sein Plan... sein schöner Plan... seine Götter hatten ihn verraten! Er hatte sich rächen wollen, er hatte alles besser machen wollen, er... er hatte einfach nur die Gerechtigkeit gewollt! Bis zu diesem Augenblick war er der Meinung gewesen, beide Zwillinge in der Hand zu haben... er war sich sicher gewesen! Und nun musste er mit ansehen, wie der wahnsinnige Irlak einen monströsen Zauber auf den vor Angst gelähmten Sanan schleudern wollte, während einige andere derweil versuchten, in das Lager einzudringen, um die Frauen und Kinder zu zerfetzen. Und wo Moconi, der Häuptling, war, wusste er auch nicht...

Er schnappte heftig nach Luft. Wieder diese Ungerechtigkeit, dieser Betrug...

Irlak schleuderte seinen Wasserwirbel auf seinen weit unterlegenen Feind. Shiran schrie.

„Sanan stirbt nicht!“

Und mit einem Schlag war alles vorbei.
 

Es war kalt. All seine Glieder waren kalt und unbeweglich. Er war unendlich müde... er war so müde, dass es ihn beinahe umbrachte, so hatte er das Gefühl. Selbst das Denken war anstrengend. Oder das Interpretieren der Geräusche, die er um sich herum wahrnahm. Waren das... Stimmen? Oder nur der Wind? Seine Götter? Er wusste es nicht. Es verging eine halbe Ewigkeit, so kam es ihm vor, bis sich sein Verstand etwas klarte. Ja... Stimmen. Menschliche Stimmen. Die Götter flüsterten bloß leise...

Er schaffte es, seine Augen zu öffnen. Seine Lider waren so schwer, dass er nicht glauben konnte, dass sie nicht aus Stein bestanden, aber so dumm war er dann auch wieder nicht. Was er sah, war der Himmel.

Es war relativ düster, vermutlich ging die Sonne gerade unter... viele graue Regenwolken hingen tief und grollend über der Welt und vermittelten eine unheilvolle Stimmung. Eine passende Stimmung, wenn er an das Letzte dachte, woran er sich erinnern konnte... oh Himmel, was war geschehen?!

„Ist er wach?“

„Zumindest seine Augen sind offen...“

Schlagartig bewusst, wo er sich befand, wurde Shiran, als Moconi sich über ihn beugte. Er trug noch immer seinen Federschmuck, der dringend repariert werden musste, und musterte ihn mit zu schmalen Schlitzen verengten dunklen Augen. Der Seher befand sich im Lager der Menschen... irgendwo auf dem Boden, wo man ihn beinahe achtlos hingelegt hatte. Beinahe, sie hatten ihm seine Hände mit Sehnenschnüren gefesselt...

„Verstehst du mich, Bestie?!“, erkundigte sich Moconi derweil grantig und eine andere, bekannte Stimme mischte sich ein.

„Der versteht uns. Mit dem habe ich schon öfters gesprochen...“

„Ja...“, bestätigte der Magier da leise, kaum wahrnehmbar, ohne sich ansonsten weiter zu rühren. Er war so unglaublich erschöpft, nie in seinem Leben hatte er sich so ausgelaugt gefühlt.

Die angespannten Gesichtszüge des Häuptlings entspannten sich etwas. Er sah nur sein Gesicht, alle anderen standen zu weit von ihm entfernt.

„Was genau ist da geschehen? Was hast du da gemacht?! Und wie habt ihr es überhaupt wagen können, ihr Monster?! Hatte nicht irgendeine Herrin von euch vor, irgendeinen komischen Zauber über uns kommen zu lassen... oder so?“

Shiran schloss die Augen kurzzeitig wieder. Er brauchte erst einen Moment, bis er sich im Klaren über die Fragen war... und noch einen, bis er wusste, was er antworten sollte.

„Ich weiß selbst nicht genau, was geschehen ist. Ich... habe einen Fehler gemacht. Dieser Angriff... er war ein großer Fehler.“

Er sparte es sich, sich nach Sanan zu erkundigen, denn in diesem Augenblick wurden seine Götter wieder deutlicher und berichteten ihm, dass er den jungen Mann (und viele weitere Menschen) gerettet hatte. Aber wie?

Moconi hob skeptisch die Brauen.

„Du hast geschrien, lauter als die Schlacht es gewesen ist, zumindest mir kam es so vor. Dann hast du die Hände gehoben... und dann wurde es hell. Und alles war vorbei, deine Männer waren weg, zumindest alle, die noch gelebt haben. Nur du nicht. Also haben wir dich eingesammelt, als du zusammengebrochen bist... ich dachte, vielleicht kannst du uns ja nützlich sein. Kannst du das? Ich rate es dir.“

Konnte er das? Oh Himmel. Wie sollte er so schnell über die Worte dieses vorschnellen Kerls nachdenken können, er wollte am liebsten einfach nur schlafen. Langsam...

Hell, hatte es gesagt, dann waren alle weg gewesen. Der Mann weitete die Augen kurz.

„Teleport?!“

Er keuchte. Dann ergab das alles einen Sinn! … zumindest halbwegs. Er hatte es niemals auch nur im Ansatz für machbar gehalten, dass es möglich war, eine solche Menge an Personen zeitgleich zu teleportieren – schon gar nicht außer Sichtweite, was er scheinbar geschafft hatte. Die Götter waren wahrlich an seiner Seite gewesen, als Wut und Hass ihn überwältigt hatten... kein Wunder, dass sämtliche Kraftreserven verbraucht waren. Verwunderlich, dass er überhaupt noch am Leben war...

„Wirst du wohl antworten?“

Jemand trat ihm in die Seite. Instinktiv wusste er, dass es Karem war, auch ohne ihn zu sehen. Immerhin schien er sich unverzüglich zu erholen...

Mahrran hatte ihn hintergangen. Was würde geschehen, wenn er nun wieder zurückkehrte? Man würde ihn lynchen. Nein, er hatte es verspielt. Dabei war das Ganze mit Nadeshda und ihrem Kind von ihm so wunderbar geplant gewesen... so vieles war geplant gewesen. Der Hass begann erneut in seinem Inneren zu brodeln und gab ihm weitere Kraft zum Sprechen.

„Ich kann euch nützen. Ich werde es auch. Ich...“

Seine Stimme versagte ihm, er brauchte Schlaf und das dringend.

„Aber lasst mich zuerst ruhen...“
 

Unglauben und Verwirrung lag über der Armee der Magier, als sie erschöpft und ausgelaugt wieder in Richtung Dorf trottete. Niemand wusste so genau, was passiert war, dass sie sich plötzlich wieder am Pass befunden hatten, aber nach kurzer Überlegung hatte man es für besser befunden, den Heimweg anzutreten, als noch einmal zurückzukehren... das war sicherlich nicht bedeutungslos gewesen. Und Shiran war auch weg...

„Ich glaube, der ist daran Schuld.“, brummte Irlak leise vor sich hin, während er Rato, der offensichtlich irgendein Problem mit seinem rechten Fuß hatte, stützte. Es war so ärgerlich... er hatte sich gerade dafür rächen wollen, dass dieser menschliche Idiot ihm seine Beute streitig gemacht hatte, da war es plötzlich hell geworden und im nächsten Augenblick waren sie wieder allesamt im Gebirge gewesen.

„Das war doch Teleport, ich bin doch nicht dumm.“

Rato hob seine Brauen. Ja, an sich hatte er recht, aber...

„Meinst du, dazu ist Shiran in der Lage? Und warum bitte?!“

„Weil er gemerkt hat, dass wir ihn hintergehen, vielleicht?“

Die beiden blickten neben sich, wo Sundris Vater mit gesenktem Haupt aufgetaucht war. Er war erschöpft, jedoch nicht weiter verletzt, im Gegensatz zu vielen anderen, die an diesem Tage tatsächlich den Tod gefunden hatten. Diese Menschen waren alles andere als dämliche Tiere... sie vermochten es, zu kämpfen und sich auch erfolgreich zu wehren. Sie waren gefährlich... Irlak hasste sie. Umso stolzer war er noch immer auf seinen Schal... oh ja, er trug ihn mit recht.

„Mir ist das alles unbegreiflich.“, seufzte Rato da und überblickte missmutig die angeschlagene Gruppe, „Warum arbeiten die Zwillinge und Shiran gegeneinander? Arbeiten die beiden Tankanas eigentlich überhaupt noch zusammen? Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht mehr, auf wen oder was ich da hören soll...“

Im Prinzip ging es Irlak nicht besser. Aber an sich hörte er ohnehin bloß auf sich selbst, auf seinen eigenen, angenehmen Blutdurst, und da war es ihm letztendlich relativ egal, wer ihm was befahl, er würde sich ohnehin einfach das für ihn Angenehmste aussuchen. Vielleicht war es schlecht, aber er war neuerdings irgendwie süchtig nach menschlichem Blut...
 

Mahrran war tief erzürnt, als sie wenige Tage später in das Dorf zurückgekehrt waren. Der Morgen war kühl und noch immer hingen dunkle Wolken tief am Himmel, als der halbblinde Mann vor Wut schnaubend auf dem großen Platz auf und ab rannte. Rato war sich unterdessen ziemlich sicher, dass er nicht mehr mit Nadeshda zusammenarbeitete, die ihrerseits unbemerkt von der Anhöhe ihres Hauses amüsiert zusah.

„Warum habt ihr das zugelassen?! Shiran ist nicht der Einzige, der die Telepathie beherrscht, warum hat sich keiner dagegen gewehrt?! Warum steht dieses verdammte Lager noch, warum? Könnt ihr mir das sagen?! Habt ihr vergessen, was von dieser Mission abhängt, ihr feigen Ratten? Wie habt ihr nur so leicht aufgeben können? Ich schäme mich für euch!“

Aber in erster Linie für sich selbst. Er hatte sich so sehr darauf konzentriert, dass Shiran so lange wie möglich nichts von seinem Betrug mitbekam, denn daran hatte er den Erfolg der Mission festgemacht. Dass es an der fehlenden Ausdauer und dem offenbar nicht vorhandenen Kampfgeist seiner Männer scheitern konnte, hatte er nicht bedacht. Ein schwerer Fehler... seine Schwester würde sich köstlich amüsieren. Immerhin wagte sie es nicht, ihn öffentlich lächerlich zu machen, denn ihr Bauch wurde immer rundlicher... man sah es dank ihrer sehr zierlichen Statur für ihren Schwangerschaftszeitpunkt schon sehr deutlich. Was nun wohl aus dem Seher wurde? Mahrran brauchte ihn an sich nicht mehr, er würde ihn mit den widerlichen Missgeburten von Menschen einfach beim nächsten Mal ausradieren – irgendwie hatte er nämlich das Gefühl, dass er sich nun bei diesen befand. Er seufzte.

Man musste dem ganzen irgendetwas Positives abgewinnen. Nur was? Vielleicht Kilis gute Laune, wenn sie hörte, wie viele ihrer Stammesgenossen noch am Leben waren. Oh ja, seine Kili... er musste sie sofort wieder aus seinen Gedanken verdrängen, sonst wäre er womöglich aus Sehnsucht auf der Stelle wieder zu ihr gerannt. Er liebte sie so... es war ihm peinlich.

„Es ist zu schnell gegangen, wir hatten keine Chance, zu reagieren. Wir wissen auch nicht so genau, was da nun geschehen ist... es ergab nicht wirklich einen Sinn.“, antwortete ihm da ein Mann und er schenkte ihm einen grimmigen Blick aus dem einen funktionierenden Auge.

„Euch ist klar, dass ihr so schnell wie möglich wieder dorthin zurückkehren werdet.“, brummte er darauf nur – ändern konnte man es nun sowieso nicht mehr, „Nur dieses Mal besser vorbereitet, ihr kennt eure Feinde nun schließlich. Und niemand wagt es in nächster Zeit, den Teleport einzusetzen.“
 

Nadeshda gackerte wie ein Huhn, als ihr Bruder den Pfad zu ihrem Haus grimmig zurückgestapft kam. Er sah sie weder an, noch wollte er ihr eine Gelegenheit lassen, ihn zu verspotten.

„Na, wirst du deinen Liebsten nun vernichten?“, erkundigte er sich so sinnlos und sie kicherte weiter, ihm in das Gebäude folgend. Draußen war der Seewind wahrlich frisch und unangenehm...

„Oh, nein, ich bin froh, dass ich ihn los bin, diesen aufdringlichen Idioten!“

Sie tapste an ihm vorbei, um ihm den Weg zu versperren. Mahrran schenkte ihr einen bösen Blick.

„Hör auf.“, warnte er sie düster, „Wage es nicht.“

Vielleicht war es ein Glück, als sie im nächsten Moment von Kili unterbrochen wurden, die sich leicht lächelnd in seine Arme warf, worauf er sie sehnsüchtig an sich presste. Nadeshda rümpfte nur die Nase. Dass ihr Zwilling vollkommen behindert war, war ihr ja inzwischen bewusst, aber warum war diese Menschenfrau so unglaublich gewissenlos? Sie wusste doch, was der Mann, der sie im übrigen schon seit über einem Mond gefangen hielt, mit ihrer Familie, ihren Bekannten und ihren Freunden vorhatte! Warum hing sie dann an ihm? Die Frau konnte diese Gefühle kaum nachvollziehen. Liebe... sie war sowohl nutzlos als auch keinen Sinn ergebend, in jeglichem Sinne. Man brauchte sie nicht einmal zur Zeugung von Kindern, wie sie sehr deutlich erfahren hatte. Sie sah an sich herab, während ihr Bruder und sein Spielzeug sich innig küssten.

Ja, langsam sah man es... man sah, was Shiran, dieser widerliche Mistkerl, mit ihr getan hatte. An sich kam es ihr sehr recht, wenn er weg war und sie ihn nicht mehr sehen musste. Es war schlimm genug, Tag für Tag etwas in sich zu spüren, wofür dieser Mann letztendlich verantwortlich war. Sie sehnte sich den Zeitpunkt der Geburt so sehr herbei... dann hatte sie es endlich hinter sich. Aber das würde noch dauern.

„Wir versuchen es noch einmal.“, unterrichtete Mahrran sie da, so seriös es ihm im Moment möglich war, ehe er Kili auf die Arme hob, um sie in ihr nunmehr gemeinsames Zimmer zu tragen. Sie war schwerer geworden, stellte er zufrieden fest. Jetzt war sie viel schöner... oh ja, Entspannung, das war etwas, was er nach dem, was er heute hatte erfahren müssen, wirklich gut brauchen konnte.
 

Irlak war entsetzt. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit.

„Wo ist Siwali?!“, hörte er sich selbst entgeistert fragen, während er die hölzerne Haustür hinter sich schloss, mit den Augen weiter dem abstrusesten Anblick folgend, der sich ihm jemals geboten hatte. Da saß die Natter an dem Küchentisch seiner Familie und fütterte die Kinder mit irgendeinem Brei!

Als jene Kinder ihn bemerkten, erstrahlten sie.

„Papa!“, riefen sie ihm Chor, doch der hatte im Moment wenig Gehör für sie.

„Oh, du bist schon wieder da.“

Iavenya erhob sich fröhlich lächelnd und wischte sich die Finger an einem Tuch ab, das auf dem Tisch gelegen hatte.

„Wie schön!“

Ohne ihm zu antworten umarmte sie den Mann liebevoll und presste ihren hübschen Körper auffordernd gegen seinen, sodass er unwillkürlich leise keuchen musste. Er konnte sie einfach nicht von sich schieben, so sehr er es auch wollte... seine Arme legten sich um ihre Taille und pressten sie dichter an sich. Verdammt, das fühlte sich so gut an...

„Wo ist meine Frau?“, erkundigte er sich abermals, dieses Mal jedoch ruhiger. Sein Gegenüber lächelte bezaubernd, während die Kinder fröhlich weiter aßen, so gut es ihnen möglich war.

„Ich bin jetzt deine Frau, Irlak. Es wird gut mit uns sein.“

Er bezweifelte es nicht, gestand er sich beschämt ein, als sie sich etwas streckte und ihn sanft auf die Lippen küsste. Und dennoch...

„Wie kommst du darauf? Wo ist Siwali, Schlange?“

Sie senkte ihren Blick, sich weiter an ihn kuschelnd. Er ließ sie nicht los... oh, er schämte sich so. Wie hatte er dieses Weib immer verachtet! Aber ihr Körper und seiner, sie passten einfach perfekt zueinander, er verfluchte die Götter dafür.

„Siwali war krank.“, entgegnete die Frau da ernst, ohne ihm in die Augen zu blicken, „Sie ist kurz nach deiner Abreise morgens nicht mehr aufgewacht. Also habe ich mich um die Kinder gekümmert, wo ich doch bald selbst eines von dir gebären werde... sag, Irlak, jetzt bin ich doch deine Frau, nicht wahr?“

Beinahe flehend blickte sie in sein erbleichtes Gesicht. Siwali... seine Siwali! Wie konnte das nur sein? Als er gegangen war, hatte sie doch noch völlig gesund gewirkt! Oder nicht? Hatte er etwa nicht genügend auf sie geachtet?!

„Oh, meine arme Siwali...!“, keuchte er mit einem Mal am Boden zerstört und Iavenya musste ihn festhalten, damit er nicht das Gleichgewicht verlor. Seine gute Frau! Sie war nicht besonders hübsch gewesen, aber nie hätte er sie freiwillig hergegeben! Für nichts auf der Welt! Und nun war sie einfach weg! Jetzt musste er endgültig die Natter in sein Lager nehmen... oh nein. Wie hatte Siwali ihn so im Stich lassen können? Er spürte, wie sehr er sie vermissen würde...

„Ich bleibe bei dir.“, versprach die Frau unterdessen, durch seine wirren blauen Locken streichelnd. Die Kinder blickten besorgt auf. Das mit Mama war doch nicht so schlimm, verstand er das denn nicht?
 

Shiran fand sich umringt von missmutigen Gesichtern. Er hatte ewig geschlafen, war bloß zwischendurch erwacht, wenn ein dringendes Bedürfnis ihn geplagt hatte, und gleich darauf wieder eingeschlafen. Nun hatte er sich endlich erholt und Moconi war allem Anschein nach froh, ihn endlich aus seiner Hütte werfen zu können. Irgendjemand anderes sollte sich darum kümmern, vielleicht Karem, der kannte sich doch inzwischen sicher mit der Haltung von solchen Bestien aus.

„Nun.“, begann der Häuptling da höhnisch, „Wir freuen uns, dass es dir – endlich – wieder besser zu gehen scheint. Du sagtest, du könntest brauchbar für uns sein... hoffentlich kein Trick, damit wir dich nicht umbringen. Also?“

Der Seher bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. Er konnte das Misstrauen dieser Leute durchaus nachvollziehen... und dennoch, er war nicht ihr Feind. Er war es niemals gewesen, wenn er es genau nahm. Dieses Land war riesig, es war genügend Platz für fünf Dutzend Stämme dieser Größe. Aber Mahrran ging es um das kindische Prinzip.

„Mein Name ist Shiran Fassar.“, stellte er sich zunächst höflich vor, „Ich lebe im Moment in meinem einundzwanzigsten Jahr. Ich möchte von vornherein klar stellen, dass ihr in gewisser Weise genau so auf mich angewiesen seid, wie ich auf euch – wenn wir alle überleben wollen. Denn ich habe mein Volk verraten.“

Schweigen lag über dem großen Platz im Zentrum des Lagers. Moconi und einige der besten Jäger, die vor ihm in der Mitte standen, umringt von allen anderen, die saßen, warfen sich kurz vielsagende Blicke zu, dann räusperte sich der Häuptling. Doch mit der darauf folgenden Frage hatte Shiran nicht gerechnet...

„Wie heißt du denn jetzt? Shiran oder Fassar?“

Er weitete die Augen perplex. Und etwas anderes war ihnen im Moment nicht wichtig? Na, die waren vielleicht amüsant. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Shiran. Vergesst den Rest, ich heiße Shiran.“

Es hätte nichts gebracht, zu erklären, was der zweite Name zu bedeuten hatte, also ließ er es gleich. Vielleicht war es ein Fehler, schalten ihn die Götter im nächsten Moment, als in den Reihen eine leise Diskussion darüber entbrannte, was dieses andere Wort wohl bedeutet haben mochte. Seine Sprache fanden die Leute überdies ohnehin sehr interessant, durch seinen starken Akzent klangen einige Begriffe aus seinem Mund doch recht witzig.

Moconi seinerseits schien zufrieden. Er kam auf wichtigere Dinge zurück.

„Und wie kommst du darauf, wir seien von dir abhängig? Ich schwöre dir bei all meinen Brüdern und Schwestern, wir kämen mit Sicherheit auch ganz wunderbar ohne dich klar – nur mit dir ist es einfacher.“

Und wenn wir dich nicht mehr brauchen, töten wir dich., verrieten die Götter des Sehers ihm die Gedanken seines Gegenübers darauf und er zuckte kurz mit den Mundwinkeln. Natürlich, es wunderte ihn nicht. Davor würden sie sich hüten...

„Das waren weder alle Männer, die sie haben, noch all ihre Kräfte, die sie besitzen. Sie kamen relativ unvorbereitet, weil sie euch nicht kannten, aber sie werden zurückkehren, grausamer und blutdurstiger denn je. Und ich werde wissen, wann und wie. Und was wir dagegen tun können, denn ich weiß mehr als andere Kalenao.“

Ein Raunen ging durch die Reihen. Aus irgendwelchen Gründen wollten die Menschen ihn einfach falsch verstehen, kam dem Mann mit dem violetten Haar und er seufzte, während Karem irgendetwas von „So ein Angeber...“, vor sich hin fluchte. Die anderen schienen seiner Meinung zu sein.

„Los, Sanan, sag es ihm.“, kicherte Novaya und knuffte den Angesprochenen, der neben ihm saß, in die Seite, „Du findest die Fährten des Wildes viel besser als alle anderen!“

„Ja!“, stimmte sein Zwilling mit ein, „Sag uns, wie viel besser du deshalb bist als wir!“

Als darauf von verschiedenen Stellen Gelächter folgte, räusperte sich der junge Mann gespielt wichtig.

„Ja, natürlich! Ich bin allwissend!“

Er schielte grinsend zu dem genervt drein schauenden Magier, der zu seiner Verwunderung seinen Ausdruck kurz darauf ehrlich erwiderte.

„Nun einmal nicht übertreiben.“, spielte er mit und der Häuptling schüttelte seufzend den Kopf.

„Reißt euch mal zusammen! Eure gute Laune ist schändlich nach dem, was vor kurzem geschehen ist!“

Darauf hörten sie dann auch. Für sein geringes Alter hatte er die Horde an Primitiven eigentlich ziemlich gut im Griff, dachte sich Shiran darauf nur, sagte jedoch nichts weiter dazu.

„Nun aber ernsthaft.“, sprach Moconi da weiter, an ihn gewandt, „Warum weißt du mehr als andere deiner Art?“

Wieder lagen alle Augenpaare auf dem Mann und warteten nur darauf, einen Fehler an ihm zu finden, über den sie sich wieder lustig machen konnten. Nicht, weil sie ihn so sehr verabscheuten oder so unglaublich guter Laune gewesen wären... nein, sie brauchten einzig Ablenkung von dem Grauen, das ihnen vor kurzer Zeit widerfahren war.

„Was ich bin nennt sich Seher. Die Götter sagen mir mehr als meinen Blutsbrüdern und -schwestern. Das liegt an dem Zeitpunkt meiner Geburt, aber... das würde an dieser Stelle zu weit führen.“

„Also war das nicht nur einfach so daher gesagt?“, erkundigte Teco sich noch einmal grummelnd, den prüfenden Blick hartnäckig auf ihn legend. Shiran schielte bloß kurz mitleidig zu ihm, wie er da zwischen den unbegabteren Jägern und Jungen in Ausbildung saß. Dieser Mann war am Ende, sie hatten ihm sein bereits stark angeschlagenes Bein nun endgültig zerstört. Er hatte Verständnis für jede Boshaftigkeit seinerseits.

„Keineswegs. Ich weiß, was der Herr und die Herrin – oder um sie einmal bei ihren Namen zu nennen, Mahrran und Nadeshda – so planen. Ich weiß auch, was sie tun, zu jeder Zeit.“

„Und was tun sie jetzt?“, stellte Karem ihn zischend auf die Probe und er erwiderte seinen Blick neutral, kurz auf seine Götter lauschend, um seine Frage auch beantworten zu können.

„Nadeshda badet. Sie findet es gut, dass der Angriff aus der Sicht meines Volkes gescheitert ist... sie war es auch, die Zerit immer wieder geschickt hat. Von ihm wisst ihr wohl bereits in etwa, was sie stattdessen vorhat.“

Murmeln ging durch die Reihen. Die Machtverhältnisse mussten die Menschen irritieren, es wunderte den Mann nicht weiter. Teco riss seine Aufmerksamkeit abermals auf sich.

„Und was tut Mah... äh... wie auch immer, was macht der?“

Eine Weile schwieg Shiran auf diese Frage. Letztendlich entschied er sich dann aber doch dafür, sie zu beantworten.

„Der macht sich momentan wenig Gedanken um den nächsten Angriff, den er jedoch zweifelsohne bereits zu planen begonnen hat. Der vergnügt sich nämlich gerade... mit seiner Frau.“

Er hüstelte und irgendjemand weiter entfernt begann zu lachen. Teco wandte den Blick zischend ab.

„Und was tut meine Schwester in diesem Moment?“, erkundigte Moconi sich da leise und Shiran schlug seinen Kopf innerlich gegen den nächstbesten Felsen. Es war ja so unglaublich klar gewesen, dass er diese Frage als nächstes hatte stellen müssen! Vielleicht hätte er lügen sollen... ach, was sollte es, war ja nicht sein Problem.

„Die... vergnügt sich gerade mit ihrem Mann. Und ist sehr glücklich, gesund und vor allen Dingen wohlgenährt.“

Der Häuptling hob irritiert beide Brauen, als ein weiteres Mal verwirrtes Murmeln durch die Meute ging und allem Anschein nach viele dazu in der Lage waren, eins und eins zusammen zu zählen. Na bitte, wer behauptete denn, die Menschen waren dumm.

„Also... Mahrran und Kili... aber doch nicht freiwillig!“

Moconis Gesicht nahm den Ausdruck eines verwirrten kleinen Jungens an. Seine Schwester hätte sich doch unmöglich freiwillig auf eine widerliche Bestie, die sie auch noch gefangen hielt, eingelassen! Das konnte nicht sein! Wie konnte sie denn glücklich sein?!

„Mittlerweile schon.“, räumte der Seher nur schulterzuckend über das in seinen Augen belanglose Gespräch ein, „Mahrran versteht es, jemanden, den er wirklich mag, glücklich zu machen. Und die Götter wollten es so.“

Das konnte er nicht verstehen. Der Seher seufzte und schüttelte kurz den Kopf, während sein Gegenüber sich nur ungläubig und verwirrt an die Stirn fasste. Er sollte es einsehen, so war es nun einmal... er entschied sich, einfach das Thema zu wechseln.

„Wenn ich mir eine Frage erlauben dürfte – irgendwo würde ich gern nächtigen. Und da du, Moconi, mich nur ungern bei dir behältst, darf ich mir jemand anderes aussuchen, zu dem ich gehen darf?“

Er wusste, dass seine Frage in den Ohren aller seltsam klingen musste – einmal abgesehen davon, dass niemand eine Missgeburt wie er es für sie war bei sich in der Hütte haben wollte. Aber der Häuptling wollte ihn tatsächlich los werden, so nickte er noch immer traumatisiert von den Worten über seine geliebte Schwester Kili einfach. Karem schnaubte empört.

„Ja nicht zu mir! Eine Bestie in der Hütte ist vollkommen ausreichend!“

Nein, zu dem hatte er ohnehin nicht gewollt. Er drehte sich um und grinste verheißungsvoll.

„Sanan... bei dir ist noch genügend Platz für mich.“

„Was?!“, empörte der Angesprochene sich entsetzt und die Zwillinge neben ihm begannen ihn schallend auszulachen. So ein Pechvogel aber auch!

„Tu uns allen den Gefallen, zu sonst etwas bist du ohnehin nicht nütze.“, fauchte Teco ihn an und unter seinem wütenden Blick sank der Schwarzhaarige unglücklich in sich zusammen.

„Einverstanden, verdammt...“
 


 

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Ja, Shiran ist jetzt zu Gast bei den Menschen, haha. XD

Folgen

Ein neuer, dunstiger Morgen brach an. Erfahrene Wetterbeobachter hätten zu diesen Zeitpunkt bereits voraussagen können, dass sich der Himmel an diesem Tage noch klaren und seinen satten dunkelblauen Farbton annehmen würde, doch noch lag eine kühle Nässe über dem unendlich weiten Land.

Moconi war mit dem Rufen einiger kleiner Bodenvögel wach. Und er war sich sicher, dass er damit nicht der Einzige war... anders, als er es sich erhofft hatte, hatten seine Schlafstörungen mit dem Verschwinden der Bestie namens Shiran aus seiner Hütte nicht aufgehört. Zwar war dieser mulmige Gedanke daran, im Schlaf aufgefressen zu werden, verschwunden, jedoch nicht die Erinnerung an das, was geschehen war und die Angst vor dem, was noch geschehen würde. Es war ein einziges Elend. Wo er nur hinsah, Verluste, schwere Verluste. Einige seiner Stammesbrüder hatten tatsächlich den Tod gefunden... aber noch viele mehr waren verletzt worden. Und er wusste nicht, was aus ihnen werden würde. Kili war die beste Heilerin des Stammes gewesen, sie hatte diese Fertigkeit von ihrer Mutter und deren Mutter erlernt, doch die war nun weit weg und amüsierte sich, wenn er der Bestie Glauben schenken konnte, scheinbar köstlich. Er konnte es nicht ernsthaft glauben... wie konnte sie jemanden, der für die mutwillige Schwächung ihres eigenen Stammes und dem Raub ihrer Freiheit verantwortlich war nur mögen? Er wollte mit ihr sprechen. Und er würde es auch tun. Irgendwann. Nun jedoch hatte er ganz andere Probleme... eben die Verletzten. Die Toten würden ihren Frieden finden, sobald ihre Körper verbrannt und ihre Asche an den letzten Ort der Ruhe gebracht worden war, wo bereits viele Generationen von Ahnen ruhten. Doch was aus den Angeschlagenen wurde, wusste er nicht. Einige würden sicher sterben... und die anderen?

Er seufzte tief, während er durch das noch stille Lager schritt.

Viele waren verkrüppelt worden, wie es schien. Porit hatte man die Schulter mit einem gewaltigen Felsen zertrümmert... selbst wenn er diese Qualen, die er im Moment erlitt, überlebte, so würde er den Arm nicht mehr nutzen können. Aber es war nicht sein Speerarm, wenn der Häuptling sich nicht irrte. Es schmerzte ihn, aber er war sich bewusst, dass er die Tradition, die besagte, dass Krüppel nicht jagen durften, in nächster Zeit würde brechen müssen, wenn sein Stamm überhaupt eine Chance auf Überleben haben wollte. Es war so ermüdend... kurzzeitig hatte er den Zwillingen die Schuld daran gegeben, dann hatte er sich einen Narren geschallt... was hätten die beiden davon gehabt? Sie hatten einen Fehler gemacht, den sie so gut es ihnen möglich gewesen war wieder beglichen hatten, sie hatten getan, was sie konnten. Er würde keine unnötige Energie mehr daran verschwenden, sich weitere, sinnlose Strafen für die beiden auszudenken. Die hatten es momentan gewiss auch schwer genug.

„So schlaflos?“, er hielt inne, als er unweit neben sich eine bekannte Stimme vernahm. Sie gehörte zu Dherac, dem Vater der beiden Taugenichtse. Die Monster hatten ihm eines seiner beiden scharfen Augen beraubt, doch ansonsten war der Mann nahezu unversehrt. Nun stand er da mit verschränkten Armen zwischen den Hütten und schenkte dem Jüngeren ein müdes Lächeln, das dieser matt erwiderte.

„Ja. Du scheinbar auch.“

Der Jäger seufzte und trat näher, dann deutete er auf sein verbundenes Auge – oder das, was davon übrig war.

„Schmerz. Aber ich würde mich niemals darüber beklagen, in Anbetracht dessen, was manch andere hier im Augenblick erleiden müssen... meine Güte. Und vor kurzem waren meine Jungen noch unser größtes Problem...“

Er schüttelte den Kopf über das seiner Meinung nach nun dümmliche Handeln von vor wenigen Tagen. Oh ja, seine Familie war glimpflich davon gekommen, er dankte den Göttern dafür, doch er erschauderte vor Angst vor einem erneuten Zusammentreffen mit den Magiern. Noch einmal ein solches Glück würden sie ganz sicher nicht haben...

Moconi wandte den Blick deprimiert ab.

„Ja...“, stimmte er ihm versonnen zu, „Oh Himmel, Dherac, sag mir bitte, was ich tun soll. Auf so etwas hat weder mein Vater, noch dessen Vater mich vorbereitet, ich... ich bin verzweifelt. Denkst du, wir können diesem komischen Monster trauen?“

Beinahe scheu sah er wieder zu dem älteren Mann. Der hob darauf die sichtbare Braue. Das war eine gute Frage.

„Nein...“, entgegnete er schließlich zögernd, aber ehrlich, „Ich werde niemals einem solchen... Etwas trauen. Ich habe Angst um Sanan, war es richtig, dass wir ihn zu ihm in die Hütte gelassen haben? Er hätte doch auch im Dreck schlafen können...“

Wobei man Kajira, der anderen Bestie, auch ein Lager gegeben hatte, seinerseits in Karems Hütte. Anders als Shiran konnte dieser jedoch nicht wirklich auf sich aufmerksam machen, sprach er doch die Sprache der Menschen nicht und schien auch ansonsten nicht besonders gescheit zu sein. War er immerhin nicht mehr allein...

Moconi zuckte unschlüssig mit den Schultern.

„Du hast recht. Ich sage, wir warten erst einmal ab. Ich glaube aber, wenn wir ihn in den Dreck geschickt hätten, dann hätte er sich deutlich gewährt...“

Und wenn Sanan über Nacht etwas geschehen war, dann würde er dieser Missgeburt eigenhändig die Haut abziehen, schwor er sich.
 

Sanan war wohlauf. Er brummte missmutig in die Dunkelheit seiner Hütte hinein, während er die Außenwand davon, neben der er lag, verärgert ansah. Seinen ungeliebten Gast hatte er an das andere Ende seines Heims verfrachtet, aber da dieses nur für eine Person gedacht war, war dieses andere Ende sehr zum Leidwesen des jungen Mannes nicht so weit entfernt, wie ihm lieb gewesen wäre.

Freundlicherweise hatte er dem Magier sogar ein paar alte Felle für ein Schlaflager zur Verfügung gestellt, doch das hatte dem zu seiner Empörung nicht gereicht.

Ich bin hungrig., hatte er am vergangenen Abend gleichmütig gesagt, Ich weiß, dass du genug zu essen für drei da hast, also gib mir etwas ab.

Er hatte sich zunächst entsetzt geweigert – schließlich fiel ihm das Jagen schon schwer genug.

Erlege dir doch selbst etwas, du fauler Angeber!, hatte er mutig entgegnet und sich demonstrativ abgewandt. Zu seiner größten Empörung hatte Shiran darauf nur blöd gegrinst, war um seine Hütte herum zu der kleinen Vorratsgrube gegangen und hatte sich einfach das, was er wollte, heraus genommen. Angesichts dieser Dreistigkeit hatte der Jüngere nichts mehr zu erwidern gewusst. Aber das war noch nicht alles... jetzt reichte es ihm!

„Bestie, ich kann spüren, dass du mich anstarrst!“

In der Finsternis regte sich nichts. Dann hörte er, wie sich die Felle des anderen bewegten. Dieser klang darauf belustigt.

„Verzeih, aber wo ich mich die vergangenen Tage so wundervoll ausgeruht habe, konnte ich einfach nicht einschlafen.“

Das war nicht ernsthaft ein Grund, ihn die halbe Nacht zu beobachten, fand Sanan und zischte feindselig. Oh, den würde er schon noch vertreiben, und wenn er ihm Schlangengift in sein Essen mischen musste...

„Tut mir Leid, Sanan, aber das ist nun wirklich etwas überholt. Lasse dir etwas besseres einfallen.“

Er errötete ertappt. Dieser Kerl war wirklich gut... und hatte auch noch Ansprüche an die Art, wie er versuchen würde, ihn zu töten! Was erlaubte der sich?!

„Du bist unausstehlich!“, beschwerte er sich murrend, „Das war deine erste und letzte Nacht in dieser Hütte, verstanden?!“

Er drehte sich um und blickte in die Richtung, in der sich der andere vermutlich gerade befand. Eine Zeit lang herrschte Ruhe, dann antwortete der Ältere, ohne dass er irgendwie spöttisch klang... es war ihm völlig ernst.

„Ich bitte demütigst um Vergebung, Sanan. Glaube mir, ich bin bei dir am besten aufgehoben – ich möchte eurem Stamm so wenig Mühe wie möglich machen, wo wir doch so tief in eurer Schuld stehen. Und niemand wird so gut mit mir klar kommen wie du, vertraue mir da, auch wenn es sich für dich momentan noch seltsam anhören mag. Ich möchte weniger dreist sein von nun an... ich konnte gestern einfach nicht widerstehen. Verzeih es mir.“

Sanan war niemand, der nachtragend sein konnte, auch nicht in einem solchen Fall. Er seufzte. Nicht einmal einer Bestie konnte er lange böse sein, zumindest nicht, wenn es sie persönlich kannte. Was hätte er dazu auch sagen sollen?

„Eine Chance gebe ich dir.“, grummelte er sauer über sich selbst und Shiran war froh, dass sein Gastgeber in der Finsternis sein zufriedenes Lächeln nicht bemerkte.
 

„Ich sagte, ihr sollt mich nicht anfassen!“, Teco schlug Calyris Hand von sich, jedoch auch seine Mutter eines aggressiven Blicks bedenkend, „Haut ab! Verschwindet!“

Die Sonne hatte sich inzwischen über das Gebirge gekämpft und war nun dabei, den Morgennebel zu verschlingen, wie sie es gern mit allem kühlen Wasser tat. Der Tag versprach, schön zu werden... der Wind stand günstig zur Jagd. Einige würden dies heute auch ausnutzen – egal, was geschehen war, das Leben musste schließlich weitergehen. Und dazu brauchte man zwingend Nahrung... und Teco würde nicht mitmachen können. Teco würde da sitzen und der Zeit beim Verstreichen zusehen müssen. Er zitterte vor Wut, als Tanest schnaubte. Sie wirkte völlig übernächtigt, wachte sie doch auch den ganzen Tag an der Seite ihres schwer verletzten Mannes... und kümmerte sich dann noch um ihre Söhne. Sie war sehr aufmerksam... angesichts der schlimmen Situationen vieler anderer hatte Tinash es nicht gewagt, sich über seine gewaltigen Kopfschmerzen zu beklagen, und dennoch war sie irgendwann mit nassen, kühlenden Fellstreifen gekommen, die sie ihm behutsam auf die Stirn gelegt und ihm Ruhe verordnet hatte. Erdmagier waren wirklich ein gemeines Volk, hatte der darauf bloß dumpf gemeint, waren diese doch auch am Schicksal seines Vaters Schuld. Bei Teco waren es Windmagier gewesen.

„Aber wir müssen die Wunde doch sauber halten, sonst wirst du noch kranker...“, widersprach Calyri da leise und begann vorsichtig, die Verbände aus Tierhäuten, die sein nahezu zerfetztes Bein schützen sollten, zu lösen, damit sie und seine Mutter die schwere Wunden reinigen konnten.

Er brummte, als er den Blick errötend über seine Schwäche abwandte und die Frauen gewähren ließ. Er war klein und dürr gewesen und er hätte ihn beinahe erwischt gehabt mit seinem Speer. Beinahe, da hatte er mit seiner verfluchten Windmagie die Flugbahn der Waffe verändert. Stattdessen hatte er aus Luft Messer gemacht und diese zielsicher auf seine Schwachstelle gelenkt – sein angeschlagenes Bein, das er ohnehin schon etwas nachgeschleift hatte.

Davon konnte der junge Mann zu diesem Zeitpunkt nur noch träumen. Nie mehr würde er es anständig benutzen können, vermutlich würde er es nicht einmal mehr schaffen zu gehen.

In ihm zog sich wie so oft in den letzten Tagen etwas schmerzhaft zusammen. Nein! Das konnte es nicht gewesen sein! Wie hatten sie ihm seine Zukunft so zerstören können?!

Er zischte und seine Fast-Frau hielt erschrocken inne.

„Verzeihung! Habe ich dir weh getan?“

Es war eine schlechte Frage gewesen, Tanest hatte es noch in dem Moment, in dem die Jüngere sie ausgesprochen hatte gewusst. So hieß sie den Schlag, den ihr Sohn Calyri verpasste zwar nicht gut, zollte ihm jedoch bitteres Verständnis. Außerdem hatte er nicht so fest gemacht, wie er gekonnt hätte... dennoch hielt sich seine Verlobte geschockt die schmerzende Wange, ihn aus großen Augen anstarrend. Er wandte sich wieder ab.

„Verzeih mir...“, murmelte sie und er erwiderte nichts.

So ging das nicht. Er konnte sie nicht versorgen. Er konnte nicht einmal seinen Teil tragen, wenn sie weiterzogen. Er konnte gar nichts mehr. Er konnte nur noch zur Last fallen.

Calyri war eine gesunde, starke Frau und wenn man an ihre Mutter Kinashi dachte, so war sie sicherlich in der Lage, eine Menge ebenso gesunder, starker Kinder zu gebären. Sie war an ihn verschwendet. Es schnürte ihm beinahe die Luft zum Atmen ab.

„Geh!“, forderte er und die Frauen tauschten einen überraschten Blick aus, „Geh! Geh zu Moconi oder sonst irgendwem, such dir einen richtigen Mann, du verdienst etwas besseres als einen Krüppel! Verschwinde...“

„Aber Teco!“

Sie war empört. So lange Zeit hatte sie sich dagegen gewehrt, die Frau dieses – begehrten – Mannes zu werden und nun wollte sie nicht mehr, dass er sie abwies. Nicht, weil sie ihn liebte... nein, aus Mitleid. Wenn sie nun ging, würde er alleine bleiben, den Rest seines Lebens. Seines sicher nicht mehr langen Lebens...

Das hält er nicht aus., hatte ihr Vater gesagt, Ein Mann wie er nicht. Entweder, das wird wieder gut, oder er befreit sich.

Sie erschauderte. Sie wollte ihn trösten, doch was konnte es für ihn schon noch positives im Leben geben? Er hatte alles verloren! Wie hätte sie es da verantworten können, ihn allein zu lassen...? Dabei hatte sie sein Leben selbst noch vor kurzem beenden wollen. Sie schämte sich.

Zu ihrer Überraschung mischte Tanest sich ein.

„Hör auf ihn.“, sie schenkte ihr einen bitteren Blick, „Er wird wissen, was er will. Geh, Calyri.“
 

Sie hatte ein grauenhaft schlechtes Gewissen. Während sie durch das Lager schritt, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Der Schock schien langsam von den Menschen abzufallen, sie waren wieder draußen, arbeiteten und redeten miteinander. An sich war es ein gutes Zeichen, doch wie hätte sie sich darüber freuen können?

Das war nicht gerecht! Warum taten die Götter ihnen das an? Was hatten sie bitte getan? Und... wie hatte Moconi noch eines dieser Monster aufnehmen können? Sie hatte ein schlechtes Gefühl dabei... und sie war verwirrt.

Sie kümmerte sich seit einer Weile immer wieder um den Gefangenen namens Kajira und sie tat es gern. Bis auf sein seltsames Aussehen war ihr an ihm nie etwas besonders negativ aufgefallen – er kam aus einer anderen Kultur, doch gab er sich nicht ansatzweise aggressiv oder bösartig, so lange man es auch nicht selbst ihm gegenüber tat. Er war erfreut, wenn man sich nett mit ihm beschäftigte – zumindest vermutete sie das an seinen Reaktionen ableiten zu können, sie sprachen zu ihrem Leidwesen ja nicht die selben Sprachen. Weshalb dieser Shiran oder auch der ab und an auftauchende Zerit das konnten wunderte die junge Frau ebenso – waren die etwa bereits auf Menschen getroffen? Sie zu fragen traute sie sich nicht...

„Du bist ja überhaupt nicht bei deinem Mann.“

Sie fuhr auf und blickte in Moconis matt lächelndes Gesicht. In seiner Linken hielt er einen Speer, in der Rechten irgendein kleines, pelziges Tier, das er wohl gerade erlegt hatte. Sie konnte nicht so genau erkennen, was es war.

Calyri senkte seufzend den Blick.

„Er ist nicht mein Mann. Er hat mich weg geschickt.“

Der Häuptling hob beide Brauen, als er ihr Bedauern bemerkte. Er hatte sie weggeschickt? Teco hatte die Frau, um die er so lange hatte kämpfen müssen, einfach so aufgegeben. Das war schlecht... das war sehr schlecht.

„Ist... sein Bein so schlimm?“

Der Gedanke daran, dass er ihm die Jagd nur aus Eifersucht hatte verbieten wollen, beschämte ihn nun. Sein Cousin war ein vorbildlicher Jäger gewesen... es war ein gewaltiger Verlust. Für den kompletten Stamm. Aber am Meisten für ihn selbst.

„Sein Bein ist grauenhaft! Es verdient es gar nicht mehr, als solches bezeichnet zu werden! Diese Bestien sind ja so gemein... nur Magie könnte ihn noch heilen, fürchte ich.“, sie ahnte nicht, wie recht sie hatte. Sie schnappte schwer atmend nach Luft... ihr war nach weinen zu mute. Doch Kinashi hatte sie den Stolz einer Frau gelehrt – vor einem Mann würde sie sich niemals diese Blöße geben. Schon gar nicht vor Moconi.

Letzterer senkte sein Haupt ehrlich bedauernd. Ein paar fröhlich lärmende Kinder stürmten unpassend an ihnen vorbei und rammten den Häuptling unsanft. Er ging nicht weiter darauf ein.

„Das heißt, er wird wirklich nicht mehr...?“

Calyri antwortete nur mit einem Nicken. Einen Moment später konnte sie ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken.

Sie hatte ihn töten wollen! Nur weil er sie geliebt hatte! Und nun musste er so leiden, so sehr, dass er sie freiwillig von sich stieß... das tat ihr weh. Es tat ihr so unsagbar leid, dass es ihr mehr den Schlaf raubte als die reine Verletzung selbst.

Und sie fühlte sich schäbig und schmutzig, als sie zuließ, als Moconi sie in seine Arme schloss. So, wie ein Mann es bei seiner Frau tat.
 

„Naya? Naya zu Mama?“

„Ja, Naya zu Mama.“

Die Zwillinge waren es Leid, dass ihre Verlobte als Haussklavin bei den alten Weibern leben musste, getrennt von ihrem kleinen Sohn. Also hatten sie sich dazu entschieden, sie gemeinsam mit dem Kleinen einfach dorthin abholen zu gehen und in ihre eigene Hütte zu bringen, damit sie als Familie zusammen leben konnten. Nun war es ohnehin offiziell... sie hofften sehr, dass ihr doch sehr blutrünstiger Häuptling, wie sie gelernt hatten, nichts dagegen hatte, wenn sie die Strafe, die er verhängt hatte, einfach so aufhoben – aber was hatten sich schon für eine Wahl? Der Mann hatte momentan gewiss andere Sorgen als Mefasas Verbleiben und sie konnten es nicht verantworten, dass man ihre Frau so lange von ihrem Kind fern hielt. Es würde schon recht sein.

„Semmi au Mama?“

„Semmi auch, ja.“

Der ältere Zwilling tätschelte seinem Ziehsohn, der von seinem Bruder getragen wurde, liebevoll den Kopf. Liran war sein selten ausgesprochener Name... vermutlich hatte Rhik die ältesten Söhne Dheracs nicht sonderlich gemocht – wer tat das schon? Aber sicherlich hätte er es gutgeheißen, wenn er gesehen hätte, wie sich die Jungen um seinen einzigen Erben kümmerten. Er würde es gut haben...

Liran griff nach Semliyas Hand, als er sie wieder wegziehen wollte.

„Semmi.“, stellte der Kleine sachlich fest und die Brüder hielten inne. Angesprochener grinste.

„Gut erkannt.“

Novaya nickte.

„Ich dachte eigentlich, in deinem Alter achtet man noch nicht auf solche Feinheiten wie unsere Tätowierungen, Sohn von Rhik. Aber du weißt immer, wer von uns welcher ist. Du bist sehr aufmerksam.“

Das war gut, schließlich war Aufmerksamkeit eine Eigenschaft, die jeder Jäger brauchte und je mehr er davon besaß, desto besser. Einige waren auch nicht aufmerksam genug... Novaya hatte sich bisher noch nicht getraut, sich bei Sanan zu bedanken. Und zu entschuldigen... er war einfach weg gerannt. Welch Glück, dass ihm nichts geschehen war...

Er schreckte aus seinen Gedanken, als sein Bruder den Weg fortsetzte.
 

Mefasa strahlte. Sie hatte gerade das Kochfeuer vorbereitet, als ihre sehr jungen Männer mit ihrem Sohn bei ihr erschienen waren. Als sie sie bemerkt hatte, war sie auf der Stelle aufgesprungen und hatte sich in ihre Arme gestürzt.

Wie sie sie vermisst hatte! Wie sie sie liebte!

Sie setzte jedem einen Kuss auf die Stirn und die Zwillinge erröteten verhalten, Liran gackerte.

„Mama! Da!“

Novaya übergab ihr ihr Kind. Vermutlich hatte sie es sehr vermisst und ihre Reaktion schien seine Vermutung soweit auch zu bestätigen, als sie den kleinen Jungen liebevoll wiegte und an sich schmiegte und die inhaltslosen, aber beruhigenden Geräusche machten, die das Kind sofort ruhig stimmten, wenn es maulig war.

An sich war das im Moment aber gar nicht nötig, der Kleine strahlte nur so. Zwar war er noch sehr jung, aber zu wem er gehörte, wusste er sehr wohl. Er konnte erstaunlicherweise ja auch die Zwillinge voneinander unterscheiden...

„Nimm deine Sachen, wir gehen zurück zu deiner Hütte.“

Mefasa reagierte nicht auf Semliyas Aufforderung. Er seufzte. Natürlich... wie machten sie ihr das jetzt verständlich?

Novaya schritt einfach zielsicher zur Hütte der alten Frauen und trat ein. Wenn er ihre Sachen heraus nahm, würde ihr sicherlich klar werden, weshalb ihre beiden Verlobten zu ihr gekommen waren.
 

„... und ich glaube, er hat keine Ahnung, was er da tut.“

„Das glaube ich auch! Außerdem hat der Kerl...“

Die Frauen hielten inne, als der Junge plötzlich im Inneren ihrer Hütte erschienen war und seine blauen Augen zu schmalen Schlitzen verengte.

Da saßen sie... ihre hässlichen Körper in viel zu gute Felle gehüllt, die man ihnen geben musste, um sie zu ehren, weil sie dem Stamm irgendwann einmal viele Kinder geschenkt hatten. Und heute? Sie taten nichts mehr, obgleich viele von ihnen noch zu so einigem in der Lage waren. Nein, sie ließen sich bedienen... sie ließen sich sogar Sklaven schenken!

Verabscheuungswürdige Biester.

„Was willst du denn hier?!“, fauchte eine von ihnen unverzüglich, „Das hier ist nur für Frauen!“

„Vielleicht ist er ja da, um eine von uns glücklich zu machen?“, mutmaßte eine andere darauf und die Runde gluckste, während Novaya keine Miene verzog. Klar, so etwas wünschte er sich doch von Kindesbeinen an. So etwas wie Ansprüche hatte er ja nicht...

Er ließ sich nicht anmerken, dass er erschauderte.

„Wo sind Mefasas Sachen?“, fragte er direkt, ohne eine Gefühlsregung in seiner Stimme erkennen zu lassen. Das Glucksen verstummte.

„Weshalb sollten wir dir die geben?“, entgegnete die Älteste von ihnen nur, die auf dem besten Platz der Hütte hinter der Talglampe saß. Sie war unheimlich hässlich, fand der Junge. Und sie ahnte sehr wohl, was er vorhatte, im Gegensatz zu manch einer der verpeilten anderen.

„Bist du eigentlich Semliya oder Novaya?“, wollte eine von ihnen noch ehe er auf die vorherige Frage hatte antworten können wissen und er zischte angesichts der Tatsache, dass er und sein Zwilling doch wirklich alles, was in ihrer Macht gestanden hatte, getan hatten, damit jeder sie voneinander unterscheiden konnte.

„Ich bin natürlich Ranisin.“, brummte er so und wandte sich wieder an die Älteste, die nur irritiert eine Braue hob, „Ihre Strafe ist aufgehoben. Wir nehmen sie wieder mit.“

Darauf erntete er erbostes Schnattern von allen Seiten. Das war ihm klar, die wollten ihre brave Sklavin, die sich nie beschwerte, nicht hergeben. Das konnten sie vergessen, nicht mit seiner Frau!

Die Älteste erhob sich. Sie war erstaunlich groß, mit Novaya auf Augenhöhe. Ihr Anblick verunsicherte ihn zu seiner Schande etwas, aber er bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen. Anders als vor wenigen Tagen, als er schreiend wie ein kleines Kind weggerannt war und Sanan sich selbst überlassen hatte...

„Der Häuptling hat sie uns gegeben. Wir können sie gut gebrauchen.“

Ja, damit sie noch sinnloser herumsitzen und lästern konnten.

„Mein Bruder und ich auch.“

„Novaya oder Semliya?“

Die Runde warf der scheinbar Weltfremdesten von ihnen einen irritierten Blick zu. Der Junge schenkte ihr nur kurz Aufmerksamkeit.

„Iradu, wer denn sonst?“, er senkte die Brauen, „Sie ist unsere Frau, wir lassen sie uns nicht von euch wegnehmen.“

Die Alte verzog ihren Mund zu einem höhnischen Lächeln. Ihr erstaunlich gutes Gebiss verriet sie als Karems Mutter.

„Der Häuptling hat sie uns gegeben. Ihr habt mit dem, was ihr angerichtet habt, kein Recht, sie uns wieder wegzunehmen.“

Was sie angerichtet hatten? Sie glaubte tatsächlich daran, dass sie an dieser ganzen Misere Schuld waren! Das war nicht wahr! Nicht einmal Moconi selbst schien davon überzeugt zu sein...

„Oh, und welches Recht wir haben...“
 

Tinash war verlegen. Oh, wie hatte er sich blamiert!

Schwankend stapfte er mit tief gesenktem Haupt durch das Lager, hoffend, dass niemand bemerkte, dass sein Gesicht die selbe Farbe wie sein Haar angenommen hatte.

Es war doch grauenhaft... seine Familie hatte es so schwer getroffen! Sein Vater kämpfte noch immer um sein Leben und Teco würde auf ewig ein Krüppel bleiben, irgendwer musste jedoch auf Jagd – seine kleinen Geschwister wollten doch essen. Also hatte er sich aufgemacht, mit einer kleinen Gruppe von Männern, die ihre eigenen Nahrungsbestände heute auch hatten aufstocken wollen, um gutes Wild zu erlegen – denn in einem hatten die Kalenao mit Sicherheit recht, dieses Land war ein gutes Land, meist reich an Nahrung. Auch an diesem Tag hatten sie in nicht all zu weiter Entfernung eine Herde der kleinen flinken Huftiere entdeckt, die einige Tage lang sicheres, gutes Essen versprochen hatten. Und es war so gut gelaufen... bis Tinash mitten beim anpirschen aus heiterem Himmel sein Bewusstsein verloren hatte.

Als er wieder aufgewacht war, hatte er von allen Seiten aus wüste Beschimpfungen geerntet, weil er scheinbar ohne es kontrollieren zu können bei seinem Zusammenbruch die Aufmerksamkeit der Tiere erlangt und sie so vertrieben hatte. Selbst Moconi hatte ihn angefahren...

„Wenn du nicht gesund bist, dann geh nicht mit! Dann bist du uns nur im Weg, Tinash!“

Ja, das war wahr. Es war bitter, sich einzugestehen, dass der Häuptling in diesem Punkt recht hatte... er hatte schließlich auch seinen Stolz.

Wobei dieser für den Moment wohl etwas angebrochen war...

Er fasste sich leise seufzend an die Schläfen. Sie pochten so... irgendwie hatte er das Gefühl, dass es wesentlich schlechter um ihn stand, als man von außen zu vermuten vermochte. Konnte etwas in einem kaputt oder verletzt sein, ohne, dass man es von außen sah? Es kam ihm beinahe so vor. Außerdem starben viele ältere Menschen, ohne, dass man sah, warum sie es taten.

Oh Himmel, wenn er nun auch noch ausfiel, hatte seine Familie ein gewaltiges Problem...

Ihm schwindelte es abermals, als die Welt um ihn herum verschwamm. Er nahm nicht mehr wahr, was um ihn herum geschah – er wusste, dass er im Lager war, zumindest ein Tier konnte ihn hier nicht anfallen.

Zu seiner Erleichterung blieb er jedoch bei sich und schwankte bloß kurz bedrohlich – als er die Augen wieder öffnete, erschreckte er sich.

„Lauy!“

Wo war dieses seltsame Mädchen so plötzlich hergekommen?! Verfolgte sie ihn etwa?

Sie antwortete ihm in ihrem leisen, aber erstaunlich verständlichem Ton, ehe er sie fragen konnte.

„Nein, ich war hier in der Nähe. Ich ging dir nach, als ich dich sah.“

Er sparte es sich, sich danach zu erkundigen, warum sie das getan hatte, wo er sie doch so deutlich abgewiesen hatte. Heute sah sie erstaunlich ordentlich aus, das rötliche Haar hübsch geflochten und sogar etwas geschmückt mit Perlen und Beeren. Aber glücklich schien sie nicht.

„Nun, ich werde mich nicht weiter mit dir befassen, Mädchen, tut mir leid. Mir ist nicht ganz wohl...“

Und das war nicht einmal eine Lüge. Sie schien sich da nicht ganz sicher zu sein und legte die Stirn in Falten, während sie ihn einige stumme Momente lang mit ihrem vollkommen intelligenzfreiem Blick musterte. Sie war hübsch... der Mann seufzte. Ihm schwindelte es abermals...

„Ich kann mich um dich kümmern!“, schlug sie dann einfach vor und wurde im nächsten Moment von ein paar spielenden Kindern umgerannt, die sich gegenseitig wild johlend verfolgten. Ja, die hatten keine Probleme...

Das Mädchen landete vor ihm auf dem Boden und rührte sich zunächst nicht. Er blinzelte irritiert auf es herab.

„Äh – alles in Ordnung mit dir?“

Er hätte ihr auch aufgeholfen, er war ja kein Unmensch, wenn er nicht so schwindelig gewesen wäre, wie er es nun einmal war. So war es eher wahrscheinlich, dass er auf sie fiel und ihr zusätzlich noch etwas brach... nein, das musste nicht sein.

Sie richtete sich wankend wieder auf.

„Ja, also... ja.“

Lauy blickte sich kurz um und erschauderte.

„Ich dachte, das sei jemand anderes.“, gestand sie undurchsichtig und klopfte sich den Schmutz von der Kleidung, rückte sie wieder zurecht und stellte sich dann so adrett es ihr möglich war wieder vor ihm hin.

„Ich kann mich um dich kümmern.“, wiederholte sie dann, „Ich könnte mich immer um dich kümmern, würdest du mich endlich zur Frau nehmen. Bitte tu es doch. Ich verlange auch nichts, versprochen.“

Entgegen ihrer Bitte veränderte sich ihr Gesichtsausdruck kaum. Sie war seltsam... entweder spielte sie ihre Rolle als vollkommen zurückgebliebenes kleines Kind und benahm sich auch entsprechend oder sie sprach ernst und beinahe emotionslos. Er verstand sie nicht... selbst, wenn er Interesse an einer Frau gehabt hätte, so war sie ihm doch deutlich zu komisch und undurchsichtig.

Tinash seufzte, während er bemerkte, dass ein weiterer Schwindelanfall nun langsam an ihm vorüber zog und dann gänzlich abflaute.

„Aber warum ausgerechnet ich? Such dir doch jemand anderes. Ich bin wirklich ganz schlecht, ich kann nicht dein Mann sein, außerdem...“

Er hielt im Sprechen inne, als hinter einer Hütte ein Mann erschien. Es war kein unbekanntes Gesicht, das nicht, und dennoch überraschte es ihn. Lauy, die ihn nicht sehen konnte, weil er hinter ihr stand, versteifte sich.

„Randary.“

Randary war Lauys Onkel, Ardomas einziger Bruder. Er war klein, sicherlich nicht größer als Sanan, im Gegensatz zu diesem jedoch typisch für die meisten Männer stämmig. Sein Gesicht und sein Wesen ähnelten dem seiner Schwester extrem, doch war er noch wesentlich schweigsamer als diese. Und ihren monotonen Blick hatte seine Nichte eindeutig von ihm.

Tinash musste sich eingestehen, diesen Kerl nicht wirklich zu mögen. Er kannte ihn auch kaum, er war nicht ihm Rat der besten Jäger, in den sich der Jüngere an sich auch nur hereingemogelt hatte, wenn auch weder wirklich beabsichtigt, noch freiwillig.

Nicht anders als vermutet nickte der Ältere ihm bloß kurz zu, ehe er zu Lauy trat und sie am Handgelenk packte. Das Mädchen erbleichte, dann wehrte es sich.

„Lass mich! Das wird mein Mann! Nicht du! Lass mich bei ihm! Er ist krank, ich muss mich kümmern!“

Sie riss sich mit einem Ruck los, stolperte rückwärts und landete auf ihrem Hintern, sodass der dem Wetter der vergangenen Tage zu trotz trockene Boden aufstaubte und sie quiekte. Tinash errötete zunächst, dann erbleichte er, als er sich den tödlichen Blick des anderen Mannes fing.

Verdammt, hatte sie nicht erwähnt, dass der sie begehrte? Und sie ihn offensichtlich nicht?

Das schmeckte dem natürlich nicht, wie überraschend. Warum wurde auch immer er in so etwas mit hinein gezogen...?

Er hob beschwichtigend die Hände, während Lauy sich wieder aufrappelte und sich hinten ihn stellte, ihren Onkel eines ebenso bösartigen Blickes bedenkend, wie er ihn Tinash zukommen ließ.

„Hör zu, ich weiß nicht, wovon sie spricht! Sie scheint seit einer Weile Interesse an mir zu haben, aber ich habe sie abgewiesen!“

Randary verengte seine ohnehin sehr schmalen Augen noch weiter. Eine Weile herrschte Schweigen, nur das Johlen der unaufmerksamen Kinder, die das Mädchen zuvor umgeworfen hatten und sich noch immer in der Nähe befanden, war noch zu hören. Dann sprach der Ältere überraschend.

„Dann sorge dafür... dass das auch so bleibt.“

Er trat um ihm herum und ergriff das Mädchen grob am Oberarm, dann zerrte er es mit sich, ihr Schreien ignorierend.

Und Tinash sah beiden stumm hinterher.
 

Sanan war genervt. Abermals.

Nachdem er am Vormittag mehr zufällig auf den Häuptling gestoßen war und die Gelegenheit genutzt hatte, ihm seine Probleme mit seinem Gast doch noch zu schildern – so gutmütig er auch war, das musste er nun wirklich nicht auf sich sitzen lassen – hatte der ihm gleich die nächste unwürdige Aufgabe verpasst.

Er muss irgendetwas essen!, hatte Moconi achselzuckend gemeint, Klar, dass du ihm nichts von deinen wertvollen Vorräten abgeben möchtest. Dann muss er jagen. Wenn er das nicht kann, bring es ihm eben bei.

Als er dann mies gelaunt zu seiner Hütte zurückgekommen war, hatte er weder nach der Missgeburt suchen, noch sie fragen müssen.

Ich bin ein Fischer. Mit allem, was größer ist als ein Fisch, kenne ich mich nicht aus.

Ja, das hatte er gesagt. Was er damit nun genau gemeint hatte, verstand er zwar nicht, aber vermutlich hatte es geheißen, dass er ihm nun beibringen musste, was er zu tun hatte. Das hieß, nun durfte er einem erwachsenen Mann, der bereits über zwanzig Jahre gelebt hatte, ernsthaft beibringen, wie man Kleinwild jagte.

„Hör zu.“, brummte er, als sie unweit vom Lager entfernt auf einer großen Ebene standen. In der Ferne waren Bäume zu erkennen, die vom Sommer noch verbrannt waren und das hohe Gras war herbstlich gelb, wenn auch recht feucht. Man konnte nicht viel Kleintier erkennen...

„Irgendwo hier gibt es Hasen. Du willst einen haben.“

„Will ich?“

Shiran untersuchte den Kinderspeer, den Sanan ihm besorgt hatte, prüfend. Obwohl er ein wenig größer war als der Mensch, hatte er einen Erwachsenenspeer kaum tragen können, geschweige denn werfen; für so kleine Beute reichte die kleinere Variante an sich auch aus.

Der Jüngere zischte.

„Ja. Willst du. Mir ehrlich gesagt vollkommen gleich, ob dir das Fleisch schmeckt, du jagst jetzt einen Hasen. Und...“, einen Augenblick fragte er sich, ob er es sich wohl verkneifen sollte, ihn von den Schlangen zu warnen, entschied sich dann jedoch dagegen, „Pass auf. Hier gibt es auch giftiges Getier.“

Der Magier spielte weiter mit der Waffe herum, ohne aufzusehen. Dann versetzte er beinahe gelangweilt:

„Giftschlangen kann man auch essen, wenn man den Kopf abmacht.“

Damit konnte er durchaus recht haben. Und dennoch... Sanan fuhr sich seufzend durch sein Gesicht.

„Ja. Mag sein, keine Ahnung. Aber erstens sollte es relativ schwierig sein, eine Schlange ernsthaft zu erlegen, zumindest mit unseren Speeren, und zweitens verehrt unser Stamm dieses Tier! Wir essen doch nicht unser Totem!“

Hatte dieser komische Kerl nicht behauptet, viel zu wissen und unabdingbar zu sein, wenn der Stamm eine Chance gegen seine Blutsbrüder haben wollte? Warum bei allem, was heilig war benahm der sich dann so dermaßen idiotisch?!

„Na ja, meines ist es ja nicht.“

Sanan verzog das Gesicht. Der... verarschte ihn.

„Wir suchen dir jetzt einen Hasen!“, bestimmte er dann lauter als zuvor und sein Gegenüber, das nun endlich zu ihm aufsah, brummte kurz missmutig.

„Bei deiner Stimme wird längst keiner mehr da sein.“

Das war gar nicht so unwahr. Natürlich, mit deren riesigen Ohren waren sie vermutlich längst alle geflüchtet. Aber das war doch nicht seine Schuld...

Er rammte seinen eigenen Speer wütend vor sich in die relativ weiche Erde.

„Und das ist deine Schuld! Ich habe zu essen, ich müsste heute nicht jagen! Wenn du lieber hungern möchtest, ist das deine Sache. Aber die Schlangen werden nicht angerührt!“

Er schnaubte und erzitterte vor Wut. Egal, wie nett der sich entschuldigen konnte, er musste ihn irgendwie von hier wegschaffen! Unbedingt, das hielt er doch nicht aus!

Als der Ältere darauf auch noch zu grinsen begann und seine schiefen Zahnreihen präsentierte, musste Sanan sich zusammenreißen, seinen Speer nicht wieder aus der Erde zu ziehen und ihn einfach auf sein Gegenüber zu werfen, was es zweifelsohne verdient gehabt hätte.

„Du bist ganz herrlich, Sanan, genau deshalb habe ich zu dir gewollt.“, er deutete mit dem Kopf nach Westen, „Da sind die Viehcher. Komm, zeig mir, wie ich die erlegen kann... geht das mit Fallen nicht eigentlich besser?“
 


 

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Ich weiß nicht, was ich hier schreiben soll, Hina ist ja verschollen... oO

Entfernung

Es regnete draußen. Es war kühl und zugig geworden, alle Fensterklappen waren fest verschlossen, um das Haus so warm wie möglich zu halten. In einer Schale brannte ein Feuer.

„Das Wetter... es bedrückt unsere Sinne.“

Alaji sah von ihrer Arbeit auf. Sie bereitete Teemischungen vor... das hätte sie an sich auch zuhause machen können. Aber dort hielt sie im Moment nichts, ihre Mutter war oft fort und eine Einladung von ihrer Herrin konnte sie ohnehin nicht ablehnen.

Nadeshda hatte keinen Grund genannt, weshalb sie hatte kommen sollen, und schien auch keinerlei Probleme damit zu haben, dass sie in ihrem Zimmer einfach arbeitete. Das musste sie schließlich, um zu überleben...

„Ja... ich mag die ewige Finsternis nicht.“

Die Gastgeberin saß starr auf ihrem Schlaflager. Ihr Blick hatte sich auf den kleinen Flammen festgefahren, ebenso wie ihre Hände, die schon seit Ewigkeiten immer wieder über ihren sichtbar gerundeten Bauch streichelten. Sie wollte kein Kind... schon gar nicht von Shiran. Und dennoch konnte sie nicht anders, als sich den ganzen Tag darum zu sorgen... sie wägte in einem Fort ab, was wohl gut für das Baby war und was ihm vielleicht schaden konnte, es war zum verrückt werden. Sie konnte nicht anders, es war der Mutterinstinkt, den die Götter wohl fast jeder Frau gegeben hatten, der verhinderte, dass ihr Kind ihr egal war. Es bewegte sich in ihr...

„Ich habe nichts gegen die Finsternis, sie ist mein Element... aber hier herrscht eine seltsame, drückende Stimmung. Nicht?“

Die Heilerin zuckte zusammen, dann nickte sie hastig.

„Ja... ja, das ist wahr.“

Dann widmete sie sich wieder ihrer Arbeit. Die andere ließ ihren Blick weiter auf ihr ruhen. Schließlich seufzte sie.

„Hör auf, mich zu fürchten, Alaji.“, bat sie dann, „Wir kennen uns, seit wir Kinder sind. Du darfst eine andere Meinung haben als ich, du darfst mir auch widersprechen. Das heiße ich sogar gut. Ich würde dir niemals weh tun; ich weiß, du würdest es umgekehrt auch nicht tun. Ich vertraue dir.“

Sie erhob sich und setzte sich neben ihren verblüfften Gast auf den Boden, wo dieser seine Kräuter und sein Werkzeug ausgebreitet hatte. Sie mochte sie doch...

Seit sie sich nicht mehr so oft in der Öffentlichkeit zeigen konnte, weil es immer schwieriger wurde, ihre uneheliche Schwangerschaft zu verbergen, hatte sie sich einige Gedanken gemacht. Über ihr Leben und alle, die daran teilnahmen... sie mochte Alaji. Es fühlte sich furchtbar an, wenn sie wahrnahm, dass sie sie fürchtete.

„Ich... weiß gar nicht, was ich sagen soll! Außer vielleicht, dass es mir leid tut, ich bin nun einmal so furchtbar... schreckhaft.“

Die Heilerin senkte ihr Haupt bedauernd. Nadeshda verblüffte sie. Sie hatte recht, sie kannten sich tatsächlich bereits sehr lange... aber immer war die Kleinere für sie eine Respektsperson gewesen, die Herrin... aber scheinbar schätzte diese sie mehr als nur als Heilerin. Das war nicht nur schmeichelhaft – das war ja erfreulich. Sie lächelte, da sprach die andere weiter.

„Hast du deiner Mutter inzwischen davon erzählt?“

Ohne eine Ahnung davon zu haben, was sie eigentlich tat, begann sie die in einer sehr eigenen Ordnung verstreuten einzelnen Kräuter der Heilerin nach Augenmaß zu sortieren und nach Sorten zusammen zu legen.

Alaji legte nur den Kopf schief.

„Wovon denn?“

„Von deinem kleinen Halbmenschen.“

Sie zuckte zusammen. Ihrem kleinen Halbmenschen, ja. Die Zeit verging, irgendwann würde er geboren werden. Es war so seltsam... es war ein Kind von ihr und Teco. Ihr erstes Kind... hatte Teco denn schon welche? Sie wusste es nicht... er war noch sehr jung. In ihr begann etwas zu schmerzen. Oh Himmel. Sie vermisste ihn so grauenhaft...

„Alaji?“

Sie fuhr erschrocken auf. Tatsächlich war sie schreckhaft geworden, das Leben in der offenen Savanne machte vorsichtig.

In Nadeshdas Blick lag etwas, das an Sorge erinnerte. Es tat ihr Leid... die Heilerin senkte den Blick verlegen.

„Na ja... sie weiß, dass ich ein Kind erwarte. Aber nicht von wem. Sie ist ziemlich beleidigt, dass ich ihr nicht sage, wer der Vater ist... aber sie wäre mir sicher sehr böse, wenn sie es wüsste.“

Die Gastgeberin konnte ihre Sorge verstehen... das war gut möglich. Sie fand es beinahe seltsam, dass sie selbst ihr keineswegs böse war, wo sie selbst doch so sehr auf die Reinheit ihres Volkes bedacht war... aber im Gegensatz zu manch anderer Frau schien Alaji sich auf ihr Kind zu freuen – und der Vater war ohnehin nicht da, was machte es schon? Sie war keine begabte Magierin, die Himmelsmagie hätte dem Kleinen ohnehin nie zur Verfügung gestanden, es war also egal.

„Sag es ihr.“, riet sie ihrem Gast so nach einer Weile des Schweigens, „Sie ist deine Mutter, sie muss das doch verstehen. Und wenn sie das nicht tut... dann... rede ich einmal mit ihr. Und glaube mir, spätestens danach wird alles gut sein.“

Sie betrachtete zufrieden ihr Werk der sortierten Kräuter. Die Heilerin nickte verlegen.

„Du hast natürlich recht. Tut mir Leid, dass ich dich damit belästige.“

Nadeshda wandte den Blick bedauernd ab.
 

Das Haus war nun zwar sauber, aber dunkel.

Sundri hasste den Winter, der ihr keine Gelegenheit ließ, ihre angeeigneten Fähigkeiten einer Hausfrau in gutem Licht zu präsentieren. Wen interessierte, ob es staubig war, wenn nur eine kleine Öllampe den Wohnraum erhellte? Es war deprimierend.

Ihr war nie aufgefallen, wie wichtig ihr das Licht war... wobei sie auch als kleines Mädchen schon häufig einfach nur vor der Feuerschale gesessen, sich gewärmt und nach besseren Zeiten gesehnt hatte. Jetzt tat sie es wieder. Es war schlecht.

Der Großvater war krank. Er würde nicht mehr gesund werden, das wusste sie so gut wie ihr Mann, aber die Zeit, in der er nun leiden musste, tat weh. Sie mochte ihn doch... er war intelligent, seine Lebenserfahrung hatte sie immer fasziniert.

Sie zuckte zusammen, als Zerit sich plötzlich neben sie setzte und ihrem Blick in die Flammen folgte.

„Ich werde mich weigern, wenn sie mich jetzt wieder fortschicken möchte.“

Sie sah ihn irritiert an. Nicht, dass ihr diese Ankündigung missfallen hätte, im Gegenteil – aber das überraschte sie. Zu seiner eigenen Sicherheit war er Nadeshda bisher noch immer hörig gewesen... das kam nun etwas plötzlich.

Entweder, er erriet ihre Frage, oder seine Götter sprachen in diesem Moment sehr deutlich zu ihm, denn er antwortete ihr sofort.

„Ich muss da sein, wenn Großvater in die nächste Welt geht.“ Er senkte den Blick etwas, „Und danach. Du kannst nicht allein bleiben.“

Die junge Frau hätte ihm gern widersprochen. Seine Worte klangen so, als sei sie unselbstständig... das war sie nicht. Aber sie sagte nichts weiter dazu, denn sie ahnte, was er meinte. Er sorgte sich... auch wenn sie nicht so genau verstand, worum. Sie musste nachforschen...

Sundri zog ihre Beine an und schlang ihre Arme seufzend darum. Sie verstand ihn ja irgendwie... alles, was sie kannte, änderte sich in unbekannte Richtung. Aber Zerit war wirklich wahnsinnig nervös... er war ständig nervös und besorgt. Sie verstand nicht so genau, was in ihm vorging... noch nicht.

„Darf ich... dich etwas fragen?“

„Hm?“

Sie sank etwas in sich zusammen. Schon lange stellte sie sich diese Frage... aber sie war sich nicht sicher, ob es vielleicht unangebracht war, sie zu stellen, wo sie doch genau wusste, aus welchen Gründen er sie als Frau zu sich genommen hatte. Sie war eine Belohnung von Nadeshda für ihn gewesen. Und dennoch...

„Warum... ausgerechnet ich?“

Er antwortete nicht sofort. Eine Weile hörte man nur das leise Knacken des Feuers vor ihnen. Sie wusste nicht, wie er darauf reagiert hatte... ob er reagiert hatte. Seine Antwort war ihr wichtig... wichtiger, als er vielleicht annehmen mochte.

Sie hoffte sehr, dass er ihr einen besseren Grund als Du warst die Erste, die mir über den Weg lief nennen konnte.

„Das... ist nicht so einfach.“

Er konnte offenbar.

„Wir haben uns vorher nicht wirklich gekannt. Ich denke nicht, dass du vor zwei Monden mehr von mir gewusst hast als alle anderen hier... ich von dir auch nicht. Aber... hm.“

Sie wagte es, zu ihm zu schielen, als eine seiner Hände sich beinahe schüchtern in ihren Nacken legte und sie zu streicheln begann.

„Aber ich hätte dich gern besser gekannt. Seit ich hier bin und zum ersten Mal von dir gehört habe. Du bist so scharfsinnig... das gefiel mir. Aber jemand wie ich spricht keine Frauen an.“

Ja... er war schüchtern. Zumindest in diesem Bereich... aber seine Worte hatten sie gerührt. Er war ehrlich zu ihr gewesen... das spürte sie und es machte sie glücklich. Sie sah zu ihm auf.

„Danke... danke.“, sie lächelte, „Ich habe gehofft, dass es kein Zufall war. Ich habe dich sehr gern, weißt du? Es ist so gut mit uns. Ich versuche, ein Baby zu bekommen... ist das in Ordnung für dich?“

Sie rückte etwas näher zu ihm und schenkte ihm das Lächeln, das er heimlich so sehr mochte. Er weitete einen kurzen Moment die Augen, dann errötete er unwillkürlich ein wenig.

„Ja... das ist in Ordnung.“, kurz hielten beide inne, dann grinste er ein Grinsen, dass er nur sehr selten zeigte, „Ich helfe dir.“

Noch ehe sie verstand, wie ihr geschah, hatte er sich zu ihr gebeugt und seine Hände auf ihre schmalen Schultern gelegt, worauf er sie mit sanfter Gewalt zu Boden drückte.

„Zerit...!“

Sie weitete überrascht die Augen, als er sich über sie beugte und mit einer Hand die Feuerschale ein Stück beiseite schob, gekonnt, ohne sich zu verbrennen.

„Großvater schläft.“, seufzte er, „Ich... will das jetzt.“

Und das wollte etwas heißen, denn besonders oft hatte er nicht Lust darauf, war ihr aufgefallen. Auch nicht extrem selten... aber wenn sie an ihre Eltern dachte, dann hatte ihr Vater es doch häufiger gebraucht.

Sie lächelte errötend, als sie die Arme um seinen Nacken schlang und ihn zu sich zog. Sie ihrerseits lag gern bei ihm. Sie kannte sich auch nicht wirklich aus damit, wie die meisten Mädchen ihrer Generation war sie von dem seltsamen Mahrran zur Frau gemacht worden und das war schnell, routiniert und für sie relativ schmerzhaft geschehen. Zerit war da zärtlicher, obwohl er sich teilweise etwas ungeschickt anstellte, doch das machte ihr nichts aus.

Er küsste sie sanft auf die Lippen, sich mit einer Hand neben ihrem Kopf abstützend und mit der anderen durch ihr dichtes blondes Haar streichend. Als sie sich lösten, sahen sie sich kurz in die Augen, dann wandte der junge Mann den Blick ab und widmete sich ihrem Hals, den er sanft liebkoste, worauf sie seufzte. Dass sie es da mochte, hatte er bereits herausgefunden...

Dennoch schob sie ihn nach wenigen Augenblicken von sich und setzte sich auf; er war gezwungen, es ihr gleich zu tun.

„Wenn ich nur da liege, kann ich nichts richtiges tun!“, erklärte sie leise und begann an seinem Hemd zu nesteln. Er ließ zu, dass ihre schlanken kleinen Finger ihm das Kleidungsstück abstreiften und über seine Brust streichelten, ehe sie sich wieder zu seinem Gesicht reckte und ihn küsste.

Wenn sie unbedingt ihren Teil beitragen wollte... er hatte sicherlich nichts dagegen. Im Gegenteil, wenn sie nicht einfach nur still dalag, kam er sich dabei auch nicht so seltsam vor. Seltsam, was war daran bitte seltsam? Mit ihm stimmte ernsthaft etwas nicht...

Verärgert über sein Eingeständnis band er rasch ihr Kleid auf und streifte es von ihren schmalen Schultern, worauf es ihren hübschen Oberkörper freigab. Sundri war recht zierlich, aber nicht so sehr, dass sie damit aufgefallen wäre wie beispielsweise Nadeshda. Er ließ seine Hände langsam zu ihren Brüsten gleiten und bearbeitete sie sanft, aber energisch.

Die Mühe, die er sich mit ihr gab, rührte die junge Frau, denn es war nicht selbstverständlich, das wusste sie. Als sie sich kurz lösten, schenkte sie ihm dafür das bezauberndste Lächeln Welt und er errötete, sie hatte es beinahe schon erwartet, stärker. Zerit hatte sehr lange nur mit seinem alten Großvater zusammen gelebt, hier am Dorfrand war er wohl auch selten auf jemanden getroffen; und noch seltener auf jemanden, mit dem er auch ein Wort gewechselt hätte. Er würde sich hoffentlich daran gewöhnen...

„Sei nicht so schüchtern...“, wagte sie es, ihn leise zu ermahnen und er schnaubte kurz und wandte den Blick ab, entgegen seiner Geste jedoch weiter ihren hübschen Busen bearbeitend, worauf dieser auch eindeutig Reaktion zeigte.

„Verzeih.“, er musterte sie und zögerte zunächst, weiter zu sprechen, dann tat er es doch, „Bei so einer hübschen Frau wie dir werde ich nun einmal etwas nervös. Daran kann ich mich gar nicht gewöhnen. War vielleicht doch nicht schlecht, dass Nadeshda mich auf diese nervigen Reisen geschickt hat... ich sollte ihr dankbar sein.“

Darauf errötete sie dann auch, ihrerseits vor Rührung. Geschah ihr recht...

Als er sie darauf wieder küssen wollte, sie ihn aber abhielt, erschreckte der Mann sich dann zunächst gehörig, aber sie zeigte ihm sofort, dass sie einen guten Grund hatte, als sie sich kurz erhob und ihr Kleid komplett abstreifte.

Zerits Gesichtsfarbe wurde nicht wegen des Anblicks an sich ungesund, denn sie hatten sich bereits einige Male geliebt, er kannte ihren hübschen Körper. Er hüstelte.

„Keine Unterwäsche!“

Sie setzte sich wieder zu ihm und begann seelenruhig, seine Hose aufzubinden.

„Nein. Hielt ich heute für nicht nötig. Ich wollte das Haus doch ohnehin nicht verlassen... du trägst wie immer welche, du stehst zu deinen Prinzipien.“, sie kicherte, „Und wie du dazu... stehst.“

„Ach!“
 

Ein eisiger Ostwind wehte über das Land zwischen Meer und Gebirge. Irlak hasste die Kälte – wie viele andere wohl auch – und dennoch saß er an diesem Tage auf einem Felsen am Meer. Hier in der Nähe hatte bis vor kurzem noch der Seher gelebt...

Vielleicht hätte er sein Haus suchen und sich einfach darin einquartieren sollen. Zuhause hielt er es zu diesem Zeitpunkt nämlich kaum aus.

Siwali, seine geliebte Frau... sie war tot. Einfach so. Er kuschelte sich in seinen Schal, der mit einem Mal eine ganz andere Bedeutung bekam als die, die er bisher gehabt hatte. Er war eine Trophäe gewesen, hatte ihn als den Mann ausgezeichnet, der den ersten Menschen in der Epoche, in der die Himmelskinder herrschten, getötet hatte. Nun erinnerte er ihn mehr und mehr nur noch an Siwalis Fertigkeit im Nähen, die sie gut beherrscht hatte.

Er schloss die Augen, als der salzige Seewind ihm abermals ins Gesicht wehte. Er war sich zu seinem Beschämen nicht sicher, ob die Tränen, die ihm darauf in die Augen traten, wirklich davon stammten... verdammt, er vermisste seine Frau, er wollte sie zurück!

Kurz dachte er an den Mann, dem die einstige Fellkleidung, aus deren Resten sein Schal nun bestand, gehört hatte. Zwar war er nur ein Primitivling gewesen, doch mehr und mehr drängte sich dem Magier die Frage auf, ob im Lager der Menschen nicht vielleicht auch eine Frau gewartet hatte auf diesen komischen Kerl, den er gewissenlos ermordet hatte. Jetzt war es zu spät... und er durfte sich keine Unsicherheit anmerken lassen!

Es musste voran gehen, allein schon für seine treulosen Kinder, die ihre Mutter aus ihm unerklärlichen Gründen nicht einmal im Ansatz zu vermissen schienen. Irgendetwas stimmte mit ihnen nicht, da war Irlak sich sicher...

Die kreischenden Meeresvögel über seinem Kopf ließen ihn die leisen Schritte auf dem sandigen Boden hinter ihm überhören, demnach erschreckte er sich auch, als er angesprochen wurde.

„Was tust du hier draußen ohne Grund, zu dieser Zeit des Jahres, du törichter Mann? Reicht es dir nicht, dass du schon bald in das Land der Menschen zurück musst, wo es doch gefährlich genug für dich ist? Willst du etwa geschwächt dort ankommen? Komm zurück nach Hause!“

Er fuhr zusammen, dann drehte er sich um und blickte in ein Gesicht, dessen Bedeutung er einfach nicht zuzuordnen vermochte.

Iavenya, die Natter.

Er hatte sie gehasst, er hatte sie immer gehasst, schon als Kind hatte er das listige Mädchen verabscheut. Und nun nannte sie sich einfach so seine Frau, lebte bei ihm, kümmerte sich um Siwalis Kinder, teilte sich das Lager mit ihm und noch schlimmer – würde ihm im Laufe der nächsten Monde ein Kind gebären.

Es war sicher eine Strafe der Götter, kam ihm, weil sie die Menschen aus unerfindlichen Gründen auch als ihre Kinder schätzten, was ihm nicht früh genug klar gewesen war. Der Körper dieser Frau passte perfekt zu seinem, er hatte es niemals für möglich gehalten, jemanden so intensiv lieben zu können wie sie. Lieben... ja, auf abstruse Weise liebte er sie in diesen Momenten und dafür hasste er sich selbst.

Und er verstand sie nicht. All die Jahre hatte sie seine Abneigung ihr gegenüber hingebungsvoll erwidert, er erinnerte sich daran, sie vor etwa einem Mond noch in die Bewusstlosigkeit geschlagen zu haben, wie war sie bitte darauf gekommen, sich in ausgerechnet seine Familie eingliedern zu wollen?

Und wie genau hatte sie es so unglaublich gut geschafft?!

„Irlak? Stimmt etwas nicht?“

Oh, es stimmten in dieser verrückten Welt sicher einige Dinge nicht und das wusste sie wohl ebenso so sehr wie er, also ging er nicht weiter darauf ein.

Er seufzte und kletterte die Felsen herab, ehe er vor ihr zum Stehen kam und ihr einen kurzen, bitteren Blick schenkte.

„Ich... verstehe das nicht, Iavenya.“, gab er dann zu. Seine so dahergesagt klingenden Worte waren reichlicher überlegt, als sie annehmen mochte. Er war sich nicht sicher gewesen, ob er vielleicht doch lieber einfach hätte mitspielen sollen...

Zu seiner Überraschung ging sie sofort darauf ein, sich mehr in einen warmen Mantel aus gutem Fell kuschelnd. Sie war hübsch...

„Ich auch nicht. Nicht wirklich.“ Kurz klang ihre Stimme wieder so wie zu der Zeit, in der noch alles in Ordnung gewesen war. „Die Götter sprachen zu mir. Die Götter wollten, dass es so kam, wie es nun gekommen ist. Ich muss bei dir bleiben. Sei dir sicher, ich war zu Beginn auch nicht erfreut darüber...“

Sie senkte den Blick und kurz wehte der Wind ihr ein paar ihrer langen schwarzen Haarsträhnen in ihr schönes Gesicht, sodass es verdeckt war. Was sie sagte klang tatsächlich ehrlich und er verzog verzweifelt sein Gesicht. Warum konnte er die Zeit nicht zurückdrehen?!

„Aber warum wir? Ich verstehe das nicht! Ich verstehe nicht, was die Götter sich davon versprechen! Ich bin nur eines von so vielen Kindern in meiner Familie! Du bist eine ganz normale Frau! Wir sind bedeutungslos, warum quälen sie uns so? Und... verdammt, seit wann bist du denn so hörig?“

Beinahe hätte er eine schnippische Antwort erwartet. Sie enttäuschte ihn, als sie sich ein paar wirre Strähnen schließlich hinter die Ohren strich.

„Wir reden hier nicht von Mahrran oder Nadeshda oder gar Shiran, Irlak. Wir reden von den Göttern. Wie hätte ich mich denen bitte widersetzen sollen? Sei nicht zu pessimistisch. Ich glaube daran, dass sie nur Gutes für uns wollen... und wer weiß, wie viele Kalenao die Götter bereits auf Abwege gebracht haben... wir sind unter Garantie nichts besonderes.“

Als sich ein beinahe geisterhaftes Lächeln auf ihre leicht blau angelaufenen Lippen schlich, wandte sie sich ab und schritt wieder Richtung Ortsmitte, von wo sie auch gekommen war.

„Ich meinerseits muss nun jedenfalls zurück.“, erklärte sie mit gegen den Wind fest erhobener Stimme, ohne sich noch einmal umzusehen, „Ich kann die Kinder nicht so lange allein lassen, außerdem erlaubt mein Umstand es mir auch nicht. Komm bitte mit zurück. Ich... möchte etwas in deinen Armen gehalten werden.“

Und er wollte sie halten, verdammt. Er warf einen kurzen Blick zurück auf das Meer und fragte sich, wie es dazu hatte kommen können – zu seinen Fehlern, seiner Strafe und der seltsamen Entscheidung der Götter.
 

Mahrran überlegte sich, dass es wohl an der Zeit war, Zerit wieder zu sich zu bitten. Er wollte doch unbedingt einmal wissen, wie er sich so machte mit der Menschensprache... er sprach sie mit Kili immerzu, was leider zulasten ihrer Entwicklung in der Himmelssprache der Kalenao ging. Aber aus irgendwelchen egoistischen Gründen gefiel dem Mann der Gedanke, dass sie nur mit so wenigen Leuten sprechen konnte – sie war schließlich nur sein, es musste ihr reichen, wenn sie mit ihm sprach, genau.

Er saß an seinem kleinen hölzernen Tisch über die Karten gebeugt, die die Natter für ihn gezeichnet hatte. Es war nicht zu bestreiten, zumindest in diesem Gebiet war die Frau wirklich zu gebrauchen. Ansonsten hätte er sie vermutlich auch schon längst vogelfrei gesprochen...

Es war nicht so einfach, sich ganz allein einen guten Plan auszudenken. Und schon gar nicht einen gerechtfertigten.

Das ist nur der Teil des Landes, den man von den Bergen aus überblicken kann., hatte Iavenya ihm erklärt, als sie ihm die bemalten Lederstücke gegeben hatte, Es geht noch sehr viel weiter, viel weiter als der Horizont, schätze ich. Dort hätten dutzende Dörfer unserer Größe Platz...

Ja. Er wusste, dass all das im Prinzip nicht nötig gewesen wäre, und dennoch war es von äußerster strategischer Wichtigkeit, dass sie es taten. Hätten sie einfach so Einzug in dem Ort hinter den Bergen gehalten und neben den Menschen hergelebt, so hätten die am Ende noch gedacht, sie seien gleichwertig!

Bei diesem Gedanken stieß es ihm sauer auf, doch zu seiner Ärgernis fiel ihm trotzdem keine überragend gute Idee ein.

Ein leises Seufzen lenkte ihn ab.

Auf seinem Bett lag Kili, seine wunderschöne Frau, und hielt Mittagsschlaf. Das tat sie oft und er fand es gut, viel Erholung konnte nie schaden. Außerdem war sie schwanger...

In sein Gesicht schlich sich unmerklich ein verträumtes Lächeln bei ihrem Anblick. Wie sie da lag, so friedlich und hübsch, die Felle von sich gestrampelt... sie war auch nicht mehr so dürr wie zu Beginn, sie gefiel ihm immer besser.

Und das war an sich auch schlecht. Er verabscheute die Menschen, ihre absolute Minderwertigkeit widerte ihn an... und dann verliebte er sich so sehr in dieses Mädchen, dass er innerlich schrie, wenn er sie auch nur einen halben Tag lang nicht sah. Und er wusste nicht einmal, warum... er dachte daran zurück... als er sie mitgenommen hatte. Sie war nur seine Sklavin gewesen... aber schon vom ersten Moment an hatte er gemerkt, dass er ihr nicht ernsthaft weh tun können würde, ohne zu wissen, weshalb. Sie war doch nur ein Mensch gewesen – das erste und bislang auch einzige weibliche Exemplar, das ihm begegnet war – nichts weiter. Aber ihr Blick hatte ihn berührt... sie war so stolz gewesen, eine würdige Häuptlingsschwester. Obgleich er es mit ihrem Schmuck nicht hatte deuten können, hatte ihre Aura ihm sofort verraten, was für eine hohe Stellung sie in ihrem Stamm hatte. Und es hatte ihn fasziniert... sie war nicht minderwertig. Sie war eine Persönlichkeit und konnte etwas, sie war etwas besonderes.

Und nun zerrissen sich alle den Mund über ihn. Im Prinzip war es egal... Hauptsache, sie waren hörig. Und weil so schnell keiner sterben wollte, waren sie das größtenteils auch... sie verstanden diese verdammte Liebe einfach nicht. Er auch nicht... und dennoch, er wollte – und konnte – seine Kili nicht mehr hergeben. Mehr als das, er konnte sie auch nicht als normale Frau an seiner Seite leben lassen. Obgleich sie das niemals verlangt hatte, hatte er das Bedürfnis, sie so sehr zu verwöhnen, wie es ihm nur möglich war, was für einen Mann definitiv nicht die Regel war. Die Götter hatten wahrlich seltsame Launen...

Er erhob sich seufzend. Inzwischen kannte er sie, er musste sich um ihre Nachmittags-Nascherei kümmern, sie mochte es nicht, zu erwachen und nichts Süßes zu essen zu haben, besonders, seit sie schwanger war. Und zu dieser Jahreszeit etwas Süßes zu finden war wahrlich nicht leicht... wie gut, dass die Schicksalslenkung ihn bei so kleinen Dingen nicht all zu viel Energie kostete. Außerdem wollte er doch, dass sie etwas Speck ansetzte...

Danach musste er sich aber dringend um sein Problem mit der Planung kümmern.
 

Während er ein paar getrocknete Beeren mit dem süßen Erzeugnis der gelb-schwarzen Fliegen gesüßt hatte, war ihm eine kleine Idee bezüglich des Vorgehens bei dem nächsten Versuch eines Angriffes gekommen.

Kili selbst war die Antwort. Er würde sie anlügen müssen bezüglich seines Vorhabens, denn sie hatte noch nicht verstanden, dass diese Menschen des Lebens nicht würdig waren, doch sie war es, die ihm am besten von den Schwachstellen des Stammes berichten konnte, denn sie war in ihm aufgewachsen.

Kurz kam es sich etwas schäbig vor, sie derart ausnutzen zu wollen... dann blickte er auf die Schale mit der leckeren, süßen Speise und kam zu dem Ergebnis, das es recht so war.

Sie schien auch nichts zu ahnen, stellte er kurz darauf fest, als er sich auf ihrem nunmehr gemeinsamen Lager von hinten an sie schmiegte, während die junge Frau sich über seine an sich bekannte Aufmerksamkeit freute und genüsslich aß.

Er musste geschickt sein.

„Ich hoffe... inzwischen fühlst du dich wohl.“ Er hatte keine Ahnung, wie gut seine Sprache war; er wusste nur, dass seine Frau ihn immer verstand. Sie hielt kurz inne, dann kicherte sie leise.

„Ja. Du bist sehr lieb.“

In diesem Moment spürte er sie wieder, ihre Angst vor ihm, die sie noch immer in sich trug und geschickt zu verstecken versuchte... noch immer traute sie ihm nicht vollkommen. Unmerklich verfestigte er seine Umarmung ein wenig.

„Das ist gut...“, er bemühte sich, sich seinen Ärger darüber nicht anmerken zu lassen. Seine schöne Kili, wann verstand sie es endlich? Und Menschen waren doch alle primitiv...

Sie lehnte sich nichtsahnend etwas mehr gegen ihn und er seufzte in ihre braune Haarpracht hinein.

„Dein Leben wird bei mir viel sicherer sein als in deinem Stamm...“

Mahrran war sich nicht sicher, wie er vorgehen sollte. Er war letztendlich nie der Stratege gewesen... dafür hatte er immer Nadeshda gehabt. Nadeshda, die noch immer darauf beharrte, die Menschen auskühlen zu lassen... seltsam, dabei war sie doch immer die Intelligentere von beiden gewesen.

„Mag sein...“, entgegnete die Jüngere darauf nur desinteressiert – oder ausweichend – und aß weiter. Sie sollte nichts ahnen...

„War das Leben in der Savanne nicht sehr gefährlich? Konnten eure Männer euch wirklich immer beschützen?“

„Immer.“

Kili war ganz ruhig, sie wirkte unverändert. Entweder, sie hatte keine Ahnung und war wirklich außergewöhnlich überzeugt von ihrem Volk, oder sie log ihn an. Irgendetwas musste es doch geben! Laut seiner eigenen Männer waren die Menschen ein Volk großer, breit gebauter Männer, die das Fehlen von magischen Fähigkeiten mit Muskelkraft und Geschick wieder wett machten. Den Umgang mit ihren primitiv scheinenden Speeren beherrschten sie perfekt und sie waren lang nicht so dumm, wie man lange Zeit angenommen hatte.

Aber sein Volk war vom Blute der Kalenao! Alle Elemente unterstanden ihnen, wie konnte es da keine schnelle Möglichkeit geben, dieses widerliche Pack endlich zu vernichten?

„Und bei Sturm?“, versuchte Mahrran es weiter und konnte nicht verhindern, dass er etwas unzufrieden klang. Und im selben Moment merkte er, wie ihre Nervosität abermals anstieg...

Hätten die Götter es ihm nicht gezeigt, so hätte er es jedoch nicht bemerkt. Die junge Frau blieb nach außen hin vollkommen ruhig und aß ihre Speise schließlich zu Ende, dann antwortete sie, mehr beiläufig.

„Wir haben gute Hütten. Sie halten meist. Wenn sie nicht halten, sind sie schnell repariert.“

Sie sahen kurz auf, als auf dem Flur leise Schritte zu hören waren, die kurz darauf jedoch wieder verhallten. Als befürchteten sie irgendetwas von Nadeshda... aber das war ohnehin Mabalysca gewesen, das hätte der Mann auch gewusst, wenn seine Götter es ihm nicht gesagt gehabt hätten. Seine Zwillingsschwester hatte deutlich zugenommen... ihr Gang war nun etwas schwerer. Er hatte ein sehr feines Gehör, vielleicht hatte man es ihm zum Ausgleich für seine schlechte Sehfähigkeit geschenkt.

Sein rechtes Auge hatte niemals funktioniert, es war seit seiner Geburt vollkommen blind und auch nicht schön anzuschauen, da es ständig trüb, wie hinter einem nebligen Schleier schien und obgleich sein linkes Auge zwar an sich funktionierte, sah er damit auch wesentlich schlechter als andere, gesunde Personen. Er hatte diese Tatsache lange Zeit nie als Behinderung wahrgenommen, war er es nicht anders gewöhnt gewesen, erst vor wenigen Monden war ihm klar geworden, dass es nicht selbstverständlich war, dass das Sehen nicht mit der wichtigste Sinn, sondern nur eine nebensächliche Erleichterung des Alltags war. Danach hatte er sich eine ganze Weile seltsam – und schlecht – gefühlt, weil in ihm plötzlich die Frage aufgekommen war, was er eigentlich immerzu verpasste. Es war ein bedrückendes Gefühl und irgendwie wurde ihm schlecht, wann immer er auch daran dachte, dass er nichts dagegen tun konnte und auch niemals können würde.

Er lenkte sich von seinen trüben Gedanken ab, indem er seiner Frau eine weitere, vielleicht etwas zu unverblümte Frage stellte.

„Und wenn das Wasser kommt?“

Sie wand sich aus seiner Umarmung und schenkte ihm einen irritierten Blick.

„Das Wasser?“, er fragte sich, ob er wohl das falsche Wort benutzt hatte, dass sie ihn offensichtlich nicht verstand, „Du meinst... wie das Meer? Das Wasser macht uns nichts böses! Das Wasser schenken uns die Götter, wenn es vom Himmel fällt! Der Boden, auf dem wir leben, sammelt es für uns auf – das Wasser tut uns nichts böses. Wir lieben Wasser.“

Vor Wasser fürchteten sie sich scheinbar nicht – jetzt galt es nur noch einzuschätzen, ob das nun gut war oder schlecht. Möglicherweise konnte man den Maden ja beweisen, wie zerstörerisch auch dieses Element sein konnte – andererseits würden das weniger talentierte Blutsbrüder nicht unbedingt umsetzen können und der Mut gegenüber etwas, das die Jäger als nicht gefährlich einschätzten, konnte auf Mahrrans Seite hohe Verluste bringen. Einmal davon abgesehen, dass nur eine begrenzte Anzahl seiner Männer Wassermagier waren...

„Und Feuer?“
 

Einen Moment lang war Kilis Blick seltsam, als sie sich ihm nun gegenüber setzte und er sie bei ihrem Gespräch anblicken konnte, soweit seine schlechten Augen es ihm erlaubten. Irgendetwas... stimmte nicht.

„Mit Feuer wissen wir umzugehen.“, entgegnete sie dann knapp, rückte wieder etwas näher, schlang ihre noch immer schmalen Arme um seinen Hals und schmiegte sich wieder an ihn.

Irgendwie brachte das nicht den gewünschten Erfolg.
 

Die Jagd war anstrengend. Es hatte Shiran nicht wirklich überrascht, hatte er sich bereits seit sehr langer Zeit mit dem Leben, das die Menschen führten, beschäftigt und es so theoretisch in all seinen Fassetten kennengelernt – theoretisch. Er war wirklich sehr erschöpft, als er am Abend von seiner Hasenkeule aß. Es schmeckte nicht schlecht...

„Du hast dich echt mies angestellt.“

Er sah nicht auf, als Sanan ihn von der anderen Seite des gemeinsamen Lagerfeuers, das der Jüngere vor seiner Hütte in seiner Feuerstelle geschürt hatte, ansprach, ebenfalls essend. Ja, auch das wusste er. Selbst der Kinderspeer hatte nach einer Weile unglaublich schwer in seinen offenbar doch sehr schwachen Armen gelegen, das hatte ihn wirklich eingeschränkt. Himmel sei Dank wusste sein Gastgeber nicht, dass er seine Beute, als er dann endgültig die Geduld verloren hatte, mit Telepathie etwas hörig gemacht hatte...

„Wovon hast du eigentlich in deinem eigenen Stamm gelebt, wenn du gar nicht jagen kannst? Von Beeren?“

Nun sah er doch auf. Sein Gegenüber hatte bereits aufgegessen... Himmel, er aß wirklich schnell und wirklich viel – kein Wunder, dass er es trotz seiner sehr zierlichen Figur dennoch schaffte, so zu jagen. Er räusperte sich.

„Natürlich nicht. Einige bauen auch andere pflanzliche Nahrungsmittel an, aber davon essen wir nicht hauptsächlich. Wir sind Fischer.“

Der Schein der Flammen erhellte das irritierte Gesicht Sanans auf bizarre Weise und der Seher grinste.

„Ich denke, ich habe es bereits angedeutet. Der Sinn eurer Vertreibung aus diesem Land – wenn es sich denn Sinn schimpfen lässt – ist die Gewinnung von neuen, besseren Nahrungsquellen für mein Volk, denn so viele Fische, wie wir bräuchten, um alle satt zu werden, kann uns dieses Meer einfach nicht mehr bieten. Die Jagd müssen wir zwar erst erlernen, aber es ist unsere einzige Alternative.“

Bei der die Menschen ihnen im Prinzip nicht einmal ansatzweise in die Quere kamen.

Oh, wie er es verabscheute, dieses dumme, egoistische Verhalten der Tankana-Familie. Nichts war ihnen gut genug, es gab keine Kompromisse, die sie bereit waren, einzugehen und sie machten die Gesetze, ob sie Sinn ergaben oder nicht... und letzteres taten sie bei allem Respekt eher selten.

Sein ganzes Leben lang hatte Shiran zusehen müssen, wie diese Familie regiert und alle Probleme nur auf Umwegen gelöst hatte, um für sich selbst den größten Profit daraus zu schlagen.

Er fragte sich wirklich, wie die Götter diesen verabscheuungswürdigen Wesen so viel Macht hatten schenken können. Sie nutzten sie so schlecht, schon seit Generationen – das wusste er mit seinen eigenen Fähigkeiten, die er durch die einfachen Regeln der Natur rechtmäßig erhalten hatte, mit Sicherheit. Aber der Bruchteil dieser Familie, mit dem er selbst hatte aufwachsen müssen, widerte ihn bei weitem noch am meisten an.

Mahrran war ein intriganter Volltrottel. Mit seinem kindischen Versuch, ihn zu hintergehen, hatte er sich nur einen Feind mehr und den eigentlichen Gegner um einiges stärker gemacht. Denn wer wusste schon mehr von den Schwächen der Magier als ein Magier selbst? Denn im Gegensatz zu seiner verehrten Kili war der Seher gerne zum Reden bereit; oh, und wie gerne er das tun würde. Zugute kam ihm dabei ebenfalls, dass die Himmelskinder sich auch gegenseitig nicht mehr trauten. Mahrran wollte aus irgendwelchen Gründen die Führung übernehmen; vielleicht war ihm ja einmal aufgefallen, dass er eigentlich ein Mann war. Aber Nadeshda würde ihm die Führungsposition mit Sicherheit nicht so einfach überlassen, sie war eindeutig die Intelligentere von beiden.

Das würde in der Tat noch spannend werden. Die kleine Frau würde sich sehr behaupten müssen, in die heiße Phase eintreten würden sie, wenn ihr Bauch schon sehr deutlich gerundet war – das war er dank ihrer sehr, sehr zierlichen Figur an sich aber auch bereits jetzt schon, weshalb sie sich momentan auch eher bedeckt hielt. Wahrlich interessant, wie sie weiter vorgehen würde... ihre Gedanken waren sehr schwer zu entziffern, besonders, wenn man ihr nicht in die Augen blicken konnte.

Shiran schloss seine kurz. Was tat sie?

Er konnte sie sehen... ihre kleine Gestalt, wie sie nichtsahnend in ihrem dunklen Raum stand und sich das lange Haar flocht. In diesem Augenblick machte sie sich keine Gedanken um ihre Strategie, die Zukunft des Dorfes, oder ihn – das tat sie an sich auch oft genug. Was in ihrem Kopf vorging erschloss sich ihm wie erwartet nicht ganz, aber es wirkte relativ belanglos... sie schien etwas schlecht gelaunt, als sie ihre Kleidung ablegte und sich ein Schlafkleid überwarf – welches sie nur wegen ihrer Schwangerschaft trug, im übrigen. Letztere entwickelte sich sogar besser, als der Mann es erwartet hatte. Ihr Bauch verriet sie... er seufzte, ohne es zu merken. Sie so zu sehen war gleichermaßen negativ reizend, als auch beruhigend... seine inneren Augen fuhren ihre Konturen Stück für Stück nach, als sie sich schlafen legte.

Aufschrecken tat der Mann dann, als er instinktiv Sanans Kopfschütteln bemerkte. Er erwiderte seinen abgeneigten Blick kurz, ohne es ernst zu meinen, zu sehr verblüffte ihn die Tatsache, dass es einen winzigen Moment lang in seiner Lendengegend warm gekribbelt hatte. Dass es bei Gedanken an Nadeshda, deren Charakter er an sich zutiefst verabscheute, geschehen war, war wohl nicht ideal, aber er deutete es als sehr gutes Zeichen.

„Ich überwache, was euer Feind tut.“, erklärte er sich dann vor seinem Gastgeber, der darauf nur beide Brauen hob und weiteraß.

„Du bist echt seltsam.“
 

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*mit Linni telefonier* Ih-ih <3

Vergangenheit

Sanan war verblüfft. Er war es im Gegensatz zu den letzten Tagen, wo sein Gast ihn bloß immer und immer wieder zur Weißglut getrieben hatte, ausnahmsweise einmal positiv, als an diesem Morgen, die Sonne war gerade erst aufgegangen, plötzlich Novaya vor ihm stand und Dinge zu ihm sagte, mit denen er nicht gerechnet hätte.

Die Haltung des Jüngeren war gewohnt stolz, drückte jedoch auch eine gewisse unbekannte Bescheidenheit aus, als sich etwas Bedauern in seine hellblauen Augen geschlichen hatte.

„Es dauerte lang.“, räumte er dann ungewohnt leise ein, „Wir... ich wusste nicht, wie ich dir unter die Augen treten sollte. Bei dem, was du für mich getan hast, aber ich... nicht für dich.“

Er senkte sein Haupt etwas und Sanan musste sich im nächsten Moment eingestehen, dass er keinerlei Ahnung hatte, worum es hier ging. Sein Ausdruck verriet seine Gedanken wohl.

Novaya errötete etwas.

„Nun... du hast mir das Leben gerettet. Aber als du meine Hilfe gebraucht hättest, bin ich weggerannt wie ein kleines feiges Kind. Das tut mir aufrichtig leid, ich schäme mich sehr deswegen. Gleichermaßen dankbar bin ich dir natürlich für das, was du für mich getan hast...“

Er streckte ihm seine Hände entgegen, in denen er einen fetten, nahrhaften Hasen hielt.

„Bitte. Ich habe ihn extra für dich erlegt... auch wenn es deinen Einsatz nicht wieder wett macht. Aber... ich wusste nichts besseres. Es tut mir leid... es... tut mir wirklich furchtbar leid.“

Sanan nahm das Fleisch entgegen und musterte sein Gegenüber einen Moment lang verblüfft.

Ach ja, da war ja etwas gewesen, richtig. Das nahm er so wichtig? Verwunderlich, wo doch er selbst dem Vorfall im Nachhinein keine großen Gedanken mehr gewidmet hatte. Was geschehen war, war geschehen, er verspürte weder Reue, noch Stolz, Wut oder sonst irgendetwas.

So grinste er bloß etwas verlegen.

„Den nehme ich gerne an. Aber an sich wäre es nicht nötig gewesen, ich meine, ich... hieß das eigentlich willkommen, dass du fort gerannt bist, genau! Hättest du versucht, mir zu helfen, dann wäre dir am Ende doch noch etwas geschehen, und mein ganzer Einsatz wäre umsonst gewesen! Ärgerlich, oder nicht?“

Das hatte er sich nun an den Haaren herbei gezogen und vermutlich durchschaute der intelligente Jüngere das auch, doch er nickte. Er wollte doch nicht, dass er seinetwegen ein schlechtes Gewissen hatte...

„Wenn du das sagst...“, Novaya kratzte sich verlegen grinsend an der Stirn, „Gut, dass du so anspruchslos bist.“

Der Ältere gluckste. Na, so kannte er ihn schon eher. Was ein weiterer Punkt war; ihn?

„Wo hast du deinen Schatten gelassen?“

„Hm?“

Als hätte er erst in diesem Moment gemerkt, dass er allein vor Sanan stand, blickte der Junge sich um, dann zuckte er kurz mit den Schultern.

„Er wird schon in der Nähe sein. Er ist niemals weit weg. Aber ich dachte, es ist besser wenn... ich das alleine mache. Es ging schließlich nur um mich...“

Und dennoch schien es ihm unangenehm zu sein, was sein Gegenüber nicht ernsthaft verwunderte.

Einst hatte er die beiden gefragt, ob sie sich liebten... und sie hatten ihm nicht geantwortet. An sich war es auch nicht nötig gewesen, fand er heute...
 

Semliya zuckte unmerklich zusammen, als er nicht weit entfernt hinter einer Vorratshütte hockte und auf seinen Zwilling wartete. Es war unangenehm, so ganz alleine zu sein, er fühlte sich irgendwie nackt und... verletzlich.

Dementsprechend verlegen war er dann auch, als er bemerkte, dass die Person, die da vor ihm aufgetaucht war, niemand geringeres als der seltsame Seher der Kalenao war, der aus unerfindlichen Gründen, so schien es, unbedingt bei Sanan wohnen wollte.

Vielleicht war es etwas Furcht, die ihn dazu bewog, sich respektvoll vor dem anderen zu erheben, der fast an ihm vorbei gegangen wäre, ohne ihn zu beachten, dann aber doch noch einmal inne hielt und ihn musterte.

„Ich wollte zu eurem Häuptling.“, begann er da ungefragt zu berichten, „Denn er wird ungeduldig, weil ich euch noch nicht voran gebracht habe. Aber der Zeitpunkt war schlecht.“

Semliya senkte die Brauen etwas und erwiderte nichts, während er den Größeren mit eiserner Miene musterte. Violettes Haar... diese Leute waren wirklich schräg. Aber er war ja schon so einigen von ihnen begegnet... ihm schwindelte es kurz.

„Du wunderst dich, weshalb ich mit dir spreche? Nun, ich möchte ehrlich sein, eure misstrauischen Blicke passen mir nicht. Ihr alle müsst lernen, dass ihr mir vertrauen könnt, indem ich euch beweise, dass ich nichts besonderes bin – nur so können wir kooperieren.“

Er packte den Jungen ohne jegliche Hektik an den Oberarmen und hielt ihn fest, als eine scheinbar unsichtbare Macht wie so oft in letzter Zeit drohte, ihm den Boden unter den Füßen fort zu ziehen.

Sein Gegenüber verschwamm, wurde in seinen dunklen Gewändern einfach nur zu einem schwarzen Schatten, der sich bedrohlich vor ihm aufbaute und ihm dennoch Hilfe leistete.

„Die Götter meinen es nicht gut mit dir...“, hörte er die in dem sehr seltsamen Akzent sprechende Stimme entfernt, „Damit solltest du sehr vorsichtig sein, Sohn von Dherac.“

Vorsichtig? Was sollte er dagegen tun?

Es war eine Schwäche, die man ihm auferlegt hatte – vielleicht als Strafe, weil das Kind in Mefasas Leib letztendlich seinen Lenden entsprungen war? Weshalb auch immer, es war ihm auch so schon unangenehm genug. Er versuchte es zu verstecken – vor allen – aber er hatte Novayas seltsame Blicke bemerkt, die er ihm geschenkt hatte, wenn er sich immer einmal wieder ohne Vorwarnung in seine Arme gestürzt hatte, weil er ihn mochte; in Wahrheit aber in erster Linie, um nicht vor ihm umzufallen.

„Es... geht schon. Es ist in Ordnung.“, hörte er sich plötzlich selbst sagen, und tatsächlich ließ Shiran ihn los und einen Augenblick später stand er auf seinen eigenen, noch etwas wackligen Beinen und die Welt um ihn herum klarte wieder auf. Es war vorbei.

Zu seiner Überraschung ging der Magier nicht mehr weiter auf den Vorfall ein.

„Wir beide haben uns bereits getroffen, du bist ein mutiger Kerl. Und ein ziemlich intelligenter...“

Die sehr schmalen, violetten Augen ruhten einen Moment lang regungslos auf dem Gesicht des Jungen, der sich darauf fragte, was dieser Mann eigentlich genau von ihm wollte.

„Das wissen wir.“, schnappte er schließlich, „Die Götter haben uns viel Gutes mitgegeben und wir sind ihnen sehr dankbar dafür.“

Noch immer wahrte er seine Haltung und erschauderte dennoch bei einem einzigen kurzen Lächeln des Sehers.

„Ihr sagt nur ich, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden lässt. Und dennoch ist es euch so wichtig, dass andere euch voneinander unterscheiden können, dass ihr euch tätowiert habt – nicht gut im Übrigen, es wird verblassen. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr ernsthaft auseinander gehalten werden wollt... oder euch nur so darum bemüht, weil es euch richtig erscheint.“

Er wandte sich ab und ignorierte den verblüfften Ausdruck des anderen.

„Lass mich dir einen Rat mitgeben; verleugnet nicht das, was ihr seid. Ihr seid ein wunderbares Duo, steht zu dem, was die Götter für euch vorgesehen haben, das macht euch glücklich. Gemeinsam seid ihr wirklich gut... und wirklich aufmerksam. Ich sehe eure Gedanken, ich sehe, dass ihr genau um mich wisst. Ja, ihr habt vollkommen recht mit dem, was ihr denkt. Ihr denkt übrigens wirklich ganz oft dasselbe. Bloß deine Gedanken sind häufig etwas bösartigerer Natur als die Novayas, Semliya.“

Darauf ließ er den Jungen stehen, der ihm verzerrt nachgrinste. Ihre Vermutung stimmte? Was für eine seltsame Sache.

Aber vor allen Dingen... seine Gedanken waren bösartig. Er hatte schon immer geahnt, dass sein Zwilling der liebenswürdigere von ihnen war, was scherte er sich darum...
 

Nachdem Moconi sich an diesem Morgen mit vielem beschäftigt zu haben schien, nur nicht mit dem Schutz und der Verteidigung seines Stammes – was Shiran ihm nicht verdenken konnte, schließlich brauchte jeder einmal etwas Zeit für sich selbst – hatte er sich dazu entschlossen, jemandem anderes einen Besuch abzustatten. Dabei war er an dem Zwillingsjungen vorbei gekommen. Komischer Kerl...

Auch, als er noch am Meer gelebt hatte, hatte er von der Existenz der Brüder gewusst und war wahrlich fasziniert von beiden gewesen. Mahrran und Nadeshda waren auch Zwillinge... aber sie waren sich nicht im Ansatz so ähnlich wie die beiden frühreifen Menschenjungen, obgleich zwischen den Himmelskindern die nahe Verwandtschaft auch mehr als deutlich war. Allein wegen dieser beiden musste der Stamm beschützt werden – sie waren zu interessant und außergewöhnlich, als dass man sie einfach hätte auslöschen dürfen. Sie hatten einen Sinn auf dieser Welt... die Götter hätten es nicht deutlicher machen können. Und die Menschen hatten sie am Leben gelassen, obwohl es unüblich bei ihnen war, zwei scheinbar identische Kinder unter sich weilen zu haben. Sie waren von ihren sinnlosen Geburtssitten abgewichen... das war gut.

Shiran unterbrach seine Gedanken, als er dort ankam, wo er auch hingewollt hatte.
 

Aus seiner Familienhütte kam ihm das etwas dümmliche Mädchen Lauy entgegen gestürzt, rempelte ihn an und rannte schluchzend weiter. Sie hatte es nicht leicht... aber das war nicht ernsthaft sein Problem. Sie würde es selbst lösen.

Als er die Felltür beiseite schob, sah er sich Ardoma unmittelbar gegenüber, die auf sein plötzliches Erscheinen hin zunächst zusammen zuckte. Sie hatte gerade nach draußen gewollt.

„Wir... haben nur Platz für eine Bestie.“, zischte sie dann in ihrer üblichen, geringen Lautstärke und der Seher erwiderte ihren bösartigen Blick teilnahmslos.

„Dann schick mir diese nach draußen, Frau.“

Sie zog ihm das Fell vor der Nase wieder zu und er erhob sich und entfernte sich einige Schritte von Karems Hütte. Sie leistete seinem Befehl Folge.

Ardoma war auch eine Kandidatin, die das Leben verdiente. Die Kalenao wussten nicht, was Menschen waren. Sie sahen ihr stämmiges Auftreten und ihre in Felle gehüllten Körper und taten sie als primitive Tiere ab; dabei waren sie sich nicht unähnlich. In jedem einzelnen Mitglied dieses Stammes steckte viel mehr, als alle Magier zusammen vermuten mochten. Er musste sie mehr Respekt lehren. Und er würde sie mehr Respekt lehren.

Wenn er sie erst einmal unterworfen und die alleinige Kontrolle über diese Maden hatte.

Es war im übrigen nicht so, dass er die Menschen bedingungslos bewunderte, nein, er duldete ihre Existenz und hieß sie gut, nicht mehr und nicht weniger. Im Gegensatz zu Mahrran oder Alaji konnte er sich auch niemals vorstellen, mit einer solchen Kreatur ein Verhältnis einzugehen, das über den gegenseitigen Nutzen hinaus lief...

Die Felltür schob sich wieder beiseite. Heraus schlüpfte ein Junge, mit dem er nie weiter etwas zu tun gehabt hatte; ebenfalls in Felle gehüllt, aber das Haar ordentlich gepflegt und offenbar wohlgenährt und gesund.

Einen Augenblick lang hielt Kajira vollkommen inne – hatte er sich doch nicht getäuscht?!

Als Shiran kurz grinste, verwarf er alle Gedanken, die gegebenenfalls dagegen hätten sprechen können, und warf sich wortlos in die Arme des Älteren, der die Geste etwas kühl, aber bemüht erwiderte und kein tadelndes Wort sprach, als der Junge ihn zunächst nicht mehr losließ und sich einfach immer weiter an ihm festkrallte, stoßweise vor Schock und Erleichterung atmend.

„Ich habe es nicht gewusst!“, erklärte er schließlich mit zittriger Stimme, „Ich habe es irgendwie mitbekommen, irgendwer von euch ist hier, aber ich wusste doch nichts... hier ist doch niemand, mit dem ich sprechen könnte. Bis jetzt... oh... endlich ist jemand da! Du musst mir so viel sagen! Geht es Mabalysca gut?“

Er sah zu dem Älteren auf und erst in diesem Moment war es, dass ihm wieder einfiel, dass sie sich eigentlich nicht einmal richtig kannten. Sie waren sich manchmal über den Weg gerannt, mehr auch nicht...

Geschockt von seinem unüberlegten Handeln wollte Kajira zurückweichen, obwohl seine Freude über das Auftauchen seinesgleichen ihn noch immer gepackt hielt... entsprechend erfreut, wenn auch verwirrt, war er darauf auch, als der Seher ihn einfach weiter festhielt, als wären sie Freunde gewesen, die sich lange hatten vermissen müssen.

Sein Blick war seriös wie immer, wenn er ihm begegnet war... und dennoch wusste er, wonach er sich nun tatsächlich gesehnt hatte.

Niemand hatte ihn verstanden, diese ganze Ewigkeit nicht, niemand war da gewesen, den er gekannt hatte...

„Mabalysca geht es so gut, wie es ihr in ihrer Situation nur gehen kann. Ich weiß um deine Verfassung, daher kam ich zu dir. Ich sorge für deine Freiheit, zumindest innerhalb des Lagers, sprich mich, wann du möchtest.“

Der Jüngere nickte aufmerksam, dann lockerte er seine Umklammerung abermals und Shiran tat es ihm gleich und trat ein geringes Stück zurück.

Er hatte Mitleid mit dem Jungen gehabt, das war alles. Außerdem fühlte er sich nun aus irgendwelchen Gründen für ihn verantwortlich... er war immerhin der einzige, den er kannte, den er nun hier hatte – und der auch die Möglichkeit hatte, etwas auszurichten. Sie waren beide Kinder der Windgötter, da herrschte gewisse Solidarität.

„Danke, vielen Dank! Ich bin so erleichtert... und dennoch, ich verstehe nicht, was ist hier eigentlich los? Was ist geschehen, seit ich fort bin?“
 

Tinash fragte sich, ob es wohl Wille der Götter war, dass Lauy nun – definitiv zufällig – bitterlich weinend an ihm vorbei rannte, ihn jedoch übersah. Er saß im Schatten seiner Familienhütte und ruhte sich aus, was ihm sehr unangenehm war; wenn er diese Pausen jedoch nicht einhielt, so war er zu überhaupt nichts mehr nütze, so hatte er sie sich also doch verordnet.

Er beschloss mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend, das Ruhen etwas nach hinten zu verschieben und dem Mädchen zu folgen.

Er wusste nicht viel über sie... sie verstellte sich, um nicht zu viel mit ihrer verrückten Mutter zu tun haben zu müssen, hatte in Wahrheit jedoch den selben kühlen Charakter wie sie. Und trotz allem hatte ihr Onkel Randary Interesse an ihr und wollte sie an sein Feuer nehmen – gegen ihren Willen. Wenn sie schon deswegen weinte, musste es ihr wohl wirklich sehr widerstreben... wo sie ihm doch so hinterher gerannt war, hätte der junge Mann sich schäbig gefühlt, wenn er das arme Dinge sich selbst überlassen gehabt hätte... immerhin hatte es ihn, egal, wie seine persönliche Situation nun einmal war, sehr geehrt, dass sie seine Frau hatte werden wollen, daran gab es keinen Zweifel und irgendwie machte ihn der Gedanke daran auch etwas stolz.

Er fand sie an einem kleinen Bachlauf unweit des Lagers. Ihre zierliche Gestalt hockte zusammengekauert und zitternd davor, ohne ihn – oder sich möglicherweise anschleichende Raubtiere – zu bemerken. Nicht einmal auf sein verhaltenes Räuspern reagierte sie, erst als er ihr eine Hand auf die Schulter legte, zuckte sie zusammen, sprang darauf auf die Beine und fuhr alarmiert zu ihm herum, um dann die Augen minimal zu weiten und schließlich erleichtert zu erschaudern.

„Du bist das.“, stellte sie fest und strich sich nervös durch das wieder einmal wirre rote Haar. Tinash nickte, mitleidig lächelnd. Sie sah schlecht aus...

„Ja. Ich habe dich gesehen, dir geht es nicht gut... es wäre falsch gewesen, dir nicht zu folgen – wo du doch so unachtsam bist!“

Sie errötete auf seinen berechtigten Tadel und senkte den Blick verlegen.

„Du weißt, dass ich keine intelligente Frau bin.“, wies sie dezent darauf hin, dann seufzte sie, „Ich... ich muss weg. Vielleicht wäre es nicht so schlecht, wenn ein Tier mich reißen und an seine Jungen verfüttern würde... dann wäre ich wenigstens sinnvoll gewesen.“

Sie wandte sich ab, ohne sich weiter zu rühren.

Gerne hätte er ihr widersprochen, ihr gesagt, sie sei doch sinnvoll – aber das wäre gelogen gewesen. Sie tat wirklich wenig bis nichts, was dem Stamm oder sonst irgendwem Nutzen brachte. Wäre sie Randarys Frau geworden, hätte sie damit der Gemeinschaft gedient... aber sie hatte ja auch ihn, Tinash, gebeten, sie an sein Feuer zu nehmen, sie schien sich also nicht zu schade für die Arbeit einer vollwertigen Frau zu sein sondern eher ein Problem mit ihrem Onkel zu haben.

Ach, warum beschäftigte er sich damit? Es konnte ihm egal sein...

Im Prinzip. In Wahrheit war er aber zu gutmütig und konnte trotz seiner Abweisungen nicht anders, als sich nun um das zierliche Mädchen zu kümmern. Sie nahm ihn ernst... für sie war er nicht nur ein zweitklassiger Jäger versteckt in dem gewaltigen, wenn auch mehr und mehr verblassenden Schatten seines viel begabteren älteren Bruders, für sie stand er an erster Stelle. Er war es, den sie begehrte, nur er und niemanden sonst. Irgendwie stimmten die Gedanken ihn etwas euphorisch, auch wenn er sich angesichts der zutiefst deprimierten Lauy etwas mies deswegen fühlte.

Er zwang sich, Haltung zu wahren, und legte ihr eine Hand sanft auf die schmale Schulter.

„Warum... sträubst du dich so sehr dagegen, Randarys Frau zu sein? Er ist doch sicher kein schlechter Mann...“

„Ach!“

Er wich erschrocken einen Schritt zurück, als sie ihm dieses Wort bebend entgegen schrie.

„Wenn er doch nur ein schlechter Mann wäre! Wenn er überhaupt ein Mann wäre, ein Mensch! Wenigstens ein Tier! Aber er ist... seelenlos! Die Götter haben ihm keinen Geist geschenkt, Tinash! Er ist ganz leer! Er ist so leer, dass es mich... wahnsinnig, noch wahnsinniger, als ich es schon bin, macht!“

Sie raufte sich ihr offensichtlich daher zerzaustes Haar und blickte ihn aus den Augen eines tollwütigen Tieres an. Sie war verrückt... aber er verstand nicht ganz weshalb.

„Offensichtlich bleibst du lieber bei deinen Eltern; besonders herzlich erschienen die mir aber auch nie.“

Tinash versuchte, so neutral wie möglich zu klingen, um sie nicht noch mehr zu reizen als sie es ohnehin schon war, dennoch erzitterte sie heftig, als sie ihr Haupt senkte und mit weit aufgerissenen Augen den Boden vor sich anstarrte, geisterhaft lächelnd.

„Ich... hasse meine Mutter.“, gestand sie, „Sie ist eine... seelenlose kleine Figur, wie eine Puppe aus Fellresten... sie versucht alles gut zu machen. Und wenn sie glaubt, man kommt ihr in die Quere, dann wehrt sie sich. Dabei ist sie nur ein unwichtiger kleiner Schatten... ich hoffe, sie stirbt bald.“

Der junge Mann hielt es für besser, nichts zu der unklugen Hoffnung zu sagen und betete stattdessen, die Götter mögen dem wahnsinnigen Mädchen verzeihen. Es errötete.

„Aber... mein Vater... er liebt mich.“, sie wandte sich erschaudernd ab, „Er hat nie etwas zu mir gesagt. Etwas Gutes... oder etwas wirklich Schlechtes... er hat noch nie auch nur ein einziges Wort an mich verschwendet, was er sich nicht hätte sparen können. Aber wenn wir allein sind... dann umarmt er mich. Dann hält er mich einfach fest und ich... weiß, dass er mich liebt. Vater mag Randary auch nicht... aber er folgt den Sitten. Er würde mich ihm geben... aber ich will das nicht. Ich will einfach nur jemanden... der... mich umarmt, weil er mich mag... weil... er eine Seele hat!“

Sie weinte.
 

„War natürlich klar, dass du kommst, wenn es nach Essen riecht.“

Als Shiran zu Sanans Hütte zurückkehrte, hatte er das Kochfeuer entfacht. Darüber briet er die Einzelteile eines großen Hasen; eines viel größeren Tieres, als der Seher es zuvor erlegt hatte.

Der schwarzhaarige Mann saß gelangweilt davor und reparierte einen Speer, während er darauf wartete, dass das Fleisch fertig war.

„Der ist mir kaputt gegangen, als ihr angegriffen habt. Meine beste Waffe... na ja. Setze dich hin, Bestie, die Vorratsgrube ist vorerst voll und allein schaffe ich das Tier ohnehin nicht. Ich verschwende ungern Dinge... vor allem keine Geschenke.“

Der Magier leistete der Aufforderung wortlos Folge und setzte sich dem Jüngeren im Schneidersitz gegenüber, durch die Flammen hindurch seine Arbeit beobachtend. Er grinste.

„Du bist sehr geschickt. Es ist sehr schön, dass du so geschickt bist, das erfreut mich.“

Sanan hielt in der Bewegung inne und sah irritiert auf.

„Warum freut dich das? Kann dir doch gleich sein.“

Nicht, dass er ein Problem mit seinem Lob hatte, aber so ganz nachvollziehen konnte er es nicht, obgleich seine Steinarbeiten bestenfalls mittelmäßig waren...

Shiran seufzte, lächelte jedoch weiter.

„Ist es aber nicht. Ganz und gar nicht, ich habe meine Gründe.“

Der Jäger setzte seine Arbeit damit brummend fort. Seine Gründe, ja. Immer diese undeutliche Sprache, die wohl der der Götter gleichkommen musste in der Ungewissheit, die sie hinterließ; furchtbar.

„Und dir wären?“, erkundigte er sich etwas missmutig und nachdem sein Gast eine Weile vollkommen still gewesen war, nahm er an, er würde sie nicht mehr erfahren; wie typisch.

Es überraschte ihn, als der Mann nach einer scheinbaren Ewigkeit des Schweigens plötzlich doch sprach; und dabei sehr ernst und vollkommen seriös wirkte.

„Ich habe abwägen müssen, ob es ein guter Zeitpunkt dafür ist, dich einzuweihen. Die Götter bestätigten mich, also ist es von Vorteil. Ich werde etwas weiter ausholen müssen... ich erzähle dir von mir. Dann wirst du meine Gründe ganz von selbst erkennen.“
 

Es war ein Tag im Sommer gewesen, an dem sich vieles in den Gedanken einiger Personen im Dorf am Meer verändert hatte.

Morys war ein sehr junger Mann, fast noch ein Junge, von guter Statur und zu seinem eigenen Leidwesen niedriger Intelligenz; und dennoch war er scharfsinnig. In erster Linie fürchtete er an jenem Tag jedoch, dass die Meute an Bekannten, Verwandten und Nachbarn seine kleine, einfache Hütte ernsthaft hätte beschädigen können. Sie tat es nicht, doch die helle Aufregung um ihn herum machte ihm Kopfschmerzen... er musste sie vertreiben.

„Unverschämt seid ihr!“, warf er ihnen vor, „Einfach versuchen, hier einzudringen und meine Frau und das Kind zu bedrängen! Schert euch weg, hier gibt es nichts zu sehen – ihr alle kennt Shiran, er ist gestern wie morgen ein und das selbe Kind, bei Himmel und See!“

Er stemmte seine Hände in die Hüften und machte sich in der schäbigen kleinen Haustüre breit, sodass niemand an ihm vorbei kam.

„Aber Morys!“, jammerte eine alte Nachbarin aufgebracht, „Gestern wussten wir doch noch nichts davon... wir wussten doch nicht, dass du ein besonderes Kind hast!“

Er zischte.

„Shiran ist nicht besonders, er ist ganz normal! Schert euch weg! Los, schert euch weg, macht dass ihr Land gewinnt, ihr elendigen...!“

Es war nicht so, dass er die Leute, die an diesem Morgen vor seiner Hütte gestanden hatten, nicht mochte, es war mehr seine eigene Irritation... weil sie recht hatten. Er schnaubte, verschwand flink im Inneren seines Heims und verriegelte die Tür so gut es ging von innen, die empörten Rufe von außerhalb so weit es ihm möglich war ignorierend.

„Reg dich nicht so auf, Morys, sie meinen das nicht böse.“

Yvery war seine Frau. Sie war weder klein, noch groß und anders als viele andere nicht besonders zierlich, aber er fand sie ganz hübsch. Und genau wie er war sie blutjung – und verwirrt.

Ihr Sohn hieß Shiran. Er war nun etwas älter als ein Jahr und seit seiner Geburt war er seltsam gewesen. Man hatte sie als schlechte Eltern beschimpft, weil er in der ersten Zeit so furchtbar viel geschrien hatte – und dann irgendwann überhaupt nicht mehr. Dann hatte er – sehr früh – begonnen zu sprechen. Und er hatte Dinge gesagt, die alle um ihm herum verängstigt hatten. Ein böser Winddämon sei in ihm geboren worden, hatte man gesagt, doch so abstrus die Dinge, die der kleine Junge erzählt hatte, auch gewesen waren, Morys und Yvery hatten nie auch nur etwas ansatzweise böses darin erkannt. Auch in seinem Verhalten nicht... er spielte mit allem, was er in die Finger bekam und war meist ein fröhliches Kind. Nur manchmal war er ängstlich...

Nun saß er auf dem Schoß seiner Mutter und blickte seinen Vater aus riesigen Augen an.

„Mag nicht...“, nuschelte er dann leise und bekräftigte den Mann so in seiner Tat. Der seufzte darauf und strich dem kleinen Jungen über den Kopf, auf dem dichtes violettes Haar wuchs.

Am vergangenen Abend hatten seltsame Persönlichkeiten vor der Tür gestanden. Kalenao höheren Standes, die behauptet hatten, die Herrin habe von ihren Göttern etwas über den kleinen Shiran erfahren, nun sollten sie bei ihr und ihrem Mann vorsprechen.

In dem unverschämt gut gebauten und schönen Haus der Tankanas hatte man sie dann tatsächlich erwartet. Die Herrin war allerschlechtester Laune gewesen, weil sie so schwanger war, dass sie gar nicht mehr hatte aufstehen können. Morys war darauf gekommen, dass der Herr wirklich ein ganz außergewöhnlicher Mann sein musste; so schwanger hatte er seine Yvery nicht machen können. Jedenfalls hatte man sie dann allerhand seltsame Dinge gefragt, besonders der Geburtstag ihres kleinen Jungen hatte die beiden sehr interessiert. Dann hatten sie mit dem Kleinen gesprochen, der ihnen mutig alles erzählt hatte, was sie hatten wissen wollen – und was er hatte ausdrücken können, den letztendlich war er noch sehr klein.

Die Herrin war dann zu dem Schluss gekommen, dass eine seltsame Laune der Götter dafür gesorgt hatte, dass Shiran ein Seher wurde, ein nahezu allwissender Magier. Er würde ihnen noch treue Dienste leisten müssen... das hatte sie gesagt und sie wieder fort geschickt.

Nun saßen sie also da mit ihrem scheinbar hochintelligenten kleinen Sohn und wussten nicht so recht, was sie mit ihm anfangen sollten. Sie waren schon keine klugen Persönlichkeiten, aber was um alles in der Welt sollten sie so einem Kind beibringen? Wie sollten sie es erziehen?!

Eltern, die ihren Kindern nichts beibringen konnten, waren keine richtigen Eltern, fand Morys.

Der kleine Junge rutschte unterdessen vom Schoß seiner Mutter und griff nach einem unidentifizierbaren Tier, das seine Mutter ihm aus Stoffresten genäht hatte, das er darauf mit tapsigen Schritten in der kleinen Hütte spazieren trug.

„Bekommt zwei.“, murmelte er, als er an seinem Vater vorbeikam und der sah ihm stirnrunzelnd nach.

„Wer bekommt wovon zwei?“, wollte er wissen und der Kleine Junge wollte kehrt machen, stolperte dabei jedoch und landete zunächst auf dem Hintern.

„Oh je, alles in Ordnung, mein Baby?“, Yvery half ihm wieder auf die kleinen Beinchen, entgegen aller Vernunft strahlte das Kind.

„Babys! Bekommt zwei!“

Morys fiel die unglaublich schwangere Herrin wieder ein und schlug sich gegen die Stirn. Ja, er musste es irgendwie gemerkt haben...

„Der Herr muss wirklich ganz schön gut sein. Zwei Kinder auf einmal zu zeugen, du meine Güte...“

Shiran kicherte.

„Papa besser!“, verkündete er dann, „Sind kaputte Babys!“
 

Sanan hob irritiert die Hände.

„Ist ja schön und gut, dass du irgendwann einmal niedlich und klein gewesen bist, aber das wollte ich ehrlich gesagt gar nicht so genau wissen...“

Der Ältere hob bloß nüchtern eine Braue.

„Nur nicht so voreilig. Abwarten, du bekommst deine Antwort noch.“
 

Es stellte sich heraus, dass es wirklich kaputte Babys waren. Zuerst wurde ein winziges, unterentwickeltes Mädchen geboren, dem man keine besonders großen Überlebenschancen zusprach, dann folgte ein etwas kräftigerer kleiner Junge. Nadeshda, wie man die Kleine nannte, entpuppte sich jedoch als Kämpferin und obgleich Shiran von Anfang an mehr oder minder klar war, dass sich ihre Unterentwicklung über ihr ganzes Leben hinweg ziehen würde, überlebte sie. Ihr Bruder, Mahrran, zeigte letztendlich als erstes, dass mit ihm etwas nicht stimmte, als sich sein trübes Auge anders als erhofft auch nach einigen Monaten nicht klarte und nun auch die Letzten verstanden, dass der kleine Junge den Rest seines Lebens halbblind sein würde. Aber immerhin erlernte er sehr bald das Laufen. Seine Schwester hingegen konnte man nicht einmal zum Krabbeln bewegen... ihre ersten Schritte sollte sie erst im Alter von vier Jahren wagen – und diese sollten auch gleich die letzten für eine sehr lange Zeit sein, denn die Knie des Mädchens waren nicht in der Lage, es zu tragen, ohne dass es unter unerträglichen Schmerzen litt. So war es lange darauf angewiesen, getragen zu werden, was allerdings nicht wirklich schwer war, denn es wuchs kaum und schwerer wurde es erst recht nicht.

Die Zwillinge des herrschenden Paares sollten ihre gesamte Kindheit vollkommen weltfremd und unselbstständig bleiben, wofür ihre Eltern sich zutiefst schämten. Shiran jedoch wusste, dass die Zeit der Beiden noch kommen würde...
 

Zunächst aber war es seine Zeit.

Inzwischen war er vier Jahre alt und damit natürlich schon ein Mann. War ihm relativ egal, dass die Götter ihm sagten, er sei noch lang nicht erwachsen, er war ein Mann und Ende. Auf die dummen Stimmen in seinem Kopf, die ihn Tag ein, Tag aus belästigten, hatte er ohnehin nur selten gehört.

Zur Freude seiner Eltern, im übrigen, denn das wissbegierige Kind ließ sich von ihnen alles mögliche erklären – und gab ihnen damit das Gefühl, wenigstens ein kleines bisschen intelligent zu sein.

An jenem Abend bereitete er gemeinsam mit seiner Mutter etwas von dem Fisch zu, den sein Vater an diesem Tag gefangen hatte. Er war Fischer... der niederste Beruf in ihrer Gesellschaft, und dennoch war Shiran sehr stolz auf seine Familie. Morys seinerseits saß erschöpft an dem schäbigen Tisch und sah seiner Familie bei der Arbeit zu. Er hatte guten Fang gemacht und auf dem Markt die übrigen Fische gegen gute Dinge eintauschen können, das würde ein wahres Festmahl werden. Entsprechend gut war auch die Stimmung.

„Bald musst du mich mitnehmen!“

Er schreckte aus seinen Gedanken, als der Junge ihn ansprach, ihm dabei jedoch den Rücken kehrend, weil er neben Yvery vor der Feuerstelle kniete und dort beschäftigt war. Letztere sah ihn verblüfft von der Seite an.

„Mitnehmen? Auf das Meer hinaus etwa? Nein, mein Lieber, das vergiss ganz schnell.“

„Warum? Ich bin schon ein Mann! Vati, sag ihr, dass ich ein Mann bin! Ich bin sehr groß für mein Alter, nicht?“

Alter... er war noch so unglaublich klein und dennoch sprach er so deutlich und mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es inzwischen niemandem, der ihn kannte, mehr seltsam erschien.

„Das ist wahr, aber ich glaube, du solltest trotzdem lieber zuhause bleiben, vorerst. Das Meer ist gefährlich, mein Kind... und unberechenbar. Ich möchte dich doch beschützen, aber da draußen kann ich das nicht.“

Morys erklärte ihm seine Gedanken ehrlich, er wusste, dass es sein Kind nicht abschrecken würde, denn es kannte ihn ohnehin besser als er sich selbst. Nun wandte es sich ihm schmollend zu.

„Aber Vati! Ich möchte so gern!“

Der Mann schüttelte nur schmunzelnd den Kopf.

„Vergiss es. Das wird nichts, vielleicht in ein paar Jahren. Jetzt jammere nicht... lass mich nachdenken, du hast einen Wunsch frei, einverstanden?“

Yvery hustete empört, als ihr Sohn eifrig nickte.

„Du solltest ihn nicht verwöhnen!“, ermahnte sie ihren Mann, wurde zunächst jedoch ignoriert, denn dem kleinen Jungen war relativ schnell klar, was er sich wünschte.

„Ich will etwas, was fast alle hier haben, nur ich nicht! Etwas ganz tolles, etwas, das nur ihr mir schenken könnt! Ich wünsche es mir schon ganz lange!“

Er erhob sich und tänzelte sinnlos durch die kleine Hütte, wie er es schon tat, seit er laufen konnte, wenn er aufgeregt war. Morys sah ihm glucksend nach.

„Und das wäre?“

Shiran hielt abrupt inne und grinste breit, seine unglaublich schief gewachsenen Zahnreihen präsentierend.

„Ich will, dass ihr ein Baby bekommt! Ich mag großer Bruder sein, das macht sicher viel Spaß!“

Daraufhin wurde es still in der Hütte. Einzig das Knacken der Feuerholzes war zu vernehmen, als seine Eltern ihn beide aus geweiteten Augen anstarrten. Sein Grinsen erstarb.

„Was is'?“

Das Paar schenkte sich einen irritierten Blick, dann räusperte Morys sich und sah seinen Sohn ernst an.

„Hör zu...“, bat er und das Kind setzte sich artig zu ihm, „Für mich... ist es bereits sehr schwierig, deine Mutter und dich immer zu versorgen. Hättest du ein Geschwisterchen... dann... müsstet ihr womöglich ständig hungern! Babys sind eine gute Sache, da hast du recht, aber sie wollen auch Essen. Sie wollen irgendwo schlafen und Kleidung, damit sie nicht frieren. Verstehst du?“

Seine Frage war überflüssig gewesen, das wusste er. Der Junge nickte und senkte den Blick.

Seine Bitte war ebenso überflüssig gewesen. Er hatte die Antwort und die Gründe dafür von Anfang an gekannt... und er hatte es ignoriert. Er ignorierte immer, was die Götter zu ihm sagten, denn er wollte es nicht wissen. Er wollte nicht mehr wissen als seine Eltern...

Die anderen Kinder fürchteten ihn. Er war nett zu ihnen, er wollte mit ihnen spielen, mehr nicht... aber sie hatten Angst vor ihm und rannten fort. Also hatte er sich gedacht, dass es doch ganz gut gewesen wäre, wenn seine Eltern ihm einfach einen Spielgefährten gemacht hätten...
 

Er vergaß seinen Wunsch. Es waren einige Wochen vergangen, als der Herr und die Herrin jemanden schickten, der den kleinen Jungen zu ihnen brachte, damit er sie beriet. Es war nicht selten und er hasste es, denn in diesen Situationen musste er das sein, was er in Wahrheit war; ein Seher.

„Nun, es geht um eine Frau aus dem Dorf.“, erklärte der Herr, als er in seiner winzigen Gestalt vor ihm stand. Der Herr selbst war auch nicht besonders groß, doch die Macht und Würde die er ausstrahlte, als er mit gestrafften Schultern, hinter dem Rücken verschränkten Armen und bitterernster Miene vor ihm stand, erdrückte das Kind beinahe. Dennoch versuchte es, eine gewisse Fassade zu wahren... es wollte nicht, dass man seine Angst erkannte. Und es ahnte nicht, wie unglaublich gut ihm das gelang.

Der Mann sprach weiter.

„Diese Frau hat eine, nennen wir es, etwas engere Bindung zu mir.“

„Ihr habt eure Gattin betrogen.“

Kurz schwiegen sie. Shiran mochte den Herrn nicht... er war schlecht. Und er wusste, dass er ihm nichts antun würde, denn er selbst war wertvoll für ihn.

Und er behielt recht, er verengte lediglich kurz die Augen etwas.

„Eine verführerische Frau. Doch wenn du das, was geschah, schon so in den Raum stellst, dann bitte vollständig.“

Er wagte nicht, sich zu widersetzen.

„Ihr liebt eure wahre Frau sehr.“

Das entsprach zugegebenermaßen auch der Wahrheit, der Herr und die Herrin waren seit jeher unzertrennlich, seit sie klein gewesen waren... das war ihren Eltern sehr zu Gute gekommen. Er fand das seltsam.

Der Herr nickte knapp, aber zufrieden.

„Nun, es geht mir heute auch nicht um diesen Ausrutscher. Es geht darum, dass sie mich um etwas gebeten hat; sie hat mir eine gewisse Kooperation angeboten. Du weißt, worum es geht?“

Shiran überlegte kurz, dann nickte er. Er fand die Probleme der Erwachsenen seltsam und nur schwer nachvollziehbar, aber das war für ihn ja im Prinzip auch egal...

„Ich frage mich, ob der Vorschlag wohl sinnvoll ist oder ob bloß sie selbst davon Nutzen trägt. Sage mir deine Meinung, kleiner Seher.“

Seine hochgeschätzte Meinung, ja... verdammt, der sollte ihn in Ruhe lassen, er wollte doch einfach nur spielen.

„Ich denke nicht, dass es nötig ist, aber auch nicht, dass es dem Dorf schadet... wenn Ihr der Frau einen Gefallen tun wollt, dann nur zu. Wenn Ihr das nicht wollt, ist es an sich aber auch gleich.“

Der Mann dachte kurz nach, dann nickte er.

„Nun gut. Dann geh, ich sehe die Ungeduld in deinen Augen...“

Das ließ das Kind sich nicht ein weiteres Mal sagen...
 

Auf dem Flur traf er auf die Zwillinge. Mahrran rannte in ihn herein und blieb erschrocken stehen, weil er ihn übersehen hatte, der ältere Junge jedoch seufzte nur, und tätschelte dem verwirrten Kleinen den Kopf, worauf der trotzdem zu schluchzen begann.

„Ach hab dich nicht so, das tat nicht weh.“, tadelte er den Jüngeren und erschreckte sich beinahe, als er ein Kichern vernahm.

„Immer weint! Dumm!“

Nadeshda, die auf einer Decke neben dem Eingang zur Stube saß, lachte ihren jüngeren Bruder scheinbar aus, zumindest gackerte das Mädchen wie ein kleines Huhn. Shiran schenkte ihr nur einen schiefen Blick.

„Lern lieber erst einmal laufen, bevor du doof kicherst, kleines Mädchen.“

Sie hielt inne, dann visierte sie ihn düster an – oder wollte es zumindest, mit den Gesichtszügen, die noch mehr an ein Baby erinnerten als an alles andere, gelang ihr das nicht ernsthaft. Sie war zweifelsohne intelligent... aber gefangen in ihrem Körper.
 

Als der Kleine etwa die Hälfte des Heimweges geschafft hatte, begann er zu rennen. Normalerweise verdrängte er die Stimmen der Götter völlig, wenn sie nicht gerade gebraucht wurden, doch in diesem Moment hatten sie ihm etwas gesagt, was einfach zu wunderbar war, um es zu ignorieren.

Er rannte laut lachend durch das schäbige Viertel der Unterschicht am Strand, wo auch seine Heimat war. Die Nachbarn sahen ihm dumm hinterher und die Kinder fanden ihn noch seltsamer, doch es war ihm egal, als er die Tür zu seiner Hütte aufriss und wild hereinpolterte.

Sein Vater war wirklich scharfsinnig.

„Es macht wirklich keinen Spaß zu versuchen, dich zu überraschen, mein Sohn.“, stellte er grinsend fest und seine Frau kicherte, als der Junge sich quiekend in ihre Arne warf.

„Du bekommst ein Baby!“, schrie er, „Du bekommst eins, du bekommst es extra für mich, ihr habt mir extra ein Geschwisterchen gemacht, oh, ich hab euch so lieb!“

Er ließ von ihr ab, nur um seinen Vater wild zu umarmen und zu schreien, weil er nicht mehr wusste, wie er seine Freude sonst noch ausdrücken sollte.

Yvery weitete verblüfft von der heftigen Reaktion die Augen.

„Ja... ja, du hast recht.“

Morys hob ihn auf seine Arme. Er war so leicht...

„Dann musst du mir sogar helfen beim Fischen, das nützt ja alles nichts. Ich meine, wir brauchen jetzt viel mehr Fisch...“

„Ja! JA!“, er umarmte seinen Vater so fest, dass er beinahe Probleme beim Atmen bekam.

Sie hatten seinen Wunsch erfüllt... sie hatten ihm ein Geschwisterchen gemacht. Er war ihnen so dankbar, dass ihm die Tränen in die Augen traten... er würde sich so gut um es kümmern! Er würde ihm alle wichtigen Dinge beibringen und mit ihm spielen und es füttern und wickeln und kämmen und waschen...
 

Yverys Schwangerschaft verlief gut. Der Erdmond brach an und der Erdmond sollte es auch sein, in dem ihr Baby geboren werden sollte. Die Frau war gerührt von der Fürsorge ihres Sohnes... er steckte so voller Liebe. Sie war sehr stolz auf ihn.

Morys auch. Er hatte ihn tatsächlich einige Male mit starkem Unwohlsein mit heraus aufs Meer genommen und er hatte sich auch jedes Mal sehr geschickt angestellt. Und dennoch... im Winter war die See rau.

So entschloss er sich auch eines frühen morgens dazu, den kleinen Jungen, der inzwischen im übrigen fünf Jahre alt war, zu hintergehen.

„Weck ihn nicht auf.“, bat er seine Frau flüsternd, der es mit ihrem runden Bauch selbst schwer fiel, sich von ihrem Lager zu erheben, „Es ist furchtbar da draußen, aber ich kann nicht länger warten mit der nächsten Fahrt, die Vorräte werden knapp. Ich will ihn doch nicht in Gefahr bringen, du kennst mein Boot... er könnte sich womöglich nicht halten.“

Die Frau nickte, als sie es endlich geschafft hatte, sich aufzusetzen, und erwiderte den Kuss ihres Mannes liebevoll, als er sich aufmachte und zur Arbeit aufbrach.

Shiran erwachte, als seine Mutter sich gerade eben gewaschen und frisch angezogen hatte.

„Guten Morgen, mein Kleiner.“, begrüßte sie ihn fröhlich, als er sich mit bleichem Gesicht auf seinem kleinen Lager aufgesetzt hatte und sich mit schreckensgeweiteten Augen in der Hütte umsah.

„Hast du schlecht geträumt?“, erkundigte die Frau sich besorgt, doch der Junge erhob sich bereits schwankend, ohne darauf einzugehen.

„Wo ist Vater?“, wollte er nur wissen und sie erschauderte bei dem grauenhaft kalten und furchtbar wissenden Klang seiner noch kindlichen hohen Stimme.

„Er... er ist auf See! Er hielt es für angebrachter, wenn du heute bei mir bleibst, das Baby könnte schließlich jeden... Shiran?!“

Der Junge erzitterte heftig und strauchelte kurz, noch ehe seine Mutter ihn erreichen konnte, fing er sich jedoch wieder.

„I-ist er schon lange fort?“

Yvery legte besorgt den Kopf schief. Irgendetwas stimmte nicht.

„Nein, er wird eben erst abgelegt haben und... Shiran! Warte, wo willst du hin?!“

Nur mit Hemdchen und Unterwäsche bekleidet riss das Kind die Türe auf und rannte hinaus in den strömenden Regen.

Das eisige Wasser fühlte sich an wie tausende Nadelstiche auf seiner Haut, während er einfach rannte und sich die nackten Füße dabei an scharfkantigen Steinen im Sand aufriss. Es war ihm egal... er musste rennen! Er musste sich beeilen!

An sich wusste er aber, dass es längst zu spät war. Seine Mutter hatte ein schlechtes Zeitgefühl, das Umziehen war mit ihrem gewaltigen Babybauch umständlich, sie hatte lange dafür gebraucht. Ihr Mann war bereits eine ganze Weile fort von zuhause...

Shiran hatte davon geträumt, wie das Meer sich die Seele seines Vaters genommen hatte. Und er wusste, dass es in genau diesem Augenblick auch geschehen war.

„Vater!“, kreischte er gegen den Wind an, als er an der Stelle angelangte, von denen die instabilen kleinen Boote immer ablegten, „Vater! Komm zurück, Vater, wir brauchen dich!“
 

Zwei Tage später wurden die Trümmer des kleinen Bootes angeschwemmt. Von Morys fehlte jegliche Spur... die wurde aber auch nicht benötigt. Shiran fragte sich, was er nun tun sollte. Er tröstete immerzu seine Mutter... und sie tröstete ihn. Aber bald würde das Baby geboren werden... wie sollten sie sich darum kümmern? Er fragte nicht laut, denn er wusste, dass auch Yvery darüber nachdachte... und dass sie ihm nicht würde antworten können. Unterbrochen wurde die Sorge erst, als es noch einen Tag später an der Tür klopfte und davor der Herr und die Herrin standen.

Das war nichts besonderes, denn obwohl sie solch hohe Persönlichkeiten waren, verstand es sich von selbst, dass sie den Hinterbliebenen ihr Mitgefühl erklärten und, falls ein Leichnam vorhanden war, die Bestattung durchführten. Letzteres war in diesem Fall nicht nötig... aber dafür überkam Shiran ein furchtbarer Würgereiz, als er den seltsamen Blick der Herrin bemerkte, während ihr Mann die bekannten Floskeln mit Yvery austauschte. Er dachte jedoch offenbar dasselbe wie seine Frau... und noch ehe sie es aussprechen konnten, schlug sich der Junge die Hände vor den Mund und begann ein weiteres Mal zu weinen.

„Du weißt, liebe Schwester, dass dein Kind nicht leben darf.“, wies man sie darauf hin und Yvery nickte erbleichend, denn sie kannte die Regeln, „Ein Kind, das nie seinen Vater kennenlernt, ist nur ein halbes Kind, es würde der Gesellschaft schaden. Das verstehst du. Du weißt, was du zu tun hast?“

„Das... weiß ich.“

„Gut. Dann sehen wir uns, wenn es geboren ist. Auf dass du den Verlust gut überstehst.“

Und sie gingen.
 

„Nein! NEIN!“

Shiran rüttelte seine versteinerte Mutter schreiend und weinend, doch sie zeigte keine Reaktion. Egal, wie schwierig es sein würde, es würde gut mit ihnen werden, mit ihnen dreien! Sein Geschwisterchen... er hatte sich so darauf gefreut! Diese dumme Regel! Diese unsinnige Regel! Er hasste den Herrn und die Herrin! Er verabscheute sie! Er wünschte ihnen den Tod!

„Shiran... lass los.“

Und seine Mutter? Das konnte sie nicht tun... das konnte sie nicht machen, es war doch ihr Baby!

„Lass das nicht zu! Das ist nicht gerecht! Die Regel ist falsch, die Regel ist eine Lüge! Lass es nicht zu, ich will mein Geschwisterchen, MAMA!“

Er heulte jämmerlich, als sie ihn von sich schlug und selbst erschauderte.

„Verdammt, lass mich, du dummes Kind, lass mich in Ruhe!“, forderte sie und fuhr sich durch ihr kurzes violettes Haar, das er von ihr geerbt hatte, „Lass mich doch erst einmal nachdenken, ach! Ich bin nicht so intelligent wie du, ich weiß nicht auf Anhieb, was ich tun soll! Ich bin doch verdammt noch mal nur eine dumme kleine Frau, die jetzt ganz allein ist, hochschwanger und mit einem wahnsinnigen kleinen Kind!“

Sie wandte sich zitternd ab. Der Junge verstummte, als er ihren Rücken bebend musterte.

„Ich bin nicht wahnsinnig.“, stellte er bloß leise richtig und sie zog laut die Luft ein. Dann schwiegen sie eine Weile.

Shiran fühlte sich schrecklich. Sie hatte gelogen... er wusste überhaupt nicht, was er tun sollte. Was nützten ihm die ganzen Informationen, wenn er keine Ahnung hatte, was er damit anfangen sollte? Es war nicht leicht...

„Sie werden es nicht erlauben... unter keinen Umständen werden sie erlauben, dass ich mein Baby behalte, diese törichten Idioten.“

Er sah auf und erschauderte heftig bei dem ungeahnt bitteren und hasserfüllten Ton, den die Stimme seiner Mutter angenommen hatte, als sie sprach.

„Ich werde es nicht behalten können, sie werden es nicht zulassen. Aber... ich werde es nicht töten. Verdammt, ich töte kein Kind, das ich drei Monde lang unter meinem Herzen trug!“

Sie fuhr zu ihm herum.

„Es... tut mir so leid, dass du deinen Spielkameraden nicht bekommen wirst, es... tut mir unendlich leid, Shiran, ich würde alles dafür geben, dir deinen Wunsch erfüllen zu können, auch wenn ich längst nichts mehr habe... aber hilf mir, dein Geschwisterchen zu retten!“

Der Junge hob beide Brauen, als er erkannte, in welche annähernd geniale Richtung ihre Gedanken schweiften.

„D-du bist sehr schlau!“, erklärte er ihr ehrlich und lächelte kurzzeitig sogar, dann fasste er sich an den Kopf, „L-lass mich nachdenken... also... ja. Ja, das geht! Nimm den breiten Pass, aber sei schnell, sonst merken sie, dass du weiter gehst als in das traditionelle Gebiet, das sie für diese Abscheulichkeit nutzen! Du musst wirklich schnell sein, du musst immerzu laufen! Aber... die... die Menschen sind nicht so weit weg... du... du kannst es zu ihnen schaffen, Mama...“
 

„Ich könnte weiter erzählen, aber der Hase ist fertig. Außerdem weißt du ohnehin, was nun kommt.“

Als Sanan sich nicht rührte, nahm der Ältere das Fleisch seufzend selbst vom Feuer und legte es auf eine dafür vorbereitete Knochenplatte.

„Sprich weiter!“, fuhr der Schwarzhaarige ihn dann an, während Shiran sich seelenruhig um das Essen kümmerte und ihm unbekümmert den Rücken kehrte. Er musste grinsen...

„Was willst du hören? Du weißt es doch, ich sage es, du bist scharfsinnig wie Vater.“

Er wandte sich ihm schulterzuckend wieder zu.

„Du wurdest geboren und der Herr gab dir das Todesmal... auf deiner Stirn, das hast du wohl schon bemerkt. Und Mutter rannte so schnell sie konnte und sie brachte dich so dicht ans Lager, dass man sie beinahe selbst bemerkt hätte. Dann kehrte sie zu mir zurück, sie war meine Heldin. Und deine.“

Er senkte den Blick, als Sanan zitternd in sich zusammensank.

„Ich habe mich darüber gefreut, dass du so geschickt bist. Ich bin stolz auf dich, das ist alles, Sanan.“
 


 

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Nach Ewigkeiten auch hier mal wieder ein Kapitel... úu

Gedächtnis

„Iss. Du sagtest, du wolltest nichts verschwenden, schon gar nicht Geschenke. Novaya hat sich sehr angestrengt hierfür.“

Shiran bediente sich scheinbar ohne weitere Hintergedanken an dem guten Fleisch, während Sanan bloß zusammengekauert neben ihm hockte und kein Wort sprach. Er würde ihn auch nicht drängen... er verstand ihn.

So viele Jahre hatte er an ihn gedacht, hatte überprüft, wie es ihm ging, ob er sich denn wohlfühlte oder ob er Probleme hatte, er kannte ihn in- und auswendig. Den Spielgefährten, den er sich seine gesamte Kindheit lang gewünscht hatte... und immer nur aus der Ferne hatte bewundern können. Mit der Gewissheit, dass die eigene Existenz vollkommen unentdeckt blieb...

„Ich... verstehe das nicht...“, jammerte der Jüngere da plötzlich beinahe wehleidig und sah auf, um in die Flammen zu starren, „Wie kann ich eine Bestie sein? Ich meine, ihr seid ganz anders als wir!“

Der Seher gluckste.

„Ist an dir irgendetwas, das nicht zu deinem äußeren Bild der Kalenao passt? Bist du groß und stark? Nun gut, in unserer Kultur bist du normal groß und sehr, sehr stark, aber davon verstehst du noch nichts.“

Dadurch, dass er wie ein Mensch hatte aufwachsen müssen, war seine Muskulatur für einen Magier unnatürlich ausgeprägt – was sicherlich kein Nachteil war. Aber das führte für den Moment viel zu weit...

Sanan wandte sich ihm langsam zu und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

„Ja... aber... ich kann nicht zaubern! Oder mit den Göttern reden!“

Das dachte er. Vielleicht hätte er doch noch etwas warten sollen... er biss genüsslich in eine Hasenkeule.

„Du bist nicht besonders begabt in der Magie, aber besser als unsere Eltern. Von nichts kommt nur selten etwas, du musst deine Erdmagie einüben – und behaupte nicht, das könntest du nicht. Du hast es nie versucht.“

Er hielt ihm das Gegenstück zu seiner Hasenkeule entgegen, welches der andere zögernd und irritiert annahm. Dann fuhr Shiran fort.

„Und die Götter sprechen sehr wohl zu dir. Woher... weißt du sonst, wo es das beste Wild gibt?“

Er grinste und aß unbeirrt weiter, dennoch bemerkte er, wie der Jüngere errötete und hastig den Blick senkte.

„Das sind... die Götter?!“ Er schnaubte. „Ich hielt es für ein Hirngespinst! Ich dachte, mit mir stimmt etwas nicht!“

Der Seher verkniff sich ein amüsiertes Ich weiß. im letzten Moment. Oh ja, die Götter ließen niemals jemanden im Stich. Ihnen war natürlich klar gewesen, dass Sanan nicht als das, was er an sich war, hatte leben können – so hatten sie ihm ihre Liebe auf andere Art und Weise bewiesen und ihn für seinen Stamm so sehr wichtig gemacht. Sie waren mit ihnen gewesen... sie hatten Shiran darin bestätigt, dass die Regeln seiner Kultur in manchen Bereichen vollkommen sinnlos waren. Warum sonst konnte er an diesem Tage neben seinem so lange vermissten kleinen Bruder sitzen?

Letzterer riss ihn aus seinen Gedanken, als er in bitterem Tonfall weiter sprach.

„Ich... habe nicht erwartet, nicht einmal gehofft, jemals zu erfahren, wo ich herkomme. Das ist mein Stamm – das ist mir wichtig.“ Er schenkte dem Älteren einen beinahe traurigen Blick. „Jetzt... weiß ich es. Aber mir... fällt es schwer, mir das vorzustellen. Tut mir Leid, für mich bist du bestenfalls ein fremder Mann, Seher. Ich habe kein Interesse an dieser komischen Magie von euch... ich möchte doch nicht mit etwas zu tun haben, was meine Bekannten und Freunde verletzt und getötet hat!“

Es waren Worte, die er nie hatte hören wollen, wurde Sanan mit einem Mal klar. Er hatte sein Leben lang gewusst, dass er kein eingeborenes Kind dieses Stammes, der ihn versorgt und aufgezogen hatte, war. Dass mit dem Stamm, von dem er ursprünglich kam, etwas nicht so ganz in Ordnung sein konnte, war ihm bereits lange klar gewesen und er hatte sich ganz bewusst davon distanziert – er war nicht das leibliche Kind seiner Mutter, doch er war ein Jäger des Schlangenstammes und unterschied sich kaum von allen anderen, die ihn in ihrer Mitte als ihresgleichen vollkommen akzeptierten.

Jetzt wusste er, woher er kam – sollte das etwas ändern? Besser war es keinesfalls, er wollte nicht mit den widerlichen Bestien, die ihnen so viel schlimmes antaten, in Verbindung gebracht werden. Er wollte auch keine Magie... und keinen Bruder.

Nun war ihm immerhin klar, weshalb dieser seltsame Kerl unbedingt ihn hatte belästigen wollen...

Shiran legte die Reste der Keule beiseite und erhob sich.

„Das ist in Ordnung.“, bestätigte er die Worte des Jüngeren neutral, ohne ihm ins Gesicht zu sehen, „Im Prinzip habe ich nichts anderes erwartet.“

Dann ging er fort.
 

Nadeshda fehlten zunächst die Worte. Dann hob sie verblüfft die Brauen und grinste kurz.

„Du... möchtest meinen Bruder hintergehen?“

Kili schüttelte schaudernd den Kopf. Nein, so war das doch nicht...

„Nicht hintergehen! Nur vermeiden, dass er meinen Stamm auslöscht! Mein Stamm hat nichts getan!“

Die junge Frau wusste, wie aussichtslos ihr kleiner Rettungsversuch war – aber sie musste doch etwas tun! Egal wo sie war und wessen Kind sie unter dem Herzen trug, sie blieb die Schwester von Moconi, die Schwester des Häuptlings! Und es war ihre Pflicht, zumindest zu versuchen, ihren Stamm zu beschützen; auch wenn es sie das Leben kostete. Und letzteres war ihr mittlerweile nur noch halb so viel wert wie einst...

Sie hatte Mahrran durchschaut und hatte ihm keine Schwächen ihres Stammes offenbart. Das war nicht schlecht für den Anfang, doch wie sollte es weitergehen?

Wenn sie etwas mitbekommen hatte, dann dass die winzige Nadeshda die Ideen ihres Bruders irgendwie dumm fand, darauf hatte sie nun gebaut.

Mit dem, was sie von der Magierin wusste, lag sie nicht falsch. Sie wusste bloß nicht, dass es nicht um die Sache selbst ging, sondern nur um die Art, wie sie vollzogen wurde... aber das musste man ihr nun wirklich nicht verraten. Für die blauhaarige Frau klang das, was sich da anbahnte, doch sehr interessant... vielleicht sollte sie Kili irgendwie unterstützen? Sie grinste und strich sich unwillkürlich über den Bauch.

„Erzähl ihm irgendetwas dummes. Erzähl ihm von irgendeiner Schwäche der Männer, die die Kalenao ausnutzen sollen, welche an sich aber eigentlich nur ein Vorteil ist! Sag, gegen Gegner, die mit denselben Speeren bewaffnet wären wie sie selbst, hätten sie große Probleme! Ja, das ist gut, das wird ihm garantiert so schnell nicht auffallen...“

Sie bemerkte, dass in ihren Worten wohl einige Fehler gewesen waren, sodass die Menschenfrau zunächst hatte überlegen müssen, was sie da eigentlich gesagt hatte... dann nickte sie. Aber wie sollte es danach weiter gehen...?

„Irgendwann bemerkt er es... was soll ich dann tun?“

Nadeshda verengte ihre schmalen Augen noch ein wenig mehr.

„Sei ein wenig raffinierter, Kili, so geht das natürlich nicht. Sei überrascht... sag ihm dann, dass seine Männer wohl einfach nicht gut genug waren. Und dann hoffe, dass er von dieser dümmlichen Idee ablässt...“

Das erschloss sich ihr. Und dennoch... sollte sie es tun? Sie entschied sich dafür... das war sie Moconi schuldig. Hoffentlich wusste er irgendwoher, was sie für ihn und alle anderen versuchte... sie ließ sich erschöpft neben die Magierin auf die hölzerne Bank in dem Raum, in dem sie manchmal aßen, sinken.

„Was werden deine Leute tun?“, vernahm sie die unangenehme Stimme der Kleineren da und spürte ihren prüfenden, aber nicht böswilligen Blick auf sich.

„Wie sie reagieren werden?“

„Nein, wie sie agieren. Sie werden doch nicht einfach nur da sitzen und warten, bis wieder irgendetwas schlechtes von uns kommt, was sie Leben kostet.“

Kili weitete die dunklen Augen etwas. Ja, die Frage war berechtigt... sie musste erst darüber nachdenken.

Nadeshda musterte sie unterdessen beiläufig. Sie war so eine große und kräftige Frau, wenn die Männer so waren wie sie, war es kein Wunder, dass der erste Angriff so kläglich gescheitert war. Und es war kein Wunder, dass Mahrran Gefallen an ihr fand – zwar war es verwerflich, aber sie entsprach haargenau dem allgemeinen Schönheitsideal... anders als manch andere. Sie wandte den Blick von ihr ab, als die Jüngere antwortete.

„Vielleicht überlegt Moconi sich irgendetwas, womit sie sich schützen können... ich denke nicht, dass ein... Krieg in seinem Interesse ist. Der Frieden ist Tradition. Traditionen sind ihm sehr, sehr wichtig.“
 

Kajira rannte dem Seher in die Arme. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn aus irgendwelchen Gründen schien er plötzlich sehr an ihm zu hängen... Irgendwelche. Ihm fehlte einfach eine bekannte Bezugsperson, Kajira war ein noch sehr, sehr junger Mann; in den Augen der Menschen noch ein Kind und er stammte aus einer riesigen Familie, Einsamkeit war ihm bisher vollkommen unbekannt gewesen und tat ihm so besonders weh. Also wollte er diesen Schmerz verdrängen, der Seher konnte es ihm nicht verübeln und entschloss sich dazu, über seine Anhänglichkeit kein schlechtes Wort zu verlieren.

„Ich darf tatsächlich frei sein! Zumindest hier drin!“, berichtete der Jüngere ihm da beinahe euphorisch, wovon er ohnehin schon wusste. Er tätschelte ihm den Kopf, ohne eine Miene zu verziehen.

„Das ist eine gute Sache.“, bestätigte er nur und sein gut gelauntes Gegenüber ließ von ihm ab und strahlte.

„Vielleicht lassen sie mich ja irgendwann ganz gehen! Zu meiner Mabalysca! Hat mich ohnehin gewundert, dass keiner meiner Brüder nach mir gesucht hat bei dem Angriff...“

„Sie sind nicht dazu gekommen.“

Und sie hätten es auch nicht getan, aber das musste er dem Jungen ja nicht sagen. In ihrem Blutrausch hatten sie ihn einfach vollkommen vergessen... wie hatten sie nur können?

Er war ein Seher, er galt als nahezu allwissend... aber er verstand so vieles nicht.
 

„Und du bist wirklich sicher, dass... dass es funktioniert hat, Shiran? Und dass sie nichts wissen?!“

Der Junge nickte, als seine Mutter des Todes erschöpft auf ihr Lager niedersank. Sie brauchte viel Ruhe... sie war tagelang nur gerannt, und das, obwohl sie kurz zuvor erst entbunden hatte... das hatte sie natürlich sehr geschafft, aber Shiran war nicht ernsthaft besorgt, denn die Götter hatten ihm gesagt, dass sie sich schon bald wieder erholt haben würde, ebenso, dass sein kleiner Bruder in Sicherheit war. Man würde sich gut um ihn kümmern...

Er hatte es angenommen, sein Schicksal als Seher. Ewig hatte er sich nicht dagegen sträuben können... er musste lernen, mit seinen Fähigkeiten gut umzugehen, hatte er beschlossen – wenn er es bereits früher getan hätte, hätte er vielleicht auch seinen Vater beschützen können...

Das Kind schloss bitter die Augen. Jetzt war es zu spät...

Von nun an lebte er allein mit Yvery. Und er wusste sehr genau, wie er sich seine Fähigkeiten zu Nutzen machen konnte... auch wenn es dreist war.

„Ich soll deiner Familie Marktfreiheit gewähren? Weil du der Seher bist? Bitte?“

Marktfreiheit bedeutete in diesem Fall, dass man sich auf dem Markt von allem nehmen konnte, was man zum Leben brauchte, ohne eine Gegenleistung. Diese Möglichkeit hatten an sich nur sehr wenige Dorfbewohner.

„Sonst müsste ich betteln. Meine Mutter kann nicht viel und ich bin noch zu klein. Ich kann nur hören und deuten, was die Götter sagen. Aber wir müssen essen.“

Der Herr zischte und verengte seine Augen zu sehr schmalen Schlitzen, als der kleine Junge vor ihm bei seinen törichten Worten nicht einmal mit einer Wimper zuckte. Er wusste, dass man ihn brauchte... na gut.

„Ich entscheide, was ihr bekommt! Ihr werdet es dankend annehmen und niemals eine Forderung stellen, ist das klar?“

Der Junge nickte.

Was der Herr ihnen zukommen ließ, reichte gerade dafür, dass sie nicht verhungerten. Und dennoch trieb es ihnen die Missgunst der anderen an den Hals... es war keine gute Zeit für sie. Shiran hoffte, er würde ein großer und starker Mann werden – schon sehr bald – damit er endlich für sich und seine Mutter anständig fischen konnte. Vater hatte es ihm schließlich beigebracht...

„Ich nehme dich mit, wenn du magst.“, brummte sein Onkel, der eigentlich nur der Mann der Schwester seiner Mutter war, irgendwann, als sein kleiner Verwandtenkreis in jenem Sommer nach Sanans Geburt an einem warmen Abend gemeinsam vor ihren Türen am Strand saß, „Damit du es nicht verlernst.“

Im Gegensatz zu so ziemlich allen anderen, die er kannte, ausgenommen natürlich seine Familie, mochte Shiran den großen, breit gebauten Kerl, der nie lächelte und ständig schlecht gelaunt schien. Er durchschaute ihn, er hatte ein gutes Herz und so nickte er ihm dankbar lächelnd zu.

„Ja, das wäre sehr gut. Ich danke dir.“

Er hob seine kleine Cousine auf seine Arme, die kurz nach seinem kleinen Bruder, der sich nun weit entfernt von ihm befand, geboren worden war. Er liebte das kleine Mädchen... sie gab ihm einen gewissen Halt und füllte dürftig das Loch, das der unerfüllte Wunsch nach einem Geschwisterchen aufgerissen hatte.

„Aber sei vorsichtig...“, bat Yvery unterdessen leise, während sie neben ihm auf einem kleinen Felsen hockte. Sie war eine traurige Frau geworden und es tat ihrem Sohn weh, sie leiden zu sehen... sie hatte es schwer.

Wenn es etwas gegeben hatte, was den Jungen sein Leben lang beeindruckt hatte, dann war es die Beziehung zwischen seinen Eltern gewesen. Sie waren sehr, sehr verliebt ineinander gewesen – schon als kleine Kinder, an sich. Mit seinem Vater war auch ein Teil seiner Mutter gestorben... und dass sie ein Baby, das sie drei Monde lang unter ihrem Herzen getragen hatte, einfach so hatte weg geben müssen, machte es ihr nicht unbedingt leichter. Sie vermisste ihren kleinen Jungen auch...

Aber sie war nicht allein. Er spürte das Lächeln seiner Tante, als er das kleine Mädchen auf den Kopf küsste und dann ihr übergab, um seine Mutter darauf liebevoll zu umarmen.

„Ich passe auf mich auf.“, versprach er mit den Worten eines Kindes, „Ich weiß doch, wann wir nicht heraus fahren dürfen. Ich bin so gut wie ein Mann!“

Sein Onkel knurrte, während er auf das weite Meer hinaus sah. Am Horizont braute sich etwas zusammen... wie damals.

„Dein Vater hätte gut daran getan, dich nicht einfach hintergehen zu wollen, wie?“

Seine Frau, die neben ihrer Schwester saß, zischte kurz empört. Yvery schmiegte sich bloß seufzend an ihren ältesten Sohn.

„Er hat doch recht...“
 

Hatte er auch, er war kein dummer Mann. Er lehrte Shiran alles, was er wusste, und verdiente sich auf diese Weise eine Menge an Respekt bei dem Jungen, der, wenn er nicht gerade auf See war oder für den Herrn und die Herrin sprechen musste, gern mit seiner kleinen Cousine spielte.

Und so gingen die Monde dahin, in denen er seinen Vater vermisste, aber letztendlich, vermutlich dank seines geringen Alters vergaß, wie es mit ihm gewesen war und auch, dass er beinahe ein großer Bruder geworden wäre. Nicht die Existenz seines Geschwisterchens entfiel ihm, das nicht, viel mehr alle Wünsche und Sehnsüchte, die er damit verbunden hatte in einer Zeit, in der er trotz seines Wissens noch zu hoffen gewagt hatte.

Und irgendwann waren aus den Monden zwei volle Jahre geworden. Er dankte seinen Göttern dafür, dass sie aus ihm einen großen, starken Mann gemacht hatten – zumindest fühlte er sich zu diesem Zeitpunkt so. Dass er für sein Alter sehr hoch gewachsen war, konnte allerdings tatsächlich niemand bestreiten.

Sein Leben war vielleicht nicht gut, aber immerhin erträglich. Er hatte gelernt, dass er keine Freunde haben würde... niemals. Er war anders als sie, sie waren anders als er. Aber sie ließen ihn in Frieden und sprachen so mit ihm wie mit jedem anderen auch, die Kinder. Das reichte ihm schon.

Alles war in Ordnung. Bis die Krankheit kam.
 

Letztendlich wusste keiner mehr, woher sie gekommen war, nicht einmal mehr Shiran. Das Einzige, was er wusste, war, dass das Armenviertel eine Weile lang Sperrzone war, denn hier lebte die Krankheit und hier sollte sie auch bleiben. Es war schwierig, erkrankte Mitglieder der Mittel- und Oberschicht wieder zu heilen – mit den Niedersten ihrer Gesellschaft sparte man sich diese Mühe einfach, von denen gab es ohnehin genug, hieß es.

Shiran hatte ein schlechtes Gefühl. Nicht wegen der Krankheit selbst, sondern dass er sich nicht wegen ihr sorgte, nicht einmal, als sein Onkel krank wurde und bald darauf im Sterben lag. Es war richtig so – die Götter kontrollierten seine Gedanken. Und die Götter hatten die Macht über Leben und Tod, so war es schon immer gewesen und das war auch das einzige, was rechtens war.

Als sein Onkel dann verstarb, wurde auch dessen Frau krank. Weil man wusste, dass man ihr nicht würde helfen können, ließ man sie einfach, erfüllte ihr jedoch noch einen Wunsch, der in den Augen des kleinen Sehers und seiner Mutter vollkommen selbstverständlich war: Sie nahmen ihre nun zweijährige Tochter bei sich auf. Das kleine Mädchen benahm sich quietschfidel, einige Tage lang zumindest. Dann zeigte der böse Windgeist, der diese Krankheit lenkte, wie grausam er sein konnte, indem er ein scheinbar gesundes Kind innerhalb einer Nacht tötete.

Erst als Shiran zusah, wie seine geliebte kleine Cousine verzweifelt Blut hustete, zitterte und schließlich in den Armen seiner Mutter leblos zusammen brach, zog sich in ihm etwas zusammen. Etwas, was ihm die Luft zum Atmen abschnürte... er verabscheute diese Ungerechtigkeit. Und er verabscheute die Tatsache, dass er nichts dagegen tun konnte – er wollte noch viel größer und stärker werden, damit er für Recht sorgen konnte! Damit auch die Armen gesund gepflegt wurden, wenn der Tod nach ihnen griff...
 

Es verging nicht viel Zeit, da sagte man ihm, er müsse vor dem Herr und der Herrin vorsprechen – ungewöhnlicherweise jedoch nicht in ihrem Haus, sondern im Vorhof. Mit gehörigem Abstand empfing man ihn und man sparte es sich auch gleich, ihm zu erklären, weshalb man eine derartige Distanz zu ihm einhielt – er war mit der Krankheit in Berührung gekommen, er durfte sie auf keinen Fall weitergeben.Und darum ging es auch.

„Bist du nun endlich zu einem Ergebnis gekommen?“

Ja, er hatte sich überlegen sollen, wie man der Seuche den Garaus machen konnte. Und die Antwort, die er hatte, war so simpel wie auch nachvollziehbar.

„Ja. Man kann nichts tun. Wir müssen warten.“ Er sah, wie sich das Gesicht des Mannes vor Wut verzerrte. „Es würde kurzzeitig etwas nützen, würde man alle Kranken aus dem Dorf entfernen – auf eine der Inseln vielleicht – aber die Krankheit würde auf jeden Fall zurückkommen. Der böse Geist wird so lange bleiben, wie er will, denn die Götter haben ihn uns geschickt. Als Strafe... oder als Probe...“

Ein kalter Wind fuhr auf und zerzauste das relativ kurze violette Haar des Jungen. Langes Haar war schön, aber in seiner Schicht konnte er sich nicht wagen, sein Haar wachsen zu lassen, auch wenn es sicher hübsch gewesen wäre... ihm war wichtig, dass er einigermaßen hübsch aussah.

„Probe...“, wiederholte der Herr sein letztes Wort langsam und klang dabei selbst prüfend, „Die Götter wollen unsere Reaktion prüfen. Ich sage, ich werde ihnen keinen Gefallen tun, indem ich mehr Risiken eingehe, als nötig sind – das Strandviertel bleibt abgeschlossen. Und du, Fassar, halte dich von allen Kranken fern, dich brauchen wir noch.“
 

Das war sehr leicht daher gesagt. Das Kind brummte missmutig, als es zu seiner Hütte zurückkehrte... das ganze Viertel war doch voll von Kranken! Und selbst, wenn er sich den lieben langen Tag lang nur zuhause versteckt gehalten hätte – was er gewiss nicht tat – so wäre er dennoch mit seiner Mutter in Berührung gekommen, die auch krank war. Noch wusste sie es nicht, aber Shiran hatte man es bereits mitgeteilt. Er wusste an sich genau, was geschehen würde... ganz genau. Aber es war zu grauenhaft, als dass sein naiver Jungenkopf das hätte verstehen können, und so schwor er sich, sich so lange um seine Mutter zu kümmern, bis sie wieder gesund war, egal, was der Herr dazu sagte oder auch nicht. Sein Vater hätte das sicher auch gewollt! … redete er sich ein.
 

Zwar sollte er recht behalten, was das Schicksal Yverys betraf, denn das bewahrheitete sich nur wenige Tage später bereits, wurde aber dann dennoch überrascht. Dass der Herr nichts wusste, hatte scheinbar nicht gereicht. Er war irritiert, als er die Frau vor der schäbigen Türe empfing. Er hatte sie nicht oft gesehen in seinem Leben, wusste aber dennoch genau, wer sie war.

Da sie schon über dreißig Jahre lang gelebt hatte, war sie wohl nicht mehr die Jüngste, aber auch definitiv noch nicht die Älteste unter ihnen. Sie war klein und schlank und bemerkenswert hübsch, das fiel Shiran trotz seines geringen Alters auf.

Ihr langes, schwarzes Haar in einem Zopf geflochten, stand sie in einfacher, aber nicht schäbiger Kleidung vor ihm und visierte ihn mit ihren dunkelblauen und trotzdem eisigen Augen eine Weile stumm an. Ihre Gesichtszüge entspannten sich nicht, als sie schließlich sprach.

„Meine Götter sprachen von deinem Ungehorsam.“, erklärte sie sachlich, ohne sich zu rühren oder sich irgendeine Gefühlsregung anmerken zu lassen, „Du weißt, dass du dich schützen musst. Und du weißt, dass deine Mutter bald sterben wird.“

Sie trat einen Schritt vor und wie selbstverständlich in die kleine Hütte ein, aber nur jenes kurze Stück, das sie damit überwunden hatte, dann versteinerte sie wieder. Der Junge war dabei irritiert zurückgewichen. Seine Mutter hob auf ihrem Lager schwer atmend den Kopf.

„Du?!“

Sie nickte knapp, nicht undeutlich, aber auch gerade nur so viel, dass klar ersichtlich war, dass sie bejaht hatte.

„Du bist ungebildet und naiv, nicht unbedingt dumm, Yvery. Du weißt, was dir blüht und ich weiß, dass du dein Kind sicherlich nicht weiter gefährden möchtest, daher nehme ich es heute mit.“

In diesem Moment wollte Shiran schreien. Er hatte sagen wollen, dass er nur nach Hause gehörte und dass es seine Pflicht war, sich um seine Mama zu kümmern... aber eben diese kam ihm zuvor, als sie ihr Haupt schwach wieder auf ihr Lager sinken ließ und versonnen zu sprechen begann.

„Ich hätte nicht mit dir gerechnet...“, stellte sie klar, ohne böse zu klingen, „Aber ich bin froh, dass du da bist. Ja, hol ihn mit, er ist ein guter und gescheiter Junge... er ähnelt deinem Sohn, weißt du?“

Die Frau senkte die Brauen minimal.

„Morys war kein solcher Träumer, er war Realist.“

Der Junge überhörte den Tadel seiner Großmutter und vergaß auch allen Gehorsam, als er sie grantig anfauchte.

„Ich gehe nicht weg von hier! Nicht, damit der Herr mich weiter ausnutzen kann! Lieber sterbe ich – bei meiner lieben Mutter! Dann bin ich auch nicht allein...“

Es war eine bittere Wahrheit, die ihm mit einem Mal die Luft zum Atmen abschnürte und ihn verstummen ließ. Er hatte alle verloren. Seine Mutter war die Letzte, die ihm geblieben war...

Er war nie reich gewesen, aber auch nie wirklich unglücklich. Geblendet von den Träumen seiner Kindheit hatte er bis zu jenem Moment nicht bemerkt, wie sein einstiges Glück mehr und mehr zu Staub zerfallen war. Als er der Mutter seines Vaters in jenem Augenblick ins Gesicht sah, wusste er, dass es das Gesicht seiner Zukunft war.

„Es geht nicht um den Nutzen, der du dem Herrn bringst, Shiran Fassar!“, erklärte die Frau ihm da ruhig, aber kalt, „Zum einen bist du wichtig für das Dorf. Ich verstehe bei den Mächten der Götter, dass du dich nicht für die egoistischen Vorhaben der Tankana-Familie hergeben möchtest und sei dir sicher, ich werde die Letzte sein, die jemals verlangen wird, diesen Leuten hörig zu sein. Aber du hast Fähigkeiten, die uns allen nützen. Du bist der Seher, Junge – mache dir klar, wie vielen Kalenao du im Notfall helfen kannst, wenn du es nur zulässt. Dein Tod wäre ein herber Verlust für die Gemeinschaft.“

Sie wandte den Blick ab und schritt an ihm vorbei, zum Lager seiner Mutter, wo sie die Felle, mit denen sie sich zudeckte, ordentlich richtete und der jüngeren Frau kurz ungeahnt zärtlich durch ihr violettes Haar strich.

Yvery lächelte darauf schwach.

Dann trat die Frau wieder zur Tür, dem Kind den Rücken kehrend.

„Und zum anderen... kann ich unmöglich zulassen, dass dir etwas geschieht. Du bist mein Enkel, die letzte lebendige Erinnerung an das einzige Kind, das die Götter mir je zugestanden haben. Ich muss dich beschützen, wenn es niemanden anderes mehr gibt, der das tun kann.“

Sie verließ das Haus.

„Verabschiede dich, Shiran.“
 

„... ist es nicht so?“

Shiran zuckte überrascht zusammen, als Kajira vor ihm dümmlich kicherte. Wunderbar, da war er so in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er dem armen Kerl gar nicht zugehört hatte. Beruhigenderweise waren seine Worte laut der Götter ohnehin belanglos gewesen...

„Absolut, Kajira.“
 

„Speere?“

Mahrran weitete verblüfft die Augen, als seine Frau ihm strahlend berichtete, was ihr eingefallen war. Ihr Stamm sei nur mit eigenen Waffen zu besiegen... aha. Das klang ihm etwas zu einfach, aber wenn sie es sagte, würde da wohl schon etwas wahres dran sein – sie war schließlich seine Kili. Und es konnte sicher nicht schaden, wenn er seine Männer mit diesen seltsamen Dingern ausrüsten ließ; gefährlich waren die definitiv, das brachte sicher etwas.

Als sich ein dankbares Grinsen in sein Gesicht schlich, erstrahlte die junge Frau noch mehr... wie seine eigene kleine Sonne.

Oh, mit ihm stimmte wirklich etwas nicht. Was hatten die Götter nur mit ihm gemacht, dass er diese Menschenfrau so unglaublich liebte? Prinzipiell war es nicht ungewöhnlich, dass die Götter ihm als begabtem Magier deutlich machten, dass er die Frau gefunden hatte; aber warum ausgerechnet ein Mensch? Das war vor allen anderen so beschämend... dabei wollte er sich doch gar nicht ihretwegen schämen, das verdiente sie nicht.

Er fragte sich, ob die Götter so entschieden hatten, weil er sich seinerzeit seinen mächtigen Eltern widersetzt hatte. Er erschauderte heftig, als er sich an jene Zeit erinnerte und beinahe schutzsuchend schmiegte er sich in die Umarmung seiner Frau.

„Sie können damit kein recht haben. Ich glaube nicht, dass sie recht haben. Sie haben kein recht, Schwester!“

Nadeshda sah bleich zu ihrem Zwillingsbruder auf, der angewidert sein Gesicht verzog. Er liebte sie, zweifelsohne... aber sie war hässlich. Er meinte das nicht böse, überhaupt nicht, denn ihm war relativ egal, wie seine Schwester nun aussah, so lange sie auch nur letzteres war.

Aber das wollten ihre Eltern ändern... sie waren vom Blute der Tankana-Familie, deren Zweige über die ganze Welt verteilt waren, hieß es. Aber in ihrem Land waren nur sie... man befürchtete, das wertvolle Blut würde sich verlieren – Mahrran verstand nicht, wie Blut sich verlieren sollte, und was es dabei für einen Sinn hatte, ihn mit seiner Schwester verheiraten zu wollen. Er war gerade erst zu einem Mann geworden, und das wurde man in seiner Kultur sehr früh, es fiel ihm schwer, sich überhaupt für eine Frau begeistern zu können, aber ausgerechnet Nadeshda?

Sie war winzig wie ein kleines Mädchen, wirkte aber irgendwie noch viel zierlicher und zerbrechlicher. Einzig ihre Hüften verrieten ihre Reife im Ansatz... aber das nahm er kaum wahr, in seinen Augen war sie ein Kind, obgleich sie etwas älter war als er.

„Wir müssen gehorchen. Das verlangt man von uns.“

Ihre Worte klangen dafür immer reifer als seine. Sein Blick wurde wehleidig, während ihrer trotz der offensichtlichen Anspannung vollkommen seriös wirkte.

„Ich... kann aber nicht als Mann bei dir liegen. Ich kann das nicht! Ich... habe dich sehr lieb.“

Irgendwie passten seine Worte nicht ernsthaft zusammen, aber etwas anderes hatte nicht über seine Lippen kommen wollen. Sie erwiderte nichts und senkte den Blick, worauf er sie verwirrt in die Arme schloss...

„Stimmt etwas nicht?“

Er hob irritiert den Kopf wieder an, als er die besorgte Stimme seiner Kili vernahm.

Sie war ein Geschenk, auch wenn sie nur ein Mensch war, das war ihm nun klar. Er würde sie niemals wieder als Strafe ansehen... die Erinnerungen an das, was man ihm und Nadeshda angetan hatte, waren zu grausam, als dass er es sich leisten konnte, sich über eine hübsche Frau, die er wirklich begehrte, zu beschweren.

„Alles ist in Ordnung.“

Er schmiegte sich eng an sie. Ja, das war ein Glück.
 

Die Erinnerungen an jene Zeit hatte Nadeshda längst verdrängt. Es hatte so weh getan...

Ihr fiel murrend etwas anderes ein, das mit Sicherheit auch sehr schmerzhaft für sie werden würde, als sie sich in eine warme Quelle sinken ließ, um zu baden. In den Bergen gab es nur wenige von ihnen – und die, die es gab, waren nur den wichtigsten Bewohnern des Dorfes vorbehalten. Also ihr.

Das warme Wasser umfing ihren vom winterlichen Wind fröstelnden Körper sanft und ließ sie sich entspannen. Sie seufzte, als sie an sich herab blickte und an dem durch das Wasser etwas verzerrten Bild ihres sanft gerundeten Bauches hängen blieb.

Da musste sie so leiden, nur um diesen Parasiten los zu werden, es war eine Frechheit von Shiran. Und noch ärgerlicher war, dass der Spinner nun auch noch fort war – sie hätte ihm zwar ohnehin niemals den Gefallen getan, seine Frau zu werden, aber ohne, dass er wenigstens versuchte, sie dazu zu bekommen, war das Ganze noch etwas sinnloser, fand sie.

Sie hoffte, Alaji würde ihrem Befehl folge leisten... dieses Kind war des Lebens nicht würdig.

Wobei, was dachte sie da?

Mahrrans kleiner Halbmensch war es vielleicht nicht, aber das Kind eines Götterkindes und eines Sehers? Vielleicht war es ein Fehler. Sie hoffte, die Götter würden ihr noch Auskunft darüber geben...

Noch ehe die leisen Schritte ertönten, wusste Nadeshda, wer ihr nun gleich Gesellschaft leisten würde. Sie lächelte matt, als sich ihre verträumte Schwester Mabalysca erschreckte, als sie den Weg hinauf kam und sie im Wasser entdeckte.

Das hatte sie nicht geplant, sie war lieber allein... aber jetzt zu gehen wäre ihrer älteren Schwester gegenüber doch sehr unhöflich gewesen, und so verharrte die Jüngere zunächst errötend einen Moment auf dem staubigen Boden vor dem kleinen Tümpel mit dem warmen Quellwasser.

Das würde ihr nicht gut tun... sie trug nur ein sehr dünnes Kleid, das sie sich übergeworfen hatte, weil es für den kurzen Weg bis zum Bad reichte, doch nun zerrte der eisige winterliche Wind an ihrem Körper.

Der Himmel war zugezogen. Vom Meer aus zogen gewaltige Wolkenmassen landeinwärts und versprachen nichts Gutes... außerdem dämmerte es bereits. Es war wirklich eisig. Nadeshda war intelligent genug gewesen, auch einen Mantel für nach dem Bad mitzunehmen, ihre verträumte Schwester war da anders; sie war bereits mit der Situation, jemandem unerwartet zu begegnen, überfordert.

„Festgefroren?“, schnarrte die Ältere so auch schließlich, „Komm endlich ins Wasser, du holst dir den Tod.“

Mabalysca zuckte aus ihrer Starre, dann nickte sie eifrig und tat wie ihr geheißen, sich in der Wärme sofort deutlich entspannend. Sie hatte nicht ernsthaft darauf geachtet, ihre Narben zu verbergen... Nadeshda kannte sie ohnehin.

Sie blieb in einigem Abstand zu ihr sitzen.

„Vielleicht wäre es besser.“, entgegnete sie schließlich, „Wer weiß, ob Kajira noch lebt? Die Götter schweigen mich an.“

„Nur, weil du dir eine Antwort erzwingen möchtest.“, war die gar nicht so unkluge Antwort der Älteren und das Mädchen seufzte. Ja, das war das Erste, was man einem Kalenao-Kind beibrachte; man konnte sich nichts erzwingen. Keine Antworten und keine Zauber, man musste auf die Güte der Götter hoffen und durfte nicht fordern. Und wenn man letzteres dennoch tat, so durfte man sich nicht wundern, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass das erwünschte Ereignis eintrat, immer geringer wurde.

Aber was sollte sie sonst tun, wie sollte sie reagieren?

Kajira war fort. Er war weg, er war einfach nicht mehr zurückgekehrt – aber anders als bei fast allen anderen hatte niemand seinen Tod bis zu diesem Tag bestätigen können. Vermutlich lebte er irgendwo – und das machte alles noch schlimmer. Zu wissen, dass das, was man sich am meisten wünschte, da war, nur unerreichbar weit fort, war schlimmer als die Gewissheit, es für immer verloren zu haben. Hoffnung tat so weh. Und niemand nahm sie ernst.

Sie hatte es satt.

„Ach, was soll ich denn sonst tun?! Euch ist es doch vollkommen egal, was aus mir wird, niemand hilft mir! Ihr kümmert euch immer nur um eure eigenen Angelegenheiten!“

Nadeshda zuckte unter der ungewohnt lauten und erbosten Stimme ihrer Schwester zusammen, schwieg jedoch.

„So lange ist Kajira schon weg! SO lange! Und niemand hat bisher versucht, ihn zurück zu holen! Er ist euch egal! Ich bin euch egal! Verdammt... ich will doch nur seine Frau werden und Babys mit ihm bekommen, so wie so viele Mädchen zu Frauen werden und Babys bekommen... sogar du!“

Sie senkte ihr Haupt tief und erschauderte plötzlich, als ihr auffiel, wie sie gerade mit ihrer älteren Schwester, einem Götterkind von oberstem Rang, gesprochen hatte. Oh Himmel, das hatte ihr nicht zugestanden.

„Es... tut mir leid.“

„Nein, ist schon in Ordnung.“

Sie schielte verschüchtert zu ihrem Gegenüber, das völlig ruhig da saß und sie musterte. Sie verstand sie nicht...

„Es geht nicht um uns. Es geht um das Volk. Aber ich verstehe dich und räume Fehler ein. Ich denke, Mahrran sollte zumindest darin noch kooperieren, wenn wir ihn bitten, bei seinem nächsten Versuch jemanden gezielt nach Kajira suchen zu lassen... dann hätte diese Zeitverschwendung auch einmal einen Sinn.“

Sie erhob sich kurz, jedoch nicht, um das Wasser zu verlassen, sondern um sich dichter neben die Jüngere zu setzen, die darauf nur irritiert zu ihr blickte und unter den scharfen Augen Nadeshdas wieder zusammenfuhr.

„Du bist eine Tankana, Mabalysca. Eine besondere. Wären unsere Eltern nicht so früh verstorben, so hättest du das Erbe unserer Eltern angetreten, wo du doch als einzige gesunde Tochter in höchstem Maße geliebt worden bist. Zu recht. Also zeige Rückgrat und zerfalle nicht an deiner Sehnsucht.“

Eine kalte Böe ließ einige kürzere Haarsträhnen wirr um ihr Gesicht wehen.

Die Jüngere wollte sich ihren Worten zunächst ergeben, dann überlegte sie es sich doch anders und sprach ehrlich; weil sie eine Tankana war.

„Ich soll an meiner Sehnsucht nicht zerfallen! Das kannst du nur verlangen, weil du nicht weißt, was Liebe ist, Nadeshda.“

Darauf herrschte eine Weile Schweigen.
 

„Du hast recht, ich weiß es nicht.“
 


 

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Da ich mittlerweile einen ziemlichen Abstand zwischen veröffentlichten und tatsächlich geschriebenen Kapiteln erreicht habe (momentan beende ich gerade Kapitel 40), folgen die Veröffentlichungen jetzt wohl wöchentlich. ^^

Entscheidung

Es war kalt. Der eisige Wind peitschte in unbekanntem Ausmaße über die weite Prärie und die Menschen des Schlangenstammes waren sich sicher, niemals einen solchen Winter erlebt zu haben. Ihre Hütten waren nicht für diese Witterung konzipiert und ließen sich die Belastung schon nach kurzer Zeit deutlich anmerken. Die bösen Geister zerrissen und zerfledderten die Felle und Häute, aus denen sie bestanden, so gut es ihnen mit ihren unsichtbaren Krallen nur möglich war, und ließen sie zugig werden und auskühlen. Und darin befanden sich noch immer die Verletzten des großen Angriffs.

Wenn es das einzige Problem gewesen wäre, hätte man sich dem gefügt. Doch was den Menschen nicht bekam, das wollte auch den Tieren nicht gefallen und so begann das Wild zu wandern in Richtungen, die es zu dieser Jahreszeit noch nie eingeschlagen hatte. Doch das Winterquartier durfte nicht so einfach verlassen werden; es war eines der höchsten Gesetze, dass das Land damit geehrt werden musste, eine gebührende Zeit lang in den jeweiligen Quartieren zu verharren. Und daran glaubte nicht nur Moconi fest.

So saßen sie nach kurzer Zeit in einem kalten Loch ohne Nahrung.

Und die Bestien gab es auch noch. Der Seher sagte, sie kämen zurück. Und daran wagte der Häuptling nicht im Ansatz zu zweifeln.

Ohnehin erschien es ihm doch mehr und mehr verlockend, dem klugen Mann zu vertrauen, wo er doch selbst mehr und mehr den Faden verlor und schließlich überhaupt keine Ahnung mehr hatte, was er zu seinem leidenden Stamm sagen sollte.

„Du siehst unsere Lage, Shiran.“, sprach er so an einem abermals eisigen Abend in der Versammlungshütte der besten Jäger, zu der auch der Magier Zutritt hatte, auch wenn er der wohl mieseste Jäger, der lebte, war. Es war angenehm warm dank eines Feuers im Zentrum des geschaffenen Raumes, doch auch etwas stickig, denn nicht der komplette Rauch konnte durch die kleine Abzugsöffnung entweichen.

„Sprich, wie sollen wir handeln?“

Der Seher saß genau auf der anderen Seite der Flammen, Moconi gegenüber. Abstruse Schatten zeichneten sich durch das Feuer auf seinem unverschämt wohlgeformten Gesicht ab, als er ernst antwortete.

„Ich bin ein Berater. So lange es eine höhere Instanz als mich selbst gibt, werde ich mir niemals eine Entscheidung anmaßen, Häuptling.“, stellte er zunächst klar, „Ich sage dir, was ich weiß. Was du daraus machst, ist deine Sache, der ich mich bereitwillig fügen werde. Ich will euch unterstützen, Menschen, nicht euch beherrschen.“

Einige skeptische Blicke wechselten zwischen dem Magier und Moconi, doch ersterer schien keinen Spott üben zu wollen und da das Oberhaupt des Stammes seinen Stolz wahren wollte, ohne sich zu blamieren, nickte es bloß knapp.

„Nun gut, das soll mir zugute kommen. Also sprich, was sagen deine Götter, wie ist die Lage?“

Darauf schien Shiran zufrieden zu sein. Er nickte, dann senkte er seinen Blick erst in die hellen Flammen, ehe er sprach.

„Das Wild wird Sanan leicht finden können. Es ist kein Problem. Aber es wird sich nicht mehr in dem Land des Winters befinden. Hier wird es nur noch wenig Kleinwild geben. Es wird der härteste Winter seit vielen Mondzyklen. Das kommt euch aber auch etwas zu Gute, denn die Berge werden bald nicht mehr passierbar sein, das heißt, die Kalenao können so schnell nicht wieder angreifen.“

Außer, sie würden ungewöhnlich schnell mit ihrem grenzenlos dämlichen Plan, sich Speere, wie die Menschen sie auch hatten, zu bauen, fertig werden. Vielleicht wäre es eine Erwähnung bei Moconi wert gewesen, was für eine intelligente Schwester er doch hatte. Am Ende jedoch hätte das möglicherweise nur dazu geführt, dass er Mahrran nicht mehr ernst genug genommen hätte und das wäre für den Stamm eine Katastrophe gewesen.

Wo er schon bei Katastrophe war, eine mittelschwere würde bald folgen. Er seufzte leise in sich hinein, als er dem Schicksal seinen Lauf ließ.

„Dann hilft alles nichts. Dann müssen wir dieses Land verlassen und dem Wild nach!“, schnaubte Karem, noch ehe Moconi sich zu der Prognose Shirans hatte äußern können, und dieser senkte empört die Brauen.

„Dieses Land zu verlassen kommt nicht in Frage. Dass du daran denkst lästert den Göttern bereits, Karem, das Winterland im Erdmond zu verlassen hätte nicht einmal mein Vater in seinen kühnsten Zeiten fertig gebracht und das will etwas heißen. Nein, es wäre unser aller Tod.“

„In gewissem Maße muss man die Tradition einfach wahren, Karem.“, warf auch Dherac murrend ein und die anderen Anwesenden nickten zustimmend.

Karem zischte bloß verächtlich.

„Was ist denn, Seher, wäre es wirklich eine solche Sünde, dieses Land in einer solchen Situation zu verlassen? Ich sage, wir dürfen uns von diesem Land nicht töten lassen!“

„Wenn du das sagst.“, erwiderte Shiran darauf abwesend, ohne aufzusehen.

„Ja, das sage ich!“

Der Jäger erhob sich entrüstet, was ihm durch die Größe der Hütte sogar einigermaßen bequem möglich war, und sah sich unter seinesgleichen um. Er schien entsetzt.

„Was, bei allen Göttern, wollt ihr tun? Ihr habt es gehört und wenn ihr nach draußen geht, dann seht ihr es mit eigenen Augen! Wir haben keine Nahrung mehr! Die Vorratsgruben sind beinahe leer, wovon wollt ihr denn leben? Von den sauren Bruchbeeren? Mehr wächst hier ja nicht! Die meisten Pflanzen sind in diesem Erdmond gar nicht aufgegangen! Wir können doch nicht einfach hier verweilen, bis wir alle tot sind!“

„Bis wir tot sind!?“

Moconi erhob sich ebenfalls. Karems Geste war eine direkte Beleidigung an ihn gewesen, er hatte ihm sehr deutlich gemacht, dass er seine eigene Meinung über die des Häuptlings stellte und das war an sich eine Schande, wie er sie nicht im Ansatz hätte dulden dürfen. Vielleicht tat er das auch nicht.

„Wenn wir im Erdmond dieses Land verlassen, Karem, dann sind wir des Todes! Einen solchen Traditionsbruch hat nicht einmal mein Vater gewagt... und das will etwas heißen, ich werde mich dem definitiv anschließen. Ich weiß noch nicht, wie wir es machen werden, aber wir haben schon mehr harte Winter überstanden als diesen hier, auch wenn bisher keiner an ihn heranreicht.“

Er seufzte, scheinbar zufrieden mit sich selbst und setzte sich wieder an seinen Platz, die Arme vor der Brust verschränkend. Dann schenkte er seinem wohl ärgsten Widersacher einen Blick, der so scharf war wie seine Speerspitzen aus Obsidian.

„Aber wenn du der Meinung bist, ich beginge einen Fehler, Karem, dann hast du meine Erlaubnis, diesen Stamm mit allen, die du zu den Deinen zählst, zu verlassen. Viel Glück.“

Die Jäger zogen überrascht die Luft ein. Shiran rührte sich nicht.

Es war eine offene Herausforderung gewesen, ein Appell an den Mut des Älteren. Wenn er sie ablehnte, beschämte er sich und seine Familie damit auf ewig. Tat er es nicht, ging er in den sicheren Tod – selbst, wenn er recht hatte und es eine gute Sache war, dem Wild einfach zu folgen, so würde eine so kleine Gruppe Menschen nicht lange in diesem gefährlichen Land überleben können. Zumindest nicht allein.

Und das wusste der Mann auch. Er fletschte ohne es zu merken verärgert seine unverschämt gut gewachsenen, fast weißen Zahnreihen, während er offensichtlich gedanklich abwog, was es nun zu erwidern galt. Shiran hatte unterdessen das Bedürfnis, ihm einmal kräftig auf den Mund zu schlagen, ignorierte es aber gekonnt.

„Gut.“, zischte Karem dann auch und alle Blicke lagen gespannt auf ihm, „Ich... warte noch ein paar Tage. Nicht viele, nur ein paar. Vielleicht fällt dir ja noch etwas anständiges ein, was mich dazu bewegt, bei euch zu bleiben. Ich möchte schließlich nicht ausschließen, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt... wir haben schließlich einen klugen Häuptling. Und wenn der nicht reicht... dann haben wir doch noch unseren Seher, nicht?“

Er grinste letzteren breit an. Shiran zuckte bloß kurz mit einem Mundwinkel.

„Esat vet anet werat, ot faresca Rehm mece vet taronas, keruras tèv.“

Kajira und Sanan, auf deren Anwesenheit der Magier an diesem Tag bestanden hatten, blickten ihn zunächst aus großen Augen an, dann misslang es ersterem, sein Lachen zu unterdrücken und letzterer schüttelte bloß empört den Kopf.

Karem hob irritiert beide Brauen.

„Was... genau hast du da gerade gesagt? Hey, hör auf zu lachen dahinten!“

Kajira reagierte nicht. Sanan brummte.

„Wie respektlos.“

„Hast du das verstanden?“, warf Moconi verblüfft ein, und der Jüngere errötete und schüttelte den Kopf.

„Nein, ich meine... es ist respektlos, einfach irgendetwas zu sagen, obwohl man genau weiß, dass der andere es nicht versteht.“

Damit gab sich der Häuptling zufrieden. Er ignorierte Shiran, der nur leicht vor sich hin grinsend wieder in die Flammen starrte und Kajira, der dem Mann auf seiner Sprache irgendetwas höchst amüsiert zurief und wandte sich wieder an den verärgert den Kopf schüttelnden Karem.

„Nun gut, meinetwegen. Wie gesagt, ich stelle es dir frei.“, er nickte den Reihen an Jägern zu, „Ich denke, das ist genug für heute. Morgen treffen wir uns wieder und ich hoffe, bis dahin hatte einer von uns einen guten Einfall, den er mir dann mitteilen kann.“

Auf seine abschließenden Worte erhob man sich und verließ nach und nach die Hütte, bis nur noch Shiran und Moconi in ihrem Inneren waren. Als ersterer ebenfalls gehen wollte, hielt der Häuptling ihn am Ärmel noch einmal zurück.

„Und du hör auf, Leute, die viel dümmer sind als du, zu beleidigen.“
 

„Dein riesiges Mundwerk wird uns alle umbringen! Es wird uns umbringen, du dummer Mann!“

Karem ließ zu, dass seine kleine Frau ihm vor all ihren Kindern ins Gesicht schlug. Und Ardoma war nicht schwach. Dennoch hatte er das Gefühl, sie täte zu wenig.

„Aber... was hätte Vater sonst tun sollen?“, wagte Suale, ihr ältester Sohn nach Joru, sich vorsichtig einzumischen. Er würde bald seinen nächsten Jahrestag feiern und kurz darauf zu einem erwachsenen Mann werden. Und es würde ihm weitaus besser gelingen als seinem längst verstoßenen Bruder, denn im Gegensatz zu diesem war er tapfer und geschickt.

Die Frau zischte wie eine Schlange, als sie sich so abrupt zu ihm umdrehte, dass ihr langes schwarzes Haar durch die Luft wirbelte. Die jüngeren Kinder wichen in die letzte Ecke der relativ geräumigen Hütte zurück.

„Was, Suale, verstehst du davon? Hat dein Vater auch nur einen einzigen, nennenswerten Grund gehabt, Moconi ins Wort zu fallen? Hat er? Ich glaube nicht!“

„Aber meine Worte mussten gesagt werden, dieser naive Dummkopf glaubt, alles würde schon irgendwie gut werden, wenn man sich nur an die Traditionen hält, das ist doch Quatsch.“

Karem sprach ernst und würdevoll, ließ sich seine vorangegangene Erniedrigung nicht im Ansatz anmerken, ebenso wenig, wie dass er seiner Frau in den meisten Punkten ihrer Anklage absolut recht gab.

Ardoma sah wieder zu ihm auf. In diesem Moment war ihr Gesicht so voller Emotionen, dass die anderen sie sicher nicht wiedererkannt hätten. Die beinahe schwarzen Augen weit aufgerissen, die Wangen gerötet... es gab vermutlich keinen Augenblick, in dem er sie mehr liebte als wenn sie so war.

„Natürlich hast du recht!“, schnappte sie dann und ihre Stimme klang mit einem Mal etwas brüchig, „Natürlich hätten sie auf deine Worte hören sollten... weil du der rechtmäßige Häuptling bist.“

Sie senkte ihr Haupt tief, sodass ihr langes Haar ihr ins Gesicht fiel und letzteres verdeckte.

„Aber sie hören nicht auf dich. Du hättest es ahnen müssen... jetzt müssen wir gehen.“

Sie sah wieder auf.

„Stolz über unser Leben, Karem.“
 

„Nicht, dass ich dir nicht absolut zustimmen würde, aber was du da gesagt hast war ziemlich dreist.“, Sanan seufzte, während er neben Shiran zu seiner Hütte ging, „Ich habe gar nicht gemerkt, dass es Himmelssprache war. Das war ganz schön brenzlig.“

Der Ältere grinste bloß leicht, die noch immer teilweise etwas verstörten Blicke der Menschen um sie herum ignorierend, als er an ihnen und ihren Hütten vorbeitrat.

„Und du bestreitest noch immer deine Herkunft, dummer kleiner Bruder. Ich spreche ständig die Himmelssprache mit dir, das fiel dir nicht auf?“

Der Jüngere hielt abrupt inne, mit großen blauen Augen zu ihm aufsehend. Nein, das war ihm bisher tatsächlich nie aufgefallen. Wie so vieles nicht.

Novaya und Semliya hatten es schnell gewusst, wie er erfahren hatte. Shirans exotische Haar- und Augenfarbe täuschte über ihre Ähnlichkeit hinweg, sie besaßen sogar beide das selbe, abstrus deformierte Gebiss. Ob letzteres wohl der Grund war, weshalb der Seher Karem als Angeber bezeichnet und angedroht hatte, ihm beim nächsten falschen Wort die Zähne auszuschlagen?

„Ich bemerke es.“, seufzte Shiran da und ging weiter, worauf Sanan beinahe gezwungen folgte, „Ich sehe, wie tief es dir zuwider ist. Aber ich möchte, dass du zumindest akzeptierst, dass du einer von uns bist... und nicht von diesen Primitiven hier.“

Er beschleunigte seinen Schritt, um dem Jüngeren das Wort abzuschneiden. Er wollte sich nicht anhören, zu wem er angeblich gehörte und dass sie nicht primitiv waren – er verstand ihn. Aber seine Haltung kränkte ihn dennoch.
 

Moconi war gleichermaßen irritiert und auch erfreut, als Tinash plötzlich vor ihm stand. Er hatte sich sowieso noch auf den Weg zu der Hütte seiner sehr schwer angeschlagenen Familie machen wollen, sich letztendlich aber irgendwie nicht getraut.

„Hast du mich gesucht?“, erkundigte er sich lächelnd und der Jüngere senkte den Blick verlegen.

„Ja, also... irgendwie schon.“

Er hatte natürlich an der Sitzung teilgenommen. Nicht, weil er ein überragend begabter Jäger war, sondern weil momentan nicht nur Teco, sondern auch Porit nicht dabei sein konnten. Ersterer würde vermutlich auch nie wieder zurückkehren.

Die schweren Wunden seines Vaters heilten erfreulicherweise erstaunlich gut, auch wenn der Mann seinen verletzten Arm nicht richtig bewegen konnte. Aber es war nicht sein Speerarm... sie waren guter Dinge, dass er im nächsten Wassermond wieder auf die Jagd gehen können würde.

Bei Teco sah das anders aus. Sein immer wieder zerfetztes, zusammengeflicktes, ansatzweise geheiltes und wieder zerstörtes Bein hatte kapituliert. Es heilte schlecht, nässte und eiterte sogar etwas, obwohl man es sehr sauber hielt. Es war zu nichts mehr zu gebrauchen.

In Tinash verkrampfte sich etwas, als er daran dachte, dass ein so starker, mutiger und begabter Mann wie sein Bruder von nun an so auf seine Hilfe angewiesen sein würde. Es war nicht gerecht.

Aber deshalb hatte er Moconi nicht gesucht. Er hatte das Gefühl, die Götter wollten einfach, dass er sich noch mehr Sorgen schaffte...

„Irgendwie?“, gluckste der Häuptling da und zerwuschelte ihm sein rotes Haar, „Wie darf ich das verstehen?“

Er errötete, ohne ihn anzusehen.

„Ich möchte dich bloß vorwarnen.“, entgegnete er dann und bemerkte dennoch aus den Augenwinkeln, dass der Ältere seine Brauen vor Irritation anhob. Er sprach besser gleich weiter, ehe der ihn noch falsch verstand...

„Wenn Karem sich wirklich dazu entschließt, dieses Lager zu verlassen, dann... werde ich vermutlich... demnächst eine Frau an mein Feuer nehmen.“

Das hatte gesessen. Als er sein Haupt vorsichtig wieder anhob, sah Moconi ihn an, als stünde er seiner längst verstorbenen Mutter gegenüber. Das konnte er ihm gewiss nicht verdenken, innerlich schaute er schließlich genau so dumm, peinlicherweise über seine eigenen Worte.

„Du... möchtest eventuell... eine Frau an dein Feuer nehmen? Eine Frau?!“, er schnappte nach Luft, dann kratzte er sich am Kopf, auf dem das extrem dichte, dicke dunkelbraune Haar wie so oft nach allen Himmelsrichtungen abstand, „Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, versteh mich nicht falsch. Freut mich ja... aber es wundert mich.“

Und wie ihn das wunderte, hatte Tinash ihm nicht vor höchstens einem Mond noch groß und breit erklärt, warum das nichts für ihn war und vermutlich auch niemals etwas für ihn sein würde? Wie seltsam, auch wenn er es natürlich begrüßte.

„Jetzt heiratest sogar du vor mir, ach Himmel.“, er schüttelte den Kopf und der Jüngere lächelte mitleidig. Er hatte es aber auch nicht leicht.

Eigentlich hatte Tinash nicht ernsthaft vorgehabt, Lauys Bitten wirklich nachzukommen – so lange sie sich noch so dumm stellte, konnte ihr schließlich nichts geschehen. Aber wenn Karem das Lager mit „denen, die er zu den Seinen zählte“ verließ, würden sowohl seine älteste Tochter, als auch sein Schwager mitgehen, so viel war sicher. Und dann würde es keinen Ausweg mehr geben...

Verdammt, sie hasste Randary so, wie hätte er zulassen können, dass sie in seine Finger geriet, wo sie ihn doch so respekt- und liebevoll behandelte?! Er konnte es nicht... er würde sie beschützen.
 

Es gab keine ernsthafte Lösung für die Probleme des Stammes, stellte man fest, als man sich schließlich wieder zur Beratung traf. Der Vorschlag, nur eine Hand voll Jäger kurzzeitig aus dem Land des Winters zu schicken, um für den Stamm zu jagen, fand am meisten Anklang, auch wenn sich nicht klären ließ, wie nur wenige Männer einen ganzen Stamm versorgen sollten – und wie sie eine ausreichend große Beute bitte zu ihm bringen sollten.

Karem jedoch ließ das keine andere Wahl. Er schnaubte.

„Dann werde ich wohl gehen.“

Er hatte keine Zeit, sich über Tinashs entsetzten Ausdruck zu wundern, als alle Blicke, teilweise geschockt, teilweise ergrimmt auf ihm ruhten.

„Der Mann stellt seinen Stolz höher als er selbst groß ist. Das kann er machen, besonders in einer Zeit, in der es dem Stamm so gut geht wie jetzt – da brauchen die Brüder ja keine Hilfe.“, spottete Dherac als erster und verengte die blauen Augen zu Schlitzen, während er Karem herablassend von der Seite musterte. Moconi hob kurz die Brauen über seine Bemerkung – sie war nicht unwahr und dennoch hätte sie ihn schmunzeln lassen, wenn die Lage nicht gerade so bitter gewesen wäre. Die losen Zungen hatten Novaya und Semliya nicht zufällig, sicher nicht...

„Sieh dich zu nichts gezwungen.“, flötete er so, innerlich aus unerfindlichen Gründen erheitert, „Ich meine, wenn dir das Risiko zu groß ist...“

„Das Risiko, meine gute Familie diesem dem Tode geweihten Stamm mit dem törichten Häuptling und dem zwielichtigen Seher auszusetzen, das ist mir zu groß, das kann ich nicht zulassen!“

Er erhob sich.

„Ich werde wie angekündigt alle mitnehmen, die ich zu den Meinen zähle.“, er deutete auf Kajira, „Der da gehört nicht dazu.“

Moconi seufzte. Irgendwie hatte er das Gefühl, das war ein Moment, in dem es sich nachzugeben gelohnt hätte. Karem war ein ausgezeichneter Jäger, aus seinem ältesten Sohn wäre schon sehr bald einer geworden und möglicherweise nahm er auch noch seinen Schwager mit – ein herber Verlust in dieser schweren Zeit, wie Dherac rasch bemerkt hatte.

Aber irgendwie hatte er nicht wirklich Lust dazu. Vielleicht war es kindisch, aber das war dieser Mann auch – letztendlich würde er es sein, der von dieser Sache mehr Nachteile hatte als der Stamm, er hätte nicht unnötig viele Gedanken an diese Sache verschwenden sollen, es gab genügend andere, wichtigere Dinge, die seine volle Aufmerksamkeit verlangten.

So nickte er bloß leicht lächelnd.

„Deine Tochter, Dherac, versteht sich gut mit dem da, ist in eurer großen Hütte vielleicht noch ein klein wenig Platz frei?“

Kajira, der wohl irgendwie ahnte, worum es ging, plapperte darauf aufgeregt los, worauf Shiran sich wohl zum Übersetzen angehalten fühlte.

„Er meint, ihr könntet ihn ruhig ganz gehen lassen, er würde kein Wort von dem, was er hier mitbekam, weiter verraten.“

„Und am Besten begleite ich ihn noch, das kann er ja vergessen!“, schnarrte Karem darauf und verschränkte missgelaunt die Arme vor der Brust, obwohl es ihn an sich gar nicht mehr direkt betraf, was mit dem Magierjungen geschah.

Der Seher hob darauf nur eine Braue, erhob sich dann jedoch zur Überraschung aller. Er wollte für etwas einstehen?

Moconi war nicht ernsthaft verwundert, Karem war er nie so ganz wohlgesonnen gewesen, das hatte man leicht erkennen können. So beobachtete er bloß interessiert, was geschah.

„Egoismus ist letztendlich das, was irgendwann einmal siegen wird, nicht wahr, Karem? Das glaubst du und du hast damit tatsächlich recht.“, er strich sich eine seiner ungewöhnlich langen Haarsträhnen aus dem Gesicht und einige der Anwesenden erschauderten unter den seltsamen Worten, die der Mann in seinem noch sehr viel seltsameren Akzent zu ihnen sprach, „Doch bist du damit noch etwas zu früh an, dummer Mann. Nicht in unserer Welt, die wir kennen und nicht bei jemandem wie dir wird das stimmen, Karem. Mit anderen Worten, ich weiß, dass ich es nicht verhindern kann, aber ich heiße weder deine Entscheidung, zu gehen, noch deine Reaktion auf Kajiras Bitte hin gut. Zudem hätte er gar nicht mit dir gewollt...“

Er grinste leicht, als kurzzeitig Schweigen die Hütte erfüllte. Karem senkte grimmig seine Brauen. Dann grinste er jedoch auch.

„Tut dir die Intelligenz, die du zu haben glaubst, eigentlich irgendwann auch einmal weh, Bestie?“, wollte er wissen, „Um ehrlich zu sein schert es mich einen Dreck, was du denkst oder was dieser Haufen von Narren hier tut. Und jetzt... wie würdest du das sagen? Entschuldige mich...“

Er bewegte sich auf den Ausgang zu, hielt kurz vor dem Verlassen der Versammlung jedoch noch einmal inne und sprach zu dem Seher, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen.

„Ehe ich es vergesse, Bestie. Sag mir, was deine Eltern mit dir falsch gemacht haben, damit ich es nicht versehentlich bei meinen Kindern auch so mache...“

Die Jäger verstanden nicht, worauf ihr nun wohl ehemaliger Jagdbruder anspielte und Moconi legte unbewusst kindlich seinen Kopf schief, als er irritiert zu dem erröteten Shiran blickte, der darauf dann zischte wie eine Schlange.

„Sorge dich nicht, Karem. Meine Zähne tun das, wofür sie gemacht wurden, sehr gut. Wenn du nicht gleich verschwindest, beweise ich es dir auch gern...“
 

Tinash fühlte sich schwindelig, als er die Versammlungshütte wenig später ebenfalls verließ. Er hatte sich das genau überlegt, aber er hatte doch nicht miteinkalkuliert, dass es wirklich geschehen würde. Verdammt, er wollte keine Frau an seinem Feuer... aber er wollte auch nicht von seinem schlechten Gewissen getötet werden. Außerdem hatte er sein Vorhaben bereits mehr oder weniger ausgesprochen, er musste zu dem stehen, was es gesagt hatte.

Er musste es tun. Sofort, ehe er es sich anders überlegte!
 

Er hatte Karem erst eingeholt, als der seine Hütte gerade erreicht hatte. Der Mann schenkte ihm einen mehr als nur grantigen Blick – kein Wunder, der Zeitpunkt, zu dem er hier ankam, war ja auch mehr als nur ungünstig. Vielleicht hätte er es schon früher tun sollen...

„Ich habe wichtiges mit meiner Familie zu besprechen!“, schnaubte der Ältere, als er Tinash bemerkte. Zeitgleich kam auch Ardoma aus der Hütte, die skeptisch die Arme vor der Brust verschränkte.

„Ich... kann es mir denken, darum geht es auch etwas, irgendwie.“, erwiderte sein Gegenüber darauf und klang zu seinem Bedauern nicht halb so sicher und entschlossen, wie er sich das ausgemalt hatte, „Ich... will nicht lange herum reden. Ich befürchte nur, wenn ihr den Stamm verlasst, dann... alle von euch. Das... kann ich so nicht zulassen, deshalb wollte ich dich darum bitten, Karem, … dass ich Lauy an mein Feuer nehmen darf.“

Er wusste nicht, wer ihn in jenem Augenblick dämlicher anschaute. Er registrierte bloß, dass sich Ardoma als erstes wieder fing und sich darauf ungewöhnlich steif zum Eingang ihrer Hütte bückte und nach ihrer ältesten Tochter rief, die kurz darauf erschien und den Kopf schief legte, als sie Tinash vor ihrem Vater entdeckte.

Letzterer fasste sich, durch diese Überraschung tatsächlich leicht grinsend, an den Kopf.

„Seltsame Dinge geschehen an diesem Tag!“, rief er aus und der Jüngere dachte bei sich, dass er recht haben musste, als er registrierte, dass Ardoma Lauy tatsächlich in die Arme geschlossen hatte. Irgendwie... besitzergreifend. Das Mädchen schien von der Geste ebenso irritiert, sagte aber kein Wort und erwiderte sie stumm.

„Also, langsam, nur um sicher zu gehen, dass ich mich nicht gerade eben verhört habe, oder so.“, gluckste Karem da, „Du... möchtest, dass Lauy deine Frau wird?“

„Such dir eine andere! Sie ist ein Kind, sie wird dir keine gute Frau sein!“, zischte Ardoma darauf gewohnt leise, aber ungeahnt aggressiv und drückte ihre Tochter weiter an sich. Ihr Mann ignorierte sie.

„Es überrascht mich, dass... du eine Frau an deinem Feuer haben möchtest. Nicht, dass es mich nicht freut, aber es überrascht mich. Ich muss dich allerdings enttäuschen, Lauy ist noch ein Mädchen.“

Er sah zu seiner Tochter, die darauf den Kopf hob.

„Nein... nein, Vater, ich bin schon eine Frau. Seit kurzem... ich kann zu Moconi!“

Ihre Mutter schlug ihr an den Hinterkopf.

„Sprich keinen Unfug!“, forderte sie und errötete. Sie hatte ihre Blutung auch lange verheimlicht...

„Hör nicht auf das Kind.“, seufzte Karem darauf auch und schüttelte den Kopf, „Und selbst wenn... Lauy ist nicht so wie normale Mädchen. Sie ist anders, sie wird im Geiste ein Kind bleiben. Du bist ein passabler Jäger und hübsch dazu, suche dir ein anderes Mädchen, Tinash. Hier gibt es genug, aber nicht Lauy.“

Tinash sah die Familie verblüfft an. Hier lief irgendetwas falsch. Zu seiner Irritation schien es Lauy auch zu verwirren, sie schenkte ihm bloß einen fragenden Blick, als er sie kurz ansah.

„Aber... ihr seid nicht immer da. Sie muss doch an irgendein Feuer, oder nicht?“, wagte er zu fragen und Ardoma antwortete prompt, ohne ihn dabei anzusehen.

„Sie kann zu meinem Bruder. Er ist jünger als ich, er wird gut zu ihr sein, auch wenn sie nicht gut zu ihm sein kann. Geh, Tinash.“

Erst als Karem seiner Frau einen wütenden Blick zuwarf, bemerkte der junge Mann den Fehler, den die Frau gemacht hatte, während sie ihm geantwortet hatte.

Die Tradition schrieb vor, dass eine Frau nur zu einem Verwandten ans Feuer durfte, wenn es keinen anderen Mann gab, der für sie sprechen wollte. Und den gab es in diesem Fall.

Tinash grinste.

„Aaah.“, kommentierte er gedehnt, „Das geht so aber nicht. Ihr müsst sie mir geben. Moconi wird das bestätigen.“

Karem senkte brummend sein Haupt, während seine Tochter erstrahlte. Ardoma starrte bloß apathisch vor sich in die Luft.

„Ich... kenne die Regel, du Spinner.“, knurrte der Mann da und sah wieder auf, „Nun gut. Aber pass bloß auf sie auf, wage dich und krümme ihr ein Haar oder sei nur einmal schlecht zu ihr, glaube mir, ich werde es spüren und ich werde kommen mit meinem besten Speer, egal wo ich mich gerade befunden habe, und werde dir den Hals aufschlitzen, dich schlachten und an die Kojoten verfüttern.“

Tinash zweifelte nicht an seinen Worten.
 

Karem würde noch etwas länger bleiben. Er würde Lauy zu Moconi führen, damit der sie zu einer Frau machen konnte und dann die Zeremonie der Heirat begleiten, wie es seine Pflicht als Vater war.

Als Tinash nachdem er diesen schweren Schritt gewagt hatte zu seiner Familienhütte zurückkehrte, war es ihm, als sei er vollkommen benebelt. Was hatte er da nur getan?

„Ich weiß, dass ich eine wertlose Last bin, du könntest mich trotzdem grüßen.“

Er fuhr zusammen, als er die Hütte hatte betreten wollen und plötzlich eine bekannte Stimme direkt neben sich vernahm.

Teco saß am Eingang. Er hätte ihn an sich nicht übersehen dürfen. Jetzt hob sein älterer Bruder skeptisch beide Brauen. Irgendwie musste man ihm wohl ansehen, dass er ziemlich durch den Wind war...

„Was ist los?“

Er entschloss sich, sich ihm einfach sofort anzuvertrauen.

Sie waren von klein auf sehr verschieden gewesen. Teco war talentiert in allen Lebensbereichen. Er war laut, auffällig und bildschön. Kein Mann konnte besser aussehen als er.

Tinash hingegen war bis auf seinen roten Haarschopf immer unauffällig gewesen, weder besonders talentiert, noch völlig unbegabt, weder schön, noch hässlich. Sie hatten nichts, was sie verband, dennoch hatten sie sich immer gut miteinander verstanden.

So setzte er sich einfach seufzend neben ihn. Nebenbei fragte er sich, wie er wohl nach draußen gekommen war; sicherlich mit Hilfe.

„Ich bin... ganz verwirrt.“

Teco seufzte und sah in den Himmel.

„Warum? Was gibt es neues im Rat? Irgendetwas besonderes?“

Er hatte es so geliebt, im Rat zu sein. Er war der Jüngste gewesen... er war unmittelbar nach seiner Prüfung schon dabei gewesen und es hatte ihn so stolz gemacht. Er hatte gern mitentschieden und die anderen mit seiner Intelligenz beeindruckt... intelligent war er noch immer. Aber die Zeiten, in denen er das beweisen durfte, waren vorbei.

„Karem will tatsächlich gehen. Ja, und da... gab es doch diese Sache mit Lauy, du weißt schon. Ich meine... ich habe nachgegeben.“

Er errötete und senkte sein Haupt. Zu seiner Überraschung schien Teco nicht sonderlich überrascht zu sein, er sah ihn nicht einmal an, sondern grinste bloß.

„Damit habe ich gerechnet. Du und dein großes Herz... hoffentlich hast du dir da nichts zugemutet, was du nicht ertragen kannst... egal, wie es kommt, ich bin auf deiner Seite.“

Als Tinash ihn darauf dankbar ansah, senkte er den Blick.

„Ach ja, da war noch etwas.“, brummte er darauf, „Ich... muss noch zu Moconi. Also, ich möchte allein mit ihm sprechen, deshalb soll er nicht zu uns kommen. Leider kann ich aber nicht so einfach zu ihm, also...?“

Er schaffte es nicht, es auszusprechen. Er schaffte es nicht, nach Hilfe zu fragen. Es zerriss ihn innerlich, diese Schande.

Sein Bruder machte es ihm so leicht wie möglich, als er ihm einfach wortlos aufhalf und ihn dann so stützte, wie er es sich gewünscht hatte.
 

Es war nicht leicht. Obwohl die Hütte des Häuptlings nicht weit entfernt war, mussten sie öfters pausieren. Sie schwiegen, bis Teco kurz vor ihrem Ziel etwas sprach.

„Ich wünschte, ich wäre ein Kind. Dann dürfte ich einfach so weinen.“

Mehr sagte er nicht. Tinash wusste nicht, was er hätte erwidern sollen.

Moconi war zu ihrem Glück genau dort, wo sie ihn auch gesucht hatten. Dem Älteren gelang es tatsächlich allein, ins Innere der Hütte zu gelangen, wo sein Cousin ihn verblüfft empfing. Sein Bruder entschloss sich, auf ihn zu warten. Der Häuptling hatte sicherlich besseres zu tun, als Krüppel durch das Lager zu begleiten...

„Du hättest auch ruhig jemanden schicken können, ich wäre doch zu dir gekommen!“, begrüßte Moconi ihn verblüfft und legte seinen Kopfschmuck beiseite, den er gerade am reparieren war. Der Jüngere brummte und war so frei, sich auf den Schlaffellen niederzulassen.

„Nein, ich wollte mit dir unter vier Augen sprechen, Häuptling.“

Entgegen seiner Worte schloss er seine Lider jedoch und legte sich flach hin. Er war so furchtbar erschöpft... dabei hatte Tinash ihn quasi getragen. Wie peinlich.

„Nun gut, wenn du es sagst. Worum geht es?“

Er hörte, wie Moconi sich neben ihn setzte und nun vermutlich auf ihn herab sah. Als er die Augen wieder öffnete, zeigte sich, dass seine Instinkte ihn nicht ihm Stich gelassen hatten.

„Nun, es geht um... ach.“, Teco zwang sich dazu, sich wieder aufzusetzen, auch wenn ihm nach schlafen war. Dafür war er sicher nicht hergekommen. Bei seinem Cousin zu übernachten stellte er sich ohnehin etwas gruselig vor...

Er wandte den Blick ab, ehe er weiter sprach, und zog das gesunde Bein ein Stück an.

„Es geht um Calyri.“

„Oh.“, erwiderte der Häuptling wenig geistreich, dafür aber ernüchtert und hielt es für besser, ebenfalls irgendwohin zu sehen, wo es wenig interessantes gab. Der Jüngere fuhr fort.

„Ich kenne die Tradition und du kennst sie noch viel besser. Du hast Großvater immer mehr gelauscht als ich... jedenfalls weiß ich, dass ich kein Anrecht mehr auf sie habe. Das habe ich ihr auch gesagt, ich habe sie weggeschickt, wie du sicher mitbekommen hast.“

Das hatte er. Und er hatte nicht gewusst, ob er sich darüber hatte freuen sollen oder nicht. Schließlich war es nur ein trauriges Zeugnis dessen, was Teco in Zukunft bevorstand. Er würde zugrunde gehen... alle wussten es. Jeder im Stamm behauptete es. Und der junge Mann wusste es auch selbst. Es war nicht gerecht von den Göttern...

„Das habe ich zur Kenntnis genommen, ja.“

Er spürte, dass Teco ihn wieder ansah. Es war ein merkwürdiger, bitterer, aber auch sehr stolzer Blick, wie er von einem verwundeten Raubtier hätte stammen können, und er fühlte sich schwach, weil er es nicht schaffte, ihn zu erwidern.

„Nimm du sie dir. Keiner wird mehr schlecht über dich reden, du hast sie mir lang genug gelassen. Ich will nicht, dass eine so gute Frau wie Calyri am Feuer ihrer überfüllten Familienhütte auf ewig versauert, bloß weil wir uns nicht einigen konnten. Nimm sie, dann ist sie glücklich. Immerhin.“

Darauf sah Moconi wieder auf. Ungewohnte Worte von einem Mann mit einem für gewöhnlich so großen Mundwerk wie Teco es hatte. Gehabt hatte. Die Bestien hatten alles verändert. Er verabscheute sie...

„Bist du dir da sicher? Du bist sehr tapfer. Ich kann ihr auch anweisen, zu dir zu gehen und...-“

„Damit verstößt du gegen die Tradition, Cousin! Und das ist das Letzte, was dieser Stamm im Moment gebrauchen kann!“

Da hatte er leider recht. Je älter er wurde, desto mehr bemerkte Moconi zu seinem Entsetzen, dass sich die Tradition häufig nicht mit seinem Gewissen vereinbaren ließ. Wobei sie ihm dieses Mal sogar einen lang ersehnten Wunsch zu erfüllen schien...

„Ich... weiß ehrlich gesagt nicht, was ich tun soll. Vielleicht nehme ich Calyri zu mir... vielleicht auch nicht.“

Mehr vermochte er nicht zu antworten, als er sein Haupt unglücklich wieder senkte.
 

Es kostete die letzten Vorräte, die Feierlichkeiten zu Tinashs Heirat vorzubereiten. Man opferte sie gern, obwohl der junge Mann mindestens ein dutzend Mal erklärt hatte, es sei nicht nötig. Seine Entscheidung gab dem Stamm unbeabsichtigt wieder Hoffnung – ein neues Paar, vielleicht brachte das Glück und stimmte die Götter gütig mit ihnen, damit der nächste Mondzyklus besser begann, als der letzte zu enden schien.

„Alle betreiben so einen Aufwand wegen mir, das ist ja ganz furchtbar.“, jammerte der junge Jäger schließlich auch am Morgen des Tages, an dem es für ihn soweit sein sollte, während seine Mutter Tanest und seine Schwester Bylema ihn für das Ritual schmückten.

„So ein Unfug!“, schnaubte die Frau lächelnd, während sie ihm die wertvolle Weste richtete, „Ich verstehe zwar nicht so ganz, wie du darauf kommst, ausgerechnet Karems verrückte Lauy an dein Feuer zu nehmen, aber es macht mich glücklich zu sehen, wie aus dir ein richtiger Mann wird.“

„Wo ihr schon von einem richtigen Mann sprecht...“, Porit kam in seine Hütte geklettert und strahlte. Es ging ihm gut und er war glücklich, bloß dass sein Arm noch immer durch eine Lederschlinge gestützt werden musste, das war etwas unpraktisch, aber das ignorierte er an diesem Freudentag gekonnt.

„Ich habe dir viele Dinge zusammengetragen, du wirst dir und deiner Frau schon bald eine eigene Hütte bauen können. Ich meine, mit ihr bei uns zu leben, das ist kein Umstand.“

Tinash errötete. Selbst sein verletzter Vater bemühte sich so sehr um ihn!

„Jetzt schau nicht so deprimiert, heute ist ein guter Tag, du hast den ganzen Stamm glücklich gemacht!“

Als er seinem älteren Bruder in sein Gesicht blickte und ein Grinsen entdeckte, konnte er auch endlich lächeln.
 

Teco lag falsch, nicht der ganze Stamm war glücklich.

Lauy wäre es an sich gewesen. Niemand konnte sie nun mehr zwingen, zu Randary ans Feuer zu gehen! Und dieses seltsame Ritual, vor dem sie sich so lange gefürchtet hatte, hatte sie nun auch hinter sich... Moconi war sehr freundlich gewesen.

An sich hatte sie also allen Grund zur Heiterkeit, aber ein vollkommen fremdartiges, bedrückendes Bild direkt vor ihr ließ das nicht zu. Es war ihre Mutter, die sie feierlich herrichtete und dabei stumm, aber bitterlich weinte.

Ardoma hatte nie geweint. Sie hatte auch nie gelacht und für diese Gefühlslosigkeit hatte das Mädchen seine Mutter immer verabscheut. Sie war bestenfalls sauer gewesen und dann hatte sie sie geschlagen. Warum weinte sie dann jetzt? Resak war im Gegensatz zu seiner älteren Schwester wirklich etwas dumm, den konnte sie doch weiter verhauen, wenn sie fort war!

Sie entschloss sich, etwas zu sagen.

„Das wird eine gute Sache, Mutter. Wirklich!“

Und darauf fing sie sich eine schallende Ohrfeige. Ja, sie war sich sicher, sie verstand ihre Mutter wirklich nicht.

„Du dummes Mädchen!“, zischte sie gewohnt leise und ballte ihre schlanken Hände zitternd zu Fäusten, „Erst Joru, dann du! Ihr seid allesamt dumme und nichtsnutzige Kinder! Aber ihr seid meine Kinder! Ich will nicht, dass du gehst...“
 


 

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Lalala, eine Hochzeit... <3

Kälte

Mahrran war zu langsam gewesen. Die Männer taten sich schwer damit, Speere wie die der Menschen zu bauen – Shiran wäre wirklich nützlich gewesen – und auch als die ersten es schließlich schafften, etwas herzustellen, was dem der Menschen zumindest nahe kam, hatte keiner auch nur den Hauch einer Ahnung davon, wie man damit umzugehen hatte.

„Und du bist sicher, es gibt keine andere Möglichkeit?“, hatte Mahrran seine Frau murrend gefragt und die hatte nur mit den Schultern gezuckt, was den Mann nicht unbedingt ermutigt hatte.

Zunächst zum Kapitulieren brachte ihn letztendlich jedoch ein Ereignis, das derart abstrus, ungewohnt und fremdartig war, dass er darüber nicht einmal sauer sein konnte – das musste schließlich einfach Wille der Götter sein; hoch über den Bergen begann es zu schneien. Und jeder noch so schlechte Magier wurde von den Stimmen gewarnt, die Pässe zu betreten – seine eigenen Untertanen wollte das Dorfoberhaupt letztendlich natürlich nicht in den Tod schicken.

Und so war er wohl oder übel zu einer Pause gezwungen.

Letztere war auch dringend nötig, es gab einige andere Dinge, um die sich gekümmert werden wollte. So stand Mahrran eines Morgens umgeben von einigen Dorfbewohnern der Unterschicht irritiert an der Küste. Eisiger Regen schlug ihnen vom Meer her ins Gesicht, gelegentlich peitschte sie auch noch der winterliche Wind mit kalten Böen. Der Wassermagier fror im Gegensatz zu so ziemlich allen anderen kaum; er trug seinen guten Mantel, den er von seinem Vater geerbt hatte. Nicht, dass er letzteren so gern gemocht gehabt hätte, dass er es mochte, alte Kleidung von ihm anzulegen, aber dieses besondere Exemplar hielt nicht nur wunderbar warm, sondern war auch eine Art Statussymbol, durch das er gleich viel größer und mächtiger wirkte, als er eigentlich war.

Nun stand er also da, an den nicht vorhandenen Toren des Armenviertels des Dorfes und von allen Seiten erwartete man ein Urteil seinerseits. Er jedoch ließ sich Zeit und fragte seine Götter in aller Ruhe, was das da war. Seinem einen, schlecht funktionierenden Auge traute er nicht... bei dem zugezogenen Himmel und der schlechten Witterung erkannte er nur Silhouetten. Es war nicht unwahrscheinlich, dass er irgendwann einmal komplett erblinden würde... erstaunlicherweise fand Mahrran den Gedanken daran nicht wirklich besorgniserregend. Er hörte perfekt, er fühlte perfekt... er war nie auf das Sehen angewiesen gewesen. Nun war er es jedoch noch zumindest etwas und das, was er da zu erkennen glaubte, konnte er sich irgendwie nicht so ganz erklären.

Es stimmt. Es ist so, wie du denkst.

Das waren nun aber wirklich sehr hilfreiche Worte gewesen. Er seufzte.

„Sprecht. Wie ist das geschehen?“

Die einfachen Untertanen sahen sich zunächst untereinander an, dann erbarmte sich ein Mann zu sprechen. Er war groß und von guter Statur. Sicherlich konnte er mit seinem Speer umgehen, überlegte sich das Dorfoberhaupt nebenbei.

„Heute Nacht war es, ganz plötzlich. Wir wurden wach, weil unsere Schlaflager auf einmal nass waren. Ich wollte aufstehen, unser Dach hat oft Löcher, das lässt sich reparieren... nun, ich stand auf und stand darauf knietief im Meer, ja.“

„Was da jetzt genau war, weiß hier niemand.“, mischte sich auch eine kleine, überraschenderweise etwas pummelige Frau ein. Warum lebte die in diesem Viertel?

„Jedenfalls ist der gute Strand weg und unsere Häuser sind es gleich mit. Oder zumindest nicht mehr bewohnbar... oh...“

Die Gruppe drehte sich geschlossen wieder dem Ort zu, wo sich zuvor der erwähnte Strand befunden hatte, als eine Hütte knarrend in sich zusammenbrach.

„Das... war meine...“, stellte die Frau dann stammelnd fest und hielt sich ihre Hand darauf erschrocken vor den Mund.

Mahrran hob eine Braue. Was bezweckten seine Götter nun damit? Warum schwächten sie das Dorf nun auch noch zusätzlich?

Während er nachdachte, wurde die Meute unruhig. Der Mann von zu Beginn unterbrach seine Gedanken schließlich.

„Wo sollen wir jetzt hin? Irgendwo müssen wir auch schlafen und essen.“

Das war wahr. Und das war eine Katastrophe. Wohin mit diesen ganzen Leuten? Er konnte sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, egal wie dumm und unbegabt sie waren, sie gehörten doch zu seinem Volk!

Er ließ seinen trüben Blick noch einmal nachdenklich über die verwirrte Gruppe schweifen. Und er musste schnell handeln, bei dieser Witterung konnten sie nicht lange draußen bleiben. Er entschloss sich dazu, das Beste, was ihm spontan gerade einfiel, einfach in die Wege zu leiten.

„Nehmt alle Sachen, die ihr noch retten könnt und geht dann zu den anderen! Zu irgendwem! Sie müssen euch aufnehmen, erwähnt meinen Namen. Ich überlege, wie es weiter geht...“, er schielte zu der pummeligen Frau, die noch immer ihrer zusammengebrochenen Hütte nachtrauerte.

„Du kannst mit mir kommen.“
 

Beinahe hätte er sich dazu erbarmt, der nun Obdachlosen, die er freundlicherweise bei sich aufgenommen hatte, beim Tragen zu helfen. Sie hatte überraschenderweise relativ viel aus ihrer Ruine retten können und stapfte nun triefnass und schwer beladen hinter ihm her. Wirklich, er hätte ihr gern geholfen, aber er war nun einmal Mahrran, ein Götterkind, ein Tankana – so zeigte er sich zumindest kooperativ, indem er ihr nicht zu schnell vorauseilte, auch wenn die schlechte Witterung langsam auch an seinem Wohlbefinden zehrte.

„Vielen Dank!“, stammelte sein Gast hinter ihm völlig außer Puste, „Es... tut mir... leid, dass ich so... langsam bin... du meine Güte... dieser Weg ist steil!“

Er hielt an und als er sich zu ihr umdrehte, bedauerte er es abermals, dass sein Stand ihm keine Hilfe anzubieten erlaubte.

„Das ist selbstverständlich. Und bitte, keine Hast.“

Außerdem hatten sie es ohnehin bald geschafft.

Er würde ihr die Kammer geben, die konnte sie sich selbst so einrichten, wie sie es wollte – oder es ihr möglich war. Vielleicht konnte sie als Dienerin für seine Kili fungieren oder so, irgendwie war sie doch wahrlich sympathisch.

Nadeshda bemerkte sie erst, als sie längst angekommen waren und die Frau ermüdet auf dem Boden bei ihren Mitbringseln saß und sich zunächst ausruhen wollte, ehe sie irgendetwas anderes tat.

Trotzdem bemühte sie sich, für ihre Herrin auf die Beine zu kommen, um sich direkt darauf wieder vor ihr zu verneigen.

Die Kleinere hob verblüfft beide Brauen – natürlich wusste sie, was im Dorf geschehen war, aber...

„Dich hat mein Bruder ausgewählt?“

Ihr Gegenüber kicherte und kratzte sich am Kopf, an dem triefnasse, pechschwarze Haarsträhnen klebten.

„Nun ja – ja, meine Herrin, ich schätze schon. Ich werde keine Last sein, sicher nicht, ich werde mich als sehr nützlich erweisen!“

Das glaubte Nadeshda sogar, sie war gesund und stark; zumindest, falls sie es schaffte, sich nun nicht zu erkälten. Sie musterte sie eingehend, dann wandte sie sich glucksend ab.

„Alles klar.“, kam dann und der Gast legte seinen Kopf schief.

„Herrin?“, wagte sie, die andere noch einmal aufzuhalten, worauf diese auch inne hielt, „Seid Ihr... schwanger?“

Die Antwort war ein einfacher, leicht verlegener Blick und eine Hand, die sich auf den gerundeten Bauch legte – und sie ließ Irritation zurück.
 

Der Winter zeigte sich hartnäckig. Manch einer fragte sich, ob sie wohl zu langsam gewesen waren, ob es im Land hinter den Bergen wohl wärmer war oder ob das raue Klima wohl eine Strafe der Götter war.

Die Himmelskinder wussten es nicht. Alles, was sie mitbekamen, war, dass das Meer langsam wieder dahin zurückging, wo es auch hingehörte, und zurück blieb der zerstörte Strand. Letzteres war zwar ein Desaster für die ursprünglichen Bewohner dieses Ortes, doch die Zwillinge hießen es gut – das Volk war äußerst zornig und unruhig gewesen, so lange es in seinen Augen irgendwelche minderwertigen Blutsbrüder und -schwestern hatte bei sich wohnen lassen müssen. Um die zusätzliche Belastung wieder los zu werden, arbeiteten schließlich alle gemeinsam am Wiederaufbau des Viertels – letztendlich war es schöner als zuvor und die meisten waren der Meinung, es sei eine Schande, die guten neuen Häuser demnächst einfach zu verlassen. Essen gab es trotzdem kaum.

Kilis Dienerin blieb auf Mahrrans ausdrückliche Erlaubnis hin, denn seine Gattin mochte sie und die einfache Dorffrau war alleinstehend und hatte niemanden gehabt, für den es sich gelohnt hätte, zurückzukehren. Die große Seuche hatte ihre komplette Familie vor vielen Jahren dahingerafft, teilte sie den Tankanas irgendwann beiläufig mit, während sie sich um das Küchenfeuer kümmerte.

Und während alle darauf warteten, dass die Zeit, in der sie gezwungen waren, einfach alles auszusitzen, endlich vorbei ging, bemerkte Nadeshda immer öfter verstohlene, nahezu neidische Blicke seitens ihrer menschlichen Schwägerin. Zunächst ignorierte sie sie gekonnt, fühlte sich davon irgendwann dann jedoch zu sehr belästigt und hielt es nicht wirklich für angebracht, ihr Temperament einer so niederen Kreatur gegenüber künstlich im Zaum zu halten. Sie hätte natürlich zuerst nach ihrem Problem fragen und ihr dann gegebenenfalls ins Gesicht schlagen können, aber sie war eine Tankana und tat es darauf in umgekehrter Reihenfolge.

Es war, als Kili eines morgens die Küche betrat, in der Nadeshda auf der Holzbank saß und einen Tee trank, den die Dorffrau zubereitet hatte. Letztere mochte ihre menschliche Herrin im übrigen sehr gern; als sie und all ihre Klamotten nach ihrer Ankunft vollkommen durchnässt gewesen waren, hatte sie von ihr ein trockenes, warmes Kleid bekommen. Das war zwar etwas eng gewesen, aber hatte sie wunderbar vor einer schlimmen Erkältung geschützt.

Jedenfalls war die Menschenfrau wohl gekommen, weil sie ebenfalls Tee gewollt hatte und anstatt eines höflichen „Bana che“, wie es sich für sie gehört hätte – und was sie zu Beginn ihres Aufenthaltes hier auch noch immer brav gesagt hatte – kam bloß wieder einer ihrer dämlichen, missbilligenden Blicke; sie hatte sich ihre Ohrfeige verdient. Und aus irgendwelchen Gründen war es ein gutes Gefühl, fand Nadeshda, dass sie einer so viel größeren und stattlicheren Frau mit körperlicher Kraft hatte weh tun können. Immerhin so sehr, dass sie nach einem geschockten Zusammenzucken zunächst einmal nur groß starren konnte.

„Wofür war die denn?“, kam es dann irgendwann zitternd in ihrer eigenen Sprache und sie fasste sich an die schmerzende Stelle, während die Kleinere längst die Arme vor der Brust verschränkt hatte, sie eines tödlichen Blickes bedenkend.

„Für deine Gedanken, die ich gar nicht kennen möchte!“, antwortete sie und gab sich keine große Mühe, auf Fehler in ihren Worten zu achten, „Was hast du mit einem Mal für ein Problem mit mir, huh? Große Verbündete!“

Zu ihrer Überraschung schien sie nicht erbost zu sein, sondern eher traurig, denn Tränen sammelten sich mit einem Mal in ihren Augen und ließen sie bedrohlich glänzend. Und sie wusste auf Anhieb, was die Ältere gemeint hatte.

„Ich beneide dich so! Ich beneide dich so sehr!“, jammerte sie bebend, „Denn... dein Bauch ist schon so groß und meiner ist noch so... klein.“

Sie sah deprimiert an ihrer noch immer eher schlanken Statur herab und Nadeshda starrte sie einen Moment mit offenem Mund an. Moment, das war alles?

Sie fasste sich grinsend an die Stirn.

„Mein Baby ist älter als deines, Menschenfrau, und in mir ist weniger Platz als in dir, deshalb zeigt es sich schneller! Und ich dachte, du planst eine Intrige gegen mich...“

Dass dieses primitive Ding dazu in der Lage war, hatte es ja bereits bewiesen...

Kili schüttelte sich kurz.

„Ja... aber... ach! Weißt du, ich sorge mich immerzu! Meine Mutter war so schlecht im Kinder bekommen, vielleicht bin ich es auch! Vielleicht wächst es gar nicht mehr! Ich möchte doch, dass Mahrran stolz auf mich ist...“

Sie wischte sich über die Augen und ihr Gegenüber legte den Kopf schief.

„Wenn du ihn und seine Männer in den Tod schickst, wird er das auch nicht unbedingt sein...“

Die Größere erwiderte darauf nichts. Ja, das wusste sie doch, aber es gab doch auch noch ihren Stamm, irgendwo, weit entfernt. Aber egal wie unerreichbar er war, sie blieb Saltecs Tochter, Moconis Schwester und Tecos Cousine – sie konnte nicht einfach zusehen, wie alle, die ihr in ihrem bisherigen Leben wichtig waren, dem Tode ausgeliefert wurden!

Andererseits gab Mahrran ihr mehr Wärme und Anerkennung, als sie sie im Stamm jemals erfahren hatte... sie war verwirrt.

Nadeshda bereitete ihr unterdessen einen Tee.
 

„Mahrran muss verrückt geworden sein! Er ist es ganz sicher! Dieses Menschenweib ist schuld, ach!“

Iavenya sah nicht auf, verdrehte bloß kurz wohlwollend die Augen, während sie ihr jüngeres Stiefkind fütterte. Die Kleinen fühlten sich nicht wohl; im Haus war es den ganzen Tag finster, weil alle Fensterklappen geschlossen waren, nur zwei Öllampen erhellten die Räumlichkeiten spärlich und dennoch war alles düster. Außerdem langweilten sich die Kinder den ganzen Tag im Haus... aber da waren sie wohl nicht die einzigen im Dorf. Ein altbekanntes Problem, das wohl jeder in seiner Kindheit hatte. Und auch teilweise danach, es gab wohl niemanden, der den Winter mochte. Erst recht keinen, der derart ungewöhnlich streng war wie der in diesem Jahr. Die Frau fragte sich, ob es wohl ein Zeichen war...

„Sicherlich, Irlak.“, gab sie ihrem Mann, den sie sich einfach so genommen hatte, halbherzig recht. Er saß am Tisch und bastelte an dem seltsamen Ding herum, das sich wohl Speer nannte und Mahrrans Überzeugung nach das einzige wirksame Mittel gegen die Menschen war. Iavenya gab ihrem Gatten im Stillen tatsächlich recht... die Menschenfrau hatte da doch sicherlich etwas eingefädelt und ihr Mann war blind vor Liebe einfach darauf hereingefallen. Nun gut, blind war er auch ohne Liebe schon immer gewesen. Wie Nadeshda wohl auf seine Dummheit reagieren mochte?

„Na, ich meine das erst, hast du das Ding mal gehoben?! Ich bin froh, wenn ich das überhaupt ein paar Schritte weit werfen kann, und dann soll ich auch noch zielen? Und stark genug sein, dass sich diese blöde Spitze in das Fleisch der Primitiven bohrt?! Ich glaube, Mahrran hat sich den Kopf gestoßen, aber heftig.“

Sein älteres Kind gluckste, es fand es wohl lustig, wie sein Vater sich an dieser Sache ereiferte. Iavenya schüttelte des Themas längst überdrüssig nur noch den Kopf.

Es war eine gute Sache, davon durfte sie sich nicht ablenken lassen. Sie war stark... sie musste stark sein. Sie hatte sich den Mann, der sie am meisten gehasst hatte, einfach zu eigen gemacht. Er war ihr – nicht umgekehrt. Sie schmunzelte etwas, ihm weiterhin den Rücken kehrend, als sie daran dachte, wie sie sich das Lager teilten, wie er sie an sich drückte und festhielt und ihr in jenen stockfinsteren, unbeobachteten Momenten zuflüsterte, dass sie ihm wichtig geworden war. Sie mochte es, wenn er ihr das sagte. Ja, es war eine gute Idee gewesen, eine gute Wahl, der störrische Kerl aus dem Ekarett-Clan. Nicht nur, weil sie so ihre ganz eigene Macht hatte ausprobieren können, als sie ihn zu ihrem Eigentum gemacht hatte, oh nein; Irlak hatte zwei Gesichter. Er war gut zu seinen Kindern, vertrug Spaß und konnte zärtlich und, das war ihr vor allen Dingen wichtig, anhänglich sein. Andererseits war er leicht zu reizen, aggressiv und blutrünstig. Das konnte sich noch als sehr nützlich für sie erweisen. Doch alles zu seiner Zeit.

Nun war Winter. Nun saßen sie fest und mussten warten. Aber sie würde den Erd- und den Wassermond sicherlich nicht ungenutzt vorbei ziehen lassen... sie hatte ebenfalls mehrere Gesichter. Mehr als zwei. Und spätestens, wenn die Sonne das Land wieder erwärmte und Mahrran seinen höchstwahrscheinlich sehr dummen Plan in die Wege leitete, war Irlak ihr derart verfallen, dass er alles für sie tat.

Sie stellte den Teller bei Seite und wischte dem Kind das Gesicht ab. Als sie den Lappen weglegte, begann das Kleine gleich mit einer alten Puppe, die seine richtige Mutter wohl genäht hatte, zu spielen. Iavenya strich sich eine schwarze Strähne hinter ihr linkes Ohr – für die Hausarbeit band sie sich ihr Haar meist zusammen, doch nicht immer wollte ihre Frisur so wie sie.

Vielleicht hätte sie ihrem Mann sagen sollen, dass es vollkommen egal war, wie er seinen Speer baute und ob er damit umgehen konnte, weil er ohnehin nicht mitgehen würde beim nächsten Angriff, aber das hätte zu viele Fragen aufgeworfen. Er war ein gesunder, starker, junger Mann, warum hätte er zuhause bleiben sollen? Noch konnte sie es ihm nicht erklären. Weil sie es wollte – aber damit würde er sich bei aller Liebe nicht zufrieden geben. Noch nicht. Auf sie kam eine wahrlich interessante Zeit zu.

Aber was sollte sie tun? Sie brauchte diesen Mann noch. Sie war nicht wie Shiran, keine Seherin, sie wusste nicht, ob er wieder zurückkehren würde von dieser Reise, ob er sie überlebte – besonders, weil er mit dem Speer scheinbar abgrundtief ungeschickt war. In der Magie war er ganz passabel, aber da er beide Hände für die viel zu schwere Waffe benötigte... nein. Ein zu hohes Risiko. Ihr Irlak würde schön bei ihr bleiben.

„Das interessiert dich alles gar nicht, oder?“, hörte sie ihn da meckern und fuhr darauf zu ihm herum. Oh, nein, das sollte er nicht annehmen.

Sie stellte sich lächelnd hinter ihn und umarmte ihn dann, sich sachte gegen ihn drückend. Er seufzte und sie lehnte ihren Kopf an seinen.

„Und wie mich das interessiert, ich möchte schließlich nicht, dass dir wegen Mahrrans Dummheit etwas zustößt, wo ich doch so lange um dich habe kämpfen müssen. Aber ich bin deiner schlechten Laune überdrüssig...“

Sie begann, über seine Brust zu streicheln, und er schloss die Augen.

„Ich wurde seit meiner Kindheit verachtet. Meine Mutter hat mit jedem Mann dieses Dorfes im Schlaflager gelegen und mein Vater schlug mich, weil ich nicht aussah wie er. Und weil mich alle auslachten, bin ich giftig geworden und ihr nanntet mich Natter. Das war mein Leben und es war nicht schön. Nun, ich war nicht sehr traurig. Es gibt immer schöne Dinge... Ewigkeiten zu jammern und zu klagen nützt nichts, manchmal kann man nichts tun und muss die Situation so hinnehmen, wie sie ist. Dann muss man sich etwas Gutes suchen, etwas, an dem man festhalten kann.“

Sie sah neben sich, wo ihr älteres Stiefkind ihr interessiert gelauscht und vermutlich trotzdem kaum etwas verstanden hatte.

„Zum Beispiel deine Kinder.“

Sie bemerkte, wie der Mann vor ihr nach einer Weile langsam nickte.

„Jaa.“, kam dann gedehnt, „Aber ich weiß doch sonst nichts. Dieser Winter ist das Grauen, so viel habe ich noch nie in diesem Haus gesessen! Ich will nach draußen, das ist ja fürchterlich! Und anstatt etwas Sinnvolles zu tun, meckere ich den ganzen Tag über Mahrran, die Götter werden mich bestrafen, du wirst es sehen.“

Sie kicherte.

„Das werde ich nicht zulassen, Irlak.“
 

Alaji hatte es satt. Genauso wie allen anderen Dorfbewohnern fiel es ihr schwer, den ganzen Tag lang bloß im Haus die Zeit abzusitzen und auf den Frühling zu hoffen, also war sie nach draußen gegangen, dick eingepackt in allerlei Kleidung und die Hand immerzu an ihrem Hut, damit der störrische Wind ihn nicht einfach davon trug.

Wenn es nur die Finsternis zuhause gewesen wäre... finster war es auch draußen. Die ganze Welt lag begraben unter einer tiefen, grollenden, schwarzen Wolkendecke. Aber das war nicht ihr Problem.

Sie schüttelte sich vor Kälte und Gram, als sie sich dafür schämte, ihre Mutter als Problem bezeichnet zu haben, während sie durch das stille Dorf hastete. Nur wenige Kalenao waren draußen und auch nur, um absolut nötige Arbeiten zu verrichten. Sie ihrerseits hoffte, bei Nadeshda kurzzeitig Unterschlupf zu finden.

Alajis Mutter konnte sehr garstig sein. Sie hatte ein großes Herz und ihre Tochter nachdem die Krankheit ihren Mann und ihren Sohn dahingerafft hatte wunderbar groß gezogen und ihr das nützliche Heilerhandwerk beigebracht, sodass die junge Frau ihr ganzes Leben unabhängig würde leben können – die Krankheit konnte schließlich wieder kommen und Alajis potentiellen Ehemann ebenfalls töten, so hatte die Mutter gern argumentiert. Und sie war stolz gewesen, denn ihr Kind war begabt in dieser Sache und genoss viel Ansehen, weil es schon früh die Tochter des Dorfoberhauptes hatte heilen können. Oder zumindest ihr Leid stark lindern...

Sie war es so nicht gewohnt, von ihrer lieben Alaji enttäuscht zu werden. Und als sie es nun gewagt hatte, hatte sie es ihr sehr übel genommen...

Sie konnte ihr doch nicht sagen, woher das Kind in ihrem Bauch stammte. Das ging nicht, das hätte alles noch schlimmer gemacht, als es ohnehin bereits war. Das Kind eines Menschen... ein kleiner Halbmensch wuchs da in ihrem noch ziemlich flachen Bauch.

Sie legte ihre freie Hand während des Gehens kurz versonnen an der Stelle ab, unter der das kleine Leben nun wuchs. Vermutlich würde man es ihm ansehen, dem Baby. Teco hatte ganz anders ausgesehen als alle Männer im Dorf. Er war groß gewesen, wenn auch nicht so groß, dass kein Magier ihn hätte erreichen können. Aber seine stattliche Figur war einzigartig... einen so gut gebauten Mann gab es unter den Kalenao nicht. Und seine dunkle Haut erst recht nicht. Alaji hatte gelernt, dass sich dunkel meist gegen hell behauptete – wenn diese Annahme wirklich stimmte, dann käme ihr Kind wohl wesentlich mehr nach seinem Vater als nach ihr. Und ihr war das so recht... sie schmunzelte bei dem Gedanken an einen kleinen Teco, den sie aufzog und liebte. Ja... ihr Baby würde sie immer lieben können, anders als seinen Vater. Zumindest konnte sie es dem nicht sagen...

Als sie mit ihm zusammen durch die Welt gezogen war, war es ihr nicht wirklich bewusst gewesen. Teco, der seltsame menschliche Jäger, der auch ganz schön garstig hatte sein können – der erst fünfzehn Jahre alt war, was sie kaum hatte glauben können. Sie hatte es gemocht, bei ihm zu liegen, sie hatte seine Stimme gemocht, obwohl sie keines der Worte, die er gesprochen hatte, verstanden hatte und sein hübsches Lächeln hatte sich ihr eingebrannt. Aber erst jetzt, als er so weit entfernt von ihr war, war ihr klar geworden, dass sie ihn liebte...

Und sie schämte sich dessen nicht einmal. Sie hatte nicht das Gefühl gehabt, Teco sei dumm oder primitiv, wie er sich in dem wilden Land, das sie durchstreift hatten, hatte behaupten können, hatte sie tief beeindruckt und von einem Intellekt gezeugt, der zwar nicht dem ihren glich, jedoch sicherlich nicht geringer war als jener. Er kam eben aus einem anderen Land, einer anderen Kultur... die Menschen waren nicht weniger wert als die Kalenao. Vielleicht konnte sie Nadeshda irgendwann davon überzeugen... hoffentlich, bevor es zu spät war.

Der Aufstieg zum Haus der beiden Dorfoberhäupter ermüdete sie und sie atmete schwer, als sie an der hölzernen Tür abklopfte. Mabalysca öffnete ihr nach einer Weile.

„Oh weh, was machst du denn draußen? Komm herein!“

Das ließ sie sich nicht zwei Mal sagen. Die Jüngere schenkte ihr ein höfliches Lächeln, das sie genau so erwiderte, doch in Gedanken war sie entsetzt von dem Erscheinen der kleinen Tankana. Zierlich war sie immer gewesen, doch jetzt war sie dürr, wirkte eingefallen und krank. Ihre Augen waren trüb, visierten sie jedoch genau, so, als merkten sie nicht selbst, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmen konnte. Das Mädchen war blass und aus irgendwelchen Gründen überkam Alaji das Gefühl, sie warte nur darauf, dass die Götter ihr den Weg in die nächste Welt endlich zeigen konnten.

„Ich... wollte zu deiner Schwester. Falls sie nicht beschäftigt ist, meine ich.“

Die Jüngere nickte.

„Sie ist in ihrem Zimmer, glaube ich.“, entgegen ihrer geisterhaften Erscheinung kicherte sie kurz, als sie an dem Gast vorbei in Richtung Kochzimmer ging, „Jetzt sind in diesem Haus fünf Frauen und drei erwarten ein Baby. Ich fühle mich ausgegrenzt!“

Ihrer Stimme nach scherzte sie, aber hinter ihren Worten verbarg sich eine bittere Wahrheit, das mussten Alaji nicht einmal ihre Götter mitteilen...
 

Nadeshda war in Trance, als die Heilerin ihren Raum betrat. Sie saß regungslos auf ihrem Lager, die schmalen kleinen Hände auf ihren gerundeten Bauch gelegt und die Augen geschlossen. Es war ungewöhnlich, dass sie diesen Zustand zuhause suchte, normalerweise suchte sie einen anderen Ort auf, zumindest, wenn es um etwas wirklich wichtiges ging.

„Keine Sorge, du störst nicht.“, Alaji zuckte unter der hohen, scharfen Stimme, die unvermittelt erklang, zusammen. Die Kleinere öffnete derweil ihre scharfen, orangefarbenen Augen.

„Ich übe nur, damit ich es nicht verlerne. Götterkinder sind dafür geschaffen, ihre Macht ohne ihr Wissen einzusetzen, es mit eigenem Willen zu tun bedarf Übung, denn man muss quasi die Kraft der eigenen Geburtsgötter übertreffen. Außerdem habe ich demnächst noch etwas vor... doch nicht zu viel dazu. Die Götter haben mir nichts wichtiges berichtet, warum bist du also hier?“

Ihr Gast seufzte und setzte sich auf den hölzernen Schemel, wie er es bereits oft getan hatte, wenn er hier gewesen war. Ja, das war eine gute Frage.

„Zuhause fällt mir die Decke auf den Kopf.“, antwortete sie ehrlich, jedoch etwas peinlich berührt von ihrer Flucht, „Meine Mutter ist sehr garstig, weil ich ihr nichts zu meinem Kind sage. Sie will, dass ich es weg gebe... aber das kommt für mich nicht in Frage. Wenn ich ihr das sage, dann sagt sie, ich soll den Bastard heiraten, der es mir eingepflanzt hat... und wenn ich ihr dann erkläre, dass das nicht geht, schimpft sie, allen Männern, die es nötig haben, ihre Frauen zu hintergehen, sollte man ihr drittes Bein abschlagen – und mich schimpft sie eine Hure, weil ich es so nötig habe und sagt, das hätte ich nun davon. Ach, ich halte das nicht aus...“

Sie entledigte sich seufzend einiger ihrer Kleiderschichten und legte sie zusammengelegt neben sich auf den Boden, denn in Nadeshdas Zimmer war es relativ warm. Die kleine Frau, die ihr aufmerksam gelauscht hatte, legte nun den Kopf schief und wirkte durch diese Geste wie ein kleines Mädchen.

„Und wenn du ihr sagst, dass es das Kind eines Jägers ist?“

Alaji sah sie darauf einen Moment dümmlich an, dann pfiff sie durch ihre spitzen, im Gegensatz zu denen von Shiran halbwegs gerade gewachsenen Zahnreihen, wie nur wenige es sich bei einer Persönlichkeit wie der ältesten Tochter der Tankanas erlauben durften.

„Teco ist ein Mensch. Niemand hier hält viel von Menschen, Mutter würde mich verstoßen.“, sie schüttelte den Kopf, „Du verachtest die Stämme des weiten Landes doch ebenso!“

Die Gastgeberin regte sich nicht mehr, als dass sie ihren Kopf nun zur anderen Seite hin schief legte.

„Mag sein.“, entgegnete sie dann, „Die Stämme. Vielleicht auch die Menschen allgemein. Aber Teco ist sicher ein feiner Kerl.“

Sie erhob sich von ihrem Lager und streckte sich, begann darauf in dem von einer guten Öllampe erhellten Raum auf und ab zu gehen. Sie hatte lange gesessen, die Beine musste sie sich nun unbedingt vertreten, sonst bekam sie ihrer Schwangerschaft sei Dank wieder Krämpfe...

Sie spürte Alajis höchst irritierten Blick im Rücken.

„Teco... ist ein feiner Kerl? Du kennst ihn doch gar nicht.“

Sie klang prüfend. Auch das durften sich nicht viele erlauben, Nadeshda fand es in jener Situation jedoch als sehr berechtigt. Richtig, sie kannte diesen Teco auch nicht. Sie verbarg ihr leichtes Lächeln, indem sie ihrem Gast weiter den Rücken kehrte, als sie zur Antwort ansetzte.

„Das ist wohl wahr. Aber wenn er dich glücklich macht, dann wird er wohl ein feiner Kerl sein, nicht? Ich verdamme die Rasse der Menschen nicht komplett. Zwar bringen die Götter durch sie fast nur Tölpel hervor, aber ich bin mir sicher, da wird auch das ein oder andere gescheite Exemplar darunter sein... Teco ist vielleicht ein solches? Ich glaube es zumindest.“

Sie drehte sich zu der Größeren, die noch immer da saß und sie verwundert musterte, um, die Hände in die Hüften stemmend. Sie schien guter Laune.

„Wusstest du, dass Kili, das Spielzeug meines Bruders, die Schwester von Moconi ist?“

Moconi? Nein, davon hatte sie nichts gewusst, sie hatte auch keine Ahnung, wer das sein sollte, so schüttelte sie den Kopf und lächelte entschuldigend. Nadeshdas Götter verrieten ihr ihre Unwissenheit.

„Moconi ist das Oberhaupt des Menschenstammes, sein Häuptling, so nennt sich das bei ihnen. Dieser Kerl ist sicher nicht gescheit... ich weiß nicht viel über ihn, die Götter zeigen mir leider nicht immer das, was ich mir wünsche, ich bin nun einmal keine Seherin.“

Sie hielt im Sprechen kurz inne und verschränkte die Arme vor der Brust, die Augen minimal verengend, als sie für einen Moment an jemand anderes denken musste.

„Jedenfalls, keine Ahnung, wie er aussieht, keine Ahnung, wie er zu seinem Stamm so ist, ob er wohl gut jagen kann oder was für die Menschen sonst noch so von Bedeutung ist, ich weiß es nicht. Aber als ich das so nebenher mitbekam dachte ich mir, kein Wunder, dass diese Kili so ein seltsames Ding ist. Oh, ich sage dir, über Moconi habe ich mich schon geärgert, er ist unglaublich unkooperativ. Garstige Krähe.“

Alaji war sich nicht so ganz sicher, was Nadeshda ihr mit ihrem Vortrag über den Häuptling der Menschen hatte erklären wollen, sie nickte bloß vorsichtig. Die kleine Frau war mächtig... obwohl sie ihr eigentlich vertraute und nicht annahm, sie würde ihr irgendein Leid antun, auch nicht als Strafe. Sie konnte sich bei ihr einiges erlauben, wenn sie nun einmal zu dumm war, um sie zu verstehen...– da gab es doch schlimmeres.

„Mach dir keine Gedanken über das, was ich sage.“, bat die Kleinere da ganz von selbst und ließ sich seufzend wieder auf ihrem Schlaflager nieder, „Wenn ich eine Weile in Trance war, will ich einfach reden. Ich muss das dann einfach. Und mit den Leuten hier...“

Sie schwieg eine Weile, sich durch ihr langes, an diesem Tag völlig ungeschmücktes Haar streichend.

„Mit Mahrran rede ich beinahe nichts mehr, er ist so ein furchtbarer Tölpel. Auf Kilis Niveau lasse ich mich von selbst nicht herab und unsere Haushälterin verwirren meine Worte nur; dich auch, ich weiß, aber die denkt dann, der Fehler, egal welcher, läge bei ihr und sie müsste ihn unbedingt wieder gerade biegen.“

Sie schmunzelte, ohne wieder aufzusehen.

„Vermutlich hätte sie sich nun ihren Mantel übergeworfen und wäre ins Land der Menschen gerannt, um Moconi zu erziehen, da wäre mein Bruder aber sauer geworden. Nun, und Mabalysca hast du vorhin selbst gesehen...“

Alaji nickte beklommen. Ja, das Geistermädchen...

„Was ist mit ihr?“, wagte sie zu fragen, „Vielleicht kann ich ihr ja helfen...“

Sie kannte sich mit allerlei Krankheiten aus; musste sie, schließlich war sie ja Heilerin. Zu ihrer Irritation lachte Nadeshda kurz, aber es klang nicht fröhlich, sondern bitter.

„Mabalyscas Körper geht kaputt, weil ihre Seele kaputt geht. Um ihren Körper zu heilen, müsste man ihre Seele heilen... und das könnte man nur, wenn man ihr endlich ihren Kajira zurückbringen würde. Und das können wir nicht, beim Besten Willen, wie sollen wir so durch das Gebirge? Wir hätten früher handeln sollen. Jetzt ist es zu spät.“

„Zu spät?“

Der Klang dieser Worte ließ beide kurz erschaudern.

„Zu spät.“, wiederholte die Kleinere darauf abermals, „Ich weiß nicht, ob sie es schafft, bis die Sonne das Land wieder erwärmt. Meine Schwester stirbt jeden Tag ein bisschen mehr und ich kann nichts dagegen tun, weil ich sie nicht ernst genug genommen habe. Alaji...?“

Die Heilerin hob ihr Haupt betroffen von der bitteren Wahrheit, die den Mund des Dorfoberhauptes zuvor verlassen hatte. Sie hatte recht, in Wirklichkeit war es vollkommen offensichtlich...

Nadeshda wandte ihren Blick ab, als sie weiter sprach.

„Mabalysca hat mir vorgeworfen, ich verstünde sie nicht, weil ich keine... Liebe kenne. Das mag sein, ich finde Liebe ist etwas Schlechtes, wenn es doch möglich ist, sich zu Tode zu lieben, oder nicht? Nun, ich bin zwar ein Götterkind, doch ich weiß nicht was zu tun ist. Dein Teco, dieser feine Kerl, der ist auch weit weg. Versprich mir, Alaji, dass du dich nicht auch zu Tode liebst an ihm.“

Verblüfft von ihrer Forderung konnte ihr Gast zunächst nur nicken.

Sie wusste nicht, wie sie das verstehen sollte... war es Sorge? Sollte es sie ehren, oder gar rühren? Irgendwie tat es das. Sie wurde abermals überrascht, als sich die Kleinere mit einem Mal wieder erhob und nach ihrem warmen Mantel griff, der unbemerkt wegen der Decken die ganze Zeit neben ihr gelegen hatte.

„Ich muss noch einmal fort, dauert ein wenig.“, wechselte sie das Thema plötzlich komplett, „Du hast scheinbar ohnehin die Hälfte deiner Kleidung mitgebracht, das ist gut. Deine Mutter tut dir nicht gut, du wirst hier bleiben – das ist ein Befehl. Wenn du hungrig bist, such die Haushälterin, sie macht dir gern etwas, das eifrige Ding. Und bring sie nicht dazu, Moconi Manieren beibringen zu wollen...“

Sie gluckste kurz, dann eilte sie aus der Tür. Alaji sah ihr verwundert nach.

„Danke für den Befehl, Herrin...“
 

Nadeshda fühlte sich in ihrem Haus mehr und mehr unwohl. Die Tankana-Familie war seit jeher kalt und gefühlsarm gewesen, zumindest war man so immer miteinander umgegangen, weil es sich eben so schickte. Dennoch hatte sie sich wohl gefühlt – sie hatte es schließlich nicht anders gekannt und war von der Art der einfachen Dorfbewohner eher etwas befremdet gewesen. Je niedriger der Stand, desto herzlicher waren die Leute, hatte sie gelernt.

Aber das, was in diesen Tagen war, war anders. Ihr eigener Zwillingsbruder, der ihr so lange einfach hörig gewesen war, stellte sich gegen sie, ohne, dass sie sich wirklich erklären konnte, warum so plötzlich. Zunächst hatte sie Shiran die Schuld gegeben, aber scheinbar hatte er sogar den Intriganten irgendwie an der Nase herum geführt; Fakt war, er war weg und ebenso war es ein Fakt, dass der Seher wohl ziemlich sauer gewesen sein musste, als er die Lüge – welche auch immer es gewesen sein mochte – bemerkt hatte, schließlich hatte er mit seiner letzten Handlung, das Dorf betreffend, Mahrrans schöne Mission versaut, was letzterem wohl gründlich recht geschehen war. Die familiäre Situation gebessert hatte das alles natürlich nicht.

Dann gab es noch Kili. Sie war nur ein Mensch, ein niederes Wesen... hatte Nadeshda eine Weile gedacht. So nieder war sie offenbar aber gar nicht, sie war mindestens so intrigant wie Shiran. Nadeshda wusste nicht, ob sie sie dafür schätzen sollte, dass sie ihrem scheinbar geistig verwirrten Mann eins auswischen wollte, oder ob sie sie verachten sollte, dass sie Mahrrans Liebe derart ausnutzte.

Mabalysca war ein geistiges und körperliches Wrack und sie bedauerte es zutiefst, ihren leisen Worten nicht gelauscht zu haben, als sie noch die Möglichkeit gehabt hatte, ihr zu helfen. Jetzt war es vorbei... und der Anblick der einstigen Familienhoffnung war so grauenhaft, dass er selbst ihrer erkalteten Seele weh tat.

Und die Haushälterin? Die war so derart einfach, dass es an sich unter Nadeshdas Würde gewesen wäre, überhaupt mit ihr zu sprechen, aber da sie die einzige Person im Haushalt war, die weder intrigant noch geistesgestört war und auch nicht gerade an Liebe starb, war sie die einzige Alternative, wenn es sie einmal überkam und sie ein paar nichtige Worte sprechen wollte. Wie erbärmlich.
 

Es wurde Zeit, ihre Ehre wieder herzustellen. Viel zu lange hatte sie Shiran und Mahrran beim Herumpfuschen zugesehen, hatte sich in ihrer Autorität untergraben lassen, ja sogar zugelassen, dass ihre ungewollte, aufgezwungene Schwangerschaft sie kurzzeitig aus der Bahn warf – das war nun vorbei.

Sie keuchte vor Erschöpfung, als sie den schmalen Trampelpfad bis zu einer weiteren Erhöhung gefolgt war, welche noch wesentlich höher als der Ort, an dem ihr Haus stand oder die Ebene, auf der sich die Quellen befanden, lag. Es hatte wieder angefangen zu regnen und der Himmel grollte aus unerfindlichen Gründen über ihr. Zu ihren kleinen Füßen lag das Dorf. Sie überblickte es eine Weile stumm, wie es da lag, still und karg und durchnässt. Kaum einer war draußen, das Meer im Hintergrund war wild und die Wellen schlugen bis an die ersten Häuser des Armenviertels, denen das jedoch nichts ausmachte, da die äußersten Hütten traditionell auf Holzpfeilern, die mittels Erdmagie tief in den Sand gerammt worden waren, standen.

Dieses Dorf war nichts, worauf die Tankana-Familie stolz sein konnte. Ihr Clan war groß... laut ihrer Eltern gab es überall auf der Welt Kalenao, die ihm angehörten und überall übernahmen sie führende Positionen. Nadeshda hatte keine Ahnung von der Welt, sie kannte bloß das Land am Meer, die Berge und das Land dahinter und es würde auch alles sein, was sie in ihrem Leben zu sehen bekommen würde.

Das Volk, das zu ihren Füßen lebte, war ihr Volk. Es war nicht intelligent und auch nicht stark, vielleicht verdiente es das Überleben nicht einmal. Letztendlich war das aber egal, denn sie war dafür verantwortlich und sie wollte nicht, dass die kommenden Generationen dachten, sie hätte nicht alles für die Rettung dieser Kalenao getan.

Wenn es etwas gab, worin die mit Mahrran noch völlig übereinstimmte, dann war es, dass sie keinerlei Kompromisse bezüglich ihrer Dominanz eingehen durften. Sie waren mehr als die Menschen, wahrscheinlich immer noch nicht gut, aber besser als diese Primitivlinge es jemals sein würden. Und wenn das Land hinter den Bergen die komplette restliche Welt umfasst und Platz für so viele Stämme, wie es Sterne am Himmel gab geboten hätte, niemals würde sie zulassen, dass ihr Volk es sich mit einem Menschen teilen musste. Der Schlangenstamm war nur der Anfang, irgendwann würden auch die folgen, die den Kojoten ihr Totem nannten und auch die, die niemand kannte und die Vögel anbeteten würden dran glauben müssen.

Es tat ihr leid für Teco, der sicherlich ein feiner Kerl war. Aber was nützte Alaji Teco, wenn er so weit von ihr entfernt war? Vielleicht hätte er mit ihr kommen sollen. Vielleicht war es sein Fehler. Es tat ihr auch leid für Kajira, aber bis er hätte zurückkehren können – falls er das überhaupt jemals zu tun gedachte – würde Mabalysca längst den Göttern übergeben worden sein.

Und tatsächlich tat es ihr auch etwas leid für Shiran. Er war ein Intrigant, ein Lügner und irgendwie ein Wahnsinniger, aber sein ungebrochener Wille, für irgendetwas zu kämpfen, was die kleine Frau vermutlich niemals verstehen würde, hatte ihm bei ihr einen stillen Respekt verschafft. Er hatte sicher seine Gründe gehabt, den Kalenao den Rücken zu kehren... dennoch durfte sie ihm keine Chance lassen.

Sie legte ihre Handflächen vor ihrer Brust gegeneinander, dann schloss sie die Augen.

„Götter des Wassers, meine Eltern!“, rief sie die an, deren Hilfe sie immer bedingungslos bekam, „Schließt dem Seher die Augen!“

Und sie spürte ein angenehmes, bekanntes Kribbeln, das ihr sagte, das die Magie wirkte. Es würde Shiran irritieren – mit Sicherheit hatte er sie die ganze Zeit aus der Entfernung beobachtet, das war nun nicht mehr möglich.

Nun kam der etwas schwierigere Teil, der Teil, in dem sie Moconi eine Lektion erteilen würde, die er in seinem bald endenden Leben nicht vergessen würde – sie tat es auf ihre Weise und bei allen Göttern, sie hatte ihn gewarnt. Zerit hatte es deutlicher gemacht, als sie es eigentlich vorgehabt hatte...

Sie ließ sich in eine leichte Trance sinken, was ihr überaus leicht fiel, weil sie es kurz zuvor schon getan hatte. Anders als Mahrran konnte sie die Übung von der Realität deutlich trennen; ihr Bruder wäre nun schon nicht mehr zur Magie fähig gewesen. Und deshalb war sie auch besser als er. Und würde Erfolg haben.

Vor ihren inneren Augen tanzten blaue Lichter vor einer tödlichen Schwärze. Die kalten Regentropfen auf Gesicht und Händen, die sie letztendlich nicht durch Stoff hatte schützen können, spürte sie nicht mehr. Sie lächelte, als sie die Arme gen Himmel hob.

„Dieser Winter ist ein besonderer Winter.“, sprach sie andächtig und die blauen Lichter begannen, sich schneller zu bewegen, „Dieser Winter ist Nadeshdas Winter. Die Kälte dieses Winters soll die Menschen des Schlangenstammes erfrieren und die Finsternis soll sie blind machen.“

Die Lichter wurden weiß, tanzten wie die Schneeflocken auf den Berggipfeln um die kleine Frau, die die Arme wieder ein wenig sinken ließ, sie jedoch seitlich mit gespreizten Fingern weiterhin von ihrem Körper entfernt hielt.

„Ich rufe die Himmelsgötter an, die mir die Finsternis in mein Blut gegeben haben – aus Liebe macht Hass, aus Hoffnung macht Verzweiflung, aus Glück macht Elend! Und wenn der Wahnsinn naht, erfriert die Herzen und die Seelen dieser niederen Kreaturen, denn sie sind des Lebens auf meiner Welt nicht würdig!“

Die Lichter tanzten, bis sie verschwammen und unkenntlich wurden, und die Finsternis zerbrach mit einem Mal und hinterließ in ihr ein entgegen ihres Fluchs heißes Gefühl des Triumphs, das ihr den Verstand einen Moment lang gänzlich raubte, als sie ganz allein im bitterkalten Regen lauthals zu lachen begann.

„Ihr werdet leiden!“, schrie sie mit ihrer grellen Stimme gegen den Wind, „Ihr werdet euch winden wie die Würmer, die ihr eigentlich auch seid, ihr widerlichen...! Und es wird deine Schuld sein, Moconi, deine Schuld und ich schwöre dir, in deiner letzten Sekunde werde ich bei dir sein und ich werde dich auslachen, so wie ich dich jetzt auslache!“

Und sie fiel auf die Knie vor Erschöpfung und sah von ihrer Hysterie gepackt wieder bunte Lichter tanzen.
 


 

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Oh ja, jetzt wird es frostig angehaucht.

Frost

Es war finster. Es war so unglaublich finster, dass Shiran glaubte, nicht einmal die Luft zum Atmen hätte die Finsternis übrig gelassen, jene Finsternis, die alles verschlang, was ihr in den Weg kam – oder auch zu flüchten gedachte.

Es war selten, dass ein Seher in seinen Träumen nichts sah – egal, wie bedeutungslos es auch sein mochte, irgendetwas gab es immer, womit die Götter die verdiente Nachtruhe stören konnten, doch nun war da nichts.

Von diesem Nichts erschreckt erwachte der Mann in tiefster und schwärzester Nacht. Draußen peitschte der Wind gegen die Hütte, fuhr an ihr vorbei und verursachte dabei seltsame Geräusche. Es erinnerte ihn etwas an die Schlacht, die er so abrupt beendet hatte; wenn ein Speer knapp an seinem Kopf vorbei geflogen war, dann hatte es sich kurzzeitig ähnlich angehört. Aber das hier war anders, bedrohlicher – dabei hatten diese Waffen ihn aufspießen können, nun lag er unter wärmenden Fellen in einer guten Hütte geschützt.

Irgendetwas kam mit dem Wind und er konnte es nicht sehen, nicht begreifen... und trotzdem war es da. Er hatte das Gefühl, Moconi in Kenntnis setzen zu müssen – doch was hätte er diesem einfachen Mann erzählen sollen? Es gab nichts, was er in verständliche Worte hätte fassen können diesbezüglich.

„Bist du wach?“

Er erschreckte sich tatsächlich etwas, als Sanan, am anderen Ende des Raumes, plötzlich zu ihm sprach, dabei hatte er geahnt, dass er nicht schlief. Wenn er es tat, hatte er eine sehr eigentümliche Art zu atmen, war ihm aufgefallen, wie ihr Vater sie auch gehabt hatte.

„Ja, bin ich. Dieser Wind beunruhigt mich.“

Zu seiner Überraschung vernahm er ein leises Kichern. Sein Bruder sprach von selbst die Himmelssprache, fiel ihm nebenbei auf...

„Dabei bist du doch Windmagier... die Hütte ist gut, sie hält ihm stand.“

Daran zweifelte er auch gar nicht.

„Es ist nicht der Wind an sich, der mich unruhig macht.“, wagte er einen Versuch, sein ungutes Gefühl in Worte zu fassen, „Sondern viel mehr das, was er mit sich trägt.“

Darauf herrschte eine Weile Schweigen. Trotz des schauerlichen Heulens draußen, hörte Shiran, wie Sanan sich in seinen Fellen bewegte, sich ihm zuwandte.

„So? Was trägt er denn in sich, der Wind?“

„Das weiß ich nicht. Konzentriere dich darauf, dann spürst du es.“

An sich hatte er damit gerechnet, dass der Jüngere ihm widersprach und ihn fragte, was er sich anmaßte, von ihm zu verlangen, wie eine Bestie zu denken... er gehorchte jedoch.

„Ich mag den Wind auch nicht.“, kam dann nach einer Weile als Antwort, aus der er jedoch nicht mit Sicherheit schließen konnte, ob der Jüngere ihn auch wirklich verstanden hatte oder nur gesprochen hatte, damit er nicht vollkommen dämlich da stand. Letzteres hätte er so oder so nicht getan, Shiran schätzte ihn.

Seine nächste Frage war abermals verwunderlich für den Seher.

„Wie ist es jetzt in deinem Heimatland?“

Das fragte er sich auch. Er ging einen Moment lang in sich, bloß um abermals festzustellen, dass dort nur Finsternis war, die sogar die Stimmen in seinem Kopf verschluckt hatte. Wunderbar. Und er ahnte, wer daran wohl schuld war...

„Ich weiß es nicht.“, entgegnete er so schließlich ehrlich, „Die Finsternis macht mich blind. Das ist seltsam – und selten. Ich weiß nicht, was das soll.“

„Ein schlechtes Zeichen?“

„Oh ja.“
 

Der Morgen war grau. Die Welt hatte sich in etwas den Menschen unbekanntes verändert, das Wetter hatte die Savanne neu geformt und mehr denn je wünschte man sich den wärmenden Sommer herbei. Man konnte nicht auf Dauer nur in den schützenden Hütten sitzen – es gab viel Arbeit und das immer.

„Wir könnten es auch schlechter haben.“, erkläre Dherac Kinashi gelassen, als er sich in hilfsbereiter Manier um das Entzünden eines Kochfeuers bemühte, während seine Frau die Schlaffelle ausschüttelte. In ihrer Hütte war nicht genug Platz für eine Feuerstelle, so musste man sich auch bei solchem Wetter mit einer äußeren begnügen. Meist machte das nichts aus, aber im Inneren ihres Wohnraumes war es in diesen Tagen bitterkalt.

„Ach ja?“, brummte die Frau nur missgelaunt und hielt in der Arbeit kurz inne, um das schneeweiße Köpfchen zu tätscheln, das aus ihrem Ausschnitt lugte. Bei solchen Temperaturen war es wirklich besser, Babys nah am Körper zu tragen, Kinashi kannte sich aus.

„Ja!“, erklärte ihr Mann da weiter und ärgerte sich über den leisen Sprühregen, der das Entzünden der Flammen schier unmöglich machte, „Stell dir mal vor, wir wären jetzt an Karems Stelle! Die müssen jetzt schließlich ganz allein durch das Land ziehen... nicht, dass er das nicht verdient hätte, einen schlechteren Jagdbruder kann man sich nicht vorstellen, den Stamm in diesen Tagen im Stich zu lassen...“

Die Frau nickte bloß seufzend. Wer wusste in diesen Tagen schon, was gut und was schlecht war...? Sie war sich jedenfalls nicht sicher.

„Ich habe gehört, Moconi schickt ein paar Jäger aus... wirst du dabei sein?“

Dherac grinste, als es endlich ein Funke schaffte, das Brennmaterial zu entzünden. So etwas konnte er seiner guten Frau wirklich nicht zumuten...

„Nein.“, antwortete er dann, in seinem Inneren wesentlich weniger erfreut als er zugeben mochte, „Ich soll mich noch schonen, sagte Moconi. Schonen, tse. Mit meinem einen Auge sehe ich besser als er mit beiden zusammen, aber ich bin nicht Karem, also respektiere ich den Unsinn.“

Saltecs Sohn war mitunter ziemlich unberechenbar, hatte er gelernt, obgleich er meist berechtigt handelte. Kinashi sah ihn einen Moment aus großen Augen an, dann zeigte sie kurz ein minimales Lächeln – ein seltener Anblick in diesen Tagen.

„Gut.“, kommentierte sie das entgegen seiner Erwartungen. Sie hätte ja auch auf den Häuptling schimpfen können, dachte er sich etwas geknickt, verbarg das jedoch natürlich, wie es sich für einen anständigen Jäger auch gehörte.

„Wir können diese Zeit gut nutzen. Morny möchte nicht die Jüngste bleiben.“

Sie schüttelte ein weiteres Fell aus, dieses Mal mit mehr Elan. Der Mann erhob sich sichtlich irritiert und trat neben sie.

„Jetzt schon? Das ist ziemlich früh dieses Mal, Kinashi.“

Sie hielt in der Bewegung inne. Törichter Idiot.

„Ich weiß, Dherac, ich weiß. Aber sprich, Mann, wirst du jünger? Werde ich jünger? Die Götter haben uns die Gabe geschenkt, ohne viel Mühe viele gute Kinder bekommen zu können, damit leisten wir unserem Stamm einen guten Dienst! Ich möchte noch viele Babys bekommen, so lange ich kann.“

Als sie ihre Arbeit fortsetzte, lächelte sie versonnen. Sie liebte es, Mutter zu sein. Sie konnte nicht verstehen, warum viele andere Frauen, die nicht einmal halb so viele Kinder hatten wie sie, oftmals so genervt oder gar überfordert mit ihnen waren. Kinashi war sich sicher, es war ihre Bestimmung, sehr viele gute Kinder zu bekommen. Außerdem fühlte sich ihr Bauch nach so vielen Schwangerschaften leer an, wenn einmal kein neues Leben darin heranwuchs... und Dherac war so wunderbar darin, ihr welches einzupflanzen!

„Ich weiß schon, warum ich dich an mein Feuer rief. Ich habe ein Auge für intelligente Menschen.“ Er strich ihr versonnen über den Rücken und den Hintern, den er gern mochte. „Meine Frau spricht wahre Worte. Vielleicht war es Wille der Götter, dass ich diese Zeit bekommen habe... das wird eine gute Sache.“

Sie grinste bei seinen Worten – und seinen Berührungen. Seine Hand fuhr nach vorn, über ihre Oberschenkel und in eine Richtung, die dank der schlechten Witterung viel zu schwer zu erreichen war. Oh, sie musste sich mit dieser elendigen Arbeit beeilen – ach, und kochen musste sie auch noch.

„Soll ich mich um das Essen kümmern? Und Morny?“

Oder auch nicht. Als das Paar sich umdrehte, stand ihre älteste Tochter Calyri hinter dem Feuer, dem sie einen raschen, aber bewundernden Blick schenkte. Ihr Vater hatte es wirklich entzünden können...

„Das wäre eine gute Sache!“ Schweren Herzens entfernte Kinashi sich kurz von ihrem Mann, um aus ihrem Ausschnitt ihr Baby zu heben und es seiner Schwester in die Arme zu legen. „Warte, ich gebe dir die Trageschlinge... lass sie nicht an der Luft, trage sie unter der Kleidung, aber achte darauf, dass sie atmen kann... so.“

Sie hatte das Stück Fell, mit dem sie sich ihr Kind umgebunden hatte, unter ihrer Kleidung hervorgenestelt und der Jüngeren ebenfalls übergeben, die sich das Baby in gewohnter Manier damit auch umband. Morny gluckste. Aus irgendwelchen Gründen schien ihr die gewohnte Prozedur zu gefallen.

„Unsere Calyri ist eine gute Frau. Sie könnte längst eigene Kinder haben. Was hält Moconi noch davon ab?“, erkundigte Dherac sich derweil und trat neben die beiden. Seine Tochter errötete.

„Das... ist eine schwierige Sache. Die Götter schenken mir immer wieder Gedanken an den armen Teco, wenn mir danach ist, zu Moconi zu gehen. Und ich glaube, ihm ist ebenso.“

Ihre Mutter schüttelte nur verständnislos den Kopf.

„Teco wäre ein guter Mann gewesen, wäre er nicht zum Krüppel geworden. Für mein Kind nur das Beste, und wenn das nicht mehr da ist, das Zweitbeste. Geh zu dem Häuptling und bitte ihn darum, dir endlich neues Leben einzupflanzen, ihr verschwendet beide eure Leben, wenn ihr nicht endlich mal macht! Und ich...- huch!“

Sie wurde unterbrochen, als Dherac sie einfach hochhob und auf Händen davon trug in Richtung ihrer Hütte. Calyri lachte.
 

Karem ahnte nicht, dass sein Aufbruch nicht unbedingt die schlechteste Idee war, die er jemals gehabt hatte. Die Witterung war schlecht... so schlecht, dass sich selbst die meisten Tiere verkrochen. Es musste auch eine schwere Zeit für sie sein, überlegte sich der Mann, während er seine Familie durch das weite Land in unbekannte Richtung führte. Sie waren dieses Klima schließlich auch nicht gewohnt. Und sie waren weniger intelligent als die Menschen, die sich anzupassen wussten.

Der Mann seufzte leise, als er kurz über seine Schulter schaute zu seinen jüngeren Kindern, die trotz der Witterung fröhlich schienen. Besonders der zurückgebliebene Resak hatte seinen Spaß, ohne den großen Stamm zu reisen fand er sehr interessant und abenteuerlich.

Suale, nach Joru der älteste Sohn, hielt mit gleichmütiger Miene mit seinem Vater Schritt. Er war ein guter Junge, wenn auch etwas eigenbrötlerisch. Das konnte Karem ihm bei seiner Mutter nicht verdenken.

Letztere ging neben ihrem jüngeren Bruder, der die Familie ebenfalls begleitete, her. Sie sprach mit ihm, so leise, dass niemand anderes sie verstehen konnte, und er antwortete ihr. So kommunizierten sie immer. Sie waren sehr eigen.

„Sie war mir versprochen.“, brummte Randary derweil finster, während er neben seiner Schwester ging, jedoch stur geradeaus blickend, „Schon seit sie ein Kind gewesen ist. Das verzeihe ich dir nie.“

Ardoma zischte.

„Ich mache nicht die Regeln. Aber Rakia gebe ich dir sehr gern, wenn sie alt genug ist.“

Die Miene der Mannes verdunkelte sich, als sein Blick kurz zu dem fröhlichen kleinen Mädchen schweifte. Sie war ein gescheites Ding, sie wusste und erkannte viel und verstand sich darin, alle Lebenssituationen mit Leichtigkeit zu bewältigen, obwohl sie noch so klein war. Sie würde eine wunderbare Frau werden.

Und genau eine solche wollte Randary nicht. Seine Frau sollte sein sein... er wollte Lauy, die naive, weltfremde Lauy. Aber sie hatte ihn nicht gewollt.

Sie hatte ihn nicht gewollt. Das schnürte ihm die Kehle zu.

Und Ardoma nahm ihn nicht einmal ernst, sie schüttelte bloß den Kopf und beschleunigte den Schritt, um an Karems Seite zu gelangen.

„Wie geht es dir?“, erkundigte der sich und sie hob eine Braue dank der in ihren Augen seltsamen Frage.

„Wie soll es mir denn gehen?“

„Dir war unwohl heute Morgen.“, erklärte er sachlich, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Seine Feststellung ließ keinerlei Widerrede zu – und er hatte auch recht, nach dem Aufstehen war es ihr wirklich nicht gut gegangen.

„Es ist in Ordnung.“, entgegnete sie so schließlich trocken. Er schielte sie kurz von der Seite an.

„Wenn es nicht mehr geht... dann trage ich dich. Das meine ich ernst.“

Denn er wusste mehr, als er zugegeben hätte.
 

„Erwähne nicht, was ich dir heute Nacht anvertraut habe.“

Sanan sah müde von seinem Frühstück auf. Shiran ging es nicht gut... er saß in ein Fell gehüllt relativ dicht neben ihm und starrte versonnen in die Flammen, die schlechte Witterung ignorierend.

„Was meinst du?“, wollte der Jüngere darauf wissen und hielt ihm auffordernd ein Stück Fleisch entgegen. Eines der letzten guten Stücke...

Der Seher schüttelte bloß kurz den Kopf. Er wollte nichts essen, irgendetwas war hier falsch, etwas geschah, und er hatte das dumpfe Gefühl, es nicht aufhalten zu können... und es zerfraß ihn.

„Dass ich nichts sehe. Moconi würde es sicher falsch verstehen und mich gleich wieder verstoßen, weil ich dem Stamm so nichts nütze... ich werde ihm bald wieder von Nutzen sein. Ich muss bloß herausfinden... was hier geschieht.“

Nicht, dass er es nicht geahnt hätte... wenn es wirklich so war, dann hatte er ein gewaltiges Problem. Er würde sich noch mit dem Häuptling beraten müssen...

Der Häuptling selbst suchte etwas Abstand. Es gab viele Dinge, die ihn belasteten, vieles, worüber er nachdenken musste, so entfernte er sich mit einem Speer bewaffnet ein Stück vom Lager und stapfte durch das morastige Land. Er verstand nicht, welche Geister die Götter schickten, dass sie ein solch seltsames Wetter heimsuchte. Nicht einmal die Vögel waren geblieben...

Er bedauerte es, nicht selbst einfach fort fliegen zu können. Hoch in die Lüfte, fort von seinem Heimatland, über die großen Wälder, die eine natürliche, unüberwindbare Grenze für alle Stämme bildeten, hinweg, in den unbekannten Rest der Welt, wo die Winter weniger hart waren und sich das Wild leichter vor die Speere treiben ließ. Und wo es keine Bestien gab.

Letztendlich war er aber nur ein Mensch und an den Ort, an dem er sich gerade befand, gebunden. Und diese Tatsache zwang ihn, auch mit der Situation zurecht zu kommen, in die die Götter ihn gesteckt hatten. Er hasste es, eine Spielfigur zu sein.

Und er hasste seine elende Unaufmerksamkeit. Peinlich spät bemerkte er erst die Schritte, die ihn gemächlich verfolgten; als er herum fuhr, den Speer abwurfbereit, stellte er jedoch fest, dass es keiner Verteidigung bedurfte – oder sie zumindest keinen Sinn hatte. Er ließ die Waffe wieder sinken, bedachte seine Verfolgerin jedoch eines düsteren Blickes.

„Was machst du hier?“, erkundigte er sich grantig, darauf bedacht, dass sie seine Verlegenheit wegen seines Fehlers von zuvor nicht bemerkte. Sie würde es dennoch... das wusste Moconi an sich auch.

Mefasa hatte ebenfalls inne gehalten, faltete nun die Hände adrett über ihrem noch flachen Bauch und lächelte den Mann fröhlich an.

„Wir... müssen reden, mein Häuptling.“
 

Calyri hatte ein ungutes Gefühl, als sie ihren Geschwistern ihr Essen servierte, während ihre Eltern eifrig damit zugange waren, ein neues Geschwisterchen zu machen. Eine seltsame, bedrückende Stimmung lag über dem Lager und es tat ihr leid, nur kleine Portionen austeilen zu können; die Vorräte wurden langsam knapp.

„Warum macht eure Frau euch kein Essen?“, fragte sie die Zwillinge, als sie beiden jeweils ein kleines Stück Impala-Fleisch und einen Mund voll Fett servierte; mehr gab es nicht.

Die Brüder tauschten kurz einen Blick aus, in dem überraschenderweise jedoch kein Missmut über die Frage ihrer Schwester zu erkennen war.

„Das wüssten wir auch gern.“, verkündete Novaya dann schulterzuckend und Semliya ergänzte, „Sie war vorhin einfach fort. Wohin sie ist – wir wissen es nicht. Liran ist aber bereits gefüttert worden.“

Ihr kleiner Stiefsohn saß neben ihnen am Boden und spielte mit einem alten Stück Stoff, besonders große Ansprüche an sein Spielzeug hatte er nicht. Es war untypisch, dass Mefasa ihren Sohn einfach zurückgelassen hatte; vermutlich traute sie ihren Männern jedoch zu, sich eine Weile um ihn sorgen zu können. Das war denen auch mehr als recht, sie waren nun schließlich erwachsen.

Ranisin wusste das auch.

„Werdet ihr... mitgehen?“

Er zuckte unter den beiden identischen, kühlen Blicken aus den ungewöhnlich hellen Augen zusammen. Sein Vater hatte gesagt, er durfte sich nicht alles gefallen lassen. Und er durfte bei allem Göttern auf gar keinen Fall Angst vor seinen beiden älteren Brüdern zeigen; er war zwar viel kleiner und schmächtiger als sie, aber noch immer ein Mann! Also hatte er seine Frage einfach gestellt.

„Drücke dich deutlicher aus.“, entgegnete Novaya darauf und Semliya grinste. Sie wussten genau, wovon er gesprochen hatte...

Der Jüngere senkte den Blick errötend und zupfte etwas an seinem Fleisch herum, bis er einen mahnenden Blick Calyris auf sich spürte, weil man nicht mit Essen spielen durfte; schon gar nicht in solchen Zeiten.

„Na ja, die Jagd. Bald ist Jagd... geht ihr mit?“

An dieser direkten Frage fanden sie dann nichts mehr auszusetzen. War auch besser so, dachte sich die Älteste versonnen, während sie einen Arm um ihre Schwester Niray legte, die vermutlich nicht nur wegen der Kälte und der Nässe so zitterte und sich gar nicht wagte, aufzusehen.

„Das würde dir wohl so passen.“, ließ sich Semliya darauf zu seiner Antwort herab, während Liran ihm glucksend auf den Schoß krabbelte und er ihn etwas an sich drückte, als sei es sein eigener Sohn. Novaya passte es wohl nicht, dass er mit leeren Händen da sitzen sollte, so nahm er Calyri wortlos Morny ab und ahmte seinen Zwilling nach.

„Aber nein, wir werden hier bleiben. Wir müssen doch unsere Frau beschützen.“

„Zu zweit?“, wunderte Calyri sich stirnrunzelnd, während sie den Rest ihrer Mahlzeit zu sich nahm und Semliya grinste. Natürlich, als ob sie sich jemals freiwillig voneinander trennen würden... er schielte neben sich, als er einen äußerst seltsamen Blick auf sich spürte. Wäre es seine Art gewesen, so hätte er Novaya gefragt, was wohl mit ihm nicht in Ordnung war; es war nicht nötig, denn er erklärte sich von selbst.

„Ich war der Meinung, wir gehen mit.“
 

Die Geschwister wandten sich geschlossen den Zwillingen zu; selbst Niray wagte sich vor Verwunderung, den Kopf zu heben. Auch der kleine Liran schien irritiert zu sein.

„Semmi? Naya?“

Die Brüder sahen sich eine Weile regungslos in die Augen, dann wandten sie die Blicke zeitgleich wieder ab.

„Wir wissen noch nicht, ob wir hier bleiben, oder mitgehen wollen.“, kam dann grantig von Semliya an Ranisin gerichtet, der bei dem giftigen Unterton zusammenzuckte. Novaya legte nebenbei Morny wieder zurück in Calyris Arme, ließ es sich aber nicht nehmen, sie noch einmal auf den weißen Kopf zu küssen, um sich von seiner Lieblingsschwester zu verabschieden. Dann erhoben sie sich und gingen.
 

Sie sprachen erst wieder, als sie trocken in der Hütte saßen, die sie sich mit Mefasa teilten.

„Warum bist du mir vor allen so in den Rücken gefallen?“, erkundigte Semliya sich ruhig, während er sich seine nasse Weste abstreifte und über einen schmalen Querbalken aus fremdartigem Holz hängte, damit sie wieder trocknete.

„Das war doch nicht in den Rücken gefallen. Ich frage mich eher, wie du darauf kommst, wir blieben hier. Wovor sollten wir Mefasa beschützen?“

Novaya war unterdessen damit beschäftigt, seinen kleinen Stiefsohn auszuziehen und ihn daraufhin mit einem trockenen Fell abzutrocknen und in sein Schlaffell zu wickeln, in dem er auch artig sitzen blieb. Wenn er das nicht getan hätte, wäre er krank geworden und das wäre schlimm gewesen, das wusste er, und das wollte er doch nicht. Das hätte seine Mama sicher traurig gemacht!

„Vor dem Stamm, der ihr genau so misstraut wie uns auch.“

Der Ältere der Brüder setzte sich neben den kleinen Jungen, während auch der Jüngere sich nun seiner Weste entledigte und sie aufhängte .

„Ah. Aber irgendwann müssen wir ohnehin mit auf Jagd. Dann ist sie auch allein... wir können sie ja schlecht mitnehmen.“

Semliya verengte die Augen etwas, als sein Zwilling sich ihm nun gegenüber setzte und wie eine Art Spiegelbild im Wasser erschien. Er hatte recht... aber er wollte nicht mit. Nicht, wenn ihm noch immer so oft schwarz vor Augen wurde...

Das geschah Tinash auch, hatte er mitbekommen, als er Tanest zufällig mit ihrer Schwester hatte reden hören, doch Tinash hatte jemand einen großen Brocken auf den Kopf geworfen und es musste wohl ein Wunder sein, dass der Mann überhaupt noch geradeaus laufen konnte.

Aber ihn hatte keine Bestie mit Steinen beschmissen. Und Novaya teilte sein Leiden offensichtlich nicht.

„Ich möchte aber dieses Mal nicht mitgehen. Das ist eine schlechte Zeit.“, versetzte er so dumpf und sein Gegenüber hob eine Braue, während der kleine Junge zwischen ihnen bloß unbekümmert irgendein Lied summte und sich dabei in seinem Fell hin und her wiegte.

„Warum werden wir uns nicht einig, Semmi?“
 

„Was auch sonst.“

Moconis Worte waren nicht ernsthaft eine Frage, sondern viel mehr eine Bestätigung gewesen; ja, sie würden reden, er konnte ohnehin nicht entkommen.

Mefasa schenkte ihm ein Lächeln, das in seiner falschen Güte nicht geschlagen werden konnte, und ließ sich ihr feuerrotes Haar vom garstigen Wind um die Ohren wehen. Wie Flammen...

„Seltsame Zeiten sind angebrochen.“, begann sie und schien nahezu fröhlich dabei. Dem Mann stellten sich die kaum vorhandenen Nackenhaare bei dem andersartigen Akzent, den sie dank des des seltenen Gebrauchs ihrer Stimme noch immer nicht hatte ablegen können. Er glich dem von Shiran.

„Du wirst es nicht glauben, aber das ist mir auch bereits aufgefallen.“, schnarrte der Häuptling darauf in gewohnter Manier, ohne zu versuchen, seine Abneigung zu überspielen. Sie kannte ihn.

„Also, was willst du?!“

Sie legte ihren Kopf leicht schief, ihn weiterhin schauerlich anlächelnd. Wie gerne hätte er ihr ihr hübsches Gesicht zertrümmert... er erinnerte sich kurzzeitig an den einzigen Moment des Triumphs über sie, den er jemals in seinem Leben hatte genießen dürfen; der gar nicht so lange her war und den er dennoch verdrängt hatte, weil er ihn auch beschämte.

„Ich möchte dich dazu anhalten, deine Krieger gut vorzubereiten. Ich fordere, dass ihr das Volk, das von hinter den Bergen stammt, bei seinem nächsten Auftauchen besiegt. Dass ihr es... vernichtet.

Etwas Diabolisches schlich sich in ihre Miene. Moconi hob nur eine Braue.

„Ja, noch eine Überraschung, aber genau das hatte ich zufällig auch vor, von meinen Männern zu verlangen. Wie gut, dass wir uns so gut verstehen – und jetzt rasch zurück ins Lager, dein Baby wartet auf dich.“

„Mein Baby geht dich nichts an.“, stellte sie klar und ihr Ausdruck schien sich wieder aufzuklaren, freundlicher zu werden; doch in Wahrheit war es nur der Anfang gewesen. Wieder einmal stellte der Jäger fest, dass er sie inzwischen wirklich gut kennen musste.

„Meine Forderung ist... anders, als du deine gedacht hast, Moconi. Es muss dringender werden!“

Bei ihren letzten Worten hob sie wichtig einen Zeigefinger und kicherte kurz. Oh, wie gern hätte er ihr das Lachen aus dem Gesicht gewischt, auch wenn es an sich gewiss nicht seine Art war, einer Frau weh zu tun.

Aber das war keine Frau. Das war ein Monster.

„Entweder, ihr besiegt die... Bestien mit ihrem nächsten Auftauchen, oder ich besiege sie – und euch.“

Ihr letzter Zusatz schockte ihn nicht wirklich. Sie hatte schon oftmals angedroht, alles und jeden in ihrer Umgebung zu vernichten, und obgleich er es ihr absolut zutraute, überraschte es ihn nicht. Treffen wie diese bedeuteten meist solche Worte.

„Und wie gedenkst du das zu tun, wenn ich fragen darf?“

Er stand ihr absolut starr gegenüber, wie es seine Würde als Häuptling irgendwo von ihm verlangte; und er wusste, dass sie es lächerlich fand. Sie gluckste und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

„Es ist ganz leicht.“, erklärte sie frohen Mutes, „Sowohl der Stamm, als auch die Magier sind darauf bedacht, sich selbst keinen Schaden zuzufügen. Ich denke, es gäbe für beide Seiten dutzende wunderbare Möglichkeiten, diese sinnlose Schlacht um ein viel zu großes Land rasch zu beenden! Der Preis wäre jedoch, dass man sich auch selbst auslöschen müsste, nicht wahr?“

Er brummte und sie sah in ihre wahnwitzigen Vorstellungen vertieft lächelnd zu Boden, wirkte dabei beinahe bescheiden oder gar verlegen.

„Nun, da jedem das eigene Leben zu lieb ist, geschieht das natürlich nicht. Das muss es auch nicht, ich fordere nur euren Erfolg. Ansonsten werdet ihr alle im Dornenfeuer verbrennen.“

Sie sah ihm wieder in die Augen, die er zu schmalen, dunklen Schlitzen verengt hatte.

Die Frau mit dem flammenden Haar brachte das Dornenfeuer, das Feuer, das zu groß war, um es zu löschen oder zu bändigen, wenn es erst einmal entfesselt war. Moconi fragte sich kurz, wie Mefasa sich diesen Begriff zu eigen hatte machen können – und weshalb die Götter ihr die passende Identität dazu geschenkt hatten. Er war ihr hörig bis auf das letzte Wort. In Wahrheit war es ihr Stamm, in Wahrheit hatte Saltec ihr ohne es selbst zu wollen seine wertvolle Macht übertragen.

Manchmal schwieg sie lange. Manchmal bildete sich der junge Mann ein, die Kontrolle wäre sein, er hätte die uneingeschränkte Macht und alle Entscheidungen lägen bei ihm – so, wie es normalerweise auch hätte sein sollen. Doch ein einziger Blick in ihre blauen Augen genügte ihm, um ihm zu zeigen, wo sein Platz war.

Er konnte den seltsamen Zerit nicht verdammen. Er hatte selbst eine Herrin, der er gehorchen musste, weil in ihren Händen viele Leben lagen. Viel zu viele.

Und die einzige, mit der er diese Last hatte tragen können, war nun weit entfernt. Aber immerhin war sie frei von dem, was die Geschwister seit ihrer Kindheit beinahe in den Wahnsinn getrieben hätte. Das Wissen um die Lügen und Intrigen eines scheinbar harmlosen kleinen Mädchens, das ihnen das Leben zur Qual gemacht hatte.

Sie hatten gedroht, sie zu verraten. Sie hatten ihrem Vater sagen wollen, dass die Fremde sehr wohl hören konnte und sprechen auch; zwar nur eine seltsame Sprache, aber ihren Mund hatten von Anfang an deutliche Worte verlassen. Und sie hatten sie rasch verstanden.

Mefasa war schnell gewesen. Mit nur einer Handbewegung hatte sie Kilis komplettes Haar versengt gehabt. Und mit nur wenigen, undeutlichen Worten hatte sie das Mädchen dazu gezwungen, ihren Bruder der Tat zu beschuldigen, die letztere auch gestanden hatte.

„Sie hat mich geärgert, da hab ich sie geschubst! Sie muss an das Kochfeuer gekommen sein!“

Und Kili hatte geweint und genickt. Ihre Mutter war gezwungen gewesen, ihr Kopfhaar so kurz wie das eines Jungen zu schneiden und Moconi hatte sie für seine Unvorsichtigkeit so fest ins Gesicht geschlagen, dass seine Lippe so heftig aufgeplatzt war, dass er einige Tage danach noch kaum etwas hatte essen können.

Das hatte den Geschwistern gereicht.

Und dennoch war er ein Mann. Und Mefasa – was letztendlich nicht einmal ihr wirklicher Vorname war – musste irgendwo so etwas wie eine Seele haben, die man verletzen konnte. Irgendeinen Schwachpunkt, es galt ihn nur zu bestimmen, wie das Tier, das sich am weitesten von der Herde entfernt aufhielt.

„Und du würdest uns alle opfern, verstehe ich das richtig?“

„Absolut!“

Sie klatschte in die Hände, als hätte sie so eben einem kleinen Kind etwas wertvolles für sein Leben beigebracht. Er schnaubte nur.

„Und dein Sohn? Und deine Männer?!“

So kaltherzig konnte sie nicht sein. Hoffte er zumindest.

„Mein Baby geht dich nichts an.“, wiederholte sie guter Dinge, „Und von welchen Männern du sprichst, weiß ich nicht. Ich hatte nur einen Mann... der ist leider tot.“

Ihr Lächeln verschwand. Dann hatte Rhiks Tod ihr also etwas bedeutet? Kurz wunderte sich Moconi darüber, dass sie das so einfach vor ihm zugab, dann schalt er sich einen Narren – das war Vergangenheit, auch wenn es sie geschmerzt hatte, ein toter Jäger brachte keinen Nutzen; auch nicht in diesem Falle.

„Novaya und Semliya.“, nannte er so die wohlbekannten Namen von Dheracs Zwillingen, die sich der Frau so sehr verschrieben hatten. Hätte er den beiden nicht ebenso misstraut, so hätte er gar nicht zugelassen, dass sie unwissend das Lager mit einem solchen Biest teilten.

Ihre Miene blieb unverändert.

„Diese Narren hätten spätestens bei ihrer Prüfung sterben sollen. Ich war wirklich verwundert, dass die beiden zurückgekehrt sind. Dabei ist das Kind, für das sie einstehen wollen, meiner größten Vermutung nach nicht einmal von einem von ihnen.“

Sie lächelte wieder, dieses Mal jedoch nicht so aufgesetzt fröhlich wie zuvor; es war ein ehrliches Lächeln, das ihre Gedanken und Gefühle in jenem Moment auf wortlose Art deutlich ausdrückte.

Der Häuptling weitete die Augen kurz in stillem Entsetzen, dann entsann er sich, dass er ihr auf keinen Fall sein Innerstes derart offenbaren durfte, wie er es als Kind gelegentlich aus Unwissenheit getan hatte. Das wusste sie sehr genau auszunutzen.

„Und dennoch hast du die beiden dem Zorn des Stammes derart ausgeliefert? Rührt es dich denn überhaupt nicht, dass sie dir derart verfallen sind?“

Sie schüttelte nur sachte den Kopf.

„Sie finden mich interessant, das ist alles. Und das tun sie gemeinsam... und weil ich die einzige Frau bin, die sie sich teilen wollen, wollten sie an mein Feuer. Das ist alles. Außerdem...“, sie strich mit ihren Händen lächelnd über ihr Kleid, das ein Hochzeitsgeschenk von Rhik an sie gewesen war, „Semliya hat der mittleren Tochter von Tanests Schwester Leben eingepflanzt. Es war also recht so.“

Auf Moconis restlos irritierten Gesichtsausdruck musste sie verhalten lachen. Das war nichts gegen ihn... sie verstand seine Reaktion.

„Ich könnte dir eine ganze Hand voll Frauen nennen, die allesamt beteuern, was für seltsame Söhne Dherac da gezeugt hat und die alle bereits das Lager mit ihnen geteilt haben. Aus Neugierde vielleicht... die beiden sind ja nicht abgeneigt.“, sie kratzte sich an der Stirn, „Zugegebenermaßen hat es mich geehrt, als sie damals um meine Hand gebeten haben und ich dachte mir, nun gut, ich will ihnen eine Chance geben, so wie ich es bei Rhik getan habe, vielleicht stellen sie sich ja genau so geschickt an. Aber bitte, was soll mir an zwei Jungen liegen, die mich am laufenden Band betrügen...?“

Paralysiert von der unzüchtigen Jugend seines Stammes wusste er nichts zu erwidern, konnte ihr ihre Einstellung diesbezüglich in seinem Inneren ausnahmsweise einmal nicht verdenken. So war das? Und er bekam natürlich wie immer nichts mit...

„Da wir das nun geklärt hätten...“, sie klatschte abermals in die Hände, „Du weißt Bescheid. Denke an das Dornenfeuer, während du deine Männer zum Sieg führst, mein Häuptling!“

Und sie drehte sich schwungvoll um und schickte sich zum Gehen. Anschließend fing es wieder an in Strömen zu regnen.
 

Im Lager sah es schlecht aus. Vielen waren die Vorräte bereits gänzlich ausgegangen, ihnen stand der Hunger ins Gesicht geschrieben. Die Stimmung war schlecht, es wurde wenig gesprochen und viele finstere Blicke wurden ausgetauscht.

Moconi hatte das Gefühl, jeden Moment einen Speer in seinem Rücken erwarten zu müssen, als er durch die Reihen an Hütten ging. Sie machten ihn für ihr Elend verantwortlich... er fragte sich, ob sie wohl recht hatten. Vermutlich hatte er mit allem zu lang gewartet... er hätte schneller eine Lösung für das Problem mit dem wandernden Wild finden müssen. Wenn er ehrlich war, wusste er jedoch noch nicht einmal zu diesem Zeitpunkt, ob er die richtige Lösung denn kannte. Aber immerhin versuchten sie nun etwas... und etwas besseres war den anderen ohnehin nicht eingefallen.

Komisch, dass Mefasa in solche Notstände niemals eingriff, das überließ sie schön ihm selbst, kam ihm, und er brummte.

„Noch so ein düsteres Gesicht, das erträgt man ja nicht!“

Er sah auf und fand sich Tanest und jener besagten Nichte gegenüber, die – angeblich von ihrem Mann, einem tüchtigen, traditionstreuen Jäger – neues Leben in sich trug, das bereits so groß war, dass man den Abdruck ihres gerundeten Bauches unter ihrem schweren Kleid aus verschiedenen Fellen erkennen konnte. Und sie errötete nahezu ertappt, als sein Blick einen Moment länger als üblich daran hängen blieb, ehe er wieder das Gesicht der Frau seines Onkels suchte.

Letzteres war etwas gerötet, was an einem anderen Tag in Kombination mit ihrem roten Haar sicher amüsant gewirkt hätte. Wie eine der Beeren, die die Vögel so gern fraßen im Sommer...

„Das sind schlechte Zeiten.“, antwortete er der Frau nur ernst und sie deutete ein winziges Lächeln an.

„Du hast es gewiss nicht leicht“, gestand sie ihm, „Aber glaube mir, meine Familie und ich stehen hinter dir, auch wenn ich manchmal garstig bin.“

Sie zwinkerte ihm zu und heiterte sein angeschlagenes Gemüt damit tatsächlich auf, wie sie da stand, mit ihrer Schande von Nichte, tropfnass, hungrig und trotzdem ihre Loyalität bekundete. Sie war eine gute Frau. Er lächelte und ließ seinen Blick auf den Haufen an Kleidung schweifen, den sie trug; ihre Begleiterin tat es ihr gleich.

„Du warst nicht wirklich am Bach und hast gewaschen?“, erkundigte er sich beinahe amüsiert und sie schnaubte.

„Irgendwann muss es ja getan werden! Und da dieser Regen scheinbar nie wieder aufzuhören gedenkt, eben heute, so.“

Sie würde ein gutes Feuer in der Hütte machen und die Sachen zum Trocknen aufhängen, dann würden die rasch wieder gut sein und niemand musste sich mehr schmutzig fühlen, so gehörte sich das.

„Die Felle sind so schwer, wenn sie nass sind!“, wagte sich die untreue junge Frau da überraschend auch zu sprechen, „Es ist wirklich ein Graus! Calyri meinte, man bräuchte etwas anderes, woraus man Kleidung machen könnte, das wäre gut.“

Er verstand weder, warum sie dieses Frauengespräch mit ihm führte, noch, was er an dem angeblichen Missstand ändern sollte. Richtig, sie war mit seiner Calyri befreundet...

„Und was möchtest du stattdessen tragen? Blätter?“

Nicht, dass in ihrer Nähe viele gewachsen wären, die für so etwas eine ausreichende Größe besessen hätten und er konnte sich auch beim besten Willen nicht vorstellen, wie man daraus hätte Kleidung machen sollen. Warum hatten die Tiere eigentlich Fell und sie Menschen waren gezwungen, es von ihrer Beute zu stehlen? Er erinnerte sich daran, dass sein Großvater ihm einmal erzählt hatte, warum das so war, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie die Geschichte lautete. Nur die Erklärung seines Vaters diesbezüglich war ihm noch im Kopf.

„Die Tiere, das sind Tiere. Und die Menschen, das sind Menschen. Was wären denn Menschen für Menschen, denen Felle wie den Tieren wachsen würden? Oder stell dir vor, es gäbe Tiere, die nackt herum rennen würden! Nein, Sohn, man muss den Menschen von dem Tier unterscheiden können und Fell, dass an dem Menschen wächst, ist nichts für ihn. Deshalb musst du dich als Mann immer rein halten von törichtem Haar, das nichts nützt, merk es dir.

Er war sich relativ sicher, dass die Erläuterung seines Großvaters zu dem Thema sinniger und traditionsgetreuer gewesen war.

Während Tanest kurz gluckste errötete ihre Nichte etwas beschämt von der herben Abfuhr. Er konnte es nicht ändern, aber Frauen, die ihre Männer hintergingen, konnte er keinen Respekt zollen.

„Calyri hat gesagt, sie fragt den Seher nach dem Stoff, aus dem seine Kleidung ist. Der Seher trägt keine Felle!“

Da hatte sie allerdings recht, fiel ihm auf.
 

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Noin, meine einzige Kommentatorin hat momentan kein Netz... q__q

Kann mir bitte einer den Gefallen tun, und den Stalker-Verein Facebook überwachen? oô Ich habe das Gefühl, irgendwer bastelt da gerade daran, meine Projekte in irgendeiner Weise zu klauen und das gefällt mir nicht...

Nachts

Der Wassermond war aufgegangen. Für Nadeshda bedeutete dies prinzipiell eine Zeit, in der sie sich wohlfühlte, und das tat sie auch in diesem Jahr – trotz ihrer fortschreitenden Schwangerschaft, die sie sowohl faszinierte, als ihr auch auf den Geist ging. Sie hatte immer so gern auf dem Bauch geschlafen... das ging nun nicht mehr. Aber so lange das ihr einziges Problem blieb...

Das Wetter hatte sich etwas gebessert. Es war kalt, aber der Wind war schwach geworden und der Regen selten. Bald würde Mahrran über die Berge ziehen können, um all die guten Männer in ihr Verderben zu stürzen...

Verderben, Wetter, der Wassermond... die junge Frau fuhr sich von ihren Gedanken ermattet durch ihr Gesicht, während sie auf ihrem Schlaflager lag und in die Finsternis starrte, weil sie nicht schlafen konnte. Ein Stück neben ihr lag Alaji, und sie musste lächeln, als sie kurz zu ihr blickte, auch wenn sie nicht viel erkennen konnte. Schon wieder säuselte sie etwas von ihrem Teco...

Überraschenderweise hatte sie nie Träume der Sehnsucht. Ihre Träume waren immer positiv und machten sie nach dem Erwachen glücklich. Nadeshda dankte den Wassergöttern für das Erfüllen ihrer Bitte. Schön wäre es gewesen, wenn sie auch ihr etwas Schlaf gewährt hätten...
 

Sie gewährten ihn ihr. Im Nachhinein war sie sich jedoch nicht mehr so sicher, ob es wirklich der Wille der Götter gewesen war, der ihr ihren Traum geschickt hatte.

Die Wiese, auf der sie stand, hatte sie zuvor noch nie gesehen. Sie war hoch, viel zu hoch für die kleine Frau, der die Halme bis an die Hüften reichten und ihr das Gehen sicherlich erschweren würden – sie musste aber auch gar nicht gehen, warum hätte sie sollen?

Als sie sich umsah, erkannte sie, dass sie wohl auf einer Anhöhe stehen musste, denn in der Ferne fiel das Land ab und stieg schließlich sanft wieder an. Es war ein bemerkenswertes Anblick, eine Weite, die bis zum Horizont reichte, zwischendurch unterbrochen von kleinen Bächen und einzelnen Bäumen – ansonsten nur Gras, aus dem an einigen Stellen Wesen ragten. Braune, beige, helle, dunkle, haarige, borstige und fedrige – Wild. Und als sie das Gebirge, an dessen östlichem Rand sie aufgewachsen war, nun in ihrem Rücken von einer ihr unbekannten Seite bemerkte, erstrahlte sie – die Götter hatten sie in das gute Land geschickt!

Mühsam kämpfte sie sich einige wenige Schritte voran, berührte das Gras und erschreckte sich von einem Tier, das wenige Fuß vor ihr an ihr vorbeihuschte, ohne sie erkennen zu lassen, um was es sich gehandelt hatte.

Fasziniert und glücklich atmete sie tief ein – die Luft hier roch ganz anders als die in ihrer Heimat! Zuhause war sie salzig, hier roch sie einzig nach diesem wunderbaren Gras, das sie an sich so sehr behinderte, ihr aber dennoch gefiel.

„Das große wilde Land im Feuermond.“

Nadeshda zuckte unter der bekannten, jedoch lange nicht gehörten Stimme zusammen und fuhr herum – das war nun garantiert nicht mehr der Wille der Götter.

„Shiran...“, nannte sie den Mann beim Namen, der ihr nun gegenüberstand. Es befremdete sie etwas, sie hatte ihn wirklich lang nicht mehr gesehen, fiel ihr auf. Noch immer trug er seine schwarze Seherkleidung und sein violettes Haar wehte in einer leichten Brise. Sein Gesichtsausdruck blieb starr und gleichgültig.

Sie senkte die Brauen, grinste aber.

„Du bist in meine Träume eingedrungen, um mit mir sprechen zu können.“, stellte sie richtig fest, „Das muss dich sehr viel Mühe gekostet haben. So sehr hast du mich vermisst? Ich bin gerührt.“

Er reagierte nicht auf ihre Worte, aber sie wusste auch so, dass sie recht hatte – zumindest mit seinem Vorgehen, warum er sie nun hatte unbedingt sprechen wollen, erschloss sich ihr noch nicht. Das würde sie wohl gleich erfahren... seine Gefühlskälte irritierte sie im ersten Moment jedoch.

Er war so zuvorkommend, ihre Gedanken zu lesen und sie auf etwas sehr offensichtliches, aber in der vergangenen Zeit etwas in Vergessenheit geratenes hinzuweisen.

„Ich würde wohl sehr gerne auf dein Necken eingehen, da bin ich mir sehr sicher. Aber das Gefühl dafür habe ich verloren... immerhin kann ich noch richtig von falsch und oben von unten unterscheiden. Das zwang mich zum Handeln, sobald meine geistige Erblindung verflog. Das ist heute geschehen, ich danke den Göttern dafür.“

Ach ja, sie erinnerte sich! Sie errötete nicht, obwohl sie es wohl im wirklichen Leben getan hätte – letztendlich war es jedoch noch immer ihre eigene Traumwelt, auch wenn in dieser Nacht Shiran sie gestaltet hatte, und sie war die Herrin darüber. Er würde ohnehin wissen, dass es ihr unangenehm war; sollte ihr gleich sein, sie für ihr peinliches Unwissen aufziehen konnte er sie so schließlich nicht.

Nadeshda lächelte, die Arme vor der Brust verschränkend.

„Ah, mein Fluch. Na, leidet ihr auch schön? Besonders Moconi hoffe ich doch, dieser unkooperative Narr, ich hoffe, er windet sich...“

Shiran blinzelte einmal mehr als nötig, veränderte seinen gespenstisch monotonen Ausdruck jedoch nicht.

„Ich muss dich enttäuschen. Die Menschen sind ein stolzes Volk, sie vegetieren mit erhobenen Häuptern vor sich hin. Und Moconi steht noch immer aufrecht.“

Das war nicht unbedingt das gewesen, was die Frau hatte hören wollen – aber der Spinner tauchte auch sicher nicht in ihren Träumen auf, um ihr von ihrem überwältigenden Erfolg zu berichten.

„Schade.“, kommentierte sie dann gespielt unbekümmert, „Dann wird es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis es soweit ist. Vielleicht schaffen sie es ja, bis die Pässe passierbar sind – ich denke wirklich darüber nach, Moconi bei seinem Ende zuzusehen...“

Er schüttelte nur den Kopf, ehe er den Blick von ihr abwandte und ihn über die unendlichen Weiten des Landes schweifen ließ. Sie folgte ihm mehr gezwungen als freiwillig.

„Das ist ein Ort, für den es sich zu kämpfen lohnt.“ Die Frau schnaubte, als Shiran überhaupt nicht auf ihre Drohung einging. „Mahrran hat es erkannt. Dein Vater wusste es auch. Dieses Land kannst du nicht stehlen, indem du seine Bewohner in die Finsternis lockst... es muss ehrlich erkämpft werden.“

Diese Aussage entlockte ihr ein Glucksen, letzteres erhielt jedoch keine weitere Reaktion des Sehers. Das Auskühlen war wahrlich eine interessante Möglichkeit, seine Feinde zu vernichten...

„Oh, und du willst mir sagen, dass ich den Fluch zurücknehmen soll, weil die Art, wie ich mir das Land nehme, es entehrt? Ich bitte dich, du hast nicht ernsthaft geglaubt, dass das klappt.“

Als sein Blick den ihren wieder traf, war er erstaunlich scharf und bitter ernst. So hatte sie den Mann selten gesehen – und bisher hatte sie es auch nicht bedauert. Nicht, dass sie Shiran überhaupt gern oft gesehen gehabt hätte...

„Nicht das Land, Nadeshda, dich selbst. Ich bin ein Seher und dein Fluch hat einzig einen kalten Pragmatismus in mir übrig gelassen – also verschwende keine Gedanken daran, ich könnte eine Lüge aussprechen, denn diese Kreativität habe ich längst eingebüßt.“

Sie erwiderte nichts und war einen Moment lang fasziniert von ihrer eigenen Macht. Sie konnte Charakter zerstören... es stimmte sie irgendwie euphorisch; da es noch immer ihr eigener Traum war und sie es nicht für sinnvoll hielt, dem Mann ihre Gefühle so offen darzulegen, konnte sie jedoch vermeiden, dass man ihr ihre sadistische Freude ansah. Er fuhr fort.

„Du bist eine sehr mächtige Magierin, Nadeshda, und deine göttlichen Eltern werden gewusst haben, wieso sie dir diese Macht geschenkt haben, aber ich bezweifle, dass das der Grund dafür gewesen ist. Du benutzt sie für schändliche Dinge – was du machst ist feige.“

Feige. Sie weitete ihre Augen, ohne sich zu rühren. Und er wusste doch noch genau, wie er sie treffen konnte – und obwohl die junge Frau die Strategie, die er verfolgte, auf der Stelle durchschaute, fruchtete sie sofort.

Der Tankana-Clan war die Elite. Den Planeten Jumay gab es nur, damit sie über ihn herrschen konnten – über ihn und alle Völker, die ihn bewohnten. Sie waren stark und stolz – aber niemals, niemals feige.

Nadeshda spürte, wie sich etwas in ihrem imaginären Traumkörper schmerzhaft zusammenzog; war sie feige? War es feige, ihre Macht für diese Zwecke zu benutzen? Zu... missbrauchen? Es machte sie unruhig. Wenn er recht hatte, dann entehrte sie ihre Familie und das wäre eine Schande gewesen. Sie war verunsichert, aber so schnell gewann er nicht.

„Und was soll ich deiner Meinung nach stattdessen tun?“, fauchte sie wütend und er trat auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand. Kurzzeitig fragte sie sich, ob er auch in der Realität so viel größer war als sie... sie hatte ihn lange nicht mehr gesehen.

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, sie eines unglaublich leeren Blickes bedenkend.

„Du bist klug. Überlege es dir selbst... überlege dir, wie du dir dieses Land verdienen kannst; du bist als Herrscherin geboren und ich würde nicht auf die Idee kommen, dir diesen Status mit Worten abzuerkennen – nur mit rechtmäßigen Taten – also denke darüber nach. Ich bin mir sicher, du findest einen Weg, der deiner würdig ist...“

Als er schwieg und den Blick abwandte, schnaubte sie erbost. Sie hasste es, wenn er als Seher einfach in Rätseln sprach, sie verabscheute es!

Wütend packte sie ihn am Kragen und zu ihrer Irritation schenkte er ihr darauf ein Lächeln.
 

Ihre Finger krallten sich in ihre Decke. Um sie herum war es stockfinster und obgleich der Wassermond erst aufgegangen war und sich dementsprechend auch die Außentemperatur verhielt, schwitzte die Frau am ganzen Körper, vor Aufregung dennoch zitternd.

Feige. Dieser Hund hatte sie feige genannt.

Sie setzte sich von einem fürchterlichen Entsetzen gepackt ruckartig auf; zumindest soweit es ihr mit ihrem runden Bauch auch möglich war. Das Kind darin bewegte sich leicht, von der unerwarteten Bewegung seiner Mutter wohl selbst erwacht; zumindest war Alaji, die im übrigen seelenruhig schlief, der Meinung, letzteres würden auch ungeborene Kinder im Mutterleib bereits tun.

Nadeshda keuchte vor Wut. Sie musste sich fassen, sie durfte sich nicht treffen lassen von den intriganten Worten des Sehers. Das Baby machte sich bei den düsteren Gedanken an seinen Vater erneut bemerkbar und ohne dass sie es selbst mitbekam, begann die kleine Frau ihren Bauch beruhigend zu streicheln, selbst ihren finsteren Gedanken nachhängend.

Aber er hatte sie feige genannt... sie, eine Tankana, konnte nicht zulassen, dass jemand anderes sie für feige hielt!

War es denn feige von ihr, ihre Macht zu benutzen, um das lästige Ungeziefer zu beseitigen? War es nicht das, was ihre Handlungsweise von der ihres Bruders unterschied – die Intelligenz?

Oder irrte sie sich etwa; hatte sie sich die ganze Zeit in Mahrran geirrt? War er vielleicht überhaupt nicht so dumm, wie sie gedacht hatte? Hatte er etwa mehr Verstand als sie, dass er wusste, dass man dem guten Land hinter den Bergen mehr Ehre erweisen musste?

Sie erschauderte, weiter schwitzend. Verdammt, sie musste etwas tun.

Schwankend erhob sie sich und taumelte irritiert von den eigenen Gedanken durch den Raum. Sie wollte sich auch nicht hereinlegen lassen... aber wenn Shirans Worte stimmten – und es war wahr, dass der Fluch einem die Kreativität zur Lüge raubte – dann war sie dabei, in den Augen ihrer geehrten Ahnen einen Fehler unschätzbaren Ausmaßes zu machen. Was sollte sie tun?

Sie strich sich zitternd die langen Haare aus dem Gesicht, mitten in ihrem Zimmer stehend. Der steinerne Boden war kalt unter ihren Füßen... Alaji sagte, das sei nicht gut für sie, aber sie hatte gerade keine Nerven darauf zu achten oder sich gar Schuhe anzuziehen.

Tatsache war, dass es zu handeln galt. Aber wenn sie den Fluch aufhob, was dann? Was hatte sie Mahrrans Versuchen, die Menschen zu vernichten, dann noch entgegen zu setzen?

Sie erinnerte sich an ihren Schwur, bei Moconis Tod dabei zu sein... und über ihn zu lachen. Bei dem Gedanken atmete sie einmal schwer, entspannte sich darauf jedoch etwas. Das wäre eine gute Sache gewesen... sie wollte diesen Kerl gern kennenlernen – und dann sterben sehen. Kurzzeitig klopfte ihr Herz vor Vorfreude etwas heftiger als normal... wenn ihre verblendeten Eltern ihr etwas beigebracht hatten, dann, dass alles, was sie mit ihren eigenen Händen vollbrachte, gut war. Je weniger Magie, desto besser war es. Das Handeln ohne die Macht der Götter war die reinste Möglichkeit, etwas zu vollbringen.

Und wenn sie das nicht schaffte, konnte sie den Stamm noch immer auskühlen.
 

Da sie keine Ruhe gehabt hatte, hatte sie sich ihren Mantel übergeworfen und war nach draußen gerannt, um die Götter dazu anzuhalten, ihren Fluch – wohlgemerkt vorerst – wieder aufzuheben. Sie wollte keinen Schaden anrichten, den sie nicht zu verantworten wusste; zumindest keinen für sie oder ihre Familie.

Als sie wieder zurückkehrte, ging es ihr schlecht. Ihr Körper bebte vor Kälte und es schwindelte ihr vor Müdigkeit, als sie ihre Räumlichkeiten schließlich wieder betrat. Und es kribbelte... die Wärme des Hauses, die die garstigen Frostgeister aus ihren Gliedern vertrieb. Es war gut für sie, das war der jungen Frau klar, aber es fühlte sich unangenehm an.

Schlecht gelaunt hielt sie mitten im Raum inne, sich die Hände reibend und etwas über ihre vorangegangene Tat nachdenkend. Hoffentlich war das das Richtige gewesen...

Dass Alaji wach war, bemerkte sie erst, als sie sie ansprach.

„Wo bist du denn gewesen?“

Sie zuckte kurz zusammen, dann erkannte sie die Heilerin, dank ihrer guten Augen auch in der Dunkelheit. Im Gegensatz zu Mahrran konnte sie hervorragend sehen.

Alaji saß aufrecht auf dem Lager, wirkte zu ihrer Überraschung jedoch nicht so, als sei sie gerade erst erwacht; was natürlich möglich war, sie war eine ganze Weile fort gewesen. Ihre Hände ruhten auf ihrem mittlerweile ebenfalls deutlich gerundeten Bauch.

„Ich habe schlecht gelegen.“, log Nadeshda darauf und hob skeptisch die Brauen. Sie konnte ihr nichts von dem Fluch erzählen, das hätte sie traurig gemacht... und in Bezug auf ihren Teco wohl sehr besorgt.

„Und warum bist du wach? Konntest du auch nicht schlafen?“

Die Heilerin seufzte leise und sah an sich herab, zumindest soweit es bei den schlechten Lichtverhältnissen möglich war. Was sie dann sagte, schockte die Kleinere mehr als sie zuvor wohl selbst geschockt gewesen sein musste.

„Ich hatte Schmerzen im Unterleib... ich habe auch etwas geblutet, hat aber wieder aufgehört.“
 

Nadeshda war keine Heilerin und sie kannte sich auch sonst bloß schlecht aus mit solchen Dingen, was angesichts ihrer eigenen Situation vielleicht etwas zu ihrem Nachteil war. Aber dass Blutungen während der Schwangerschaft wohl selten etwas Gutes verhießen, war ihr klar. Sie eilte beunruhigt zu ihrem Gast ans Lager und setzte sich überrumpelt von der unerwarteten Schreckensbotschaft, wie sie fand, zu ihm.

„Oh mein Himmel, und nun...?“, hörte sie sich selbst verunsichert fragen und spürte zu ihrer Irritation Alajis Lächeln auf sich ruhen.

„Nichts und nun. Ich weiß nicht, was es war, aber es hat wieder aufgehört. Das kann vorkommen, Nadeshda.“

Konnte vorkommen... aber wenn es zu etwas Schlimmem führte? Die Kleinere erschauderte. Sie kannte sich doch nicht aus, sie wusste doch nicht, was zu tun war!

„Ja, aber... wenn es etwas Schlimmes war, was wollen wir dann tun?“ Sie hielt kurz inne. „Warte, es ist gut! Ich... ich gehe in die Trance und dann...“

Sie hielt im Sprechen inne. Sie war gerade erst in Trance gewesen, woher hätte sie diese Kraft nehmen sollen? Oh, wenn sie Shiran das nächste Mal begegnete, sie würde ihm alle seine abstrus schief gewachsenen Zähne ausschlagen, da war ihr doch glatt egal, wie viel kleiner sie war als er, er hatte sie übel dran bekommen, das verdiente eine Strafe...

Alaji griff derweil nach einer ihrer sehr kleinen Hände und legte sie sich auf den Bauch, sie verwirrt von ihrer Sorge musternd.

„Spürst du es? Es bewegt sich. Alles ist gut, ich habe kein schlechtes Gefühl. Du etwa?“

Das konnte sie nicht beantworten – wenn sie zuvor in Trance gewesen war, hörte sie ihre Götter doch nicht mehr! Aber sie hatte recht, der kleine Halbmensch bewegte sich sachte. Sie brummte leise, dank der Stille in ihrem Kopf weiterhin verunsichert.

„Du wirst schon recht haben.“
 

Die Haushälterin der Tankanas hieß Rayada, wie sie sich irgendwann vorgestellt hatte. Und sie genoss das Leben bei der eher unumgänglichen Familie – lieber ein schwieriges Umfeld als gar keines, hatte sie fröhlich erklärt. So war sie auch sofort auf den Beinen, als Nadeshda sie in jener Nacht bat, Alaji vom besten Tee zu machen, auch wenn die ihre Fürsorge für übertrieben hielt.

Es musste ja nett wirken, dachte sich die kleine Frau, während sie so in der Küche saß und der Schwarzhaarigen beim Wasser aufkochen zusah. Normalerweise sprach sie viel, die Müdigkeit tat wohl ihres...

In Wahrheit war es blanker Egoismus. Den durfte sie sich auch erlauben, dachte Nadeshda sich verbiestert, während sie neben dem Feuer saß und nachdachte. Alaji war ihr wie eine Schwester... sie war tapferer als Mabalysca, aber was wäre geschehen, wenn ihrem geliebten kleinen Halbmenschen etwas zugestoßen wäre? Sie war besorgt. Noch ein weiteres solches psychischen Wrack konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen...

So fasste sie einen Entschluss.

„Ich muss ins Dorf. Ich bin bald wieder da.“

Rayada sah ihr irritiert nach.
 

„Ach Himmel.“, Alaji strich sich lächelnd durch ihr dünnes Haar, „Das... ist doch gar nicht nötig, meine Güte.“

Die Haushälterin überreichte ihr gähnend den duftenden Tee. Die Kräuter, aus denen er bestand, waren selten und hochwertig...

„Wie die Herrin es wünscht.“, erklärte sie dann lächelnd und erlaubte sich, sich zu der Heilerin ans Lager zu setzen, „Geht es dir auch wirklich gut?“

Man kannte sich aus der Kindheit. Rayada hatte zwar nie zur Oberschicht gehört, war aber auch nicht immer arm gewesen; das war sie erst mit dem Verlust ihrer Familie geworden. Einst hatte sie im selben Weg gewohnt wie Alaji; sie waren nie unbedingt Freundinnen gewesen, sie teilten keine Interessen, doch man verstand sich und kannte sich auch.

Die Heilerin nickte, an ihrem Tee nippend.

„Ja... ich meine, natürlich war das nicht gut, aber mein Kind bewegt sich, es lebt, alles ist gut. Hätte ich gewusst, dass darum so ein Wirbel gemacht wird, dann hätte ich es doch gar nicht erwähnt... wo ist Nadeshda hin?“

Die Schwarzhaarige zuckte bloß mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Sie wird schon wieder hier auftauchen.“

Als rechnete sie damit, dass ihre Vorhersage just im nächsten Moment eintrat, schielte sich kurz zum Eingang, wo allerdings nicht geschah. Dann wandte sie sich wieder Alaji zu, leise hüstelnd.

„Wo jetzt einmal keine hohe Herrschaft dabei ist...“, setzte sie dann wesentlich leiser als zuvor an, „Versteh mich nicht falsch, bei allen Göttern, ich mag unsere Herrschaften! Jedenfalls sehe ich euch immerzu und da frage ich mich doch, was ihr alle getan habt, dass ihr nun alle Babys bekommt!“

Als ihr Gegenüber ihr kurz einen sehr seltsamen Blick schenkte, errötete sie und hob abwehrend die Hände.

„N-nein, nicht doch, das habe ich nicht gemeint, natürlich weiß ich, was ihr gemacht habt! Nur mit wem interessiert mich... ja, das geht mich nichts an.“

Sie kicherte kurz mädchenhaft und Alaji schüttelte grinsend den Kopf. Natürlich, so war das mit den Frauen im Dorf... nicht, dass sie sich nicht dazu gezählt hätte.

„Ich bin mir selbst nicht sicher, wer für Nadeshdas Umstand verantwortlich ist.“, antwortete sie dann ehrlich. Natürlich hatte sie eine gewisse Ahnung, allerdings konnte sie letztere auf nichts stützen und ihre Freundin hatte ihr bisher auch nichts weiteres darüber erzählt. Da ihre Schwangerschaft eher unerwünscht war, konnte sich die junge Frau vorstellen, dass es der Kontakt mit dem Kindesvater vielleicht auch gewesen war... in welchem Sinne auch immer.

„Und was mich betrifft...“, sie hielt inne, „Den kennst du gar nicht.“

Rayada verzog kurz das Gesicht, dann seufzte sie. Wie sollte sie denn so jemals ihre Neugierde stillen, bei allen Göttern?
 

Im Dorf war es kalt, nass und still. Es regnete nicht mehr, aber die letzte Schauer war wohl noch nicht all zu lange her, Nadeshda ihrerseits rannte durch eine Menge Pfützen und musste auf halbem Wege schließlich inne halten, weil ihr schwindelte. Erschöpft hielt sie sich an einer Hauswand fest und keuchte, als sie ihre Rückenschmerzen spürte... was tat sie nicht alles?

Alaji hatte schon so viel für sie getan, es war recht, dass sie versuchte, ihr etwas zurückzugeben, schalt sie sich, musste jedoch zähneknirschend einsehen, dass sie es nicht übertreiben durfte – so zu rennen bekam ihr irgendwie nicht mehr so gut. Nicht, dass es ihr mit den kranken Knien jemals gut bekommen wäre...

Ihr Ziel war Alajis Mutter, denn wenn es eine Heilerin gab, die sich mit ihr messen konnte, dann sie, schließlich hatte ihre Tochter ihr Handwerk von ihr erlernt. Sie hatten sich zerstritten und die Tatsache, dass die junge Frau irgendwann einfach verschwunden war, ohne ihr den verständlichen Wunsch, ihr den Namen des Mannes zu nennen, der sie geschwängert hatte, zu erfüllen, erschwerte die Situation etwas. Und dennoch, sie waren Mutter und Kind.

Nadeshda schauderte, als sie ihren Weg fortsetzte, dieses Mal jedoch etwas langsamer als zuvor. Kurz fragte sie sich, ob das für sie selbst und ihre eigene Mutter wohl auch gegolten hätte, dann entschied sie, dass es wohl besser war, es nicht zu wissen.
 

Als sie die Frau aus dem Schlaflager geklopft hatte, war diese zunächst entsetzt.

„Sie hat geblutet?“, erkundigte sie sich verwirrt und schläfrig und fuhr sich immer wieder durch die wenigen, spinnwebenartigen Haare auf ihrem Kopf, in ihrer Irritation vollkommen vergessend, ihre Herrin hinein zu bitten. Letztere hätte jedoch ohnehin abgelehnt.

Sie nickte.

„Nicht viel. Sie sagte, es sei nicht schlimm, aber ich bin besorgt.“

Es war seltsam, das einfach so zuzugeben, aber nicht ganz so sehr, wie die interessierten Blicke auf ihrem eigenen runden Bauch zu spüren, den sie einfach nicht mehr zu verstecken vermochte. Verfluchter Intrigant...

Die Heilerin überlegte kurz, dann gähnte sie und wirkte etwas wacher. Ihr Ausdruck darauf war schließlich keinesfalls unberührt, aber dennoch hart.

„Wenn sie es sagt, wird es stimmen, sie kennt sich aus. Dieses dumme Mädchen braucht meine Hilfe sicher nicht, mögen die Götter ihr ihr törichtes Verhalten verzeihen!“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Nadeshda schlang fröstelnd den Mantel, den sie sich notdürftig übergeworfen hatte, fester um ihren Körper. Sie schnaubte und ihr Atem kondensierte vor ihrem Gesicht.

„Aber vielleicht irrt sie sich! Vielleicht stimmt etwas mit dem Baby nicht – deinem Enkel, Frau!“

Sie zeigte sich erstaunlich starrsinnig. Vermutlich war sie sich darüber im klaren, dass das Dorfoberhaupt von der vielen Hilfe, die sie während der großen Seuche geleistet hatte, wissen musste und sie sich so mehr erlauben konnte als andere Normalsterbliche. Dennoch, sie schien wirklich sauer zu sein, wenn sie so auf einen Befehl eines der Himmelskinder reagierte...

„Mein Enkel, ja.“, bestätigte sie da düster, „Meiner, und wessen noch? Wer weiß, welchen Abschaum meine Tochter da austrägt, dessen sie sich so schämt, dass sie es nicht aussprechen kann? Vielleicht wäre es besser, würde sie es verlieren.“

In diesem Moment war sich die Jüngere sicher, dass ihr Gegenüber seine Worte nicht ernst meinen konnte. Nadeshda kannte sich nicht ernsthaft aus in solchen familiären Beziehungen, das maßte sie sich auch nicht an, aber so wie es schien stand hier eine Frau vor ihr, die einfach nur verletzt war. Und das war verständlich... sie entschied sich, ihre wohl einzige Freundin zu verraten, als sie deren Mutter nun mit festem Blick in die Augen sah.

„Als sie im guten Land war, hat sie einen Mann kennen gelernt. Einen menschlichen Jäger, stolz, groß und gebräunt, und sie verstanden sich ohne Worte. Er hat sie beschützt und versorgt, als sie auf ihn angewiesen war und sie war ihm eine Frau, als er es auf sie war – das ist die Geschichte.“

Weshalb Alaji es nicht hatte aussprechen wollen konnte die Heilerin sich nun wohl selbst denken, entschloss die Kleinere grimmig. Sie würde nun hoffentlich kein schlechtes Wort mehr sprechen, denn obwohl sie mit ihrer unverheirateten Schwangerschaft selbst ein Gesetz brach, war sie noch immer mit das Oberhaupt dieser Tölpel.

Ihr Gegenüber weitete die Augen, ansonsten rührte es sich nicht.

„Bitte?!“, kam dann entsetzt und Nadeshda hielt es nicht für nötig, sich zu wiederholen.

„Ich meine...“, sprach die Frau dann und fuhr sich wieder durch ihr lichtes Haar, „Sie hat einen Menschen wie einen Mann... du meine Güte. Aber dieser... Jäger... der war keiner Frau untreu damit?“

Das Götterkind dachte kurz nach. Nein, soweit sie sich erinnerte war es zumindest in diesem Punkt wohl eine reine Sache gewesen. So schüttelte es sie den Kopf.

„Nein, war er nicht. Wirst du nun wohl mitkommen?!“
 

Alaji war entsetzt, als sie ihre Mutter im Türrahmen erkannte. Zuerst wurde ihr Gesicht bleich, dann rot und dann sah sie weg.

„Warum... bist du hier?“, wagte sie dann zu fragen, während Nadeshda Rayada aus dem Raum schickte und es selbst für besser hielt, in etwas Abstand davor zu warten. Die Ältere setzte sich hoch erhobenen Hauptes zu ihrer Tochter ans Lager.

„Nun, unsere Herrin befand eine Untersuchung für nötig – ich kann mich ihr doch nicht widersetzen.“

Darauf sah die Jüngere wieder auf. Sie brummte.

„Unsere Herrin ist intelligent, doch in der Medizin nicht bewandert, anders als ich, die sich auskennt. Es ist nicht nötig, es ist alles gut. Geh nach Hause, schlaf weiter.“

Sie ahnte nichts von ihrem Wissen. Die Mutter seufzte.

„Lass mich rasch nach dir sehen. Und dann sag mir doch, welcher Unhold das war. Ich werde nicht wütend sein. Bitte.“

Als Alaji sich einen flüchtigen Blick Nadeshdas aus der Tür fing, erschauderte sie. Nur deshalb war sie eigentlich hier... sie legte sich hin, um sich untersuchen zu lassen, was die Ältere auch unverzüglich tat.

„Ein Mann namens Teco. Ein Jäger der Menschen. Ich weiß, dass ich verstoßen bin... bis... falls der Tag kommt, an dem du Teco triffst. Ich denke, dann wirst du verstehen, weshalb ich ihm verfiel...“

Wo er doch wirklich so bildhübsch gewesen war... sie hoffte, ihm und seinem schwachen Bein ging es gut.

Ihre Mutter hielt inne und sah zu ihr auf, ohne entsetzt zu sein.

„Es ist alles in Ordnung, wie du schon sagtest. Mit Schwangerschaften mit Halbmenschen kenne ich mich allerdings nicht aus.“

Sie seufzte und erhob sich, nur um sich dann noch einmal zu ihrer Tochter zu beugen und sie zu umarmen.

„Ich wollte doch nur wissen, wer mein kleines Mädchen berührt hat. Ich verstoße dich doch nicht... dieser Mann muss ein ganz besonderer Mensch gewesen sein.“

Sie nickte und die Frau küsste sie kurz auf die Stirn, bis sie sich lächelnd wieder aufstellte.

„Ich gehe nach Hause, ich muss schlafen. Du kannst gerne wieder kommen, Alaji... oder hier bleiben. Ich... bin dir doch nicht böse.“

Sie seufzte. Eigentlich doch etwas... wie hatte sie etwas mit einem Primitiven anfangen können?! Und mit dessen Blut hatte sich nun ihr gutes Blut vermischt, eine Schande... die Hauptsache war aber, dass es ihrer einzigen überlebenden Tochter gut ging. Und wenn sie ihr so eine Sorge hatte nehmen können... ihr leichtes Lächeln schien diesen Gedanken zu bestätigen.
 

Nadeshda war normalerweise eine Frühaufsteherin, an jenem Morgen verdachte ihr aber niemand, dass sie selbst, als die Sonne bereits aufgegangen war, noch tief und fest schlief. Mahrran begrüßte den Umstand sogar... so konnte er einige seiner besten Männer einfach zu sich in die Küche einladen und musste nicht mit ihnen draußen im Regen stehen, während sie sich berieten. Nicht, dass der Regen ihm als Wassermagier viel ausgemacht hätte, aber bei jenem schlechten Wetter im Haus zu sein erschien ihm doch angenehmer.

„Wie entwickelt sich die Lage da unten?“, fragte er seine Gäste ernst, während er am Tisch saß, die anderen Männer stehend, wie es sich vor dem Herrn gehörte.

„Zwiegespalten.“, antwortete einer undurchsichtig, ergänzte aber dann: „Die Männer sind guter Gesundheit und ihre Speere sind... eben so gut wie Speere, die wir mit unseren Händen schaffen, sein können. Aber sie wollen nicht damit kämpfen.“

„Ungern.“, entschärfte ein anderer den Bericht des ersten, weil der Herr irgendwie schlechte Laune zu haben schien. Mahrran hob eine Braue.

„Warum?“

Nadeshda hätte ihn sicher für seine Frage ausgelacht, hatte er das Gefühl, die Antwort war sicher banal.

„Weil sie ungeschickt mit diesen Dingern sind. Mit der Magie sind sie gut, aber diese Stöcke richtig zu werfen... du meine Güte, das vermag vielleicht einer unter einem Dutzend.“

„Und nur die Besten mitzunehmen wird wohl nicht reichen, fürchte ich.“

Mahrran senkte den Blick aus den schlechten Augen und die Gäste verstummten. Als er dann die Stimme lautstark erhob, seine schlafende Zwillingsschwester völlig vergessend, zuckten die Männer überrascht zusammen, räusperten sich dann jedoch verlegen.

„Kili!“

Jene Kili stand rasch in der Küche und es war das erste Mal, dass jemand, der nicht in der Gruppe von damals gewesen war, die Menschenfrau zu Gesicht bekam.

Sie war groß, stämmig und gut genährt, ein Bild von einer Frau, aber etwas furchteinflößend dann doch. Vor dem Blauhaarigen faltete sie dann adrett die Hände vor dem leicht angerundeten Bauch.

„Ja?“, fragte sie in ihrer eigenen Sprache und der Magier sah auf, um ihr in eben jener auch zu antworten.

„Bist du dir wirklich sicher, dass es das Beste für uns ist, wenn wir deinen Leuten mit... Speeren begegnen? Wir sind Kinder der Mondmagie, das solltest du nicht vergessen, prinzipiell wissen wir uns auch anders zu behelfen...“

Sie verzog das Gesicht kurz, nahm dann die Hände vom Bauch und verschränkte sie grimmig vor ihrem üppigen Busen. Nein, sie würde keinen Rückzieher machen.

„Natürlich. Die eigenen Waffen wirken am besten... ihr müsst halt üben!“

Er verzog das Gesicht enttäuscht, was seine Gäste, die kein Wort ihrer Unterhaltung hatten verstehen können, verblüffte Blicke austauschen ließ.

„Dann müsst ihr eben üben. Übt es, bis ihr es könnt, ihr dürft nicht zulassen, dass die Menschen den körperlichen Vorteil, den sie einfach haben, derart ausnutzen! Ihr dürft euch nicht einfach nur auf eure Magie verlassen, die Götter haben eure Seelen sicher nicht in diese Hüllen gesteckt, damit sie schicker aussehen... benutzt das, was euch gegeben wurde, und das ist mehr als blanker Zauber!“

Kili musterte ihn streng, ohne zu verstehen, was er sagte, und die Männer wagten bei seiner enthusiastischen Rede nicht wirklich, zu widersprechen. Wunderbar, wie brachten sie das den anderen bei?

„Eine andere Sache noch.“, fiel Mahrran da ein und er kratzte sich kurz am Kopf, „Wie sieht es im Gebirge aus... kommt man durch? Ich hatte einen Traum davon, aber ich bin mir nicht sicher... ich bin ja kein Seher.“

Das war so ziemlich das Letzte, als das man ihn bezeichnen konnte. Jemand anderem wäre er für seine Hilfe an dieser Stelle beinahe schon dankbar gewesen, aber der hatte ja durchbrennen müssen... auf dass er mit den Menschen zugrunde ging.

„Wir wissen es nicht so genau.“, antwortete man ihm da, „Aber wir könnten jemanden hinschicken, der nachschaut.“

Was für ein Aufwand. Er seufzte.

„Schickt Rato und Irlak. Die kennen sich aus. Und jetzt sorgt unverzüglich dafür, dass unsere Krieger den Umgang mit den Speeren beherrschen, damit wir diese Sache bald endlich hinter uns haben... langsam geht uns hier wirklich die Nahrung aus.“

Die Fischer meldeten schlechte Dinge. Sie mussten sich wirklich beeilen.
 

Hinter den Bergen regnete es an diesem Tage nicht, viel mehr Nahrung hatte man im Stamm jedoch auch nicht.

Shiran bemerkte Moconis Anwesenheit früh, drehte sich jedoch erst zu ihm um, als er genau hinter ihm stand. Sie hatten sich etwas vom Lager entfernt... aus irgendwelchen Gründen hatte der Seher in Richtung seiner Heimat blicken wollen. Er verabscheute sie, aber von eben dort kam er nun einmal und dieses gewisse Gefühl, das ihn damit verband, konnte er nicht auslöschen, so sehr er es sich auch wünschte.

Moconi würde nicht von selbst sprechen... er wartete auf seine Worte. Dabei fiel es ihm doch ebenso schwer... Nadeshdas Fluch war mächtig und absolut grauenhaft gewesen und noch immer griff er mit kalten Fingern nach ihnen, obwohl er erleichtert hatte feststellen dürfen, dass seine Worte Wirkung gehabt hatten und sie dieses Unheil zumindest zeitweise aufgehoben hatte. Seine Götter warnten ihn jedoch... ihre Stimmung schwankte, sie konnte es jeden Moment wieder ändern und das würde ihnen allen schlecht bekommen.

Kurz ließ er sich den Wind ins Gesicht wehen und erschauderte, obgleich er das Gefühl an sich mochte, es handelte sich schließlich um sein eigenes Element. Aber es war auch so nass... die hohe Wiese war ganz feucht und es fühlte sich unangenehm an, sie zu betreten. Nicht, dass er eine andere Wahl gehabt hätte, sie war überall...

„Du möchtest wissen, ob ich etwas erreichen konnte.“, rang er sich letztendlich doch zu Worten durch und drehte sich zu dem Häuptling um, der unter seinem Blick augenblicklich den Kopf senkte. Nadeshdas Fluch ergriff zunächst die Schwächen eines jeden einzelnen... bei Moconi war es seine Schüchternheit, die er so kaum noch im Griff hatte, was ihm vor dem Stamm ziemliche Probleme bereitete. Dabei gab es so viel Streit, Wut und Verzweiflung, gegen die er nichts tun konnte...

So nickte er schwach und Shiran trat ein paar Schritte auf ihn zu, worauf der Jüngere etwas zurückwich. Er hätte gern mit den Augen über sein Verhalten gerollt, aber es war nicht er selbst, der ihn so handeln ließ. Zumindest nicht die Seite an ihm, die normalerweise dominant war. Außerdem war ihm selbst der Antrieb, über jemand anderes den Kopf zu schütteln, längst vergangen...

„Ja, konnte ich. Zumindest kurzzeitig... ich weiß nicht, wie lange Nadeshda an der Meinung, die ich ihr aufgezwungen habe, festhält. Sie... wünscht sich, über dich zu triumphieren. Über... dich persönlich.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann schlang Moconi seine Arme fröstelnd um seinen Oberkörper. Er trug eine sehr schicke Weste, fiel Shiran auf, und als er einen Funken Neid in sich verspürte, brachte ihm das auch einen Wimpernschlag lang etwas Freude. Er bekam seine Gefühle zurück.

„... dann... soll sie sich mir entgegenstellen.“

Das schien eine vernünftige Lösung zu sein, doch er würde scheitern. Falls die beiden wirklich jemals aufeinander treffen getroffen wären, hätte es für Moconi tödlich geendet; entweder, weil er es nicht mit ihr hätte aufnehmen können oder weil er die kleine Frau schlicht und ergreifend unterschätzt hätte.

Aber darauf würde es hinaus laufen... entweder der Fluch oder die direkte Konfrontation. Shiran beschloss, sich weitere Gedanken darüber zu machen, wenn sein Kopf wieder klarer und sein Inneres wieder aufgetaut war, das führte so zu nichts.

„Abwarten.“, riet er dem Häuptling so bloß und trat an ihm vorbei, „Nicht voreilig handeln, ehe dein Hirn dir wieder das sagen kann, was dein Geist wirklich für vernünftig hält.“

Moconi atmete einmal schwer und der Seher hielt kurz inne, um sich noch einmal zu ihm umzusehen. Er kehrte ihm weiterhin den Rücken.

„Ich... möchte meinen Geist... endlich wieder zurück. Damit ich meinen Stamm... nicht weiter enttäuschen muss. Oder meinen Vater... wen auch immer.“

Er fuhr sich durch sein Gesicht und durch sein Haar, das dank des Stirnbandes, das er an diesem Tage ausnahmsweise einmal nicht trug, gar nicht so extrem abstand wie sonst.

Shiran erzwang sich ein winziges Grinsen.

„Dein Geist kehrt zu dir zurück, sei unbesorgt.“
 


 

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Kapitel 30... wie lange her. oô Der Abstand zwischen den Kapitel hier und dem Kapitel, an dem ich aktuell schreibe, hat sich aus irgendwelchen Gründen von ursprünglich 6 auf mittlerweile 15 Kapitel erhöht... ich sollte wohl schneller hochladen. ôo'

Kurapi

Moconi war Shiran dankbar, als er für ihn zum Stamm sprach. Er hätte es gern selbst getan, doch noch konnte er es nicht... und er verstand nicht weshalb. Kurz dachte er an Zerits kleine Machtdemonstration und seine Warnung... diese Nadeshda musste ein wahres Biest sein, wenn sie die Charaktere so vieler Menschen zerbrechen lassen konnte wie morsches Holz. Wenn sie jegliche Liebe abkühlen lassen konnte... und die Kälte die Herzen zerfraß. Er fragte sich kurz, was er wohl ohne Shiran getan hätte und beschloss, dass er dem Mann auf ewig zu Dank verpflichtet war, auch wenn es ihm eigentlich etwas widerstrebte, wo er doch auch eine Missgeburt war. Aber wenn er etwas gelernt hatte, dann, dass man gegen letztere nur eine Chance hatte, wenn man sie zu verstehen lernte... und dazu brauchte man Verbündete ihresgleichen. Da Shiran auch die Sprache der Menschen beherrschte und als Seher sehr viel wusste, musste er ein Geschenk der Götter sein... Mefasa hätte ihm nichts gebracht, sie war sein ganz persönlicher Fluch auf Lebenszeit.

Er schwor sich düster, dass er ihr schlimme Schmerzen bringen würde für das, was sie ihm seit jeher antat, sobald er seinen Mut zurück hatte.

Das erste, was geschieht, ist das Hervorzerren eurer schlechtesten Eigenschaften... Jähzorn, Missgunst, Schüchternheit, was es auch sei, es wird der erste Schritt, der euch das Leben schwer machen wird, sein.

Wieder war er dem Wissen des Sehers dankbar, ohne den er wohl der Meinung gewesen wäre, er selbst (und alle um ihn herum ebenso) würde verrückt werden.

„Also... wird das jetzt aufhören?“, erkundigte Dherac sich derweil sicherheitshalber, als Shiran seine staubtrockene Rede beendet hatte. Sie saßen im Zelt des Rates und bis auf die, die aus lauter Depression nicht mehr aus ihren Hütten kamen oder die, die man hatte festbinden müssen, weil sie sonst Gefahr gelaufen wären, den nächstbesten zu erstechen, waren alle bekannten Mitglieder anwesend.

„So sieht es aus. Außer sie ändert ihre Meinung über meine Worte wieder... was durchaus möglich ist, die Götter wiesen mich ausdrücklich darauf hin, dass ich damit rechnen sollte. Ihr also auch.“

Der Schwarzhaarige nickte verhalten.

„Gut. Beten wir dafür, dass es aufhört.“
 

Nadeshda schien Gnade zu kennen. Vermutlich nicht ernsthaft, wahrscheinlich nutzte sie ihre Energie nun dazu, sich etwas noch viel grausameres und bösartigeres für ihre Feinde auszudenken, aber solange sie dies nicht in die Tat umsetzte, sollte es dem Stamm beinahe egal sein.

Sie sollte sich ihm gegenüberstellen und ihn dann fair besiegen, dachte Moconi sich einige Tage später, während er grantig und etwas einsam vor seinem Feuer saß. Der Morgen graute, die meisten anderen schliefen noch... aber es ärgerte ihn, dass er auch allein dort gesessen hätte, wenn mehr Leute wach gewesen wären.

Calyri konnte nicht kommen... es war seltsam mit ihnen. Teco hatte sie ihm gegeben, ausdrücklich, es war sogar sein Wunsch gewesen... irgendwie. In Wahrheit hätte er sie doch gern selbst behalten, da war der Häuptling sich sicher. Und nun brachte er es irgendwie nicht über sich, sie wirklich an sein Feuer zu bitten... sie war so eine hübsche, liebe Frau. Er mochte sie schon so lange und eigentlich hatte er bereits als Kind vorgehabt, sie zu sich zu nehmen, wenn sie erst einmal erwachsen waren. Dass das so kompliziert werden würde, hätte er sich niemals erträumt...

Tinash seinerseits hatte ja nun tatsächlich selbst eine Frau. Und der war er absolut treu, auch wenn Moconi sich relativ sicher war, dass er Lauy bisher nicht angerührt hatte – es war seine Sache, es war schön, dass er die Treue anders als gewisse Zwillinge für so wichtig hielt, aber irgendwie kam das schlecht für ihn. Kili war auch nicht da... er hatte niemanden, mit dem er reden konnte, wenn er einmal wollte.

Er brummte und stocherte mit einem Stock in der Glut herum. Wie ein kleines Kind führte er sich auf... er musste das abstellen und endlich zu einem Mann werden, bei allen Göttern!

Einige aufgebrachte Stimmen etwas außerhalb rissen seine Aufmerksamkeit auf sich – offenbar waren doch noch andere wach außer ihm. Er erhob sich alarmiert und fragte sich kurz, ob das schon wieder eine Schlägerei war; mittlerweile sollten sie doch alle soweit wieder normal im Kopf sein.

Sanan war es schließlich, der zwischen ein paar Hütten hindurch gehastet kam und erst einmal nach Luft schnappen musste, ehe er sprach.

„Häuptling, du musst schnell kommen!“, wies er den Älteren an, der sich einen Augenblick lang darüber ärgerte, dass jemand wie Sanan es sich anmaßte, ihm etwas befehlen zu wollen, „Da sind... Leute!“
 

Das war nicht besonders vielsagend gewesen, dennoch war Moconi dem Kleineren auf der Stelle gefolgt. Während sie einmal quer durch das ganze Lager rannten, überlegte er sich so, welche Leute das wohl sein konnten; Kalenao? Dann hätte es ein Gemetzel gegeben, das war also unwahrscheinlich. Vielleicht war es ja Karem, der zurückkehrte – aber den hätte Sanan doch erkannt; zumindest hatte seine Aussage nicht so gewirkt, als hätte er viel über die Fremden zu berichten gewusst.

„Hat Shiran dich geschickt?“

„Ja, aber einige andere haben sie auch schon bemerkt, mein Br... also, ich meine, Shiran hat die Männer aus dem Stamm dazu angewiesen, diese komischen Kerle aufzuhalten, bis du auch da bist! Das ist seltsam, er sollte doch wissen, wer das ist...“

Moconi soll sich darum kümmern., hatte er gesagt, Ich möchte in diesem Stamm nicht mehr entscheiden, als mir zusteht.

Sanan seinerseits hatte nicht den blassesten Schimmer, wer da im hohen Gras vor ihnen erschienen war, solche Männer hatte er zuvor nie gesehen – die Kalenao konnten nicht seltsamer wirken.

Aber sie schienen menschlich zu sein... zumindest hatte der eine, der gesprochen hatte, ihre Sprache gesprochen. In einem seltsamen Akzent, der aber doch ganz anders als der von Shiran gewesen war und viel angenehmer klingend, als sei die ungewöhnliche Aussprache der Worte Absicht. Sein Begleiter hatte nur geschwiegen.
 

Als sie ankamen, am äußersten Rand des Lagers in der Nähe der beinahe gänzlich leeren Vorratszelte, war bereits der halbe Stamm versammelt; es musste sich schnell herum gesprochen haben. Die Menschen standen in einem großen Halbkreis um die Fremden versammelt, ihnen damit auch mehr oder minder beabsichtigt den weiteren Weg abschneidend. Die beiden Männer machten jedoch auch keinerlei Anstalten, sich zu bewegen, bis Moconi ihnen gegenüber trat.

Sanan, der sich nun wieder neben Shiran stellte, hatte recht gehabt, diese Kerle waren wirklich komisch.

Einer der beiden, der etwas größere, trug eine beneidenswert schöne Hose aus hellem Leder und hohe, mit verschiedenen Fellen verzierte Stiefel, die unter Garantie keine Frau aus Moconis Stamm würde herstellen können. Die Hose des anderen war gänzlich aus einem hellgrauen Fell, das niemand zuzuordnen vermochte, ebenso wie das nahezu weiße Leder seiner Stiefel. Zumindest war so relativ rasch klar, dass sie nicht aus der Nähe kamen.

Wesentlich seltsamer als ihre Beinbekleidung war jedoch, dass sie keine Westen oder sonstige dem Wetter angemessene Oberbekleidung trugen, sondern bloß Umhänge aus dichten Fellen. Ihr eigentlicher Oberkörper, der darunter hervorblitzte, war bis auf eine bizarre Bemalung gänzlich nackt. Letztere zierte auch die Gesichter der beiden Männer; ihre Haut war weiß wie die Berggipfel im Winter und mit seltsamen groben schwarzen Mustern bemalt; besonders bei dem Kleineren verdeckte die schwarze Farbe, die vermutlich aus Asche bestand, einen Großteil seiner Wangen, seine Augenlider, Stirn und Schläfen. Bei seinem Begleiter war es etwas dezenter, aber dennoch zu verwirrend, um sein wahres Gesicht darunter auszumachen. Er blickte starr in Moconis Richtung, ohne sich eine einzige Gefühlsregung anmerken zu lassen, seinen prachtvollen Speer dennoch merklich fester umklammernd. Der Kleinere schien da offener zu sein, er trat etwas auf den Häuptling zu und neigte dann leicht lächelnd den Kopf in seine Richtung.

„Ich wünsche einen angenehmen Morgen, Oberhaupt des Schlangenstammes, einen seltsamen Namen hast du, wenn ich mir das erlauben darf...“
 

Moconi hob unmerklich die Brauen, als der Fremde nun genau vor ihm stand. Er war kaum größer als Sanan, aber kräftiger gebaut, so wie es alle anderen menschlichen Männer waren. Sein Haar war genau so schwarz wie die Hälfte seiner abstrusen Bemalungen und seine Augen blau; wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte der Größere sich überlegt, ob er es hier nicht vielleicht mit einem fehlgeleiteten Sohn Dheracs zu tun haben konnte...

„Vielleicht wäre es angebrachter, wenn du mir deinen Namen zunächst nennst, bevor du die Wahl meines Vaters in Frage stellst, Fremder.“, antwortete Moconi schließlich und wusste nicht, worüber er sich nun am meisten wundern sollte. Sein Gegenüber nickte, weiterhin lächelnd, was etwas seltsam wirkte in dem durch die Bemalungen irgendwie bösartig wirkenden Gesicht.

„Mein Name ist Kurapi, Sohn des Häuptlings Kewera – ich komme aus dem Stamm, der den Kojoten sein Totem nennt.“

Er deutete hinter sich, in Richtung des weiten Horizonts.

„Von dort.“
 

Daraufhin hatte man ihnen den Eintritt in das Lager doch gewährt. Moconi wusste nicht mehr, was er daraufhin gesagt hatte, jedenfalls folgte ihm die gesamte Meute auf den großen Platz im Zentrum des Lagers, wo sich nun alle, mit Ausnahme derer, die gerade auf Jagd waren, ringsherum versammelten. Der Häuptling, Shiran und die beiden Fremden blieben in der Mitte stehen, damit auch alle gute Einsicht auf sie hatten, denn das, was Kurapi und sein bisher schweigsamer Begleiter zu sagen hatten, interessierte wohl geschlossen jeden.

Niemals zuvor hatte irgendjemand einen Mann aus dem Stamm am Horizont zu Gesicht bekommen und niemals hatte irgendjemand auch nur mit dem Gedanken gespielt, Kontakt zu dem anderen Stamm aufzunehmen.

Es hieß, einst seien sie ein großer Stamm gewesen, doch wegen Streitereien habe man sich voneinander getrennt und sei in verschiedene Gebiete des großen Landes gezogen, wo man sich gegenseitig nicht mehr im Weg war. Und damit man nie wieder über irgendetwas streiten musste, mied man sich und respektierte sich aus der Ferne – bis zu jenem Tag.

Offiziell stammte Mefasa ja auch von dort, kam Moconi beiläufig, dass dem nicht so war, würde möglicherweise demnächst auffallen. Vielleicht würde man aber auch etwas über Sanans Herkunft erfahren, das war doch auch nicht verkehrt... auch wenn der Mann sich gar nicht so sicher war, ob er darüber überhaupt etwas wissen wollte. Er war ein Bruder seines Stammes und von jenem auch aufgezogen worden, woher er ursprünglich kam, war nicht weiter von Belang.

Er schielte kurz zu Shiran, aber der machte keine Anstalten irgendetwas zu verraten, also entschloss sich Moconi weise dazu, erst einmal etwas Höflichkeit walten zu lassen – wer wusste es schon, vielleicht hatte jener Kurapi ja etwas gutes zu sagen.

„Wir haben leider nicht viel zu essen da, einige unserer besten Männer sind momentan auf Jagd – aber wenn wir euch etwas anbieten dürften...?“

Der Schwarzhaarige nickte verhalten.

„Ein karges Land, in das ihr gezogen seid. Ja, etwas zu essen wäre gut.“

Die Frauen verstanden, so erhoben sich einige auf der Stelle und eilten zu ihren Hütten, um alles, was noch halbwegs essbar war, zu bringen. Irgendjemand entfachte derweil das große Gemeinschaftsfeuer und brachte Sitzmatten.

Die Fremden bekamen die besten Plätze und ließen es sich nicht nehmen, sich auch gleich hinzusetzen, auch wenn Moconi lieber stehend zu ihnen gesprochen hätte – vermutlich hatten sie eine wirklich weite Reise hinter sich und so setzte er sich verständnisvoll zu ihnen; Shiran tat es ihm gleich.

Als man ihnen notdürftig zubereitetes Essen brachte, lagen alle Augen auf ihnen.

Kurapi hatte eine ungewöhnliche, gesittete Art zu essen, während sein Begleiter genau so schlang wie es alle anderen Männer in Moconis Stamm auch taten.

„Nun, ich hoffe, das hat euch gesättigt.“, merkte der Häuptling schließlich an, als sie fertig waren und restlos aufgegessen hatten. Die Tatsache, dass sie außer ihren Speeren nur kleine Lederbeutel mit sich trugen, ließ in ihm doch schwer den Verdacht aufkommen, dass die beiden kaum Proviant mitgenommen hatten... welch seltsame Sitten.

„Hat es, es war sehr gut.“, antwortete Kurapi ihm da und wischte sich die Hände ab, „So lässt es sich viel besser berichten. Ich nehme an, es interessiert euch, weshalb wir beide hier sind.“

Geschlossenes Nicken. Das bemalte Gesicht des Schwarzhaarigen wurde ernst.

„Nun, wir hörten von eurer Not und bieten euch unseren Beistand an.“

„Beistand?!“

Moconi weitete überrascht die Augen. Shiran räusperte sich.

„Ein Zusammenschluss der Stämme... das ist eine feine Idee. Mir war im Hinterkopf, dass ihr kommen würdet.“

Kurapi musterte den Seher kurz schweigend. Dann lächelte er wieder.

„Du bist einer von ihnen. Du weißt viele Dinge... aber lange bist du noch nicht hier, oder?“

Zur Irritation aller ließ er die Frage nicht von Shiran, sondern seinem Begleiter beantworten, dem er einen fragenden Blick schenkte und der darauf den Kopf schüttelte. Dann wandte er sich wieder an Moconi.

„Ich nehme an, auch hier kennt man die alten Geschichten, davon, dass wir einst eins waren... wir haben geschworen, einander beizustehen, wenn es darauf ankommt, und das werden wir auch. Wir werden nicht über unsere Traditionen streiten, wir werden uns respektieren... das haben wir versprochen. Und ihr auch.“

Von einem solchen Schwur hatte Moconi noch nie gehört, aber aus irgendwelchen Gründen zweifelte er nicht wirklich an seiner Existenz. Ansonsten wären die beiden sicherlich nicht hier. Dennoch, so nett das nun plötzlich klang, er war irritiert...

„Ich freue mich natürlich über Hilfe – die können wir in Zukunft sicherlich gut gebrauchen, muss ich eingestehen, und ich denke, hier ist niemand, der mir was das betrifft widersprechen wird.“

Er sah sich um und erntete als einzige Reaktion von einigen Stellen Nicken.

„Jedoch frage ich mich, woher wusstet ihr überhaupt von unserem kleinen Problem mit den Bestien?“

Kurapi schlug den Blick etwas nieder, weiter sein seltsames Grinsen auf den Lippen. Sein Begleiter rührte sich nicht.

„Berechtigte Frage. Ich muss etwas ausholen, ja?“

Moconi nickte und sein Gegenüber seufzte, dann sah es wieder auf und dem vermutlich etwas älteren ins Gesicht.

„Wir haben in früheren Zeiten schon Bekanntschaft mit ihnen gemacht, den Kalenao. Wir sind sie bloß los geworden, weil sie aus irgendwelchen Gründen das Interesse an uns verloren hatten, aber ihre Angriffe waren grauenhaft – daher wissen wir aber immerhin, wie man auf sie reagieren muss, auch wenn es keine immer zutreffende Regel gibt, um diese Insekten zu beseitigen.“

Shirans Mundwinkel zuckte kurz. Er konnte sie verstehen, all diese Menschen, die ihn und sein Volk so sehr verabscheuten... und er wusste – natürlich – auch von den früheren Übergriffen auf den Kojotenstamm. Und den Auswirkungen...

Dennoch traf es ihn irgendwie, wenn man immerzu so abfällig über seine Blutsbrüder und -schwestern sprach. Er würde sich jedoch hüten, diese Gedanken auszusprechen, Kurapi misstraute ihm, um das zu erkennen hatte ein einziger Blick in seine blauen Augen gereicht.

„Nun, das ist der Hintergrund, der das großzügige Angebot meines Vaters – er würde sich niemals einer alten Tradition widersetzen – überhaupt sinnvoll macht. Das Wissen über eure Lage haben wir von ihm.“

Er deutete mit dem Kopf kurz auf seinen Begleiter, der daraufhin zwar nicht aufsah, aber zu grinsen begann.

„Na schön.“, Moconi legte die Stirn in Falten, „Und woher weiß der das?“

Sein Grinsen wurde breiter und aus irgendwelchen Gründen schien er sich das Lachen verkneifen zu müssen. Kurapi hüstelte.

„Nun ja. Eines Tages vor nicht all zu langer Zeit war ich mit meinen beiden jüngeren Brüdern unterwegs, wir haben Kleintier gejagt – einer der beiden hat dann versehentlich aber ihn hier erlegt. Die Wunde war zum Glück nicht tief, so kam er dann zu unserem Stamm und weil es an sich nicht üblich ist, wildfremde Männer mit Kinderspeeren im Bauch einfach so aufzunehmen, wurde er dazu angehalten, uns etwas über sich zu erzählen. Das hat er dann auch getan, so gelangten wir schließlich an dieses unheilvolle Wissen.“

Daraufhin herrschte kurz Schweigen. Der Häuptling hob irritiert beide Brauen, bis der bis dahin stumme Begleiter endlich sprach.

„Lasst ihr euch von dem bisschen Farbe so sehr verwirren? Ich bin Joru, ihr Blindschleichen.“
 

Das hatte gesessen. Und abermals bemerkte Moconi seine eigene Reaktion erdrückt von den Eindrücken um ihn herum kaum. Kurapi senkte grinsend sein Haupt wieder und wildes Getuschel ging durch die Reihen, bis irgendwo jemand aufsprang und unerlaubterweise einfach zu der Gruppe im Zentrum der Versammlung rannte, sich in Jorus Arme stürzend.

„Du lebst noch!“, quiekte Lauy, „Du lebst noch und bist wieder da!“

Er erwiderte ihre Umarmung verblüfft, sah jedoch nicht sie an, sondern viel mehr zu der Stelle, an der sie zuvor gesessen haben musste. Anstelle seiner eigenen Familie, wie er vermutet hatte, saßen da jedoch Tanest, Teco, Tinash und ihre beiden kleineren Geschwister, die ihn nun allesamt mehr oder weniger interessiert musterten.

„Ich bin nicht wieder da, ich gehe wieder weg.“, antwortete er schließlich, seine Schwester nun doch ansehend. Sie weinte ja...

„Wo sind denn... die anderen?“

Sie würde verstehen was er meinte, konnte jedoch nicht antworten, weil sie heftig schluchzte und sich schließlich wieder an ihn drückte. Da auch Moconi zu perplex zum antworten war, übernahm Shiran dies freundlicherweise.

„Karem war nicht mehr von den Führungsqualitäten seines Häuptlings überzeugt und hat den Stamm daher mit seiner Familie verlassen. Lauy blieb zurück, weil sie ihrerseits als Frau an Tinashs Feuer gegangen ist.“

Genannter hatte sich nun auch erhoben und sich der Gruppe verlegen genähert. Er musste sie zurückbringen...

Joru hob beide Brauen, dann schenkte er seinem Schwager einen merkwürdigen Blick.

„Ausgerechnet du?“, fragte er, ohne auf die Abwesenheit seiner Familie weiter zu reagieren. Er hatte mit ihnen abgeschlossen.

„Ausgerechnet ich, ja.“, entgegnete Tinash nickend, als er seine Frau mit sanfter Gewalt von ihrem Bruder entfernte und sie sich darauf an ihn klammerte und irgendetwas Unverständliches gegen seine Brust jammerte, „Das finden alle seltsam, aber ich werde gut zu ihr sein, keine Sorge.“

Er erhob sich und zog Lauy sachte mit sich, damit sie nicht weiter stören konnte. Joru lächelte kurz.

„Daran zweifle ich auch nicht, du bist ein guter Kerl.“

Dann wandte auch er sich wieder seinem Begleiter, Moconi und dem ihm unbekannten Magier zu.
 

Sie würden einige Tage bleiben, kündigte man an und dem hatte niemand etwas entgegen zu setzen. Moconi fragte sich, was das nun zu bedeuten hatte... würden sie wirklich nützliche Hilfe bekommen? In seinem Inneren kribbelte es bei dem Gedanken daran, dass die Götter trotz ihrer, so musste er sich doch eingestehen, niedererer Art auf ihrer Seite waren und nicht auf der der Kalenao, wie dieses Miststück Nadeshda und ihr wahnsinniger Bruder wohl annahmen. Dennoch verschaffte ihm die Vorstellung davon, plötzlich auf den fremden Stamm, den er sein ganzes Leben lang bloß als winzige Silhouetten am Horizont gekannt hatte, zu treffen, ein mulmiges Gefühl.

Joru kam in der neuen Hütte von Tinash und Lauy unter, Kurapi hatte er dann zu sich eingeladen. Immerhin musste er sich so nicht mit dieser unangenehmen Einsamkeit herum schlagen, kam dem jungen Mann, als er am Abend das Feuer entfachte, um darüber etwas vom letzten Fleisch zu braten. Hoffentlich war die Jagd erfolgreich...

„Es ist gut, dass du mich in deine Hütte eingeladen hast.“, hörte er plötzlich Kurapis Stimme hinter sich und als er sich zu ihm umdrehte, erschreckte er sich zunächst gehörig, was seinen Gast inne halten ließ. Er verstand jedoch schnell.

„Diese Bemalungen dienen dem Schutz zu verschiedenen Anlässen. Auf der Jagd, aber auch auf der Reise – jetzt, wo wir hier angekommen sind, brauche ich wohl keinen Schutze mehr, nicht wahr?“

Er zeigte sein bekanntes Grinsen und Moconi erwiderte es etwas verlegen. Verdammt, er musste sich etwas zusammenreißen... seit dieses miese Biest diesen Fluch auf sie gehetzt hatte, war er ganz durch den Wind. Er hatte sich gar nicht mehr richtig unter Kontrolle und das war für ihn als Häuptling fatal... wenigstens Karem konnte sich über seine Schwäche nicht mehr den Mund zerreißen.

Kurapi hatte sich ihm inzwischen gegenüber gesetzt.

„Wie dem auch sei, ich meinte jedenfalls, dass es gut ist, dass ich bei dir leben kann für die nächsten Tage. So können wir miteinander beraten, ohne gleich den ganzen Rat einzuberufen.“

Da war etwas wahres dran. Moconi nickte, als er das Fleisch aufspießte und die kleinen Stöcke neben der Feuerstelle schräg in den Boden rammte, damit das Essen so langsam gar werden konnte.

„Wenn ich mir eine Frage erlauben darf.“, fiel ihm dann ein und er sah wieder auf zu seinem Gast, der ihm nun gegenüber saß, „Wieso habt ihr so wenig Gepäck dabei? Habt ihr keine Hütten? Oder Reisezelte?“

Das musste doch unangenehm gewesen sein, die ganze lange Reise bei diesem miesen Wetter im Freien zu übernachten – überhaupt, was war das für ein Höllengemisch an Farbe, dass diese Witterung so lange überstanden hatte? Oder hatten sie sie immer wieder neu angelegt?

„Normalerweise schon. Aber unser Rat war geschlossen der Meinung, es müsste schnell gehen, wo wir schon so viel Zeit damit zugebracht haben, Joru bei uns zu integrieren. Er ist ein guter Kerl und mir ein wichtiger Freund, ich bin froh darum, dass er bei uns bleiben konnte und nun ein vollwertiges Mitglied meines Stammes ist... er ist nicht geschickt, aber stets bemüht, mein Vater mag so etwas.“

Er streckte sich kurz und gähnte, ehe er hüstelnd etwas zur Seite sah.

„Verzeihung. Jorus Vater ist weg, habe ich so mitbekommen... warum?“

Moconi änderte die dem Feuer zugewandten Seiten des Fleisches, als er antwortete.

„Karem mochte mich noch nie. Und er hatte ein unglaublich großes Mundwerk... das hat ihn selbst immer wieder in Schwierigkeiten gebracht. So lange, bis er hat einsehen müssen, dass es für alle Beteiligten das Beste ist, wenn er von selbst das Feld räumt. Ich hätte Joru damals gerne hier behalten... das kannst du mir glauben.“

Es fiel ihm noch immer schwer, Karems Kaltherzigkeit von jenem Tag nachzuvollziehen... natürlich hatte sein Sohn ihn enttäuscht, aber normalerweise war das Ausstoßen aus der Gemeinschaft ein Todesurteil für jeden, dass Joru bei dem Stamm am Horizont untergekommen war, war reines Glück gewesen; Karem hatte seinen ältesten Sohn wissentlich in den Tod geschickt.

Kurapi nickte darauf, schweigend in die Flammen blickend. Moconi wandte den Kopf ab, schielte ihn jedoch von der Seite verstohlen an.

Unter seiner ganzen Bemalung war ja nicht viel von ihm zu erkennen gewesen, jetzt sah er ihn zum ersten Mal wirklich. Scheinbar nutzte die Farbe nicht all zu viel als Sonnenschutz, seine Haut war in Wahrheit beinahe genau so dunkel wie die des Häuptlings – und das war ein ziemlich extremer Unterschied zu dem Weiß, in dem er ihn kennen gelernt hatte, weshalb der etwas Ältere sich zuvor auch erschrocken hatte. So wirkte er jedoch viel natürlicher und menschlicher.

Sein Gesicht wirkte noch etwas jungenhaft, fiel ihm nebenbei auf, er konnte nicht viel älter sein als Joru, erschloss sich Moconi. Aber er war ziemlich hübsch...

Er grinste, als er die Spieße mit dem Fleisch nahm und um das Feuer schritt, um seinem Gast einen zu übergeben und sich anschließend neben ihn zu setzen. Irgendwie war er wirklich, wirklich einsam...

„Hier wird man gut versorgt.“, bemerkte Kurapi offenbar erfreut und biss in seiner eigentümlichen, gesitteten Art zu essen ab und Moconi grinste verhalten, als er ihm dabei kurz zusah.

„Selbstverständlich, wenn man uns schon so großzügig Hilfe anbietet... ich glaube, es ist wirklich gut, dass du in meiner Hütte bist.“
 

„Und du wurdest wirklich aufgespießt?“

Joru deutete auf eine kleine Narbe am Bauch. Tatsächlich...

„Es ist gut verheilt.“, erklärte er seiner jüngeren Schwester, die die einstige Verletzung fasziniert beobachtete, während Tinash seinem Schwager ein Schlaflager aus geliehenen Fellen errichtete.

„Kurapis Brüder sind zwar noch Jungen, aber nimm dich in acht vor denen!“, riet er Lauy da mit erhobenem Finger. Inzwischen hatte auch er sich gewaschen und war wieder als den zu erkennen, der er auch war... wobei Tinash das Gefühl hatte, der arme Kerl hatte sich ziemlich verändert. Er hatte es ja auch nicht leicht gehabt...

„Was machen Kurapis Brüder denn?“, erkundigte sich seine Schwester unterdessen doof und Joru schnaubte empört und deutete abermals auf seine Narbe.

„Ich sage, das war Absicht! Ich meine, das muss einfach Absicht gewesen sein, sehe ich denn aus wie ein Hase, dass man mich für Kleinwild halten kann?“

„Kommt ganz darauf an, ob du dir vielleicht zwei Schilfblätter an den Kopf gebunden hattest...“, überlegte Tinash grinsend und sein Gast schnaubte gespielt empört.

„Natürlich, aber nur zur Dekoration! Ich finde das total schön!“

Lauy legte nur verwundert den Kopf schief bei dem seltsamen Gespräch der beiden Männer. Hase? Schilfblätter? Was?

„Wie lange werdet ihr jetzt bleiben?“, wollte ihr Mann, der fertig mit dem Lager war und sich nun zu den beiden setzte, wissen und Joru strich ihr kurz brüderlich über den Kopf, ehe er sich dem anderen zuwandte.

„Einige Tage... bis alles geklärt ist. Ich bin froh, dass Karem und Ardoma nicht da sind, denen ich in dieser Zeit begegnen könnte... das muss ich nicht haben.“ Er seufzte. „Wirklich auskennen mit der ganzen Sache tue ich mich sicher nicht. Kurapi macht das.“

Er vertraute ihm vollkommen. Er mochte ihn... nein, er liebte ihn wie seinen eigenen Bruder. Als er sich an sein entsetztes Gesicht erinnerte, als er ihn mit diesem blöden Kinderspeer im Bauch im Gras gefunden hatte, musste Joru unwillkürlich grinsen. Und er selbst hatte sicher nicht besser dreingeschaut, als er den drei abstrus bemalten Gestalten zum ersten Mal begegnet war. Als sie sich über ihn gebeugt hatten, dachte er, es wären Windgeister, die ihn in die nächste Welt bringen wollten...

„Dieser Kurapi ist irgendwie seltsam.“, bemerkte Tinash nebenbei, zur größten Irritation seines Gegenübers seine Frau zu sich ziehend und liebevoll an sich drückend. Lauy lächelte errötend und schmiegte sich etwas an ihn. Nicht nur er hatte sich verändert...

„Kurapi ist in einem anderen Stamm mit ganz anderen Sitten aufgewachsen, was erwartest du?“ Niemand sagte ein schlechtes Wort über den Mann, dem er sein Leben verdankte – und das war in Jorus Fall definitiv nicht Karem. Kurapi hatte Mitleid mit ihm gehabt... er hatte vor seinem Vater für ihn gesprochen und er hatte ihm alles mögliche, was in seinem Stamm wichtig war, beigebracht. Ohne ihn wäre er längst tot – so hatte er ein Leben und eine Zukunft. Dort, wo er nun lebte, schätzte man ihn und die Mädchen fanden ihn sehr interessant... vielleicht hätte er Karem auch für das, was er ihm angetan hatte, danken sollen, denn wenn er es sich recht überlegte, war nun alles besser als zuvor.

„Aber irgendwie klingt das alles zu schön, um wahr zu sein, oder nicht?“, gab Tinash zu bedenken und sein Schwager schüttelte seufzend den Kopf.

„Ich habe Kewera kennengelernt. Er will immer nur das Beste für seinen Stamm und er teilt mit Moconi die Meinung, dass das Beste immer mit dem genauen Befolgen der Traditionen einher geht. Als ich ihm meine Geschichte erzählt habe und darin auch die Kalenao vorkamen, war er entsetzt... ehrlich entsetzt, denn ein Mann wie er hat es sicherlich nicht nötig, einem dahergelaufenen Fremden wie mir Mitgefühl vorzuspielen. Ich denke nicht, dass es ihm nicht ernst ist... nicht bei ihm. Ich habe vollstes Vertrauen.“

Lauy lächelte.

„Du wirst schon recht haben!“, entschloss sie einfach frohen Mutes, „So ein Pech, dass Vater fort gegangen ist... ich glaube, er wäre stolz auf dich gewesen.“

„Und hätte es bereut, einen Sohn wie dich einfach verstoßen zu haben.“, fügte Tinash ernster an und Joru wandte den Blick ab.

„Wie gesagt... ich bin froh, meinem Vater nicht begegnen zu müssen. Ich danke den Göttern dafür, dass sie meine Gebete erhört haben. Ich... hasse Karem.“

Aber noch mehr hasse ich die Bestie, die Rhik vor meinen Augen zerfleischt hat... sie ist an allem Schuld!
 

Die Nacht, die bald aufzog, war kühl, aber nicht nass. Shiran erfreute diese Tatsache, irgendwie bekam ihm die ewige Feuchtigkeit nicht. Er hatte natürlich gewusst, dass die beiden „Fremden“ auftauchen würden, deshalb war er auch früh auf den Beinen gewesen. Und Sanan mit ihm, was er nicht ganz verstanden hatte... er war doch extra leise gewesen? Die Antwort seiner Götter diesbezüglich klang schön...

„Ich... mag es, wie du dich für uns einsetzt. Für uns und den Stamm.“, sprach der Jüngere da plötzlich, ihm in seinem Schlaflager liegend den Rücken kehrend. Es war stockdunkel.

„Ich tue nur das, was ich für richtig halte. Ich werde mein eigenes Volk nicht für die Menschen verraten, falls du das annimmst.“, entgegnete der Seher ehrlich und hörte, wie sein Bruder sich daraufhin zu ihm umdrehte.

„Was tust du dann im Moment?“

Ja, was tat er? Sanan hatte schon recht, in gewisser Weise war das, was er hier beging, tatsächlich eine Art Verrat. Aber nicht an seinem Volk... an Mahrran und Nadeshda, diesen beiden widerlichen Missgeburten, die nicht einmal den Hauch von Macht verdienten... sie waren niederer als es jeder Mensch je sein konnte, auch niederer als jedes Tier. Er verachtete sie nicht nur für die Taten ihrer Familie oder ihre Charaktere... es gab noch mehr. Aber er wollte nicht daran denken, sonst raubte es ihm den Schlaf.

„Ich versuche, das Schicksal in richtige Bahnen zu lenken.“, antwortete er schließlich etwas ausweichend und hörte den anderen darauf seufzen.

„Davon verstehe ich nichts.“, gestand er dann ein, „Ich sehe nur, dass du gut zu uns bist.“

Er bemerkte, dass er sich aufsetzte und zu ihm sah, auch wenn die Dunkelheit alles verschlang, und so tat er es ihm gleich.

„Du... magst zwar eine Bestie sein... aber du bist ein guter Kerl. Ein guter Bruder. Das... ist nicht leicht für mich gerade, ja? Ich bin stolz auf dich.“

Shiran überlegte sich, dass er wohl der einzige Seher auf der Welt war, den man mit so einfachen Worten überraschen konnte. Natürlich hatte er gewusst, dass Sanans Meinung von ihm gestiegen war... aber seinen letzten Satz hatte er nicht erahnt. Und er traf ihn tief in sein Herz.

„Seit ich hier bin, habe ich Mutter unzählige Male für die Strapazen gedankt, die sie auf sich genommen hat, um dich in Sicherheit zu bringen. Ich tue es abermals, kleiner Bruder. Ich...“

Er zögerte kurz. Was ihm auf den Lippen lag, war nichts, was ein Mann in seinem Alter noch auszusprechen hatte, aber als er normal gewesen wäre, in seiner Kindheit, hatte ihm die Gelegenheit dazu gefehlt. Er grinste.

„Ich hab dich lieb.“
 

„Von deinem Empfang bin ich wirklich überwältigt.“

Es war nur ein Nuscheln in die Schlaffelle gewesen, aber Moconi, besser gelaunt als eh und je, verstand es dennoch und musste grinsen.

„Hast du das mit diesem Magier auch getan?“

Er schielte neben sich, erkannte jedoch nicht viel von Kurapi, der sich allem Anschein nach aber auch bis zum Haaransatz zugedeckt hatte. Er gluckste.

„Nein. Ich habe auch Ansprüche, nichts gegen Shiran...“

Ohne Shiran wäre er verloren gewesen, er hatte sie gerettet und sein Wissen würde allen noch sehr zugute kommen. Kurz fragte er sich, wie er sich bei ihm am besten revanchieren konnte... er würde ihn einfach fragen, wenn es denn soweit war und sie sich zum letzten Mal voneinander verabschiedeten – für immer würde er ihn sicher nicht im Stamm behalten. Eine Bestie reichte da vollkommen aus.

„War das... ein Kompliment?“

Er gluckste verhalten über Kurapi, der sich gar nicht mehr zu rühren wagte. Verdammt, irgendwie hatte es ihn nach so langer Zeit einfach überkommen, was hätte er denn tun sollen? Wenn das mit Calyri doch etwas einfacher gewesen wäre...

„Ja, sieh es als solches... ich wollte dich eigentlich nicht so überfallen, tut mir leid.“, er strich ihm kurz durchs Haar, worauf der Jüngere etwas zusammenzuckte, „Wie alt bist du eigentlich?“

Moconi setzte sich auf und bedauerte die Tatsache, dass inzwischen tiefe Nacht war. Er konnte jetzt nicht mehr schlafen... am liebsten hätte er sich jetzt bis zum Sonnenaufgang von dem Stamm am Horizont erzählen lassen, das fand er interessant. Vielleicht war es auch gar nicht so unwichtig für ihn, fiel ihm auf, am Ende sagte er vor diesem Kewera etwas falsches, was ihn beleidigte, und dann reisten die wieder ab – und dann hätte letztendlich er seinen Stamm ins Verderben gestürzt. Sowieso, irgendwie...

„Ich bin fünfzehn.“, bekam er dann als Antwort und er hörte das Rascheln der Felle, als Kurapi sein Gesicht befreite. Irgendwie war ihm das Atmen darunter doch etwas zu anstrengend.

„Vielleicht solltest du dir eine Frau suchen.“

Der Ältere musste über diesen Vorschlag verhalten lachen.

„Oh ja, gerne. Da gibt es eine, die versuche ich seit Ewigkeiten an mein Lager zu nehmen, aber irgendwie kommt mir ständig etwas – oder jemand – dazwischen, es ist kaum auszuhalten. Langsam gebe ich es auf, wirklich. Äh... verzeih mir, dass ich plötzlich so viel mit dir rede, aber ich hatte schon lange niemanden mehr, dem ich meine unwichtigen und vermutlich vollkommen dummen Gedanken anvertrauen konnte. Ich bin ein echt mieser Häuptling.“

Kurapi grinste. Moconi war ein wirklich, wirklich seltsamer Kerl, er hatte auf seiner Reise ja mit einigem gerechnet, aber nicht damit. Nicht, dass es ihn gestört hätte, aber überrascht war er definitiv...

„Rede keinen Unsinn, du musst sehr tapfer sein, dass du deinen Stamm in solchen Zeiten noch so sicher führst. Mir graust es ja vor dem Tag, an dem mein Vater mir sein Amt übergibt – dann, Moconi, wirst du erfahren, was ein echt mieser Häuptling ist.“

Er spürte, wie er den Arm um ihn legte und eigentlich hätte es ihm Angst gemacht, wenn er den anderen zuvor nicht ausgiebig kennengelernt gehabt hätte. Das hatte irgendwie ganz schön weh getan...

„Warum denkst du, wirst du ein mieser Häuptling sein?“, erkundigte der Ältere sich da weiter und er seufzte, etwas deprimiert in die Finsternis lächelnd.

„Weil ich mich nicht durchsetzen kann.“, antwortete er ehrlich, „Überhaupt nicht. Jeder respektiert meinen Vater, weil er ein großer Mann ist, der beste Jäger im Stamm. Seine Entscheidungen sind weise und er weiß immer, was zu tun ist. Und mich... respektieren sie bloß, weil er mein Vater ist. Aber irgendwann ist er nicht mehr da.“

Moconi schloss die Augen einen Moment lang. Irgendwoher kannte er diese Worte... oh ja, er kannte sie gut. Vermutlich war Saltec auf eine andere Weise ein großer Mann gewesen als Kewera, aber sie hatten es gemein. Und in Wahrheit hatte Moconi sich niemals in einer anderen Situation befunden als Kurapi... er hatte nur nicht so lange Zeit gehabt, um sich um seine Zukunft zu sorgen – seine Zukunft hatte von einem Tag auf den nächsten einfach begonnen.

„Außerdem...“, er öffnete die Augen wieder, „Bin ich zu klein.“

Die Tatsache, dass der Jüngere diese Worte todernst ausgesprochen hatte, ließen den Gastgeber nun doch wieder glucksen. Und darum machte er sich Gedanken?

„Du wächst noch!“, versprach er dennoch und der andere schnaubte.

„Seit zwei Mondzyklen nicht mehr. Die Männer in meinem Stamm sind größer als die in deinem, Moconi...“

Der letzte Satz gefiel dem Häuptling irgendwie. Mit noch größeren Männern konnte man diese Bestien wunderbar einschüchtern!

Er danke den Göttern dafür, dass sie doch irgendwie zu ihm standen, auch wenn sie gelegentlich die Sonne vom Himmel verschwinden ließen, nur um ihn zu ärgern...
 


 

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Das Kapitel hatte ich damals an einem Tag geschrieben... oô

Ich bin jetzt übrigens fertig, gestern fertig geworden...

Egoismus

„Und sie verlangen immer noch, dass wir mit diesen verfluchten Mistdingern kämpfen! Dieser verblendete Spinner, was denkt der sich eigentlich?!“

Iavenya beobachtete schweigend, wie ihr Mann durch das Haus wütete und gar nicht mehr aufhören konnte zu schimpfen. Da hatte er die Befehlshaber endlich dazu überreden können, Mahrran einmal darauf hinzuweisen, dass sein Plan abgrundtief schlecht war, und dann kam so etwas als Antwort!

„Und jetzt schicken sie Rato und mich schon wieder in die Berge! Nachschauen, ob die Pässe frei sind, sollen wir, natürlich, und wenn nicht, dann ist das unser Pech! Ach, ich bin sauer, wenn ich diesen Tölpel in die Finger bekomme, ich sage es dir, Iavenya, ich sage es dir...“

Er hielt schnaubend an dem einzigen geöffneten Fenster inne und spähte heraus. Heute war das Wetter gut und nicht so abgrundtief kalt, wie die vergangenen Tage; so waren sie die Winter gewohnt. Und es gefiel allen, etwas natürliches Licht in das dunkle Haus einfallen lassen oder auch einmal einfach so auf die Straße zu können, ohne gleich damit rechnen zu müssen, krank zu werden. Krank geworden waren bei der miesen Witterung von zuvor einige, hatte Irlak gehört, er hoffte, er steckte sich bei keinem an. Noch so eine Lächerlichkeit, wie sollten sie denn bitte in den Kampf ziehen, wenn die Hälfte der Männer nicht bei Kräften war? Er selbst war mit Sicherheit nicht klug und sich dessen auch absolut bewusst, aber dass die Ideen Mahrrans langsam wirklich paradox wurden, fiel auch ihm auf.

„Seine Menschenfrau.“, seufzte Iavenya unterdessen theatralisch, während sie ihr jüngeres Stiefkind in den Armen wiegte. Es hatte Bauchschmerzen, anders würde es nicht einschlafen können...

„Er ist echt gestört.“, erwiderte Irlak grantig und drehte sich zu ihr um, „Hast du schon einmal einen Menschen gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf. Er schnaubte.

„Ich sage dir, nicht einmal du würdest mit so einem eine Nacht verbringen! Und ich mit dieser Kili auch nicht, nein, bestimmt nicht, eher würde ich es mit einer Ziege tun, oder einem Fisch, oder einem Hasen, oder...“

Die Frau hüstelte.

„Hier sind Kinder im Raum.“

Er hielt inne und verzog das Gesicht kurz. Sein älterer Sprössling saß zu seinen Füßen und spielte... nun sah er auf und schenkte seinem Vater einen abgrundtief reinen, unwissenden Blick. Die verstanden das eh noch nicht...

„Aber ich glaube, sie sind gar nicht so dumm.“, entgegnete Iavenya da, weiterhin das Kind wiegend, „Die Menschen, meine ich. Kili, oder wie ihr Name auch immer lauten mag, beeinflusst ihn. Es würde mich nicht wundern, wenn in Wahrheit sie die Fäden zieht.“

Sie sah ihn düster an.

„Unser hohes, den Göttern nahes Volk... geführt von einem Menschenweib.“

Irlak fragte sich kurz, wie viel Macht seiner Natter wohl inne wohnen musste, wenn sie dafür sorgen konnte, dass die Sonne in dem Moment, in dem sie ihren letzten Satz gesprochen hatte, kurz von einer Wolke verdeckt worden war. Vielleicht war es auch nur Zufall... sicherlich. Er brummte und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das ist eine Schande. Von wegen, die Tankanas sind die Elite...“

„Daran würde ich nun nicht unbedingt zweifeln...“, die Frau erhob sich, nun wieder lächelnd, um das eingeschlafene Kleinkind auf seinem Lager abzulegen, „Sie sind bloß nicht resistent gegen äußere Einflüsse... wie jeder andere auch, sie sind keine Götter. Aber sie sind trotzdem anders als alle anderen... ihre Vormachtstellung ist berechtigt, glaube mir das.“

Er missverstand sie und verzog sein Gesicht nahezu gekränkt, bis sie direkt vor ihm stand und sich seufzend an ihn schmiegte.

„Dennoch verstehe ich dich... dass es dir widerstrebt. Darf ich dir... einen Rat geben?“

Er legte die Arme um sie und seufzte leise, denn die Art, in der sie sich an ihm rieb, war wahrlich betörend...

„Immer doch. Ein Mann ist kein Mann wenn er den Rat seiner Frau verschmäht.“

Vermutlich wusste er selbst nicht so genau, wie intelligent der Satz gewesen war, den er gesagt hatte; Iavenya brachte er jedenfalls zum Lächeln, eher sie sprach.

„Ich denke, es gibt nicht viele, die die Lage so sehr durchschauen wie... wir beide. Diese Kili wird unser Volk vernichten und ihr eigenes retten, weil Mahrran ihr vollkommen verfallen ist – und Nadeshda tut seit einer Weile beunruhigend wenig. Es ist also an uns dafür zu sorgen, dass wir nicht alle mit diesem kargen Land sterben... wir müssen das beenden!“

Er hob beide Brauen, als sie mit verengten Augen zu ihm aufsah. Sie war wirklich eine Schlange... aber eine hübsche Schlange, das musste er schon sagen.

„Und wie soll das gehen?“

Ein dämonisches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.

„Indem du versuchst, irgendwie an sie heran zu kommen, dieses niedere Menschenweib... und sie dann tötest. Die Götter sprachen von einem kleinen Halbmenschen in ihrem Bauch... stell dir dieses köstliche Fleisch einmal vor!“

Mit gutem Essen bekam man diesen Mann zu allem, das hatte Iavenya früh bemerkt. Auch jetzt wirkte er nach einem kurzen Augenblick der Irritation interessiert...

„Dann musst du dir aber überlegen, wie ich das am besten anstelle. Ich meine, ich mache es, allein schon für das Fleisch... und für unser Volk, natürlich. Aber ich habe keine Idee, wie ich das anstellen soll...“

Sie strahlte.

„Das überlasse mir, mir wird schon etwas einfallen!“
 

Shiran, weit entfernt, sah Kili derweil in noch keiner ernsthaften Gefahr. Und selbst wenn er das getan hätte, er hätte es trotzdem nicht zu ändern vermocht. Sich in Träume anderer einzuschleichen verbrauchte viel Energie und tat einem selbst wahrlich nicht gut...

Er wollte seine Kraft an diesem Tage zu etwas anderem nutzen. Sanan hatte am Morgen eine äußerst erfreuliche Bitte an ihn gehabt; der würde er nun nachkommen.

„Und du bist sicher, wir sind weit genug vom Lager weg? Ich meine, ich möchte wirklich nicht, dass das einer bemerkt... was würden die denn von mir halten?“

Sein Bruder wirkte nervös und beunruhigt. Er sah es ihm nach, es musste ein schwerer Schritt für ihn gewesen sein, ihn darum zu bitten, und es hatte den Mann überrascht, dass es so früh geschehen war. Er hatte damit gerechnet, natürlich... aber nicht so zeitig.

„Ich würde bemerken, wenn einer uns zu nahe kommt, sei unbesorgt. Außerdem trennen zwei Hügel und eine Baumgruppe uns von den anderen... und außer uns ist sicher keiner wagemutig genug, sich vom Lager zu entfernen. Hier sind überall Spuren von irgendwelchem Getier mit großen Tatzen, das sehe ja sogar ich...“

Der Seher schielte demonstrativ auf ein paar Fußabdrücke im kürzlich eingetrockneten Schlamm unweit von ihnen entfernt und Sanan folgte seinem Blick. Er gluckste.

„Das... war bloß ein wilder Hund. Mit dem würde ich ohne Speer fertig werden... ich dachte, du bist so schlau?“

Er verschränkte grinsend die Arme vor der Brust, sein Gegenüber einige Fuß entfernt schnaubte nur, schien aber nicht erbost zu sein.

„Nein, ich bin nicht schlau. Die Götter sollten mich normalerweise bloß annähernd allwissend machen... tun sie aber nicht, ich bin sehr unbegabt. Ich kann alles erfahren, aber ich muss mich sehr darauf konzentrieren... und bei diesem monströs großen Abdruck konnte ich das nicht mehr.“

Er grinste kurz, dann verzog er das Gesicht einen Moment lang entrüstet, als der Jüngere vollends zu lachen begann. Dabei entblößte er sein abstrus schief gewachsenes Gebiss... das hatten sie gemein. Shiran wunderte sich kurz darüber, dass ihre Ähnlichkeit bisher noch niemandem aufgefallen war, dann gebot er dem Lachanfall seines Bruders Einhalt.

„Was war daran bitteschön so komisch?“

Sanan brauchte etwas, um sich wieder zu beruhigen. Mit den Händen an den Knien abgestützt und nach vorn gebeugt musste er zunächst einmal kurz verschnaufen, wurde aber von den hoch gewachsenen Grashalmen abgehalten, die ihn an der Nase kitzelten und zum Niesen brachten. Verdammt, er war wirklich klein...

„Monströs großer Abdruck!“, machte er dann seinen Bruder nach, „Shiran, dieses Tier reicht mir höchstens bis an die Knie – und das ist bei meiner Körpergröße gewiss nicht hoch!“

Und er musste abermals lachen, als er den Älteren erröten sah.

Irgendwie war er wirklich sehr unbegabt, überlegte sich letzterer unterdessen peinlich berührt und fragte sich, weshalb die Götter ihn überhaupt zu einem Seher gemacht hatten, wenn sie ihn doch so gern auflaufen ließen. Er seinerseits wollte diesem Vieh trotzdem nicht begegnen, aber er verkniff es sich, das vor Sanan zu erwähnen, der daran ohnehin bloß wieder irgendetwas dämliches fand, worüber er sich amüsieren konnte.

„Jetzt reicht es aber einmal.“, murrte er so etwas aufgesetzt beleidigt und verschränkte nun seinerseits die Arme vor der Brust, „Wir haben noch etwas vor. Oder willst du mich jetzt den Rest des Tages auslachen? Soll mir auch recht sein, dann muss ich weniger machen...“

Das reichte, um dafür zu sorgen, dass sein Gegenüber sich wieder zusammenriss und sich, wenn auch nun etwas erschöpft, aufrecht hinstellte.

„Nein, du hast recht.“, räumte es dann ein, „Lass uns anfangen, bevor uns doch noch jemand aus dem Lager bemerkt. Oder der Monster-Hund.“

Er gluckste kurz abermals und Shiran konnte nicht anders, als ebenfalls zu grinsen. Ja, irgendwie hatte er ja auch recht...

„Es reicht, langsam ist es nicht mehr lustig.“, mahnte er ihn dennoch und kratzte sich am Kopf, „Wie dem auch sei. Wir sind heute hier, um etwas die Magie einzuüben, nicht?“

Sanan nickte, einmal tief einatmend und dann wieder ernsterer Miene.

„Gut. Zunächst einmal sei gesagt, dass es für dich nicht ideal ist. Normalerweise ist es unter den Magiern Ehrensache, wenn man selbst gut in der Magie ist, Kindern oder Jugendlichen des eigenen Geburtselements den Zauber näherzubringen. Das Problem ist, ich beherrsche den Wind – und du die Erde.“

„Und was machen wir jetzt?“, erkundigte sich der Jüngere darauf verunsichert und sein Gegenüber winkte nur grinsend ab.

„Das macht es schwieriger, weil ich dir nur die Theorie beibringen, aber dir nichts praktisch zeigen kann. Aber unmöglich ist es nicht.“, er hielt einen Moment inne und musterte ihn, „Wir haben aber auch einen Vorteil. Du bist älter als die meisten Kinder, die ihre Fähigkeiten erlernen – das scheint auf den ersten Blick ein Nachteil zu sein, aber dem ist nicht so. Kleine Kalenao wollen immer so schnell wie möglich alles können und müssen sich alles hart erarbeiten, weil sie noch nicht ganz ausgereift sind... aber das ist eine Voraussetzung für effektive Magie. Du hingegen bist erwachsen, es dürfte dir leichter fallen.“

Im ersten Augenblick war Shiran irritiert, als sich Sanans Gesicht darauf verdunkelte, aber noch ehe seine Götter ihn aufklären konnten, sprach der Jüngere bereits selbst.

„Ich bin erwachsen? Ausgereift? Das heißt... ich wachse also echt nicht mehr? Und werde auch nicht mehr kräftiger? Das... das ist ja grauenhaft!“

Der Seher lächelte matt.

„Nein. Aber das ist ganz normal... ich weiß, es ist schwierig für dich, aber versuche damit aufzuhören, dich mit den Menschen zu vergleichen... du bist kein Mensch. Du wirst niemals in den Genuss der Vorzüge des Menschseins kommen... aber als Kalenao hast du andere Dinge, die das ausgleichen. Sei nicht betrübt...“

Er war es trotzdem, sagte aber nichts weiter dazu. Er würde es ja nicht ändern können, das hatte er verstanden... und trotzdem nagte es an ihm. Unter all seinen Bekannten und Freunden fühlte es sich falsch an so zu sein, wie er es nun einmal war...

„Sei es drum. Bring mir etwas bei, bitte.“
 

Sie hatte es satt. Sie hatte es endgültig satt, jeden Tag da zu sitzen, in ihrem kleinen Raum, und darauf zu warten, dass etwas geschah. Irgendetwas. Sie wusste nicht einmal, worauf sie hoffen sollte. Dass Kajira von selbst zurückkehrte? Unmöglich – wenn er dazu die Möglichkeit gehabt hätte, dann hätte er sie längst genutzt, da war Mabalysca sich sicher. Und nach ihm suchen tat ohnehin keiner... Shiran hatte ihn für sie retten wollen. Jetzt war er selbst fort... Verräter.

Nadeshda heuchelte Mitleid, aber die Lüge stand ihr quasi auf die Stirn geschrieben. Für ihre kleine Schwester war ihr Herz aus Stein, zumindest, solange es Alaji gab. Ja, mit Alaji verstand sie sich gut, diese miese Intrigantin. Ihre jüngere Schwester konnte die Heilerin dafür nicht leiden. Und Kili auch nicht, das seltsame Menschenmädchen, das Mahrran verrückt gemacht hatte.

Sie hielt inne, während sie am frühen Mittag durch einen Außenbezirk des Dorfes stapfte. Dieses elendige Land hinter den Bergen war alles schuld. Alles war in Ordnung gewesen, bis die Götter Shiran gesagt hatten, die Überfischung der Küste ginge zu weit und es wäre an der Zeit, in eine neue Heimat aufzubrechen.

Nadeshda hatte das Dorf mit sicherer Hand und ohne runden Bauch geführt, Mahrran hatte sie dabei unterstützt. Und sie waren gut zu ihrer kleinen Schwester gewesen, die zu diesem Zeitpunkt noch ihren Liebsten gehabt hatte. Kajira... bald würde sie ihn wieder haben. Sie wusste es. Es musste einfach so sein!

Sie würde nicht mehr weiter herum sitzen und sich die Augen ausheulen. Sie hatte keine Tränen mehr. Und ihre Arme taten ihr verdammt weh... aber es lenkte sie nicht mehr ab. Sie wollte auch nicht mehr abgelenkt werden, sie wollte ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

Kajira war fortgegangen, damit er sie haben konnte. Nun ging sie fort, damit sie ihn bekam. Es war gefährlich, aber fair, fand sie. Und niemand würde es wagen, sie aufzuhalten.

Hoch erhobenen Hauptes stolzierte sie durch an den äußersten Hütten des Dorfes vorbei, bewusst ihr hübschestes Kleid und ihren besten Mantel präsentierend und niemanden, der es wagte, draußen zu sein, auch nur eines winzigen Blickes bedenkend. Diese elenden Maden hätten ihr alle helfen können, aber niemand hatte es getan. Nicht einmal die Ekarett-Familie, von der vermutlich niemand mitbekommen hatte, dass der jüngste Sohn der ersten Generation schon seit Monden fehlte.

Verdammt, Kajira war so ein wunderbarer Mann, warum interessierte sich niemand außer ihr für ihn?!

Sie machte auf dem Absatz Kehrt und entschied sich für einen kleinen Umweg, sich allein von ihren Göttern zu dem Haus im Ekarett-Viertel leiten lassend, das sie suchte. Ihr wurde mulmig, während sie durch diese Gassen schritt, die allesamt von Mitgliedern dieses gigantischen Clans bewohnt waren... alle erkannten sie, manche nickten ihr zu, andere duckten sich unter ihrem tödlichen Blick hinweg. Als sie das kleine Haus schließlich erreichte, war sie sich nicht einmal so sicher, welcher der Kandidaten, die es verdienten, einmal zurecht gewiesen zu werden, sich hinter der Tür verbarg. Das war das Gute an ihrem hohen Rang, wenn sie wollte konnte sie jedem erwachsenen Mann ins Gesicht spucken...

Nachdem Mabalysca angeklopft hatte, öffnete ihr jedoch niemand Geringeres als die Natter persönlich, was sie kurzzeitig etwas aus der Bahn riss. Ihr Gegenüber ebenso, es hob zunächst überrumpelt die Brauen, dann weitete es die Augen und verneigte sich ausschweifend.

„Die junge Herrin persönlich! Womit verdienen wir diese Ehre?“, sie richtete sich wieder auf, scheinbar nervös die Finger knetend. Das Mädchen verdunkelte seine Miene absichtlich, nutzte die darauf resultierende Irritation jedoch hauptsächlich dazu, sich zu überlegen, nach wem sie nun am besten fragte. Welcher dieser Spinner nahm bitte die Natter bei sich auf?!

Irlak ersparte ihr die Frage danach, als er hinter seiner augenscheinlich neuen Frau in der Tür erschien und ebenfalls verblüfft leicht den Kopf vor ihr neigte.

„Wie kann ich helfen?“, fragte er höflich und Mabalysca schnappte einmal nach Luft, dann stemmte sie die Arme in die Hüften.

„Gar nicht!“, war die zunächst knappe Antwort, worauf das Paar sich einen schiefen Blick zuwarf, „Du hast dein Glück verspielt, Irlak Ekarett! Du elender Wurm! Ich bin gekommen, weil ich sauer bin, sehr sauer sogar! Hast du deinen Bruder vollkommen vergessen?“

Ihr Gegenüber musterte sie ungläubig.

„Verzeih meine Frage, aber welchen? Kann schon sein, dass ich den einen oder anderen mal vergesse, soll vorkommen, davon ist noch keiner gestorben...“

Iavenya, die leicht mit den Augen rollte, schien ihrerseits zu verstehen, auf wen der unerwartete Gast hinaus wollte. Das Mädchen zischte.

Noch ist vielleicht keiner gestorben, ja! Aber wer weiß, wie lange es noch dauert, bis Kajira es tut?!“

Darauf schlug sich der Mann, offenbar erleuchtet eine Hand gegen die Stirn. Dann machte das auch Sinn...

„Ach ja, verdammt, du bist mit ihm verlobt, oder so, nicht? Jaaa, ja, ich habe nach ihm sehen wollen damals, stimmt schon, da hast du recht, aber ich hatte wirklich, wirklich keine Gelegenheit dazu, diese Menschen sind echt garstig; die lassen einen nicht so einfach an ihr Lager und Kajira haben sie gewiss gut versteckt, sei dir da sicher. Also, es tut mir ehrlich, ehrlich leid, ich wüsste ihn doch auch gern in Sicherheit, das kannst du mir glauben...“

Er verstummte, als die Jüngere ihr Gesicht zu einer wütenden Fratze verzerrte.

„Das könnte ich dir glauben, wenn ich total dumm wäre, was? Um nichts scherst du dich, du Nichtsnutz, Hauptsache, du kannst deine Menschen zerstümmeln, mehr ist dir nicht wichtig! Ich werde nun selbst in das Land dieses seltsamen Volkes ziehen, ich werde mich dem stellen, vor dem ihr euch ja so fürchtet und ich schwöre, falls Kajira noch am Leben ist, werde ich ihn zurückbringen! Und falls er es nicht mehr ist...“

Sie senkte ihr Haupt etwas, den Mann weiterhin diabolisch anvisierend.

„Dann glaube mir, wirst du dafür bluten, dass du etwas hättest tun können, aber nichts getan hast.“

Sie drehte sich schwungvoll um und schickte sich zum Gehen, dem perplexen Paar den Rücken kehrend.

„Wobei ich mir an jemandem wie dir nur ungern die Finger schmutzig machen würde. Ich könnte...“, sie hob eine Hand und ließ darin einen nahezu unscheinbaren Ball aus hellem Licht erscheinen, „... dich ja auch einfach erblinden lassen. Ja, das mache ich vielleicht.“

Dann ging sie.
 

Es war nicht einfach. Nicht, dass Sanan sich die Magie einfach vorgestellt gehabt hätte, aber es war wirklich nicht einfach. Er konnte sie zwar spüren, die Macht, die die Götter des Erdmondes ihm gaben, die einfach so durch seinen Körper floss – das bedurfte bloß ein wenig Konzentration – aber wie er sie kontrollieren sollte, war ihm schleierhaft. Es wäre sicher wirklich von Vorteil gewesen, einen anderen Erdmagier als Lehrer zu haben, aber man durfte ja nicht wählerisch sein, man musste Dankbarkeit zeigen. Das zumindest hatte seine Mutter, die nicht wirklich seine Mutter war, ihm von klein auf beigebracht.

„Das Ding einfach aufzuheben und jemandem an den Kopf zu werfen wäre vermutlich wesentlich einfacher als das hier.“, murrte er beleidigt, auf einen peinlich kleinen Stein starrend, den er mit größter Mühe in der Luft unmittelbar vor ihm leicht bewegte; viel mehr war auch nicht drin.

Shiran, der auf einem etwas größeren Brocken irgendwo im Gras saß und ihm nun zusah, schmunzelte.

„Noch mag das so sein, aber keine Sorge, das wird sich noch geben.“, er klopfte auf den Felsen, auf dem er saß, „Demnächst kannst du auch den bewegen, du wirst sehen. Du hast mehr Talent, als ich angenommen habe – scheinst nach unserer Großmutter zu kommen, die war auch nicht schlecht.“

Sanan brummte bloß, sich weiter auf sein Steinchen konzentrierend. Er musste an die Bestien denken, die sie vor kurzem angegriffen hatten... da hatte es auch Erdmagier gegeben. Und was für welche... manche hatten aus der blanken Erde Stücke gebrochen, die so groß gewesen waren wie die Hütte von Dherac – und die war schon sehr groß – und hatten diese dann mit einer solchen Leichtigkeit und Geschicklichkeit in tödlicher Präzision zu bewegen gewusst. Einer hatte die Erde erbeben lassen... er fragte sich, ob er soweit jemals käme oder ob die Jahre unter den Menschen ihn für solche Dinge zu unempfänglich gemacht hatten. Shiran schien ja begeistert zu sein, aber Sanan selbst war nur wenig überzeugt...

„Wir sollten wieder zurückkehren.“, versetzte der Seher da plötzlich nachdenklich in Richtung des Lagers sehend, „Man vermisst uns vermutlich bald. Außerdem sind die Zwillinge auf der Suche nach dir... und ich wollte noch einmal zu Moconi und Kurapi. Habe ich eigentlich gestern Abend schon gewollt, aber die waren beschäftigt...“

Womit die beschäftigt gewesen waren konnte der Jüngere sich beinahe denken. Irgendetwas musste Moconi ja schon an sich haben...

„Na gut, dann... au, verdammter!“

Shiran lachte amüsiert, als Sanan jammernd auf einem Fuß durch das hohe Gras sprang, sich den anderen, auf den er seinen Übungsstein hatte fallen lassen, mehr schlecht als recht haltend.

„Du darfst die Magie nicht einfach aufheben, wenn du sie nicht mehr brauchst! Du musst sie ausklingen lassen, du Tölpel!“

An sich war das logisch, trotzdem hatte er damit gerechnet, dass das schief gehen würde. Der kleine Bruder ließ sich jammernd ins Gras fallen.

„Warum hast du mich nicht gewarnt?!“

„Das war Rache für den Monster-Hund, mein Lieber.“
 

Vermutlich nahmen sie sie gar nicht ernst, dachte Mabalysca sich bitter, als sie ihren ursprünglich geplanten Weg wieder einschlug. Aber sie konnte es... sie konnte diesen elenden Wurm erblinden lassen, mit nur einer einzigen Handbewegung. Sie war gut mit der Lichtmagie...

Außerdem fühlte sie sich nun besser. Gestärkt, irgendwie, denn sie hatte einer der vielen elenden Lasten in ihrem Inneren Luft gemacht. Sollten sie sie doch für verrückt halten!

Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie weiter dachte. Jetzt würde sie es selbst tun, sie würde ihren liebsten Kajira zurückbringen.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als sie das Ende ihrer Heimat, wie sie es für sich nannte, erreicht hatte.

Hie ragten die äußersten Berge in den Himmel, grau-schwarze Kolosse, die an manchen Tagen bläulich schimmerten und wenn es trüb war wie das Tor zur nächsten Welt wirkten. Sie würde den kleinen Pass nehmen, nicht den breiten, den Shiran im letzten Mond – oder war es sogar noch länger her? – mit ihrer Armee genommen hatte. Sie selbst brauchte nicht so viel Platz wie eine Horde blutdurstiger Männer, bei allen Göttern, und so war sie auch schneller.

Sie warf einen raschen Blick auf die allerletzten, winzigen Häuser, die weit auseinander, teilweise eng an den Fels geschmiegt, in der Nähe des Aufstiegs standen. Sie waren so schäbig... nicht so schäbig wie die der Unterschicht am Strand, aber schäbig genug. Vielleicht etwas sicherer.

Die junge Frau seufzte. Es war wirklich an der Zeit, dieses Land aufzugeben, sie konnte es sich nicht weiter schön reden. Was musste das auch alles so schwierig sein?
 

Sie hatte wenige Schritte getan, da hörte sie ihren Namen, aber die Stimme erkannte sie nicht. Zunächst überlegte sie sich, ob sie den Ruf einfach ignorieren und weiter gehen sollte, aber ihre Götter wiesen sie dazu an, sich umzudrehen. Darauf hatte sie, nun etwas höher stehend als zuvor, einen hübschen Blick auf das Dorf, aus dem sie stammte. Und das Meer...

Davon einen Moment gefesselt, wurde sie von dem anderen Mädchen, das mit einem Mal am Fuße des Passes stand und zu ihr aufsah, überrascht. Sie kannte sie nicht wirklich – wurde aber erkannt, was nun nicht wirklich verwunderlich war.

„Du... bist doch Mabalysca? Die junge Herrin?“

Konfus nickte sie, als ihr Gegenüber den Kopf schief legte. Irgendwer musste sie schon einmal erwähnt haben, zumindest klangen die Worte ihrer Götter so...

„Wenn ich mir die Frage erlauben darf, wo gehst du... oder muss ich Ihr sagen? Ach, wo will die junge Herrin hin?“

Wer auch immer sie war, irgendwie war sie zu neugierig. Das Gesicht der Kleineren verdunkelte sich, als sie der anderen einfach den Rücken kehrte.

„Du darfst dir diese Frage leider nicht erlauben, tut mir leid.“

Und sie ging.
 

Sie war nicht so unwichtig, wie sie es sich gedacht hatte. Nadeshda ihrerseits bemerkte ihr Fehlen recht rasch und konnte eine gewisse Beunruhigung angesichts der labilen Psyche ihrer kleinen Schwester nicht unterdrücken. Nachdem Alaji ratlos, Rayada nicht auffindbar und Kili zu hübsch zum antworten gewesen war, wandte sie sich mit üblem Bauchgefühl – das hatte sie ihrem scheinbar recht pummeligen Baby sei Dank in letzter Zeit allerdings oft – an ihren Bruder.

Mahrran saß an jenem Mittag im Kochzimmer am Tisch über ein paar von der Natter gezeichneten Karten gebeugt. Er rührte sich nicht, auch nicht, als seine Zwillingsschwester in der Tür erschien, das einzige, was er zwischendurch tat, war husten, aber das tat er ohnehin schon den ganzen Tag. Selbst Schuld, wenn man der Meinung war, als Kind des Wassermondes ohne weiteres befürchten zu müssen Ewigkeiten im eiskalten Regen herum rennen zu können, dachte die junge Frau bei sich, verkniff sich aber, es auszusprechen und räusperte sich stattdessen lieber dezent. Mahrran zuckte darauf zusammen und sah zu ihr auf, irritiert die Brauen senkend.

„Was?“

Auf die liebevolle Begrüßung hin konnte sie sich einen bissigen Kommentar dann doch nicht mehr verkneifen.

„Warum tust du so, als würdest du die Karten studieren, du erkennst doch ohnehin nichts darauf...“

Er ging nicht darauf ein, hustete kurz und grinste dann.

„Hast du nichts besseres zu tun, als mich bei der Arbeit zu stören? Einer muss sie ja erledigen, nachdem du so... untauglich wurdest.“

Sein auffälliges Schielen auf ihren Bauch ignorierte sie gekonnt mit dem Gedanken, dass er sowieso nichts sah und verschränkte die Arme vor der Brust – so gut es ging.

„Egal, ich bin nicht hier, um mich mit dir zu streiten. Hast du Mabalysca gesehen?“

Darauf entspannten sich seine Gesichtszüge und er kratzte sich kurz nachdenklich am Kinn, ehe er den Kopf schüttelte.

„Nein. Höchstens heute Morgen... aber da war es noch ziemlich früh. Ich kann dir nicht sagen, wo sie ist.“, er wandte sich wieder seinen Karten zu, „Warum? Brauchst du sie für etwas?“

Nadeshda schnaubte.

„Das nicht, nein. Aber ich bin ehrlich gesagt etwas besorgt, du wirst wohl bemerkt haben, wie sie in letzter Zeit so ist...“

In jenem Moment öffnete sich die knarrende, hölzerne Hintertür und Rayada, beladen mit zwei Körben, in denen sich wohl Lebensmittel befanden, betrat den Raum.

„Guten Tag!“, wünschte sie fröhlich und stellte ihr Gepäck neben der Feuerstelle ab.

„Hast du Mabalysca gesehen?“

Sie stellte sich verwirrt wieder aufrecht hin, zunächst einmal die Finger von ihrem lieb gewonnen Arbeitsplatz lassend.

„Heute Vormittag zum letzten Mal. Sie hatte ziemlich schlechte Laune, wenn ich mir das erlauben darf...“

Die Zwillinge tauschten einen kurzen Blick aus. Schlechte Laune war etwas, was normalerweise nicht zu dem Mädchen passte. Sie war meist fröhlich oder auch deprimiert – was in letzter Zeit wohl ihr trauriger Dauerzustand gewesen war – dass sie sauer war, war neu.

„Irgendwie habe ich das dumpfe Gefühl, sie ist im Begriff, etwas Dummes zu tun...“

Mahrran seufzte. Dann erhob er sich, packte die Karten zusammen und legte sie Nadeshda in die Hand, sie eines ausnahmsweise ernsten und vollkommen spottlosen Blickes bedenkend.

„Rayada und ich suchen nach ihr. Wenn du dich schon nicht zeigen kannst, dann mache dich immerhin so nützlich und lege die hier in mein Zimmer.“

Die Kleinere verzog kurz das Gesicht, wagte jedoch nicht, zu widersprechen.
 

Mabalysca war nicht weit gekommen. Sie beschleunigte mürrisch ihren Schritt, als die Stimme des seltsamen Mädchens, das sie hatte aufhalten wollen, wieder hinter ihr erschallte. Es rief nach ihr... scheinbar war es ihr gefolgt, jedoch erst etwas später, sonst hätte es sie bereits längst eingeholt gehabt.

Was wollte die? Sie sollte sie gefälligst in Ruhe lassen... etwas beunruhigt begann sie zu rennen, was dank der Steigung des Weges nicht unbedingt einfach war. Ihre Götter sprachen deutlich... sie war nicht allein, da war noch jemand bei ihr, der nicht nach ihr rief, von dem aber irgendeine Gefahr ausging.

Als sie abrupt ausgebremst wurde, sodass sich unter ihren Füßen kleines Geröll löste und ihre Verfolgerin weiter unten kurz erschrocken quietschte, erkannte sie, warum. Der schwarze Rauch, der sie kurz umgab, ließ sie einen Moment lang an ihre ältere Schwester denken, doch dass es sich um diese nicht handeln konnte, wurde ihr klar, als sich die Person unmittelbar vor ihr wieder materialisierte und sich als junger Mann herausstellte, den sie zumindest flüchtig kannte. Zerit, der die Sprache der Menschen besser als seine eigene beherrschte.

Er musterte sie einen Moment lang aus seinen eigentümlichen, stechend gelben Augen streng, ehe er sprach, was er, wie sie mitbekommen hatte, von selbst eher ungern tat.

„Du kannst Kajira nicht allein zurückbringen. Dieses Land ist zu gefährlich für ein einzelnes Mädchen.“

Mabalysca wollte sich darüber empören, entschloss sich dann jedoch prompt, ihre erste Reaktion herunter zu schlucken und es anders zu versuchen. Ihre Züge entspannten sich.

„Also...“, sie war etwas außer Puste, „... möchtest du... mir anbieten... mich zu begleiten? Zu gütig... gern!“

Er senkte seine Brauen gefährlich. Unterdessen näherten sich auch die Schritte des anderen Mädchens, das schließlich, ebenfalls nach Luft ringend, neben Zerit erschien, sich erschöpft durch das blonde Haar streichend.

„Daran habe ich nicht gedacht. Warte ab, was sich ergibt. Du bringst dich ohne die geringste Chance auf Erfolg in Lebensgefahr.“

Seine Gefährtin, wie es schien, nickte mit großen Augen.

„Ja doch! Ich... tut mir leid, dass ich... dich verraten habe! Aber du kannst doch nicht... also... Himmel!“

Sie schüttelte sich und die Blauhaarige zischte. Schon wieder dasselbe! Schon wieder vertröstete man sie! Schon wieder nahm man sie nicht ernst!

„Sag was du willst, es ist mir egal, ich habe es oft genug gehört!“, ihr traten gegen ihren Willen die Tränen in die Augen, „Es reicht! Ich habe es satt! Es geht euch nichts an, was ich tue, lasst mich verdammt noch einmal durch oder ihr werdet es bereuen!“

Es schnürte ihr die Luft ab, dass dieser miese Kerl so überhaupt nicht beeindruckt zu sein schien. Er war selbst ein ziemlich guter Magier, vielleicht würde er sich gegen sie behaupten können oder er glaubte es zumindest, kam ihr, aber auch daran schien er nicht zu denken, als er ihr betont ruhig in seinem seltsamen Menschen-Akzent antwortete.

„Natürlich geht es mich etwas an, was du tust. Ich arbeite für deine Geschwister und ich werde nicht dadurch in Ungnaden fallen, weil ich es zugelassen habe, dass du an meinem Haus vorbei in den Tod rennst.“

Seine blonde Begleiterin ballte die Hände schnaubend zu Fäusten.

„Hast du dich schon einmal gefragt, woran es liegen könnte, dass alle dir dasselbe erzählen, Mabalysca? Vielleicht sagen sie das alle nur, weil es stimmt!“

Weil es stimmt. Sie keuchte.

„Das einzige, das hier stimmt, ist, dass ihr alle unter einer Decke steckt, es ist euch egal, was aus Kajira wird, es ist egal, wie ich mich dabei fühle, Hauptsache, ihr müsst nichts tun, ihr könnt euch um euren eigenen Mist kümmern! Es ist genug!“

Und noch ehe einer der anderen beiden hätte reagieren können, hatte sie sich ihrem Zorn hingegeben und sich einfach auf ihr Gegenüber gestürzt. Diese vorlaute Göre, die von nichts eine Ahnung hatte...

Sie warf sie um, noch ehe sie schreien konnte und sprang auf sie, in einer Hand ihr bekanntes Licht, in der anderen eine lodernde Flamme erscheinen lassend, die spitzen Zähne über der anderen, die nach der harten Landung auf dem felsigen Untergrund erstaunlich unberührt schien, fletschend.

„Du hast genug gesagt, du hältst mich nicht auf! Deine neugierigen Augen werden niemanden mehr sehen und dein freches Maul niemanden mehr verraten können! Das ist der Tag an dem du zum letzten Mal die Sonne gesehen hast!“

Sie setzte an, um der Blonden mit dem gleißenden Licht die Augen zu zerstören, doch noch ehe sie ihre Hand hatte vollständig herab senken können, keuchte ihr Opfer empört.

„Das glaube ich nicht!“

Und im nächsten Moment prasselten gefühlte tausend kleinere und größere Steine auf Mabalysca herab, die ihr blaue Flecken und Blutergüsse schlugen und sie vor Überraschung die Lichtmagie verschwinden lassen ließen. Die wagte es, sich mit plumper Erdmagie zu wehren?!

Ihre Flamme schlug gefährlich auf.

„So nicht, du Made!“

Doch abermals kam sie nicht dazu, den Zauber auf die andere loszulassen, denn in jenem Moment wurde das Feuer von einem eisigen Schatten gelöscht und ehe sie ein neues hätte entstehen lassen können, zog man sie von dem anderen Mädchen herunter.

Zerit umklammerte sie mit einer Kraft, der sie in ihrer zierlichen Statur nicht gewachsen war und presste ihre Arme an ihren Körper. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, sich zu wehren, dennoch strampelte und schrie sie. Vielleicht bemerkte es ja jemand, dann konnte sie ihm an dieser Stelle schlimmes anhängen...

„Wage es nicht, meine Frau noch einmal als Made zu bezeichnen.“, seine Stimme war noch immer ruhig und nicht laut, dennoch hatte ihr Ton etwas, das sie inne halten ließ, „Vielleicht solltest du deine eigenen Augen zuerst öffnen, bevor zu dich dazu entscheidest, die anderer zu zerstören. Die Welt ist ungerecht zu dir, was? Niemand interessiert sich für dich, nicht wahr? Du Arme. Du bist die einzige Person auf der Welt, die Probleme hat, das ist wirklich bitter.“

Während er sprach, beobachtete sie wie durch einen Vorhang aus unbekannten Stoffen, wie die Blonde sich wieder erhob, sich jammernd den Hintern rieb und dann lieber etwas Abstand zu ihr hielt.

„Was... sagst du da für seltsame Dinge, du kennst mich doch gar nicht, du weißt doch gar nicht, was...“

„Ich weiß genug, meine Götter sprechen gern zu mir. Die Dinge, die ich sage, sind nicht seltsam, ich denke, du verstehst sie sehr gut. Du weißt doch, wie dein Volk im Moment leidet. Du weißt, wie sehr die Männer um die richtige Vorbereitung für den nächsten Angriff kämpfen müssen. Du weißt – besser als ich – dass Nadeshda irgendein Problem hat, das sie zur Passivität zwingt. Du weißt, dass es für Mahrran demzufolge nicht leicht sein kann. Du weißt, dass es schwierig für den Seher gewesen sein muss, sich dem Feind anzuschließen. Und du weißt, dass der Feind im Moment am meisten leidet.“

Er verfestigte seinen Griff um sie, als sie zu schluchzen begann. Sie wollte es nicht hören, er sollte sie in Ruhe lassen, sie hatte einen weiten Weg vor sich, verdammt...

„Unsere Welt ist groß, sogar verdammt groß, Mabalysca. Früher oder später kommt der Zeitpunkt, an dem man lernen muss, dass sie sich nicht bloß um einen selbst dreht – selbst, wenn man Tankana heißt. Kajira geht es gut. Er wäre längst zurückgekehrt, wenn es so einfach wäre, wie du dir das ausmalst in deinem kindischen Trotz. Dein Verlobter ist ein Mann, er harrt aus und schöpft seine Stärke aus Gedanken an dich. Lass sie nicht vergebens sein und komme zur Vernunft. Kann ich dich los lassen?“

Sie nickte schwach, wankte jedoch zunächst bedrohlich, als er sie los ließ, und wurde überraschenderweise von Zerits blonder Frau gestützt, die ihr allem Anschein nach nicht sonderlich böse zu sein schien.

Der Mann fuhr sich seufzend durchs Haar.

„Lange genug aufgehalten.“

Die Frauen verstanden ihn, als prompt Mahrran den Pass hinauf geeilt kam, seiner kleinen Schwester unmittelbar darauf einen wütenden Blick schenkend.

„Du dummes Kind, was machst du? Wir haben uns um dich gesorgt!“, er packte sie unsanft am Handgelenk, „Das versuchst du nicht noch einmal, sonst setzt es was, aber ordentlich.“

Da er ohnehin vermutlich ungefähr wusste, was geschehen sein musste, nickte er Zerit nur kurz zu, der die Geste erwiderte, und eilte mit dem verwirrten Mädchen von dannen. Das Paar ließ er zurück.

„Woher... wusstest du so viel darüber?“ Sundri sah verwundert zu ihrem Liebsten auf, als die beiden Tankanas außer Hörweite waren. Ihr Partner hob bloß die Brauen.

„Die Götter haben mir in der letzten Nacht viel darüber gesagt. Weshalb, weiß ich nicht.“
 


 

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Ah, das war glaube ich das Mabalysca-Kapitel... ^^

Leben

Auch wenn es sicherlich so einige Vorteile mit sich brachte, dass Kurapi in Moconis Hütte untergekommen war, so ließ es sich nicht vermeiden, dass man den Rat dennoch das ein oder andere Mal einberufen musste. Spätestens, wenn die Jagdgruppe, die von dem großzügigen Angebot des Häuptlings des Kojotenstammes noch nichts wusste, zurückgekehrt war. Momentan war der Rat jedoch sehr unvollständig. Keiner wusste so genau, wessen Idee es gewesen war, deshalb schlechtere Jäger in die Beratungshütte einzuladen, letztendlich saß jedoch selbst Teco mit dabei; nicht, dass es jemanden gestört gehabt hätte, die Laune des Mannes schien auch minimal besser durch die Bitte um seine Teilnahme.

„Wie habt ihr nun also vor, uns zu unterstützen? Das ist vorab wohl das Wichtigste.“, übernahm Dherac, etwas eingeschnappt über die Tatsache, dass er nicht auf Jagd gedurft hatte, Porit aber schon, gleich zu Beginn das Reden an Kurapi gewandt. Der junge Mann hockte auf etwas eigentümliche Art und Weise neben seinem persönlichen Gastgeber. Vielleicht war es in seinem Stamm Sitte, so zu sitzen... ach, nicht ernsthaft.

„Nun ja, das ist die Sache. Wir haben viele starke Männer. Krieger. Sie sind ohne euch beleidigen zu wollen beinahe allesamt größer und wohl auch stärker als ihr... außer mir, nun gut.“

Sanan verzog bitter das Gesicht. Oh ja, er wusste, wie er sich fühlte... verdammt, aber immerhin stämmig war der! Irgendwie konnte er sich mit Shirans Worten nicht zufrieden geben.

Sein Unbehagen wurde zu seiner Überraschung prompt bemerkt und er blickte verblüfft neben sich, wo Novaya saß, der ihm kurz auf die Schulter geklopft hatte, ihn nun jedoch auffallend ignorierte.

„Gut. Aber denkst du, wir können diese Bestien besiegen, nur weil unsere Anzahl mit einem Mal größer ist?“

Der Blick aus Dheracs einem verbliebenen Auge huschte kurz auch zu Shiran, der jedoch bloß regungslos dasaß und keinerlei Anstalten machte, Kurapi, dessen Antwort wohl oder übel nur aus Mutmaßungen bestehen konnte, zu helfen. Er konnte Karem sein Misstrauen diesem seltsamen Kerl gegenüber nicht verdenken...

Der Häuptlingssohn aus der Ferne schien sich jedoch auch keinerlei Unterstützung zu erhoffen, als er ohne zu zögern antwortete.

„Das allein wird wohl nicht helfen, nein. Was ihr, nein, wir brauchen ist eine gute und sichere Strategie... und bei dem Entwurf dieser werden mein Vater, Tejet und Glawis – ein sehr intelligentes und wichtiges Paar aus meinem Stamm – sehr hilfreich sein. Wie bereits erwähnt, wir haben mit diesen Kalenao schon Bekanntschaft machen dürfen... und wir haben Erfahrungen daraus gezogen.“

Zufrieden mit seiner Antwort nickte Dherac ihm zu. Moconis Blick huschte einmal über die Versammlung.

„Weitere Unklarheiten?“

Kurz herrschte Schweigen, dann hob Semliya die Hand. Als der Häuptling ihm zunickte und ihm somit das Wort erteilte, war seine Mimik starr, ohne einen einzigen seiner Gedanken zu verraten.

„Dass der Stamm am Horizont bereits Erfahrung mit den Bestien hat, glauben wir sehr gern.“, begann er, „Aber um ehrlich zu sein klingen Kurapis Worte doch ein wenig zu schön, als dass sie wahr sein könnten. Wer sagt uns, dass sie sich nicht mit den Kalenao gegen uns verschworen haben und uns letztendlich von zwei Seiten umbringen wollen?“

Kurapi weitete zunächst überrumpelt die Augen, dann verzog sich sein Gesicht vor Empörung. Shiran kam ihm im Sprechen jedoch zuvor.

„Ich sage es. Es ist ein reines Angebot.“

Daraufhin wandten die Zwillinge ihren Blick dem Seher zu. Novaya zuckte kurz mit einer Braue.

„Und wer sagt uns, dass du nicht auch eigentlich im Namen deiner seltsamen Herrin hier bist?“

„Das wäre ich.“

Sanan starrte den mit Fellen bedeckten Boden vor sich an, als er sprach. Dheracs Söhne schenkten ihm darauf einen kurzen Blick, dann nickten sie erstaunlich einsichtig und schwiegen.

Als darauf ein anderer Mann, in der Annahme, dieses Thema sei nun erledigt, zu sprechen ansetzen wollte, erhob sich Kurapi abrupt und verließ die Ratshütte hastig in einem Gang, der ebenso seltsam war, wie seine Art zu sitzen. Die anderen sahen ihm verblüfft nach.
 

„Was... war denn das?“, wagte Moconi dann ungewollt dümmlicher klingend, als die Frage in jenem Augenblick eigentlich war, zu fragen, doch es fiel ohnehin kaum jemandem auf. Joru hob bedauernd seine Brauen, dann schnaubte er verächtlich in Richtung der Zwillinge, die, so ließen ihre gelangweilten Ausdrücke vermuten, sich wohl keiner Schuld bewusst waren.

„Kurapi ist sehr stolz auf seinen Stamm. Wenn man jenen in Frage stellt, dann nimmt er einem das sehr übel. Semliyas Frage hat ihn beleidigt.“

Darauf wandten sich ihm die beiden nahezu identisch aussehenden jungen Männer dann doch zu.

„Oh.“, kam dann, „So eine Mimose.“

„Leiser, Bruder, am Ende lauscht er am Eingang. Du verletzt ihn...“

Der Häuptling räusperte sich leicht entnervt, um die Aufmerksamkeit wieder zurück zu erlangen, während Joru irgendetwas vor sich hin brummte und Dherac seinen Söhnen einen mahnenden Blick schenkte.

„Kann ich dir die Versammlung einen Moment lang überlassen?“

Kurz herrschte Schweigen, dann kam eine gewisse Verwunderung darüber auf, dass Shiran, obwohl man ihn doch offensichtlich angesprochen hatte, nicht reagierte. Schließlich tat er es doch, jedoch anders, als von der Mehrheit erwartet. Er sah zu seinem Nebenmann und hüstelte.

„Der Häuptling redet mit dir, Teco.“

Der Angesprochene weitete einen Augenblick lang perplex die Augen, dann wandte er sich seinem Cousin zu, der tatsächlich ihn zu meinen schien. Verdammt, er war ein Krüppel, ohne Stützen konnte er nicht mehr als drei Schritte gehen, was sollte das?

„Ich schätze, das ist zu viel der Ehre.“, brummte er so zerknirscht und Moconi erhob sich und grinste matt.

„Nein, denke ich nicht. Dein Kopf funktioniert schließlich noch.“

Dann ging er.
 

Er wäre sich sehr unhöflich vorgekommen, hätte er Kurapis Verhalten einfach ignoriert, auch wenn er seine heftige Reaktion nicht ganz nachvollziehen konnte. Der fremde Jäger war nicht weit gekommen – oder hatte einfach auch nicht weiter weg gewollt – er war einfach zur Häuptlingshütte gegangen, die nur unweit von der Ratshütte entfernt lag. Nun saß er düster dreinschauend davor und stocherte mit einem kleinen Ast in der Asche des erloschenen Kochfeuers herum, nicht aufsehend, als sein Gastgeber erschien und sich prompt neben ihn setzte.

„Warum bist du weggerannt?“, erkundigte der sich direkt, „Doch nicht etwa wegen dieser beiden gestörten Kinder?“

Er kam sich vor wie ein Vater, der sein beleidigtes Kind davor bewahren wollte, aus Wut das Lager zu verlassen und in die Prärie zu rennen, weil irgendetwas gegen den Willen seines Dickschädels geschehen war. Kurapi hatte auf eine seltsame Art wirklich etwas kindliches an sich, ohne dabei wirklich kindisch zu wirken. Er war eine seltsame Person, Moconi war sehr auf die anderen Menschen aus seinem Stamm gespannt.

„Wie konnte er uns etwas derart widerliches unterstellen?!“, fragte der Jüngere da säuerlich, aber ruhig zurück und sah zu seinem Nebenmann auf, das Quälen der Feuerstelle einstellend. Der Häuptling seufzte theatralisch.

Irgendwo verstand er ihn auch. Wenn er so darüber nachdachte, dann hätte es sicherlich auch seinen Stolz verletzt, wenn er eine weite Reise auf sich genommen gehabt hätte, um Fremden Hilfe anzubieten und man ihm dann solche Worte an den Kopf geworfen hätte.

„Die Zwillinge, besonders Semliya, haben scharfe Zungen. Sie nehmen keine Rücksicht, auf niemanden, außer auf sich gegenseitig, wenn ihnen etwas in den Sinn kommt, dann sprechen sie es aus. Du darfst das nicht so wichtig nehmen.“, er kratzte sich leicht lächelnd am Kopf, „Natürlich sind wir alle skeptisch – das sollte dir klar sein – aber glaube mir, unsere Dankbarkeit, und die Hoffnung, die du und Joru uns gegeben habt, überwiegen bei den meisten. Wirklich.“

Er legte ihm einen Arm um die Schulter und Kurapi seufzte theatralisch.

„Ich bin sehr gereizt. Ich habe Schmerzen...“

Er zog die Beine etwas verlegen an und der Ältere lachte doof. Oh ja, das konnte er sich denken, das war vollkommen normal...

„Tut mir Leid...“, bekundete er dennoch und darauf musste auch sein Gast gegen seinen Willen lächeln.

„Ihr habt wahrlich seltsame Leute in diesem Stamm.“, wechselte er dann das Thema, „Der Kalenao-Junge hat sich sofort angesprochen gefühlt, als ich erwähnt habe, dass ich nicht dem Durchschnitt unserer Jäger entspreche. Dabei ist das bei ihm doch etwas ganz anderes. Irritierend.“

Er schüttelte den Kopf und änderte etwas schwerfällig seine Sitzposition, indem er seine Beine wieder ausstreckte. Verdammt, irgendwie musste das doch gehen...

Moconi dachte unterdessen angestrengt nach, wen sein Gast meinte; Kajira rannte irgendwo im Lager herum, der war überhaupt nicht anwesend gewesen, und Shiran wirkte zwar etwas jünger, als er war, aber auch nicht mehr wie ein Junge. Es musste sich um einen Irrtum handeln. Kurapi hatte von seiner Statur gesprochen... oh, natürlich.

Der Häuptling lachte.

„Kalenao-Junge, du meinst Sanan!“

Sein Nebenmann, der nun dabei war, etwas verzweifelt hat seiner Hose herum zu rücken, sah kurz auf und zuckte mit den Schultern.

„Sanan, meinetwegen. Ich kenne ihn ja nicht.“

Moconi schüttelte lächelnd den Kopf.

„Sanan ist aber kein Kalenao. Er sieht vielleicht etwas jünger aus als er ist, aber... ah.“, sein Ausdruck wurde ernster, „Wir fanden ihn als Baby. Wir haben immer vermutet, dass jemand von euch ihn ausgesetzt hat, aber wir waren uns nie einig, warum.“

Er erntete einen konfusen Blick. Irgendwie hatte Kurapi das Gefühl, sie redeten hier etwas aneinander vorbei.

„Wir setzen keine Babys aus.“, erklärte er gezwungen gefasst, denn er wollte sich nicht noch einmal so aufführen wie zuvor; Moconi meinte das sicherlich nicht so, wie es in seinen Ohren nun klang, schalt er sich. „Niemals. Nicht einmal wenn sie krank oder verkrüppelt sind oder wenn eine Frau eines von dem falschen Mann bekommt. Babys sind neues Leben. Egal wie sie sind, sie sind immer gut. Wir verschenken dieses neue Leben niemals. Keiner von uns – oder vor allen Dingen keine.“

Das hatte gesessen. Der Unglauben des anderen war förmlich spürbar, als er seinen Gast mit leicht geöffnetem Mund anstarrte. Dann nahm er seinen Arm wieder von Kurapis Schulter und fuhr sich mit seinen Händen durch sein Gesicht.

„Ach Himmel!“, seufzte er dann, „Und wir haben uns jahrelang gegenseitig Lügen erzählt! Da hat in Wahrheit wohl eine von uns das Ganze inszeniert, weil... ach, ich weiß nicht warum, ich war noch zu klein, ich erinnere mich nicht. Und wir dachten ewig, Sanan stamme von woanders!“

Er lachte und schüttelte den Kopf. Kurapi, der seine Sitzposition unterdessen abermals geändert hatte, schüttelte ebenfalls den Kopf; jedoch über seinen falschen Rückschluss.

„Sanan ist garantiert kein gebürtiges Kind eures Stammes. Er ist ein Kalenao-Junge. Ganz sicher.“

Es verwunderte ihn nicht, dass Moconi ihn darauf verwirrt, vielleicht etwas angewidert und auch empört ansah. Er verstand ihn in diesem Punkt wohl nicht – das taten jedoch in der Tat nur sehr wenige, musste er sich eingestehen.

„So ein Unsinn! Wie kommst du auf so etwas, du hast keine zwei Wörter mit ihm gewechselt!“

„Aber ich war schon mehrmals in seiner Nähe.“, der Jüngere legte den Kopf leicht schief, „Das hat gereicht. Ich spüre, dass er ein vollwertiger Magier ist. Er ist ein Kalenao, durch und durch. Bei einem Himmelsblüter wird mir nur flau im Magen, Kalenao können schon einmal den Schwindel in einem aufkommen lassen. Er fühlt sich so ähnlich an wie Shiran.“

Davon war Moconi dann gänzlich überfordert.

Fühlte sich an? Flau im Magen, schwindelig? Langsam wurde er ihm etwas unheimlich.

„Ich habe eine Gabe.“, erklärte er dann lächelnd, ohne irgendwie eingebildet zu klingen, und entschied sich letztendlich dafür, doch seine Beine anzuziehen und mit den Armen zu umklammern, „Ich kann spüren, was mein Gegenüber ist. Und wie stark es als das, was es ist, ist. Menschen spüre ich bloß, wenn sie eine sehr, sehr starke Seele haben. Himmelsblüter... wie gesagt. Flau im Magen kann sich aber zu allen möglichen schmerzhafteren Varianten davon steigern, wenn der Himmelsblüter sehr stark ist. Und gewisse Kalenao können mich ohnmächtig machen.“

Geplättet von seiner Erklärung fiel Moconi darauf zunächst keine Erwiderung ein, so fuhr er einfach fort.

„Shiran macht mir zu dem Schwindel Kopfschmerzen. Sanan nicht, aber dafür ist das Schwindelgefühl etwas stärker... aber diese... Energie, die die beiden umgibt, die ist sich sehr, sehr ähnlich, wirklich. Es ist auffallend, ich nahm an, sie seien irgendwie verwandt, sie leben soweit ich weiß schließlich auch zusammen und gleichen sich sehr. Äh – alles in Ordnung? Ich meine, du... schaust etwas seltsam...“

Diesen Blick hatte er zum letzten Mal gesehen, als er seinem Vater etwas verwirrt offenbart hatte, dass er aus Versehen bei der Kleinwildjagd eine Bisonkuh erlegt hatte – damals war er vier Jahre alt gewesen, das war also bereits etwas her. In dem mit extrem abenteuerlich abstehenden Haar bedeckten Kopf des Häuptlings schien es gerade heftig zu arbeiten... dann antwortete er schließlich.

„Einen Augenblick bitte.“, forderte er zunächst, „Du sagst, du spürst, wer was ist und wie sehr und... wie auch immer. Davon habe ich noch nie gehört, aber ich sehe keinen Grund für dich, mich anzulügen, also... beeindruckend.“

Darauf senkte Kurapi bescheiden sein Haupt ein wenig. Man hatte es von jeher seltsam gefunden, dass er das konnte. Er spürte viele Dinge... er wusste genau so wie die wilden Tiere auch, wann der nächste Sturm kam. Die alten Wetterbeobachter in seinem Stamm schätzten das absolut nicht...

„Und dann...“, fuhr Moconi fort, „Sanan. Ich meine... ich verstehe das nicht. Er war immer ein Mensch, ein normaler Mann unseres Stammes! Wie kann das sein?“

Darauf hatte sein Gast keine Antwort parat und nachdem er mit den Schultern gezuckt hatte, sprang der Häuptling auf und eilte zurück zur Ratshütte, gefolgt von dem nun leicht verwirrten Kurapi. Er wollte nun Gewissheit...

Als er die Felltür öffnete, drangen rege Gespräche nach außen. Offenbar wusste Teco, wie man die träge Runde anheizte... doch darum ging es nun nicht.

„Sanan!“, schrie er, um die anderen zu übertönen, „Komm nach draußen!“

Dann ließ er das Fell wieder zufallen und wartete gemeinsam mit seinem Gast darauf, dass das Objekt der Verwirrung bei ihnen auftauchte, was letzteres dann auch einige Augenblicke später irritiert tat.

„Ja?“

Er sah verwundert zwischen seinem Häuptling und dem Fremden her und ahnte augenscheinlich nicht einmal, worum es ging. Moconi verschränkte die Arme vor der Brust, ihn eines tiefen, prüfenden Blickes bedenkend.

„Wer bist du und was bist du, Sanan?“

Das schien dann auf etwas fruchtbareren Boden zu stoßen. Er weitete die blauen Augen, entsetzt zu Kurapi sehend.

„Oh nein, du... du hast uns gesehen und nun verraten, nicht wahr? Verdammt, das war echt mies von dir!“

Dabei hatte Shiran ihm doch versichert, dass niemand sie bemerken würde... aber irgendwie war auf seine Götter ohnehin nicht so wirklich Verlass, was wunderte es ihn.

Kurapi schüttelte unterdessen den Kopf, nun selbst verwirrt.

„Ich... habe euch – wen auch immer – nicht gesehen. Zumindest bei nichts Unsittlichem, oder so...“

Er räusperte sich. Was auch immer man in diesem Stamm unsittlich fand – in seinem Stamm war es unsittlich, im Zentrum des Lagers eine Frau zu lieben; aber nur, wenn es sonnig war, deshalb taten es einige gern wenn es regnete. Was Kurapi nicht so ganz verstand, er für seinen Teil bevorzugte ja Schlaffelle dafür, aber jedem das Seine...

Sanan verzog unterdessen verwirrt das Gesicht.

„U-unsittlich? Moment, worum geht es hier? Ich tue mit Shiran gar nichts Unsittliches und selbst wenn, Moconi, wie kannst denn dann du etwas dagegen haben?!“

Der Häuptling errötete ertappt, dann hüstelte er. Ehe er dazu kam, etwas zu erwidern, erlangte Sanan eine weitere Erleuchtung und er fasste sich erbleichend an die Stirn, unabsichtlich genau auf seine Tätowierung.

„H-Himmel! Bist du etwa... eifersüchtig...?!“

Stille. Die drei Männer tauschten abgrundtief perplexe Blicke untereinander aus und einen Augenblick lang wusste Moconi selbst nicht mehr, worum es eigentlich ging. Dann fiel es ihm wieder ein und er kratzte sich errötet am Kopf. Er beschloss, noch einmal zu fragen, dieses Mal direkter, bevor der Kerl sich noch andere aberwitzige Sachen zusammenspann.

„Ich wollte eigentlich wissen, ob es sein kann, dass du in Wahrheit gar kein Mensch bist...“
 

Sanan erstarrte augenblicklich. Es war erstaunlich, wie offensichtlich das Blut aus seinem Gesicht wich und sich die feinen Härchen auf seinen Armen, die er sich offenbar nicht häufig genug entfernte, aufstellten. Dann fuhr er zu Kurapi herum und fauchte ihn an.

„Was erzählst du für einen Schwachsinn über mich?! Habe ich dir jemals etwas getan, du dreckiger Außenseiter?! Habe ich?! Nur weil ich ein wenig kleiner bin als die anderen hier?! So eine haltlose Frechheit!“, er fletschte seine abstrus schief gewachsenen Zähne wie ein blutrünstiges Tier und zum ersten Mal bemerkte Moconi, dass er wirklich das Gebiss einer Bestie hatte, das von Shiran sah tatsächlich genau so aus. „Weißt du eigentlich, was das bedeuten kann? Wenn man dir glaubt, dann könnte man mich verstoßen!“

Dann fuhr er zu seinem Häuptling herum. In seinem Gesicht stand Verzweiflung.

„Ich bin ein Mensch! Ich war immer ein Mensch und werde es immer bleiben, bitte, bitte glaube mir das...“

Er senkte sein Haupt, heftig atmend. Moconi musterte ihn schweigend. Damit hatte er es eigentlich zugegeben... er würde ihn nicht verstoßen. Das würde er natürlich nicht, er war wie ein Kind seines Stammes aufgewachsen, er hatte sich nie anders verhalten, als alle anderen und war stets loyal gewesen, selbst denen gegenüber, die sich immer über ihn lustig gemacht hatten. Es gab keinen Grund ihm zu misstrauen. Aber er wusste nicht, ob der Rest des Stammes das auch so sehen würde... es würde sein Geheimnis bleiben. Er würde nie wieder darüber sprechen.

So nickte er einfach.

„Dann glaube ich dir, Sanan. Ich zähle auf dich, ich würde dich niemals einfach fortschicken...“

Er klopfte ihm matt lächelnd auf die Schultern und der Jüngere sah den Tränen nah zu ihm auf. Ihm war klar, dass er es wusste.

„Danke.“
 

Calyri ahnte ihrerseits nicht im Ansatz von dem, was Sanan offenbar war. Sie stand dem jungen Mann auch nicht sonderlich nah, er war ihr eher immer etwas suspekt gewesen, sie wusste nicht so genau, weshalb. Er hatte eine seltsame Art an sich...

Seltsamerweise verstand sie sich mit Kajira blendend. Wenn man es denn als verstehen bezeichnen konnte.

„Was ist das da oben? Das da?“, sie deutete auf den an diesem Tage freundlichen Himmel, während der Magierjunge ihr vor ihrer Hütte gegenüber saß.

„Sonne. Leist.“

Sie kicherte.

„Gib nicht so an, es heißt leicht.“

Er errötete etwas und verzog beschämt das Gesicht, als sie so über ihn lachte. Dank seiner Götter verstand immerhin er sie ziemlich gut, so konnte sie mit ihm die für sie einzig richtige Sprache üben. Er war ein netter Kerl, hatte sie gemerkt. Und er war verdammt noch einmal genau so alt wie sie, wie sie in Erfahrung hatte bringen können. Dabei sah er aus wie ein Kind! Sein Intellekt schien seinem Alter jedoch vollkommen zu entsprechen.

„Na gut.“

Die junge Frau klatschte einmal in die Hände und strahlte ihn an, worauf er seinen künstlichen Groll ebenfalls wieder vergaß.

„Stelle deine Würde wieder her, indem du mir einen ganzen Satz sagst. Na los.“

Er weitete die Augen. Ja, das war eine gar nicht so leichte Aufgabe, über die er zunächst eine Weile nachdenken musste. Dann erklärte er zögerlich:

„Die Sonne... ist... äh... hell?“

Er errötete, als sie abermals zu lachen begann.

„Das war aber originell!“, bemerkte sie amüsiert und er legte den Kopf schief.

„Ori...gi... nell?“

Sie nickte. Ja, auf diese Art hatte er sie überhaupt dazu gebracht, ihm ihre Sprache beibringen zu wollen. Er war öfters zu ihr gekommen, besonders, nachdem er sich im Lager nun frei bewegen durfte, weil sie im Gegensatz zu beinahe allen anderen freundlich zu ihm war. So hatte sie automatisch damit begonnen, mit ihm zu sprechen, ohne jemals eine Antwort zu erwarten, bis er irgendwann einfach begonnen hatte, ihre Worte nachzuahmen und es eigentlich auch ganz gut hinbekommen hatte. Da hatte sie sich dazu entschlossen, mit ihm zu üben.

„Originell, ja. Wie... einfallsreich.“

Er sah sie groß an. Sie mochte seinen Blick, wenn er irgendein Wort hörte, das er viel zu exotisch zum erlernen fand und es darauf dennoch jedes Mal wieder versuchte.

„Ain...fas...rais?!“

Sie verkniff sich das Lachen freundlicherweise, als sie es ihm noch einmal vorsagte und er es ihr nun korrekt nachsprach. Er war ein lieber Kerl. Sie hätte gern mehr über ihn erfahren, aber auch so war es nicht schlecht, ihre Freizeit mit ihm zu verbringen... er lenkte sie ab.

Diese elendige Sache mit Moconi trieb sie irgendwann noch in den Wahnsinn. Wie einfach war es gewesen, als sie ein Kind gewesen war. Als sie einfach so miteinander gespielt hatten... und sie für ihn geschwärmt hatte wie er für sie. Dann waren sie erwachsen geworden... und Teco hatte alles zerstört. Beinahe wäre sie ihn als Störfaktor für ihr Glück losgeworden... aber genau in dem Moment, in dem sie die Frau des Häuptlings hätte werden können, war er zurückgekehrt und hatte abermals alles zerstört. Alles, wovon sie geträumt hatte, was sie sich gewünscht hatte. Und nun war sie ihn los, Teco... und konnte trotzdem nicht einfach an Moconis Feuer. Sie konnte diesen Krüppel nicht auch noch zusätzlich beschämen... und verletzen mit ihrem Anblick an der Seite seines Cousins. Und letzterer konnte es auch nicht. Sie wussten beide, was das für Teco bedeutet hätte, für seinen Stolz und seine Würde. Zwar hatte er seit jeher ein großes Mundwerk gehabt und gern mit seinem Talent angegeben, doch war er niemals ein schlechter Mensch gewesen und Calyri fand es so selbstverständlich wie alle anderen auch, dass man sich nun mit Freuden um den vom Schicksal so grausam hintergangenen jungen Mann kümmern sollte, wo man einem so talentierten Jäger in so jungen Jahren die komplette Zukunft zerstört hatte. Er sollte dem Stamm erhalten bleiben... aber wie lange konnte sein Stolz seine Verzweiflung noch übertreffen? Wann kam der Moment, in dem er endgültig brach und, so befürchtete heimlich jeder, versuchte, seinem wahrlich erbärmlichen Leben ein Ende zu setzen? Sie alle wussten, der Tag würde kommen, aber Calyri wollte auf keinen Fall der Auslöser dafür sein. Obwohl sie das Gefühl hatte, dass es ihm irgendwie auch missfiel, dass sie sich nun so von Moconi fern hielt, weil er wusste, dass es wegen ihm war... weil alle Mitleid mit ihm hatten. Was gab es schon schlimmeres für einen Mann?

„Calyri? He!“

Kajira tippte sie vorsichtig an der Schulter an. Oh Himmel, jetzt war sie ja ganz in Gedanken versunken... ihr Gegenüber schien ihr anzusehen, dass letztere nicht unbedingt positiv gewesen sein konnten, denn es machte ein betrübtes Gesicht und streichelte ihr schließlich kurz, aber tröstend über den Kopf.
 

„Unsere Calyri versteht sich mit beinahe jedem.“

Kinashi saß unweit entfernt auf einem Fell und stillte Morny. Es war nicht mehr so kalt, da dachte sie gar nicht daran, unnötig in der Hütte zu sitzen; ihre kleine Tochter hielt das schon aus.

„Calyri ist ja auch nett.“, antwortete ihr da Ranisin, der neben ihr hockte und irgendetwas mit einem übrig gebliebenen Stück Fell anstellte, ohne durchblicken zu lassen, was er damit vorhatte... vielleicht misslang es ihm auch so extrem, dass dies bloß ein unangenehmer Nebeneffekt davon war. Überrascht hätte es bei ihm niemanden...

Die Frau musterte ihren Sohn eine Weile.

„Dein Vater ist mit den übrigen zurückgebliebenen Männern auf Kleintierjagd. Du hättest mitgehen können.“

Er hielt in seiner Arbeit inne und sah sie an. Er war nur ein Jahr jünger als die Zwillinge, aber im Gegensatz zu ihnen noch ein Kind. Und obwohl er seinen älteren Brüdern sehr wohl ähnelte, erinnerten seine großen Antilopenaugen und sein zartes Gesicht kaum an sie.

„Ich wollte aber nicht.“, kam dann die knappe Antwort und er widmete sich wieder seinem Werk.

Kinashi schnaubte, Morny unweigerlich etwas dichter an sich drückend.

„Es kann nicht immer nur nach deinem Willen gehen, Ranisin. Du musst jagen können, weil...“

„... ich ein Junge bin. Ja, ich weiß. Nächstes Mal gehe ich auch mit, ganz sicher.“

Er sah nicht einmal auf, während er behände weiter herum... nähte? Die Frau fröstelte unweigerlich in einem zwar nur kurz aufkommenden, aber kühlen Wind. Irgendetwas stimmte mit dem Kind nicht...

Aber da sie sich mit Kindern sehr gut auskannte und besser als beispielsweise Tanest wusste, dass es nicht viel brachte, die Kleinen einfach anzuschreien, blieb sie ruhig.

„Du solltest mir etwas mehr Respekt zollen, Ranisin, ich bin deine Mutter.“, erklärte sie ihm so und er nickte, nun doch etwas verlegen, und sah sie an, „Du gehst nicht gern auf die Jagd, dabei hat dein Vater mir erzählt, wenn du es denn einmal tust, stellst du dich sehr geschickt an. Und die Speerspitzen, die du machst, sind so weit ich weiß für dein Alter wirklich bemerkenswert... wieso zierst du dich also so?“

Wie schön, dass ihre Kinder alle so talentiert und... besonders waren. Zumindest jedes in seinem eigenen Bereich...

Ranisin seufzte theatralisch, nebenbei mit leicht angewidertem Gesicht einen kleinen Käfer von dem Fell tretend. Wie er diese Viecher hasste...

„Weißt du... du kennst das doch auch.“, begann er dann kleinlaut, „Du legst doch auch manchmal Fallen aus und tötest die Tiere, die du gefangen hast. Wenn die einen dann ansehen... ich meine, sie haben Angst! Vielleicht haben sie auch eine Familie und einen Stamm, der um sie weint, wenn man sie tötet! Ich... weiß doch, dass wir jagen müssen, damit wir nicht verhungern, aber... mir fällt das so schwer.“

Er sah sie unglücklich an. Die Frau schüttelte verwirrt den Kopf, ihr Oberteil wieder zubindend, weil ihre Tochter nun satt war. Letztere legte sie sich darauf an die Schulter und klopfte ihr sachte auf den winzigen Rücken. Was heraus musste, musste heraus.

„Das ist eine seltsame Sichtweise, Ranisin.“, entgegnete sie schließlich nachdenklich, „Du hast oft seltsame Sichtweisen, schon seit du ganz klein warst. Du bist insgesamt etwas seltsam... aber mach dir keinen Kopf darum. Überwinde dich einfach, dann wird alles gut.“

Etwas besseres konnte sie ihm nicht sagen, auch wenn er das offenbar auch selbst wusste, er hatte ja schon einige Tiere erlegt. Ausgerechnet in der Jagd war er auch talentiert...

„Was tust du da?“, erkundigte die Frau sich schließlich, um ihren Sohn wieder auf andere Gedanken zu bringen. Der lächelte darauf auch wieder.

„Ich nähe! Es wird... ein Kleid. Irgendwann.“

Er hielt das formlose Stück Fell nachdenklich vor sich und musterte es nachdenklich. Kinashi gluckste.

„Ein Kleid? Für Niray?“

Er verzog grimmig das Gesicht und zischte, das Fell bei der Erwähnung des Namens seiner Schwester besitzergreifend an sich drückend.

„Oh, die ist die Letzte, die das bekommen wird!“, erklärte er grimmig, „Diese Elende! Die darf es nicht einmal anschauen!“

Morny, inzwischen wieder in Kinashis Armbeuge, schenkte ihrem Bruder auf seine enthusiastische Vorhersage einen interessierten Blick aus hellblauen Augen, den ihre Mutter stirnrunzelnd teilte.

„Was hat sie dir denn getan?“

Er errötete schmollend.

„Ich darf nie eines ihrer Kleider anziehen. Deshalb nähe ich mir selbst eines und das... das wird ja so etwas von viel schöner als alle, die sie so hat, die wird Augen machen, wenn ich erst einmal das hübscheste Kleid im ganzen Stamm habe!“

Er kicherte vor sich hin und widmete sich wieder seiner Arbeit, den absolut konfusen Blick seiner Mutter gekonnt ignorierend. Letztere fragte sich unterdessen, ob sie ihm kräftig auf den Kopf hätte hauen sollen, oder ob es wohl angebrachter gewesen wäre, ihm einfach dabei zu helfen, denn so würde das niemals etwas mit dem schönen Kleid werden.

Sie entschied sich dazu, beide Möglichkeiten zunächst im Hinterkopf zu behalten und sich abermals daran zu erinnern, dass sie nicht Tanest war.

„Ranisin?“, fragte sie so ruhig, ihr Baby wiegend, „Du weißt schon, dass Kleider nur für Mädchen sind, nicht wahr?“

Und wieder legte er den absolut bösen – und in seinem niedlichen Gesicht abgrundtief lächerlichen – Blick an und fuhr zu ihr herum.

„Ja! Und das finde ich total dumm und unfair! Warum dürfen nur Mädchen Kleider tragen? Ich wette, mir stehen die auch ganz toll.“, er hielt kurz inne, „Ich wäre lieber ein Mädchen.“

Irgendwie überraschte sein letzter Satz die Frau nicht wirklich, doch er ließ sie dennoch erschaudern. Ihre Kinder waren wirklich, wirklich seltsam, doch Ranisin war mit Abstand das seltsamste. Sie hatte, so weit sie sich zurück erinnerte, noch nie einen Jungen getroffen, der lieber ein Mädchen gewesen wäre. Der lieber genäht hatte, als zu jagen, obwohl er nicht nähen konnte, jagen jedoch schon... sie war besorgt.

„Findest du nichts gutes daran, ein Junge zu sein?“, erkundigte sie sich darauf schließlich behutsam und zu ihrer Erleichterung lächelte er darauf.

„Oh, doch, natürlich. Ich kann mich viel bequemer erleichtern als alle Mädchen. Und wenn ich groß bin, darf ich mal viel Verantwortung übernehmen, wenn ich will... und gut genug bin. Oh, und die Klamotten, die man als Junge zu Festen trägt sind eigentlich auch ganz schön hübsch!“

Er kicherte und schien an sein neues Kostüm zu denken, das Kinashi ihm erst vor einem Mond genäht hatte. Sie hatte sich besonders viel Mühe gegeben, weil sie wusste, dass ihm seine Kleidung mindestens so wichtig war, wie sie Kili gewesen war. Was aus der wohl geworden war?

„Bist du mir jetzt böse?“, hörte sie ihn dann fragen und ließ irritiert Morny los, als er sie selbst in seine Arme nahm und mindestens so geschickt wiegte wie seine Mutter.

Die Frau lächelte.

„Nein, nicht doch. Versprich mir, dass du nächstes Mal mit deinem Vater auf die Jagd gehst, dann helfe ich dir vielleicht, wenn ich Zeit habe, mit deinem Kleid...“

Wo er recht hatte, hatte er doch recht... wer sagte denn, dass kleine, sehr seltsame Jungs unbedingt immer Hosen tragen mussten? Ach Himmel, was machte sie bloß falsch...?
 

Tinash seufzte lächelnd. Er hatte auf der Kleintierjagd tatsächlich einen mageren Hasen erlegt, den Lauy sofort gewissenhaft zubereitet hatte. Das Ergebnis war durchaus nahrhaft, wenn auch nicht ganz so wohlschmeckend gewesen, wie die junge Frau offensichtlich beabsichtigt gehabt hatte. Letztendlich saß sie nun da und weinte bitterlich.

„Ich bin eine so schlechte Frau! Ich wollte dir doch eine gute Frau sein! Du warst so gut zu mir! Und ich bin so undankbar! Oh Himmel, ich verdiene das Leben gar nicht!“

Joru musterte sie stirnrunzelnd, als Tinash sie in seine Arme zog.

„Ach Himmel, so schlimm war das doch nun wirklich nicht, sprich doch keinen solchen Unsinn.“

„Mutters Essen hat nicht besser geschmeckt.“, fügte ihr Bruder etwas planlos an und sie kuschelte sich unglücklich an die Brust ihres Mannes und wimmerte.

Das war ja alles so schrecklich! So lange hatte sie ihn damit behelligt, sie an sein Feuer zu nehmen, um – vollkommen egoistisch wie sie war – aus ihrem grauenhaften Leben gerettet und vor ihrem albtraumhaften Schicksal bewahrt zu werden, ohne auch nur ein einziges Mal an Tinash selbst zu denken. Alles, was sie gesehen hatte, war, dass er keine Frau hatte und dass er auch keine Anstalten dazu machte, eine für sein Lager zu gewinnen. Er war ihr nett erschienen... da hatte sie zu ihm gewollt. Und er war wirklich nett gewesen...

„Aber ich muss doch eine perfekte Frau sein!“, erwiderte sie so verzweifelt und Tinash zog sie auf seinen Schoß und wiegte sie wie ein kleines Kind, etwas unbeholfen von ihrer heftigen Reaktion.

„Niemand muss hier perfekt sein.“, erklärte er ihr irritiert, „Niemand verlangt von dir, dass du in deinem jungen Alter schon perfekt kochst, Lauy. Und bei allem, was heilig ist, ich habe schon schlimmeres gegessen, als diesen Hasen, dessen sei dir sicher.“

Entgegen seiner Erwartung heiterten sie diese Worte nicht auf, sondern brachten nur noch mehr Tränen.

„Das sagst du nur, weil du so nett bist! Du bist zu nett! Ich verdiene dich nicht!“

Er warf seinem Schwager einen hilflosen Blick zu. Lauy war wirklich anstrengend, aber herzensgut, hatte er gelernt. Aber mit ihrer geistigen Krankheit – die sie in welchem Ausmaß auch immer definitiv irgendwo hatte – kam er noch nicht ganz zurecht.

Joru schüttelte jedoch bloß den Kopf. Dann versuchte er wieder sein Glück.

„Wenn Tinash so nett ist, dann verdient er eine Frau, die die ganze Zeit nur heult, aber noch wesentlich weniger als eine solche, die nicht kochen kann, findest du nicht auch?“

Das ließ sie inne halten. In dem Moment, in dem sie ihr Gesicht langsam ihrem Bruder zuwandte, erinnerte ihn ihr Ausdruck mehr als jemals zuvor an seine Mutter Ardoma. Sie sah ihr wirklich sehr ähnlich.

„Ich will eine gute Frau sein.“, murmelte sie dann und sah wieder zu ihrem Mann, dieses Mal völlig ruhig, „Verzeihst du mir, dass ich schlecht gekocht habe?“

Er lachte, erleichtert darüber, dass sie sich scheinbar wieder gefangen hatte.

„Schlecht würde ich es nicht nennen... aber ich verzeihe dir, natürlich.“

Lauy nickte.

„Nächstes Mal mache ich es besser, versprochen. Aber wenn es mir dann nicht gelingt, dann weine ich so richtig, ja?“
 

Der Abend war schnell gekommen. Moconi hatte erleichtert festgestellt, dass die Gruppe an Männern, die sich an diesem Tag trotz ihrer Verletzungen dazu bereit erklärt hatten, Kleintier zu jagen, halbwegs erfolgreich gewesen war. Dherac hatte gemeint, es gäbe noch nicht viel, aber einige wenige Tiere seien zurückgekehrt. Endlich einmal eine gute Nachricht, hatte der Häuptling sich gedacht, vielleicht folgten dann auch bald die großen Herden...

Kurapi riss ihn aus seinen Gedanken.

„Wie lange sollen wir noch bleiben?“

Er blickte neben sich, obwohl es sinnlos war, weil die Nacht die Welt wie immer in Dunkelheit gehüllt hatte. Sein Gast teilte sich sein Lager mit ihm... auch wenn er ihm an diesem Abend Ruhe gegönnt hatte.

„Ich denke, es ist alles geklärt. Aber wann ihr aufbrechen wollt, überlasse ich euch.“

Der Jüngere seufzte, etwas dichter zu ihm rutschend.

„Wenn ich an diesen elendigen weiten Weg denke, würde ich lieber ganz hier bleiben.“, erklärte er, ohne es wirklich ernst zu meinen, „Aber die Sache ist ernst. Ich schätze, wir brechen bald auf.“

Moconi nickte, obwohl er es nicht sehen konnte, und schnaubte resigniert.

„Ich weiß nicht, wie ich euch danken soll. Vermutlich würde der ganze Stamm draufgehen, wenn ihr uns nicht beistehen würdet. Ich bin furchtbar unbegabt in meiner Position...“

Beinahe hätte er erwähnt, dass er seinen Vater dafür, ihm seinen Posten vermacht zu haben, verabscheute, aber er verkniff es sich im letzten Moment; wie hätte das denn bitte gewirkt?!

Der Jüngere lehnte sich bei ihm an und umarmte ihn, was ihn seine Gedanken an seine Untauglichkeit etwas vergessen ließ. Kurapi war wirklich seltsam. Einen Tag zuvor hatte er diesen Kerl quasi überfallen und nun war er so zutraulich wie ein Tierkind, das irgendjemand aus seltsamen Gründen selbst aufzog.

„Nur nicht so pessimistisch. Steh uns bei, wenn wir Hilfe brauchen – und wenn wir keine Hilfe brauchen, dann hattest du eben Glück. Außerdem...“

Er hielt abrupt inne, als jemand einfach den Eingang zur Hütte aufriss. Das schwache Licht des aufgehenden Wassermondes fiel mit einem Mal in den Innenraum und in der Öffnung ließ sich eine Silhouette erahnen.

„Tut mir Leid für die Störung.“, vernahmen sie dann Shirans Stimme und Kurapi versteckte sich quiekend unter der Decke, was Moconi stirnrunzelnd abtat, „Aber unsere Gäste müssen gehen. Sofort. Sonst kommt die Hilfe erst an, wenn es zu spät ist.“

Der Häuptling hüstelte, während der Jüngere verwirrt wieder aus seinem Versteck hervorkam.

„Und das... fällt dir jetzt ein? Du bist aber früh dran...“

Der Seher schnaubte.

„Es ist die Entscheidung der Götter, wann sie zu sprechen gedenken, nicht meine.“
 


 

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Das Kapitel war irgendwie random, oder? oô Man hat bloß etwas über Kurapi erfahren... Mensch, langsam müsste Chigaru aber echt mal auftauchen... XD

Sorge

Es war ein klarer, für den Wassermond überraschend milder Morgen, als Irlak und Rato zurückkehrten, unversehrt und mehr oder minder guter Dinge. Mahrran empfing sie außerhalb seines Hauses bereits und fragte sich kurz, ob es wohl besser gewesen wäre, sie einzulassen bei seinem Husten, aber dann hätten die beiden Rüpel am Ende noch seine Kili geweckt...

So stand er dann da in seinem Mantel und war bemüht, den elenden Hustenreiz in seinem Hals, der von Tag zu Tag schlimmer anstatt besser wurde, zu unterdrücken.

„Gute Neuigkeiten!“, rief Rato bereits von weitem, während er mit seinem Bruder den Weg zum Haus der Himmelskinder aufstieg, „Der Pass ist weitgehend frei!“

Mahrran seufzte. Das war gut.

„Sollen wir jetzt wirklich mit diesem dummen Speeren in das Land der Menschen ziehen?“, erkundigte Irlak sich gleich darauf empört, während sie bei ihrem Herrn ankamen. In den Augen des Mannes stand blanke Missgunst, was Mahrran irritierte...

„Auf jeden Fall werdet ihr sie mit euch führen. Wenn ihr zu unsicher damit seid, nutzt die Magie... aber versucht es zuerst mit den Speeren! An Kilis Worten wird schon etwas Wahres dran sein.“

Oder sie versuchte ihren Stamm zu retten, indem sie das Dorf in den Ruin schickte. Ihr Mann fragte sich kurz, ob sie dazu wirklich in der Lage war. Er war doch so gut zu ihr...

„Das heißt, wir werden bald losziehen?“, fragte Rato da weiter, offensichtlich mit mehr Elan, und sein Gegenüber nickte. Er musste die beiden schnell loswerden, er hatte Schmerzen in der Brust, verdammt...

„Ja, macht alles bereit, spätestens übermorgen früh. Es wird langsam wirklich Zeit, unser Heimatland verjagt uns...“

Die Fischer fingen kaum noch etwas, es war zum Verzweifeln...

Und wieder zeigte sich in Irlaks Ausdruck ein gewisses Unbehagen, während sein Bruder bloß nickte.

„Ich werde Bescheid geben. Dieses Mal wird es ein Erfolg, das spüre ich...“

Na, wenn er da einmal recht hatte...
 

Die Tür öffnete sich.

„Ich hoffe, du hast dir etwas für Kili überlegt...“, war die plumpe Begrüßung Irlaks, als er in sein Haus eintrat und Iavenya, noch im Nachthemd, zu ihm herumfuhr. Einen winzigen Augenblick lang hätte er beinahe gelächelt, als er bemerkte, dass sich ihr Bauch bereits relativ deutlich unter dem dünnen Stoff abzeichnete.

Sie lächelte und legte sich einen Finger auf die Lippen.

„Leise.“, bat sie, „Die Kleinen schlafen noch...“

Sie näherte sich und schlang schließlich in gewohnter Manier ihre Arme um seinen Nacken, ihren eigenen Körper sehnsüchtig an den des Mannes schmiegend und ihn dann verlangend auf die Lippen küssend. Und gleich darauf noch einmal.

„Ich habe dich vermisst.“, gestand sie und stellte verwundert fest, dass sie ihre Worte irgendwie ernst meinte, „Ich hasse es, wenn du fort bist.“

Und sie küssten sich abermals. Er sehnte sich auch nach ihr... Iavenya verschaffte diese Gewissheit ein Gefühl der Befriedigung. Sie wollte ihn an sich binden, er sollte nichts mehr ohne sie tun können... nur langsam erschloss sich ihr, dass das Ganze irgendwie auf eine gegenseitige Abhängigkeit hinaus lief und sie begann, genau so an ihm zu hängen wie er an ihr. An dem leichtgläubigen, wie auch beeindruckenden Sohn des Ekarett-Clans... sie hatte darüber nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass es egal war. Dann erlaubte sie ihrem Herzen, falls sie denn irgendwo eines besaß, diesen Mann zu mögen, ihren Plänen stand das nicht im Weg.

„Ich wäre auch lieber bei dir.“, gestand Irlak da grummelnd, die Hände auf ihre runden Hüften legend und sie noch etwas dichter zu sich ziehend, „Was ist jetzt mit dieser Sache mit der Menschenfrau?“

Sie lächelte leicht. Er nahm ihre Worte sehr ernst, das gefiel ihr.

„Die Götter haben zu mir gesprochen. Wir verschieben es etwas nach hinten, geh mit auf die nächste Reise, dir wird nichts geschehen... ich glaube, wir... werden alle überrascht sein.“

Er sah sie verwirrt an, dann nickte er jedoch. Wenn sie es sagte... er kannte sich damit nicht aus, sie würde schon recht haben.

„Nun gut, wenn du das sagst. Du bist gescheit.“

Sie kicherte gegen seinen Hals.
 

Nadeshda beobachtete ihren Bruder skeptisch dabei, wie er einige Dinge, die er auf seiner Reise brauchen würde, in einen Lederbeutel packte. Er hustete... wenn es nach ihr ging zu häufig und zu eigenartig, um eine lange Reise mit anschließendem Kampf zu wagen. An sich konnte es ihr jedoch egal sein, sie arbeitete nicht mehr mit ihm, sondern gegen ihn und wenn er ein solches Wagnis eingehen wollte, war es seine Sache. Er war ein erwachsener Mann, er musste wissen, was gut für ihn war...

„Auch wenn ich nicht gut sehe, bemerke ich, dass du da stehst und mich begaffst, Nadi. Gefalle ich dir so gut?“

Er drehte sich nicht zu ihr um, während er, seelenruhig auf seinem Lager sitzend, weiter packte. Er hatte alles mögliche um sich herum verteilt. Sogar einen ziemlich beeindruckenden Speer; davon, dass er den gemacht hatte, hatte sie gar nichts mitbekommen...

„Du bist wirklich gut aussehend, wenn man von deinem widerlichen Auge absieht, das stimmt. Eben vom Blute der Tankana.“, erwiderte sie schließlich ehrlich, sich nun etwas offensichtlicher an den Türrahmen lehnend. Da er sie eh bemerkt hatte... „Ich frage mich bloß, ob es wohl so eine gute Idee ist, mit deinem Husten so eine Belastung auf sich zu nehmen...“

Die Frau ärgerte sich darüber, dass sie dem Drang, ihre Bedenken auszusprechen, hatte nachgeben müssen. Sie strich sich beinahe verlegen ihr Kleid über ihrem runden Bauch glatt und wandte den Blick von dem Mann ab, der darauf zu ihr sah.

„Oh, sorgst du dich etwa?“, kam darauf wie erwartet in einem etwas höhnischen Tonfall und Nadeshda verzog das Gesicht. Zu ihrem Leidwesen weniger zornig als... verletzt.

Sie hasste es. Er hatte sie verraten, sie war sauer auf ihn, auf ihn und das ganze Pack, das ihm mit einem Mal so hörig war. Aber er war ihr Bruder... er war ein wenig jünger, zudem, sie fühlte sich für ihn verantwortlich...

Sie hatte ihren Geschwistern niemals zeigen können, dass sie sie liebte. Sie wusste auch nicht, ob sie das tatsächlich tat – sie verstand wirklich nichts von diesem erwärmenden Gefühl, das alle scheinbar so toll fanden – aber es gab definitiv eine innere Verbundenheit zwischen ihnen, insbesondere zwischen ihr und Mahrran; sie waren schließlich Zwillinge.

Jene Verbundenheit war ihr in diesen Tagen jedoch sehr im Weg und sie fragte sich mehr und mehr, ob sie sie als einzige verspürte; ihr Bruder hatte allem Anschein nach ja keine Probleme damit, sie zu meiden und zu verspotten...

„Ja, ich sorge mich.“

Sie antwortete ehrlich, ihre Götter rieten ihr dazu. Man sah es ihr an, auch ohne gute Augen, und nichts wahr ehrbarer als Ehrlichkeit – und kaum etwas feiger als die Lüge. Und nichts war verachtenswerter als die Feigheit selbst.

Damit hatte sie ihn dann etwas aus der Bahn geworfen. Kurz herrschte Stille, dann überkam den Mann ein erneuter Hustenanfall. Es dauerte ungewöhnlich lang, Nadeshda beobachtete ihn zunächst stirnrunzelnd, dann betrat sie den Raum alarmiert und näherte sich ihrem Bruder, ohne wirklich zu wissen, was sie tun sollte. Warum war Alaji auch ausgerechnet jetzt bei ihrer Mutter?

Mahrran fing sich jedoch ganz von selbst wieder. Er schnappte etwas apathisch nach Luft, noch immer leicht in sich gekrümmt dank der Verkrampfung, ehe er langsam und bedächtig den Kopf wieder hob und seiner erschrockenen Schwester ins Gesicht blickte.

„Weißt du...?“, begann er dann mit rauer Stimme und erhob sich, „Ich glaube, ein wenig Gebirgsluft wird mir vielleicht sogar ganz gut tun. Außerdem geht das Wohl des Volkes über mein eigenes...“

Und obwohl die beiden Körperkontakt so gut es ging vermieden, strich er ihr darauf kurz durchs Haar.

„Mach dir keine Sorgen.“
 

Sie tat es aber, ob sie wollte oder nicht. Nachdem er so zu ihr gesprochen hatte, fühlte es sich nicht mehr ganz so verräterisch an, sich für sein Wohlergehen zu interessieren, dennoch kam die junge Frau sich seltsam dabei vor, als sie am Abend mit ihrer besten Freundin, die inzwischen wieder zurückgekehrt war, darüber sprach.

Alaji war Heilerin, vermutlich die beste im ganzen Dorf. Sie kannte sich aus mit allerlei Leiden und obgleich sie noch ziemlich jung war, war auf ihr Urteil meist Verlass. Auf Nadeshdas Worte zeigte sie sich nachdenklich.

So, wie sie es gern tat, saß sie auf dem kleinen Schemel, die Beine ausgestreckt. Sie spielte eine Weile mit einer ihrer sehr wenigen Haarsträhnen, während sie ins Leere starrte, bis sie antwortete.

„Ich habe es auch bemerkt.“, räumte sie dann ein, „Es ist ja schwer zu ignorieren, wenn man sich mit ihm in einem Haus befindet. Wir sollten übrigens vorsichtig sein, vielleicht ist es ansteckend und das wäre für unsere Babys schlecht...“

Sie ignorierte die Tatsache, dass Nadeshda von ihr verlangte, ihr Kind sofort nach der Entbindung zu töten gekonnt. Was sie auch sagte, dazu würde sie sich nicht bringen können... die Kleinere, ihrerseits im Schneidersitz auf ihrem Lager sitzend, ging gar nicht auf die von ihr aus gesehene Nutzlosigkeit ihrer Warnung ein und nickte nur.

„Ja, gut... wir müssen ihn ja nicht unbedingt küssen, oder so – vielleicht sollte man die Menschenfrau warnen...“

Sie kratzte sich am Kopf und fragte sich, ob das intrigante Ding diese Mühe überhaupt wert war. Ihrer Meinung nach nicht wirklich, sie überließ es Alaji (die kaum ein Wort der menschlichen Sprache beherrschte).

„Jedenfalls glaube ich auch nicht, dass dieser Weg ihm gut bekommen wird. Und selbst wenn er ihn schafft, in der Schlacht wird er mit Sicherheit gefährlich geschwächt sein – das ist ein wirklich sehr, sehr übler Husten, den er da hat.“

Sie sah nachdenklich zur Fensterklappe, die noch einen Spalt weit geöffnet war. Schwaches Licht des Wassermondes erhellte die Welt spärlich...

Die Heilerin entschied sich dazu, nicht zu erwähnen, dass sie schon viele so Husten gesehen hatte und dass die wenigsten... es überlebt hatten. Ihr wurde heiß und kalt gleichzeitig bei dem Gedanken daran, dass ein derart kranker Mann eine Horde an Kriegern in eine Schlacht führen wollte... sie versuchte sich selbst damit zu beruhigen, dass in dem, was die anderen ausgehustet hatten, meistens Blut gewesen war. Mahrran jedoch hustete trocken.

Sie entschied sich dazu, Nadeshda diese Gedanken mitzuteilen, die darauf nur mäßig überzeugt nickte.

„Du kennst dich aus.“, sprach sie mehr zu sich selbst als zu der Heilerin, während sie sich von ihrem Lager erhob und zu entkleiden begann, „Ich vertraue dir.“

Beinahe etwas neidisch musterte Alaji sie darauf, die Ablenkung von den besorgten Gedanken willkommen heißend. Obwohl Nadeshda so klein und unglaublich zierlich war, schien ihr Körper prima mit der Schwangerschaft klar zu kommen; er blühte förmlich auf. Ihr kleiner Busen war prall und ihr Bauchgewebe ließ die Dehnung scheinbar vollkommen kalt.

Sie senkte den Blick etwas deprimiert. Ihr eigener Körper kränkelte nur so vor sich hin, obgleich ihr Kind sich, soweit sie es zu diesem Zeitpunkt feststellen konnte, normal entwickelte. Und so, wie sie sich kannte, würde sie sich bald über den ein oder anderen Dehnungsstreifen freuen dürfen... die Welt war ungerecht, Nadeshda hatte doch schon so schöne Haare!

Ihre Gastgeberin hatte sich inzwischen ihr Nachtkleid übergeworfen und watschelte in ihrem mittlerweile für ihren Umstand nicht ungewöhnlichen, aber etwas eigentümlich anzuschauenden Gang zum Fenster, um die Klappe zu schließen.

„Es ist noch immer ganz schön frisch.“, stellte sie beiläufig fest und drehte sich um, „Wir sollten schlafen. Oder nicht?“

Alaji nickte, zunächst etwas verwirrt, weil sie aus ihren abschweifenden Gedanken gerissen wurde, dann erhob sie sich und kam der indirekten Aufforderung, sich ebenfalls umzuziehen nach.
 

Kili war selbst die Tochter einer Heilerin und hatte, so lange ihre Mutter gelebt hatte, von ihr gelernt. Natürlich war ihre Heilkunst dadurch, dass sie weder Magie beherrschte, noch ihr Studium jemals hatte abschließen können, sehr begrenzt, dennoch besaß sie gewisse Erfahrungen, die die meisten ihr zumindest hier, im Dorf der Kalenao, nicht zutrauten. Und die entsetzten Mahrran etwas.

„Du kannst mich nicht aus meinem eigenen Lager werfen!“, schnaubte der Mann in der besten Menschensprache, die er zustande brachte, entrüstet, während sie sich quer auf die Decken gelegt hatte und keinerlei Anstalten machte, sich zu rühren..

„Doch.“, war ihre einfache Antwort, etwas schwerfällig den Kopf zu ihm hebend, „Dein Husten wurde schlimmer, du bist krank. Ein kranker Mann darf niemals mit einer schwangeren Frau in einem Lager liegen. Du musst leider weg von mir.“

Er stemmte empört die Hände in die Hüften, abermals kurz, aber weniger intensiv als am Mittag hustend. Was bildete die sich denn ein?!

„Dann verlasse du doch das Lager, wenn ich dir nicht passe!“, schlug er ihr lauter als geplant vor, „Geh zu Mabalysca, da ist noch Platz!“

Letzteren gab es bei Nadeshda und in Rayadas kleiner Kammer wohl kaum. Nebenbei fiel ihm auf, dass er sich das Haus nur mit Frauen teilte, was bei der Menge an Bewohnern irgendwie etwas befremdlich war...

„Sie ist seltsam.“, folgte da Kilis nicht ganz unwahrer Kommentar, „Ich traue ihr nicht. Ich möchte hier bleiben... bitte, Mahrran.“

Sie sah nicht wieder zu ihm auf. Kurz herrschte Stille, dann vernahm sie noch ein kurzes Husten und dann die Tür, die zuschlug.
 

Er konnte ihr nichts abschlagen. Und sie hatte sicher recht mit dem, was sie sagte. Und dennoch zitterte der Mann vor Wut, als er planlos, wo er hin sollte, tatsächlich zum Raum seiner kleinen Schwester trottete. Sie war nur ein Mensch... eine Menschenfrau! Und sie wagte es, ihm zu befehlen, ihm, einem Kalenao, einem Mann... einem verdammten Götterkind. Und dennoch hatte er keine Kraft, sich dagegen zu wehren... er liebte sie doch.

Noch ehe er anklopfen konnte, verriet er seine Anwesenheit durch einen weiteren, etwas heftigeren Hustenanfall, während dem Mabalysca bereits irritiert die Tür öffnete. Ihre leichte Bekleidung, ein Hemdchen und ihre Unterwäsche, verrieten, dass sie wohl bereits im Lager gewesen oder eben dabei war, sich hinzulegen. Er schnappte nach Luft und erschauderte, ehe er auf ihren völlig perplexen Blick etwas sagen konnte.

„Ich... bin schlecht für schwangere Frauen. Hast du Platz?“

Scheinbar verstand sie, dass es sonstwo keinen für ihn gab und dass sie ihren älteren Bruder nicht weiter entehren konnte, also ließ sie ihn ein und bot ihm an, in ihrem Lager zu schlafen.

„Es ist ohnehin zu groß für mich allein.“, bemerkte sie dabei in ihrer üblichen, deprimierten Tonlage und Mahrran seufzte, sich vor Scham etwas in den Decken vergrabend.

Sie legte sich neben ihn und sah ihm demonstrativ in sein Gesicht. Er wusste nicht, was sie damit erreichen wollte, er wusste auch nicht, wie sie schaute... er spürte ihren Blick mehr instinktiv; für sein eines schlechtes Auge war es definitiv zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen.

„Sprich.“, bat er sie nach einer Weile schließlich, denn irgendwie beunruhigte es ihn; so konnte er unmöglich einschlafen. Er spürte, wie sie etwas dichter zu ihm rutschte.

„Zerit sagte zu mir, ich solle nicht mehr so egoistisch sein.“, entgegnete Mabalysca dann und klang dabei auf eine seltsame Weise nostalgisch, „Ich gebe mir alle Mühe seit kurzem. Merkst du es?“

Er hüstelte gekünstelt.

„Nun ja...“

Wenn er ehrlich war, hatte er nicht wirklich darauf geachtet. Aber sie hatte recht, ihr ewiges Geschrei nach Aufmerksamkeit, während das Dorf am Abgrund stand, war wirklich irgendwie egoistisch gewesen. Sie sprach weiter.

„Jedenfalls versuche ich es. Ich versuche, das zu tun, was man mir sagt... ich warte einfach. Und kämpfe dagegen an, dass ich verzweifle. Aber, weißt du... mir ist immer so kalt.“

In jenem Moment spürte er es auch. Sie zitterte. Mahrran hob unmerklich die Brauen... sie hatte ein sehr angenehmes Lager, wie konnte sie hier frieren?

„Ich weiß, ich habe nicht das Recht, dich danach zu fragen, aber da ich dich bei mir schlafen lasse... magst du mich als Ausgleich etwas warm halten?“

Zunächst war er zu perplex von ihrer Bitte, um etwas zu erwidern. Er sollte sie warm halten? Beinahe wirkte es so, als hätte sie das längst geplant gehabt; letztendlich sollte es ihm aber nicht ernsthaft etwas ausmachen, Mabalysca konnte er ohne Probleme berühren, anders als seine Zwillingsschwester, und so zog er sie matt lächelnd in seine Arme.

„Ich versuche es wieder.“, versprach er dann, als sie sich dankbar an ihn schmiegte, „Dir deinen Mann mitzubringen, dann hält der dich warm.“

Sie nickte schwach gegen seine Brust.
 

Am nächsten Morgen besprach man sich auf dem Dorfplatz. Es waren nicht nur die Krieger, sondern auch, unaufgefordert, alle möglichen Frauen erschienen, die von Mahrran Antworten verlangten, als er wie gewohnt auf dem Rand des Brunnens stand, um die Meute überblicken – sofern möglich bei ihm – zu können. Es war noch relativ früh, ein sanfter Dunst lag über dem Ort, aber es war nicht besonders kühl an jenem Morgen. Die Weiber hüllten sich dennoch frierend in ihre Umhänge, während das Dorfoberhaupt der guten Luft dankte, die sein gereiztes Atemsystem etwas beruhigte – ein Hustenanfall vor all diesen Leuten wäre ihm äußerst unangenehm gewesen, wobei er sich sicher war, dass er seine Erkältung auf der Reise selbst nicht würde verheimlichen können. Er kam zu dem Schluss, dass es nichts machte – die Krankheit hatte reihum viele Männer und auch Frauen betroffen, er war nur einer von vielen. Außerdem hatte Alaji ihm am Morgen guten Saft gegeben, der würde ihn sicher bereits gesund gemacht haben, ehe sie am nächsten Morgen losgingen, genau.

Nun musste er erst einmal mit dem aufgeregten Pöbel fertig werden, den die Nachricht vom sehr nahen Aufbruch so plötzlich ziemlich hart getroffen zu haben schien. Man rief und fluchte, schimpfte und diskutierte und nachdem er sich mehrmals geräuspert hatte, erfolglos, behalf der Mann sich mit einem kurz aufleuchtenden, aber gleißend hellen Lichtball zwischen seinen Händen, der die geschlossene Aufmerksamkeit erhielt, auch wenn einige von denen in den ersten Reihen jammerten, man würde sie blenden – es ging schließlich rasch vorbei und niemand war ernsthaft zu Schaden gekommen.

„Ich bitte um Ruhe. Ich verstehe die Aufregung und ich werde jede Frage, die aufgekommen ist, nach bestem Wissen und Gewissen beantworten – aber eine nach der anderen. So, wer möchte zu mir sprechen?“

Viele Arme hoben sich und er nickte willkürlich einem Mann relativ weit vorn zu, der ihn mehr als nur misstrauisch musterte.

„Ich war schon bei dem letzten Angriff mit dabei. Und bei unserem ersten Vorstoß in das fremde Land, wo wir gleich unterhalb des Passes auf die Gruppe an Menschen gestoßen sind.“, begann er gleich zu sprechen, „Ich denke, ich kann mit gutem Gewissen behaupten, dass ich diese Leute kenne. Große, breite Männer sind das und sie wissen im Gegensatz zu uns sehr genau, was sie mit ihren monströsen Speeren, die übrigens viel größer sind als die unsrigen, tun müssen, um bei uns viel Schaden anzurichten.“

Er trat aus der Menge hervor und stellte sich genau vor den Brunnen, Mahrran ohne auch nur einen Hauch von Ehrfurcht in sein ungewohnt bleiches Gesicht blickend.

„Ich zweifle nicht an uns.“, sprach er dann weiter und verengte die auffallend schmalen, rötlichen Augen etwas, „Ich weiß, wer wir sind. Ich weiß, wozu wir in der Lage sind und ich bin mir sicher, wenn wir unsere Gegner nicht unterschätzen, dann können wir es schaffen, sie ein für alle Mal zu beseitigen. Zumindest ist dem so gewesen.“

Er senkte sein Haupt ein Stück, wirkte dabei jedoch nicht unsicher, sondern eher bedrohlich, weil seine scharfen Augen Mahrrans emotionsloses Antlitz noch immer durch den Schleier an längeren, schwarzen Ponysträhnen, die dem Mann nun ins Gesicht fielen, visierten. Auf dem Dorfplatz herrschte Ruhe. Das Götterkind fragte sich einen Moment lang, wer das, bei allem, was heilig war, war, der da so unverschämt vor ihm stand und es mit nur wenigen Worten und nahezu unscheinbaren Gesten schaffte, beinahe alle anderen Kalenao zu bannen. Er war ein mächtiger Magier, das spürte er sofort und dennoch hatte er sein Gesicht nur dunkel in Erinnerung, als er an die erste Reise in das Land in der Fremde dachte. Er hatte ihn nicht selbst für seine Gruppe ausgesucht gehabt, sondern ein anderer, guter Mann, den er seinerzeit damit beauftragt gehabt hatte, nach geeigneten Teilnehmern für die Expedition zu suchen, was dieser auch getan hatte. Jetzt schien es ihm etwas in die Quere zu kommen, zumindest sprachen die Götter so.

„Und warum soll dem nun nicht mehr so sein?“, hakte er nach, als er langsam ungeduldig wurde, und der seltsame Kerl hob sein Gesicht wieder.

„Sie haben den Seher. Sie haben Shiran, sie haben auch den Jungen aus dem Ekarett-Clan und wer weiß, wen noch – sie können die Magie verstehen, denn sie haben Magier, gute Magier, an ihrer Seite. Und wo sind unsere Menschen?“

Ein Raunen ging durch die Reihen und noch ehe Mahrran antworten konnte, erhob ein anderer Mann, für Kalenao-Verhältnisse groß und ziemlich breit, Einspruch.

„Ach, was für einen Unsinn du da von dir gibst! Denk nicht zu viel, mach einfach! An diesen primitiven Viehchern gibt es nichts zu verstehen, die sind wie Bergziegen, nur dümmer, soll uns einer von denen beibringen, wie man Mäh sagt?“

Aus einigen Ecken erklang verhaltenes Gelächter. Mahrran rümpfte die Nase. Er war sich selbst nicht so sicher, in wie weit dieser Mann zu seinen Füßen recht hatte mit seinen Behauptungen, aber sie waren es definitiv wert, überdacht zu werden. Er selbst hatte Kili... und Kili stand sicherlich keiner Kalenao-Frau in Intelligenz nach. Das war beunruhigend... vor allen Dingen Shiran, an den hatte er allerdings auch schon selbst gedacht und dementsprechend gehandelt.

Der Schwarzhaarige stand unterdessen starr da und erwartete sein Urteil, nicht einmal mit einem Zucken auf den Spott reagierend, als ob er ihn gar nicht gehört gehabt hätte.

Mahrran schenkte ihm trotz seines starren Erscheinungsbildes ein Grinsen, sich nebenbei überlegend, dass er sich demnächst danach erkundigen musste, was es mit diesem seltsamen Mann auf sich hatte, die meisten Dorfbewohner schienen schließlich ihre Meinung von ihm zu haben...

„Um Shiran solltest du dich nicht sorgen. Ich habe ihn unter Kontrolle – die Macht eines Götterkindes ist größer als die eines Sehers. Und Shiran ist nicht besonders begabt, ich denke nicht, dass er dem viel entgegen zu setzen hat.“, er räusperte sich, nach den richtigen Worten suchend, „Wie sich wohl herumgesprochen hat, ist meine Frau ein Mensch und somit weiß ich aus erster Hand, wie Menschen sind... und zu meinem Bedauern sind sie längst nicht so dumm wie Bergziegen. Nicht, dass ich mir eine dumme Gattin wünschen würde...“

Seine scharfsinnige Kili war schon recht so, wie sie war, auch wenn er ihr das ein oder andere Mal zu seinem Leidwesen misstrauen musste. Aber egal, was sie tat, er hatte sich geschworen, ihr zu verzeihen. Es war nicht leicht für sie, sie hatte einen hohen Status in ihrem Stamm inne gehabt, bevor sie zu ihm kam und das Gefühl, noch immer für diese Menschen verantwortlich zu sein, wurde sie nicht los. Dementsprechend handelte sie auch... Mahrran fand das verständlich, wenn auch etwas mühsam für ihn selbst. Irgendwann würde sie sich den Umständen ergeben...

Er fuhr fort.

„Dennoch bin ich der Meinung, dass sie uns – mit oder ohne Shiran – nicht wirklich einzuschätzen wissen. Wir haben ihnen längst noch nicht alles gezeigt...“

Darauf stimmten ihm einige der Krieger grölend zu und der seltsame Mann zu seinen Füßen hob kurz die Brauen, ehe er sich umdrehte und sich wieder bei den anderen einreihte.

„Wir werden diesen Idioten zeigen, mit wem sie es zu tun haben!“, behauptete der große, breitschultrige Kerl von zuvor lautstark und viele stimmten ihm zu. Einige der Frauen schnaubten jedoch, wesentlich weniger überzeugt. Natürlich, sie liefen Gefahr, die Familienernährer zu verlieren...

Eine von ihnen hob die Hand, Mahrran einen entnervten, säuerlichen Blick schenkend.

„Sprich.“, erlaubte er ihr und fragte sich, ob das bei ihrer Miene eine so gute Idee gewesen war.

Sie verschränkte unwillkürlich die Arme vor den sehr üppigen Brüsten, ihm mit ihrer Haltung absolut zu verstehen gebend, dass sie weder von ihm, noch von der Aktion viel hielt.

„Wo ist Nadeshda?“, erkundigte sie sich da unerwartet, „Nichts gegen Euch, Herr, aber irgendwie habe ich ihr in solchen Situationen mehr getraut. Wo ist sie?“

Mehr getraut. Er musste sich zusammenreißen, dieses Weib nicht auf der Stelle zu vernichten für seine Worte – mehr getraut – war er ein Kind oder ein Mann?

Dass er nicht sofort antwortete deutete sie fehl und nahm an, sie solle, wie der seltsame Schwarzhaarige von zuvor, der nun regungslos in den Reihen stand, hervortreten, was sie dann auch tat und Mahrran trotz ihres sehr kleinen Ausschnitts einen ungewollt interessanten Einblick gewährte. Verdammt, diese Frau hatte einen wirklich, wirklich üppigen Vorbau, wie sollte er ihr denn so antworten? Dabei fand er das nicht einmal besonders schön, das war irgendwie zu viel des guten... Kili war was das betraf wirklich perfekt. Aber zu dünn, das besserte sich jedoch auch langsam... ach verdammt, was dachte er da, er musste sich konzentrieren.

Er errötete unwillkürlich, als er sich dazu zwang, der Frau wieder in ihr Gesicht zu blicken und bemerkte, dass ihr Ausdruck sich verändert hatte... in belustigt.

„Ist schon gut, jeder schaut da hin, antworte mir nur.“

Er hüstelte und durch die Reihen ging ein verhaltenes Glucksen. Er musste antworten, aber ganz schnell...

„Das glaube ich gern, du liebe Güte... nun ja. Nadeshda ist krank, sie wird wieder gesund werden, aber ihre Genesung wird noch dauern... bis in den Feuermond, wenn ich mich nicht irre.“

Mahrran kratzte sich kurz am Kopf, als diese verdammte Frau auf seltsame Weise erleuchtet die Brauen hob und auch andere Weiber untereinander zu tuscheln begannen.

„Aah.“, kam dann gedehnt von ihr, „Das überrascht mich jetzt aber wirklich. Unsere Herrin bekommt ein Kind...“

Darauf wurde das Getuschel lauter, die Frauen nickten wenig überrascht, die Männer warfen sich untereinander verwirrte Blicke zu. Mahrran schnaubte entsetzt.

„Wie kommst du bitte darauf?!“

Er hatte sie doch gar nicht verraten wollen, was sollte das? Er sollte dieses Weib wirklich zufällig stolpern und sich das Genick brechen lassen für seine Frechheit! Wobei das vielleicht irgendwann auch von selbst geschah, weil sie sich nach vorne beugte und das Gleichgewicht dank ihres riesigen Busens verlor... was man wohl für Einblicke hatte, wenn die sich nach vorn beugte?

Himmel, er sprach hier zu dem Volk, er musste sich zusammenreißen!

„Nun ja, bei welcher Krankheit weiß man sonst, wann sie endet?“

Eine weitere Frau mischte sich ein, Mahrran erkannte sie als die Natter, als sie aus der Menge neben ihre Vorrednerin trat, offenbar ebenso in der Annahme, man müsse hervortreten, wenn man etwas sagen wolle. Die Andere warf ihr einen schrägen Blick zu, ließ sie jedoch kommentarlos sprechen.

Iavenya hielt ihr Haupt vor ihrem Herrn gesenkt, die Hände auf ihrem gerundeten Bauch gefaltet, lächelte jedoch ein giftiges Grinsen, das sie dem normalen Volk bereits oft offenbart hatte.

„Genau so ist es...“, wisperte sie beinahe andächtig, „Unserer Herrin ist ein kleiner Fehltritt geschehen und nun will sie es vor uns verheimlichen, damit sie das Resultat beseitigen kann und nicht heiraten muss... oder nicht?“

Sie sah auf und es war das erste Mal in seinem Leben, dass Mahrran erlebte, dass sie ihn ansah, direkt in die Augen, ohne Demut oder Angst. Er erkannte sie überraschend genau in jenem Moment, ihre gelben Iriden, die beinahe so stechend waren wie die von Nadeshda, ihr seltsames, hinterlistiges Lächeln und ihr merkwürdig geschnittenes schwarzes Haar.

Die Natter hatte es vollends erfasst... und das ahnten auch die anderen, die wieder irritiert zu tuscheln begannen. Die andere Frau neben Iavenya schenkte ihr nun einen verblüfften Blick.

„Lehnst du dich damit nicht etwas zu weit aus dem Fenster?“, wollte sie wissen und die Angesprochene schüttelte nur beinahe unmerklich den Kopf.

Mahrran zischte, ohne es verhindern zu können. Ein frischer Wind vom Meer ließ den morgendlichen Dunst sich verflüchtigen und die Frauen noch mehr in ihre Umhänge hüllen.

War es dieses hinterlistige Volk überhaupt würdig, erhalten zu bleiben? Wie konnte man seinen Herrn so in Frage stellen?!

„Was mit meiner Schwester ist, tut hier nichts zur Sache!“, fauchte er die beiden zu seinen Füßen dann unabsichtlich aggressiv an und sie fuhren zurück, als er schwungvoll vom Rand des Brunnens vor ihre Füße sprang und der Versammlung den Rücken kehrte.

„Morgen bei Sonnenaufgang am südlichen Ende des Dorfes. Die Versammlung ist aufgelöst.“

Und noch während er ging konnte er unter dem irritierten Tuscheln der Meute Iavenyas Kichern vernehmen.
 

Der nächste Morgen kam und obwohl ein leichter Nieselregen auf das Land niederging, war es nicht unangenehm an jenem Tag, denn das an sich eher warme Gebiet hatte den Kampf gegen den kurzen Winter letztendlich doch noch gewonnen. Mahrran fühlte sich tatsächlich etwas besser, auch wenn der seltsame Saft von Alaji ihm etwas im Hals brannte. Besser als Husten, dachte er sich und bekämpfte den unangenehmen Reiz und den unbekannten Schmerz in der Brust gekonnt, während er auf seine Krieger wartete. Die ersten waren bereits eingetroffen, viele hatten ihre Frauen und Kinder mitgebracht, um sich an Ort und Stelle von ihnen zu verabschieden...

Er bemerkte die Frau mit dem großen Vorbau vom Vortag, die man sogar anstarren musste, wenn ihre Bluse am Hals verschnürt war, bei einem dürren, relativ großen Mann mit hellgrünem Haar, zu dem sie offenbar gehörte. Er kannte den Kerl flüchtig, manchmal brachte er das Holz an das Haus... ein besonders begabter Magier war er nicht und er schien auch keine wirklich besonders große Lust zu haben, mitzugehen, wie die innige Umarmung mit seiner Frau, die er scheinbar gar nicht mehr beenden wollte, erahnen ließ. Nicht, dass Mahrran ihn nicht irgendwie verstanden hätte...

„Sie ist ein seltsames Mädchen.“

Mahrran fuhr herum und stand einem etwas älteren Herrn gegenüber, dessen Blick ebenfalls auf dem Paar ruhte.

„Sie ist meine Nichte, weißt du? Mutiges Ding. Ihr Gatte ja weniger.“

Das Götterkind nickte. Gut, dass er ihn noch einmal ansprach.

„Bist du dir sicher, dass du mitkommen möchtest? Du bist nicht mehr der Jüngste und ich könnte es nie verantworten, wenn dir etwas zustieße...“

Der Mann war sehr klug. Er hatte bereits Mahrrans Vater mit Rat und Tat zur Seite gestanden und tat es bei dem Sohn nun abermals... er war es auch gewesen, der seinerzeit die Gruppe zusammengestellt hatte, mit der Mahrran in das Land der Menschen gereist war. Da fiel ihm noch etwas ein...

Sein Gegenüber lachte derweil.

„Bitte, Junge, so alt bin ich nun auch wieder nicht. Ich kann dich doch nicht allein schicken... das mit Shiran das letzte Mal war eine Katastrophe, das darf sich nicht wiederholen.“

Da hatte er allerdings recht. Der Jüngere musste wohl oder übel nicken, auch wenn ihm nicht wohl dabei war, diesen wichtigen Berater mitzunehmen, wo er ihn im Dorf vermutlich noch öfters gebraucht gehabt hätte...

Er verdrängte die Gedanken daran kurzzeitig, kurz den Blick über die noch unvollständige Gruppe schweifen lassend.

„Ich wollte dich noch etwas fragen.“, erwähnte er dann, „Dieser Kerl, der mich bei der Versammlung diese seltsamen Dinge gefragt hat, wer war das eigentlich? Ich wusste, dass er damals mit dabei war, als er es erwähnte, aber weiter konnte ich ihn nicht zuordnen...“

Er hoffte, es war nicht beschämend, wenn man als Dorfoberhaupt nicht mit jedem Gesicht etwas anzufangen wusste. Sein Berater musste zunächst kurz nachdenken, wen er überhaupt meinte, dann hob er verstehend die Brauen und nickte.

„Sein Name lautet Chigaru Tamassy. Ich kenne ihn nur, weil er in der selben Straße wohnte wie ich, ich habe ihn da aufwachsen sehen. Ein seltsames Kind, aber Verlass war schon immer auf ihn.“

Mahrran nickte.

„Und deshalb hast du ihn damals mitgeschickt?“

Verlässlichkeit war natürlich eine äußerst gute Eigenschaft für das Operieren in einem solchen Bereich, dennoch misstraute er ihm irgendwie. Der Berater kratzte sich kurz am Kopf.

„Auch, aber nicht nur. Verlässlichkeit setze ich voraus, wenn ich nach geeigneten Kandidaten für bestimmte Anlässe suche, mein Junge. Nein, Chigaru ist sehr intelligent, glaube ich. Niemand weiß das zu schätzen, aber es ist nützlich.“

Mahrran musste auf diese Worte leicht glucksen. Niemand wusste seine Intelligenz zu schätzen? Dass das bei vorlauten Personen vorkam, kannte er, aber dieser Mann hatte nicht unbedingt so gewirkt, als würde er Tag und Nacht mit seinem Wissen – falls wirklich vorhanden – prahlen.

„Er muss eine seltsame Familie haben.“, stellte er so nur kopfschüttelnd fest und grinste, und der andere Mann seufzte.

„Das trifft es ganz gut. Er ist das erste Kind seiner Mutter, sie hatte ihn mit einem Mann, der zwei Monate nach seiner Geburt verstarb, ein furchtbar guter Kerl, wenn man ihn denn kannte, er konnte auch anders! Jedenfalls hat er sehr viele Halbgeschwister, die sich alle sehr von ihm unterscheiden...“

„Sie sind dumm wie Bohnengras.“, ahnte Mahrran und der Ältere gluckste verhalten.

„Ja, so in etwa.“

Sie unterbrachen ihr Gespräch, als jener Chigaru Tamassy die Straße hinab kam. Sein Ausdruck war vollkommen neutral, er ließ sich nicht anmerken, ob seine Götter ihn über das Gespräch unterrichtet hatten oder nicht, als er nah genug war nickte er den beiden Männern bloß kurz zu und stellte sich dann abseits, wie alle anderen auf die Ankunft der kompletten Gruppe wartend.

Sie brachen auf, als die Sonne gerade eben über dem Meer aufgetaucht war. Die Reise war weit.
 

Nadeshda hielt sich selbst für eine Närrin, als sie am frühen Morgen auf den Steinen vor ihrem Haus saß und auf das Dorf hinab blickte. Der Regen hatte aufgehört und sie fühlte sich dank des aufgehenden Wassermondes sehr gut, dennoch wurde ihre Laune von Sorge getrübt.

Sie war sauer auf Mahrran, der sich einfach gegen sie gestellt hatte. Sie fand sein Handeln idiotisch... aber er war doch ihr Bruder. Und er war krank... sie wusste, dass Alaji ihr diesbezüglich etwas verheimlichte und kurzzeitig wurde sie sauer und nahm sich vor die andere Frau dafür gehörig zu bestrafen. Wie konnte sie es wagen, so leichtfertig zuzulassen, dass ihr Herr sich in eine solche Gefahr begab?

Sie seufzte. Oder umgekehrt, wie hätte sie ihn aufhalten sollen?

„Du solltest da nicht sitzen, der kalte Stein ist nicht gut für dich.“

Zu ihrer Überraschung kamen jene mahnende Worte nicht von der Heilerin, sondern von Rayada, die plötzlich vor ihr stand, die Hände hinter ihrem Rücken und sie beinahe streng musternd. Nadeshda senkte die Brauen, als sie sich von dem Blick über den Ort und das Meer abwandte.

„Wer hat dir erlaubt, mich so respektlos anzusprechen?“, fragte sie lauernd und ihr Gegenüber seufzte bedauernd.

„Verzeiht, es... ist noch früh am Morgen. Ich denke, ich bin noch nicht ganz wach... aber ich fürchte, da zu sitzen tut euch wirklich nicht gut, Herrin, das kann einem übel auf die Blase schlagen und wie das Wasserlassen sich dann anfühlt, glaubt mir, das wollt Ihr nicht wissen...“

Verwirrt von dem Gedanken an eine Blasenentzündung dachte die Kleinere kurz nach, ehe sie sich tatsächlich erhob. So etwas unnötiges musste sie sich nun wirklich nicht auch noch einfangen, es reichte, wenn Mahrran krank war.

„Wieso bist du bereits auf?“, wechselte Nadeshda darauf galant das Thema und ihr Gegenüber legte den Kopf leicht schief.

„Ihr seid es auch.“, erklärte sie leichten Mutes, „Ich bin die Haushälterin, ich sollte nicht länger schlafen als die Hausherrin...“

Sie verstummte und senkte kurz den Blick etwas. Als sie dann wieder sprach, überraschten Nadeshda ihre Worte nicht ernsthaft.

„Ich glaube, dass es ein Fehler von dem Herrn war, da mitzugehen... verzeiht.“
 


 

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OMG - es ist da Schigharhuh!!!11111zwölf

Verantwortung

Die Jäger waren zurückgekehrt. Schon von weitem war zu erkennen, dass sie reiche Beute gemacht hatten und sie baten prompt um weibliche Unterstützung, denn weiter außerhalb hatte man notdürftige Vorratsgruben angelegt, um die sich gekümmert werden sollte; das ließen sich die dankbaren Frauen nicht zweimal sagen.

Moconi kam das gerade recht. Die Stimmung im Stamm war die letzten Tage weniger schlecht als höchst besorgt und dadurch sehr angespannt gewesen, denn Shirans abrupte Aufforderung an die Gäste, rasch zum Kojotenstamm zurückzukehren, hatte niemanden sonderlich beruhigt. Den Häuptling überdies auch nicht und es machte ihn beinahe verrückt, dass er nichts intelligentes wusste, womit er seine Leute besänftigen konnte... seinem Vater wäre etwas eingefallen, und wenn es noch so unlogisch und hirnrissig gewesen wäre, dann hätte es die Stimmung eben gekippt, indem ihn alle ausgelacht hätten. Er besaß dieses Talent nicht... Saltec hatte immer gesagt, er dachte zu viel. Vielleicht hatte er damit recht gehabt. Ausnahmsweise.

An jenem klaren Abend war die Stimmung jedoch gut. Ein großes Feuer war im Zentrum des Lagers entfacht worden, wo alle gemeinsam das gute Fleisch, das am Tag gebracht worden war, zubereiteten, verspeisten und vor Erleichterung – immerhin dieses Problem hatten sie nun weniger – etwas feierten.

Es freute Moconi, dass sein Stamm sich etwas entspannen konnte und seufzend beschloss er, letzteres auch selbst zu versuchen... das würde ihm jedoch nicht in der Gruppe gelingen. Und so erhob er sich in einem scheinbar unbeobachteten Moment und verließ den Festplatz.

Der junge Mann war schon immer lieber allein oder in kleiner Gesellschaft gewesen. Es war nicht so, dass er es hasste, mit vielen Leuten zugange zu sein – wie beispielsweise Ardoma und ihr Bruder Randary, wie er doch stark annahm – aber im Großen und Ganzen war er dann doch lieber für sich, auch wenn er sich ungern als Einzelgänger bezeichnen ließ.

In Gedanken vertieft setzte er sich unweit außerhalb des Lagers auf einem kleinen Hügel ins Gras. Das Feuer war groß und die Menschen so laut, dass es eher unwahrscheinlich war, dass sich in der Umgebung ein gefährliches Tier befand, sicherheitshalber hatte er dennoch einen Speer mitgenommen; wenigstens daran hatte er gedacht. Es war frisch, aber seltsamerweise für die Jahreszeit relativ warm, was sich ziemlich mit dem Wetter des vergangenen Erdmondes biss. Die Götter spielten seltsame Spiele mit ihnen...

Die langen Halme um ihn herum wogen sich leicht in einer sanften nächtlichen Brise und der Mann hob seufzend den Kopf und blickte in den Himmel. Über ihm erstreckte sich das unendliche Sternenfeld mit dem halb aufgegangenen Wassermond und dem noch als Sichel erkennbaren Erdmond in entgegengesetzter Richtung... es war ein hübscher Anblick. Aber auch ein für ihn selbst betrübender... die Nacht, in der er Häuptling geworden war, war ähnlich gewesen.

Abrupt riss ihn das Rascheln von Gras hinter ihm aus seinen Gedanken. Je nachdem, um was für ein Tier es sich handelte – es musste ziemlich mutig sein – konnten hastige Bewegungen sehr gefährlich werden, also drehte er sich zunächst nicht um, sondern konzentrierte sich darauf, behände seinen Speer zu ergreifen, den er zuvor neben sich abgelegt hatte. Kurz darauf wurde er jedoch beruhigt.

„Schon gut, ich bin es nur.“

Als er sich nun doch umdrehte, stand dort – und das hätte ihn beinahe mehr erschreckt als jedes wilde Tier der Savanne – Calyri. Sie hatte einen Faustkeil in der Hand, der zwar sicherlich nicht ihr selbst gehörte, den Häuptling jedoch vor der unliebsamen Aufgabe bewahrte, sie für ihre Verantwortungslosigkeit zu tadeln. Verantwortung...

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Er lächelte matt, dann nickte er und drehte sich wieder um, weg vom Lager und dem dortigen Geschehen. Die junge Frau setzte sich darauf dicht neben ihn und folgte seinem Blick in den Himmel.

„Warum tust du dir das an?“

Sie hob verblüfft beide Brauen über Moconis ernste Frage. Als sie ihn verwirrt von der Seite anschielte, reagierte er nicht darauf und sie errötete. Sie wusste ja, was er meinte...

„Ich weiß es nicht. Ich bin eine schwache Frau und bringe Schande über meine Mutter... ach Himmel. Aber ich hänge schon so lange an... dir...“

Sie senkte ihr Haupt etwas und erschauderte dann angenehm überrascht, als er plötzlich noch etwas näher rückte und sie in seine Arme zog, leicht errötend, sie jedoch immer noch nicht ansehend.

„Mir soll es recht sein, wenn du damit leben kannst.“, kam dann die erstaunlich nüchterne Antwort, während er begann, der jungen Frau sanft durch ihr braunes Haar zu streichen. Sie schmiegte sich leise seufzend an ihn.

„Ich rede so gern mit dir.“, erklärte er dann nach einer Weile des Schweigens, „Ich finde es schrecklich, dass es so schwierig ist. Als Häuptling sollte man es doch leichter haben... sollte man meinen. Ich hasse es.“

Er wusste, dass er vor ihr ehrlich sein konnte. Sie kannte ihn, sie kannte ihn in und auswendig, außer Kili gab es sicherlich keinen lebendigen Menschen, der ihn so gut kannte wie sie. Und sie wusste, was er dachte und wie er sich fühlen musste bei all dem, vor dem er nicht entkommen konnte.

Das bestätigte ihm auch ihr nächster leiser Satz.

„Ich verstehe nicht, wie dein Vater dir das antun konnte.“, sie legte eine Hand auf seine Brust, zärtlich darüber streichend, „Er kannte dich doch. Er wusste, dass er dich damit unglücklich macht... ich kann es nicht verstehen.“

In erster Linie war es natürlich eine Ehre, den Posten des Häuptlings zu erlangen und es war zwar nicht immer so, aber auch nicht unüblich, dass ein Stammesoberhaupt das Amt an seinen Sohn weiter gab, aber so intelligent hätte Saltec sein müssen. Moconi konnte sehr gewissenhaft sein, aber er war kein Anführertyp. Er gab sein bestes, doch das reichte nicht... und sie befürchtete, dass er am Ende daran zerbrach. Calyri beschloss, gut auf ihn acht zu geben, egal was geschah, auch wenn sie niemals an seine Feuerstelle gelangen konnte.

Bis er antwortete, dauerte es eine Weile. Was er dann sagte, irritierte die junge Frau etwas.

„Ich denke, ich weiß, weshalb er es getan hat.“

Auch wenn sie die Nähe zu ihm genoss, setzte sie sich vor Überraschung wieder auf, um ihm ins Gesicht blicken zu können, das er rasch wieder von ihrem ab- und dem Wassermond zuwandte. Sie legte den Kopf leicht schief.

„Du weißt es? Ich dachte, du seist genau so überrascht gewesen wie alle anderen auch?“

Zumindest hatte es damals doch sehr so gewirkt. Die Erinnerung an einen abgrundtief überforderten, verzweifelten Moconi hatte sich ihr fest eingebrannt...

Er nickte leicht.

„Ja... das stimmt auch. Ich wusste es im ersten Moment nicht. Und im zweiten auch nicht... es dauerte einige Zeit, bis mir dämmerte, weshalb er es getan hatte... zu diesem Zeitpunkt hat mich allerdings bereits niemand mehr danach gefragt. Und selbst wenn, ich hätte es auch nicht erzählt. Es war... meine eigene Schuld.“

Er senkte die Brauen etwas. Daran zurückzudenken war unangenehm... er hatte einen großen, vielleicht sogar beschämenden Fehler gemacht, der ihm damals nicht einmal entfernt als ein solcher erschienen war. Jetzt war es zu spät...

Er spürte, wie Calyri seine Hand ergriff und sanft in ihrer drückte und fühlte sich ihr gegenüber verpflichtet, nun weiter zu sprechen. Sie war doch so neugierig... und auch wenn er sie nicht als Frau haben konnte, so war und blieb sie doch seine Freundin.

„Es... gab da so einen Vorfall. Unmittelbar bevor Vater auf seine letzte Jagd ging, du weißt schon... da, als er sich die Verletzung zuzog, die ihn so krank machte und dann umbrachte.“

Die Frau nickte und er senkte den Blick.

„Es ist seltsam, daran zurückzudenken. Ich habe das Gefühl, damals bin ich ein anderer Mensch gewesen...“

„Ungestümer.“, bestätigte sie ungefragt und er nickte.

„Das auch, ja. Jedenfalls...“
 

Es war ein schöner Tag im Frühling und Saltec war guter Laune. Er war meistens guter Laune, aber an jenem Tag besonders; es war einfach alles gut.

„Du hast mir Proviant vorbereitet?“, fragte er seine Tochter Kili verblüfft, die ausnahmsweise einmal in der sanften Sonne saß und einen Rock mit getrockneten Beeren verzierte. Sie sah nicht auf, wirkte auch nicht ernsthaft interessiert, nickte aber.

„Ja, ich dachte, ich mache mich einmal nützlich. Ich bin keine Frau für ein Kochfeuer, das wirst du auch schmecken, aber immerhin.“

Der Mann strahlte und tätschelte ihr den Kopf.

„Ich bin mir sicher, es ist der beste Proviant, den jemals ein Jäger dieses Stammes mitgenommen hat, einfach, weil du ihn gemacht hast!“

Sie schnaubte, als er sich noch im selben Augenblick daran machte, die verschiedenen eingewickelten Nahrungsmittel in einen Lederbeutel zu packen.

„Vorsicht, meine schöne Frisur...“

Er gluckste nur. Wie gut, dass sie ihm diesen unerwarteten Gefallen getan hatte, bereits am Nachmittag wollten sie aufbrechen und er hatte es, zerstreut wie er nun einmal war, bisher noch nicht geschafft, alles für die Reise vorzubereiten. Etwas Hilfe konnte da nicht schaden... er wagte einen Versuch.

„Moconi?“, er wusste, dass sich sein Sohn auf der anderen Seite der Hütte befand und sich seiner Lieblingsbeschäftigung – Herumliegen – nachging. Er hatte ja recht, Herumliegen war wirklich eine gute Sache...

Auf einen genervten Ton von dem Sohn sprach er weiter.

„Schau, da ganz in der Nähe müssten meine Speere liegen... neben dem breiten Pfosten, siehst du sie? Kannst du sie mir bitte bringen?“

Er war noch immer mit dem Verstauen des Proviants beschäftigt; das würde vorerst reichen. Kili musste wirklich Langeweile gehabt haben...

„Hol es dir selbst! Was willst du denn, tse...“

Er rollte seufzend mit den Augen. Seine Tochter gluckste, sah jedoch nicht auf.

„Bitte Moconi.“

„Nein.“

„Bitte!“

„Halt den Rand.“

Er kratzte sich am Kopf, auf dem sein Haar glücklicherweise nicht ganz so abenteuerlich abstand wie das seines Sohnes; dabei kämmte er sich viel seltener...

„Ich repariere dir deinen Lieblingsspeer, wenn du mir meine nun bringst!“

Der war dem Tölpel nämlich vor kurzem kaputt gegangen. Wie erwartet hörte er das Gras darauf rascheln und wenige Augenblicke später erschien Moconi mit düsterer Miene und warf ihm seine Speere vor die Füße.

„Da. Ich erinnere dich dran...“

Saltec nickte frohen Mutes, seine Jagdwaffen einsammelnd und alle bis auf eine sorgfältig an seiner Rückentrage befestigend. Während er das tat, antwortete er.

„Nicht nötig, aber vielen Dank. Wie wäre es, wenn du uns begleitest?“

Der Jüngere verschränkte die Arme vor der Brust und lachte ironisch, den Häuptling abschätzend bei seiner Arbeit beobachtend. So weit kam es noch...

„Keine Lust. Du erlegst sicher genug für uns alle.“

Der Mann richtete sich wieder auf und wischte sich seufzend über die Stirn. Die Frühlingssonne war ganz schön stark... er lächelte.

„Das mag sein, aber ich finde, du jagst zu selten. Es hat etwas mit Verantwortung zu tun; nicht nur für dich selbst und deine Familie, sondern für den kompletten Stamm, verstehst du? Es gibt immer eine Familie, die noch mehr Nahrung gebrauchen kann, Moconi.“

Seine Miene war nicht zu trüben... die seines Sohnes war da das Gegenteil, die war grundsätzlich trüb, zumindest, so lange er in seiner Nähe war. Oder er grinste dreckig... in jenem Moment hob er jedoch bloß genervt beide Brauen.

„Erzähl du mir nichts von Verantwortung, du kennst nicht einmal die einfachsten Traditionen, dabei war dein Vater mit Sicherheit einer der weisesten Häuptlinge, die dieser Stamm jemals hatte.“

Er wollte sich abwenden, doch Saltec setzte ihm unmittelbar darauf nach, was ihn noch einmal inne halten ließ. Er erwiderte seinen verblüfften Blick.

„Das mag wohl sein, ich wage nicht, das zu bezweifeln. Ich habe meinen Vater zwar selten verstehen können, aber ich bin mir sicher, er war ein kluger Mann. Aber du, Moconi, missverstehst hier gerade etwas.“

Leider traf dieser Satz keinen so fruchtbaren Boden, wie der Häuptling es sich erhofft hatte, denn sein Gegenüber zuckte lediglich gelangweilt mit den Schultern. Dann war es eben so... er sprach dennoch weiter.

„Du magst dich streng an unsere Traditionen halten – oder zumindest an die, denen du etwas abgewinnen kannst – aber Traditionsbewusstsein macht noch längst keinen verantwortungsbewusst, Sohn, mache dir das klar.“

Und wieder nur ein Schulterzucken.

„Na, wenn du das sagst.“, er drehte sich um, nun endgültig wieder gehen wollend, „Dann wird das wohl auch so sein... nicht.“

Und beinahe wäre ihm die Flucht gelungen, da wagte sein Vater es, ihn am Oberarm zu packen und zurückzuhalten. Moconi fuhr zischend herum.

„Was denn noch?!“

Hatte er ihm nicht brav seine Speere gebracht? Das war ja wohl mehr als genug für einen solchen Trottel wie ihn... zu seiner Überraschung war seine Miene jedoch ernst.

„Hör zu.“, kam dann von ihm, „Mir ist nicht sonderlich wichtig, was du von mir hältst, aber dass du diese Lektion verstehst, ist von oberster Priorität.“

Lektion, nannte er es, als ob er selbst die Bedeutung dieses Wortes auch nur im Ansatz gekannt hätte. Moconi riss sich grob los.

„Ach bitte! Die Traditionen sind Regeln, die unsere Ahnen uns hinterlassen haben! Sie haben die Erfahrungen gemacht und ersparen uns heute damit so einiges! Wir haben es leicht, wir müssen uns nur an die Traditionen halten und alles hat seine Ordnung – wie kann ich dann nicht verantwortungsbewusst sein, wenn ich das doch so genau weiß und mein Leben danach richte?“

Er wusste, dass sein Vater diese Meinung nicht teilte und seinerseits nicht sonderlich viel von den Traditionen hielt, was der junge Mann einfach nur lächerlich fand. Bei dem Gedanken daran, sich nun wieder einen Vortrag über seine abgedrehten Sichtweisen von den Göttern und der Welt anhören zu müssen, stieß es ihm sauer auf.

„Unsere Ahnen richteten die Regeln, nach denen sie lebten, nach den Gegebenheiten ihrer Zeit – aber die Zeiten ändern sich, heute ist nicht früher und das Leben verlangt andere Handlungsweisen von uns, wenn wir in unserem Land bestehen wollen. Ich sage, wir gehen zu Grunde, wenn wir uns engstirnig an die Traditionen klammern, wir müssen flexibel sein und auf jede Situation angemessen reagieren können, Moconi!“

Saltec hielt dem extrem düster gewordenen Blick seines Sohnes kurz stand, dann hob er eine Hand und strich sich seufzend durch sein Haar. Das wurde so nichts... er musste Prioritäten setzen – wenn es denn nicht längst zu spät dafür war.

„Außerdem müssen wir auch viele Entscheidungen treffen, die sich in Grauzonen befinden, für die es keine traditionelle Ratschläge gibt. Zum Beispiel beim Verbleib von gesunden, kräftigen jungen Männern, wenn eine Jagd ansteht. Und ich sage, du wirst mitkommen, Moconi.“

Kurz trat Entsetzen in das Gesicht des Sohnes, dann blanke Wut. Was bildete er sich ein? Er würde sicherlich nicht auf einen solch ahnungslosen Taugenichts wie diesen Mann hören... und befehlen ließ er sich schon einmal überhaupt nichts, da war er anderes gewohnt. Er fauchte.

„Das kannst du vergessen! Nirgendwo werde ich hingehen, du kannst mich nicht zwingen, da mitzugehen und... wie du es ausdrückst, „Verantwortung“ zu übernehmen!“

Seine Interpretation dieses Wortes war eine Schande, fand der Jüngere, der vor Wut und irgendwie auch Scham darüber, dass jemand wie Saltec es gewagt hatte, ihm zu befehlen, die Hände zu Fäusten ballte. Verantwortung bedeutete das Achten der Tradition, nichts anderes! Nun mitzugehen würde ihn vor all den anderen, denen er schon erklärt hatte, er würde im Lager die Stellung halten, entehren – zudem war es bei der Menge an Jägern, die sich bereit erklärt hatten, mitzugehen, wirklich nicht von Nöten, fand er.

Missmutig verfolgte er, wie sein Vater wieder auf ihn zutrat und die kurze Distanz überwand, um direkt vor ihm zum Stehen zu kommen und ihm ernst in die Augen zu blicken. Ein ernster Blick war bei ihm irgendwie auch fehlplatziert...

„Du wirst mitkommen. Und du wirst für das Wohl dieses Stammes jagen. Das wirst du.“

Der junge Mann schnappte bei dem Nachdruck, mit dem die Worte gesprochen wurden, vor Zorn zitternd nach Luft. Kili, neben der toten Feuerstelle sitzend, schwieg, schielte jedoch von ihrer freiwilligen Arbeit verstohlen zu ihrem Vater und ihrem Bruder, auffällig inne haltend.

„Ich werde gar nichts.“, presste Moconi darauf hervor und ihm sträubten sich seine nur geringfügig vorhandenen Nackenhaare vor Gram. Saltec bemerkte den Missmut seines Gegenübers, ging aber nicht darauf ein. Vielleicht hätte er sich in jungen Jahren nicht ganz so extrem gegen das Regime seines eigenen Vaters stellen und seine Kinder zumindest ein klein wenig erziehen sollen...

„Du hast keine andere Wahl, der Häuptling befiehlt es dir.“

Was dieser Satz in dem Jüngeren auslöste, konnte der Mann nicht ahnen. Er wusste nicht, wie wütend nur wenige ernste Worte von ihm sein törichtes Kind machen konnten und so stolperte er vollkommen unvorbereitet und überrumpelt einige Schritte zurück, als Moconis kräftiger Kinnhaken ihn traf. Mit einem seiner Füße landete er in der erloschenen Feuerstelle und wirbelte schwarze Asche auf, die genau auf Kilis neuem Kleidungsstück landete; das verblüffte Mädchen hatte zunächst allerdings nur Blicke für das abstruse Spektakel vor ihm.

Eine Weile sprach niemand. Der Häuptling hob mit geweiteten Augen eine Hand, um seinen grauenhaft schmerzenden Unterkiefer zu betasten und nebenbei festzustellen, dass er sich die Lippe aufgebissen hatte. Moconi beobachtete ihn mehr und mehr erbleichend dabei.

Dafür konnte er ihn des Stammes verweisen... er konnte ihn in jeglicher Weise entehren, er konnte ihn demütigen, wie er wollte, und er hatte kein Recht, sich darüber zu beschweren. Und er würde ihm weh tun, zumindest wenn er – und das war spätestens nun relativ wahrscheinlich – sauer wurde. Moconi hatte seinen Vater erst einmal vor Wut außer sich erlebt und das war für jemanden der Anfang vom Ende gewesen. Ihm wurde heiß und kalt gleichzeitig. Er fürchtete um sein Leben und bedauerte seinen herben Ausrutscher deswegen – dass er seinen eigenen Vater vor den Augen seiner Tochter zutiefst entehrt und beschämt hatte, war ihm relativ gleich.

Saltec reagierte anders, als er es erwartet gehabt hätte. Nachdem er seinen Unterkiefer etwas abenteuerlich hin und her bewegt hatte und ein unschönes, aber wohl nicht unbedingt schlechtes Knacken erfolgt war, suchte er den Blickkontakt mit den erschrockenen Augen seines Sohnes. Er nickte ihm leicht zu.

„Gut.“, und dennoch zitterte seine Stimme leicht, „Du wirst hier bleiben.“

Den leichten Blutfluss ignorierend bückte er sich und zog sich seine Rückentrage in Seelenruhe an, einen seiner Speere in die Hand nehmend. Als er sich wieder aufrichtete, schenkte er Kili ein verzerrtes Lächeln.

„Tut mir leid für deine Kleidung. Danke für dein Essen... bis bald.“

Dann machte er sich auf, hielt aber direkt neben seinem erstarrten Sohn noch einmal inne. Was er dann sagte, war nur für Moconis Ohren bestimmt und er sollte auch der einzige sein, der diese leisen Worte verstand.

„Ich werde dich schon noch dazu bekommen, Verantwortung zu übernehmen. Verlasse dich darauf.“

Dann ging er.

In jenem Moment dachte der junge Mann, sein von völlig falschen Werten verblendeter Vater sei nicht wirklich ergrimmt und tat seine Vorhersage als plumpe Drohung angesichts der Situation ab.

Wie unglaublich wütend Saltec gewesen sein musste, sollte er erst viel später erkennen.
 

Moconi hatte die Beine angezogen und umklammerte sie seufzend mit beiden Armen, ermüdet von seiner Erzählung in den Himmel blickend. Der Abend war nun fortgeschritten, es war kühler geworden und die Stimmen im Lager wurden langsam weniger, der Feuerschein in seinem Rücken matter. Calyri starrte ihn verblüfft von der Seite an.

„Du... du hast deinen eigenen Vater geschlagen? Moconi!“

Er zuckte auf ihre anklagenden Worte nur mit den Schultern. Er hatte es verdient, das fand er auch noch heute. Aber Calyri konnte das nicht verstehen... bei ihr war das anders. Dherac war ein anständiger Mann, wenn eines seiner Kinder es wagte, gegen ihn die Hand zu erheben, dann war das eine Schande. Aber bei Saltec nicht ernsthaft... um so markerschütternder für seinen Sohn, dass er letztendlich doch am längeren Hebel gesessen und ihn für den Rest seines Lebens gestraft hatte. Eine Strafe, das war es gewesen. Saltec hatte den Stamm nicht an den abgegeben, den er dafür am geeignetsten gehalten hatte – damit hatte er wissentlich den Zorn seines ewigen Freundes Karem auf sich gezogen – sondern hatte sein Amt gewollt dem vermacht, der damit am meisten Probleme haben würde; damit hatte er letztendlich den gesamten Stamm in Gefahr gebracht. So viel zu seinem Verantwortungsbewusstsein...

Moconi seinerseits war nun bemüht, immer das Beste zu tun, nicht, um diesen miesen Tölpel stolz zu machen, sondern einfach, um ihm – auch wenn er das aus der nächsten Welt wohl bloß schwer beobachten konnte – zu beweisen, dass seine traditionsnahe Führung das Beste für die Gemeinschaft war. Und zumindest zu Beginn hatte das auch funktioniert...

„Ich frage mich, wie ich dich damals, zu jener Zeit, habe mögen können...“

Calyris Stimme riss ihn aus seinen grimmigen Gedanken und verblüfft sah er ihr in ihr Gesicht, das sie mittlerweile von ihm abgewandt hatte.

„Du warst furchtbar. Nicht nur deswegen, du warst viel... abartiger als Teco, der mit recht überdies sich selbst immerzu mit großzügigen Worten bedacht hatte, aber sich ansonsten doch vorbildlich verhalten hat.“

Sie schielte ihn etwas eingeschüchtert kurz an, dann rasch wieder in eine andere Richtung, als sie seinen ganz und gar empörten Blick bemerkte. Sie errötete.

„Versteh mich nicht falsch. Ich habe dich heute sehr gern, denn du bist zu einem sehr vernünftigen Mann geworden. Mir ist bloß nicht mehr klar, warum ich dich damals gemocht habe.“

Er hatte nicht viel gekonnt, er war faul gewesen und sich einfach viel zu gut für die Gemeinschaft. Vielleicht war auch das der Grund gewesen, weshalb der ganze Stamm über Saltecs Entscheidung so entsetzt gewesen war; nicht weil er seinen (für den Posten des Häuptlings) noch sehr jungen Sohn gewählt hatte, sondern eher, weil jener Sohn ein absolut abscheulicher Nichtsnutz gewesen war. Langsam dämmerte der jungen Frau auch, weshalb ihre Eltern ihre Zuneigung zu Moconi lange Zeit nicht gut geheißen hatten...

Als ein weiterer kühler Nachtwind aufkam, wünschte sie sich plötzlich, er würde sie wieder in die Arme schließen, doch als sie ihn wieder anblickte, starrte er bloß verbiestert seine Füße an.

„War ich wirklich so schrecklich?“, wollte er dann wissen und sie nickte verhalten. Eine Weile schwiegen sie, dann erhob sich der Mann, streckte sich und seufzte.

„Mir ist das nie so erschienen. Seltsame Sache... das Ganze. Das ganze Leben... ist eine seltsame Sache.“

Er ergriff seinen Speer wieder und wandte sich zum Gehen in Richtung des Lagers, hielt nach ein paar Schritten jedoch noch einmal inne und drehte sich zu Calyri um.

„Komm. Ich lasse dich ungern hier allein zurück.“
 

Beinahe hätte er es getan gehabt. Beinahe hätte er sie am Handgelenk gepackt und nicht zu ihrer Familienhütte, sondern zu seiner eigenen geführt und dann hätte er so bei ihr gelegen, wie ein Mann bei einer Frau nun einmal lag.

Dann jedoch war ihm Teco wieder eingefallen und er hatte sich geschämt, weil er solche unzüchtigen Gedanken bezüglich seiner rechtmäßigen Braut hatte und sie schien es ihm auch nicht übel genommen zu haben, dass er sie genau dorthin gebracht hatte, wo sie auch hingehörte, und keinen Schritt weiter.

Und wenn das Ganze noch so richtig gewesen war, ihm widerstrebte es gewaltig. Wenn doch wenigstens Kili da gewesen wäre... seine arme kleine Schwester. Wenn sie die Bestien erst einmal besiegt hatten, dann würde er sie wieder zurückholen und dann würde auch für sie alles gut werden. Hoffentlich verzieh sie ihm, dass er sie so lange hatte warten lassen... aber er hatte schlicht und ergreifend nicht den Hauch einer Ahnung, wie er sie hätte erretten sollen. Etwa in das Land der Kalenao eindringen...?!

Kalenao war ein gutes Stichwort. Sie konnten einen nicht nur ganz übel verfluchen oder mit ihren Zaubern zermalmen, nein, sie hatten auch die Gabe, einen zu Tode zu erschrecken, zumindest war Moconi dieser Meinung, als er nichtsahnend die Felltür seiner Hütte öffnete und deren Inneres einfach so hell erleuchtet war. Ein kurzer Blick zeigte ihm Shiran, der hinter einer entzündeten Talglampe saß und ihm gleichmütig entgegenblickte. Es war jedoch bereits zu spät, er fuhr erschrocken keuchend ein Stück zurück und griff erschaudernd nach seinem Herz.

„Bitte nicht schreien, da schlafen bereits Kinder.“

Er kam sich dumm vor, dass dieser Satz tatsächlich das Verlangen in ihm, seinem Schock Ausdruck zu verleihen, versiegen ließ. So trat er nach Luft schnappend schließlich einfach ein und hockte sich dem Seher schaudernd gegenüber, ihn eines ehrlich irritierten Blickes bedenkend.

„Was machst du hier? Es gehört nicht unbedingt zu den Sitten meines Stammes, einfach so in fremde Hütten einzudringen – vor allen Dingen wenn der Besitzer gar nicht zuhause ist...“

Noch ehe Shiran antwortete konnte, wandte der Häuptling den Blick kurz ab und seinem Lager zu; dann sah er irgendwie angewidert wieder zu dem Gast, der darauf mit den Augen rollte.

„... nein, deswegen bin ich sicher nicht hier, Himmel bewahre. Ich wollte mich einfach nur etwas mit dir unterhalten... und ich fürchte, das geht allein doch besser als direkt mit dem halben Stamm drumherum.“

Moconi nickte erleuchtet, artig die Hände auf seine Knie legend und ihm lauschend wie ein kleines, artiges Kind. In Wahrheit wollte er ihn bloß sehr bald wieder loswerden.
 

Teco war sich der Gefahr bewusst. Das große Feuer war längst erloschen, in das Lager war Ruhe eingekehrt, die meisten schliefen längst.

Er gehörte nicht dazu. Unweit entfernt von den äußersten Hütten stand er im Hohen Gras bei einem kleinen Bachlauf. Die Welt war bloß durch Mondlicht erhellt, aber zumindest schemenhaft war an diesem klaren Abend trotzdem alles zu erkennen.

Er hatte einen Speer dabei... ob er sich damit im Ernstfall würde verteidigen können, war fraglich, das wusste er auch selbst. Irgendwo hinter ihm huschte etwas durch das Gras... wenn ein Tier es schaffte, ihn zu töten, dann nahm er es als sein Schicksal hin. Der Tod war noch immer besser als seine momentane Situation – und wenn er nicht ums Leben kam, dann würde er diese unbeobachtete Zeit dazu nutzen, den verzweifelten Versuch zu starten, etwas an seinem erbärmlichen Leben zu ändern.

Er wollte wieder jagen... er wollte dem Wild nachrennen, mit ihm Schritt halten können, wie früher! Niemand war schneller gewesen als er. Er keuchte leise, als sich bei den Gedanken in seiner Brust etwas zusammenzog. Eigentlich hätte es ihm schon gereicht, wenn er es geschafft hätte, ohne Stütze in einem halbwegs normalen Tempo zu gehen. Irgendwie konnte er noch immer nicht begreifen, dass etwas so selbstverständliches mit einem Mal ein so unüberwindbares Hindernis für ihn darstellen konnte...

Aber er würde es überwinden. Er war Teco – ein Mann wie er gab nicht einfach auf. Alaji hatte sich damals so große Mühe damit gegeben, ihn zu heilen, es sollte nicht umsonst gewesen sein...

Grimmig schulterte er seinen Speer, auf dem er sich bisher abgestützt hatte. Die Gedanken an die liebenswürdige Kalenao-Frau, die er in all seinem Elend so sehr vermisste, gaben ihm Kraft, und nach kurzem Zögern wagte er einen Schritt.

Es war nur ein Schritt mit dem gesunden Bein gewesen, bloß ein winziger Augenblick, indem das schlechte Bein sein Körpergewicht hatte tragen müssen und dennoch wurde ihm dank eines unmittelbar aufflammenden, heißen und pochenden Schmerzes schwarz vor Augen. Er zischte und stützte sich schnell wieder ab, bevor er, so befürchtete er, ohnmächtig wurde. Das musste er noch üben...
 

Am folgenden Morgen rief Moconi überraschend den kompletten Stamm im Zentrum des Lagers zusammen. Einzig Shiran und Sanan schienen nicht überrascht darüber zu sein – am vergangenen Abend war alles gut gewesen, der Häuptling jedoch wirkte nicht unbedingt erfreut. Den Ernst seines Anliegens verdeutlichte er eindrucksvoll mit seinem selten getragenen Kopfschmuck aus Federn, der ihn unmissverständlich als das Oberhaupt dieser Menschen auszeichnete.

Es war im übrigen nicht der Kopfschmuck, den Saltec seinerzeit getragen hatte, fiel Calyri an jenem Morgen nebenbei auf, Moconi hatte ihn selbst gemacht. Dabei war er seinem Namen treu geworden, aber das war nun nebensächlich.

„Die Zeit des Feierns ist nun vorerst vorüber!“, begann er seine Rede da prompt, worauf sich auch die letzten endlich hinsetzten, damit alle ihn sehen konnten. Ausnahmen bildeten einige am Rand zusammenstehende Jäger; die aktuell besten des Stammes, die ein Sonderrecht hatten.

Der junge Häuptling stand starr da, jeden und gleichzeitig niemanden direkt ansehend. Shiran saß mit Sanan unweit entfernt, beide musterten ihn ernst.

Es war das erste Mal, dass der jungen Frau auffiel, dass an Sanan irgendetwas besonderes sein musste, denn auch wenn er zu Beginn nicht unbedingt von dem Gedanken, den Seher bei sich aufzunehmen, begeistert gewesen war, wich er seit einer Weile kaum noch von dessen Seite.

Moconi fuhr fort.

„Ich hoffe sehr für euch alle, ihr habt das gestern Abend genossen und seid nun gestärkt, denn noch bevor unsere Verstärkung aus dem Land am Horizont antrifft, werden wir die Bestien schon wieder am Hals haben.“

Lautes Gemurmel ging durch die Reihen und der junge Mann machte keinerlei Anstalten, es zu unterbinden. Natürlich, sie hatten schon ein gewisses Recht dazu...

„Na wunderbar, dann ist ja alles umsonst gewesen.“, hörte Calyri ihre Mutter neben sich murmeln, während sie ihre jüngste Tochter wiegte und die junge Frau seufzte bloß unhörbar.

„Allerdings...“, setzte das Stammesoberhaupt seine Rede darauf laut fort, „... werden wir es dieses eine Mal auch so schaffen. Es wird etwas geschehen, was uns den Kampf gegen diese Monster ungemein erleichtern wird – Shiran sagte, die Götter seien auf unserer Seite. Also werden wir uns darauf vorbereiten und werden unseren Gästen einen gebührenden... Empfang bereiten.“

Er senkte seine Brauen und ein diabolisches Grinsen schlich sich auf seine Lippen, das der ein oder andere direkt darauf zu erwidern wusste. Abermals entbrannten angeregte Gespräche, die schließlich jäh unterbrochen wurden, als Moconi Semliya, der die Hand hob, zunickte.

„Wenn wir es schaffen, die Bestien aus unserem Land zu vertreiben... dann schaffen wir es auch, sie zu vernichten.“

„Warum tun wir das nicht und sparen uns einfach die Hilfe dieser zwielichtigen Kojoten?“, ergänzte Novaya und klang dabei selbst bissig wie das von ihm erwähnte Tier. Darauf lagen wieder alle Blicke auf dem Häuptling, der zwar nicht überfragt, aber unfähig, gescheit zu antworten wirkte. Shiran kam ihm ohne ihn eines Blickes zu würdigen zu Hilfe, er wandte sich direkt an die Zwillingsbrüder.

„Unsere Macht wird dieses Mal ausreichen. Nur dieses eine Mal, weil die Götter dafür gesorgt haben, dass die Dinge günstig stehen. Das wird bei ihrem nächsten Versuch nicht mehr der Fall sein.“

„Und sie wirklich zu vernichten, wie ihr das so schön ausgedrückt habt, sind wir dann doch nicht ganz in der Lage. Ihr... habt sie selbst gesehen. Ihr wisst, wie die sind...“

Darauf schwiegen die Brüder. Ihr Vater mischte sich dafür seinerseits ein.

Dherac hatte es sich nicht nehmen lassen, sich zu den anderen guten Jägern zu stellen – ohne Zweifel gehörte er auch dazu, auch wenn er nun halbblind war und niemand so genau abschätzen konnte, inwiefern sich das nun auf seine Jagdfähigkeiten auswirken würde.

„Und was denkst du – oder der Seher – wie wir uns nun darauf entsprechend vorbereiten sollen?“

Moconi drehte sich zu ihm um, ihn kurz musternd. Dann antwortete er auch ihm.

„Nach bestem Wissen und Gewissen.“, kam zunächst schleierhaft, dann grinste er wieder flüchtig, „Bringt eure Speere auf Vordermann, ruht euch aus und seid bereit. Mehr steht nicht in unserer Macht und mehr werden wir auch nicht brauchen, um zu siegen – aber seid vorsichtig.“

Er wandte sich wieder der großen Mehrheit zu uns durch seinen bitterernsten Ausdruck wirkte er für einen Moment viel erwachsener und älter, als er eigentlich war.

„Der Sieg ist möglich, aber nicht geschenkt. Wir werden wieder Blut schmecken, das ist sicher. Haltet euch das vor Augen.“, er schielte noch einmal kurz zu dem Seher, dann nickte er, „Im Prinzip war es das bereits. Es tut mir Leid um die Zeit, die wir eigentlich nicht haben, aber es war mir sehr wichtig, dass ihr euch darüber im Klaren seid.“
 

Das waren sie nun. Mefasa war überrascht, als Moconi noch am Vormittag plötzlich ganz von selbst bei ihr erschien... da gab es wohl noch Redebedarf.

„Komm nur her.“, forderte sie ihn auf, sich zu ihr vor die Hütte an die kleine Feuerstelle zu setzen, noch ehe er in ihrem Sichtfeld erschienen war, „Hier ist außer uns im Moment niemand und du weißt, dass ich... jeden bemerke.“

Das wusste er wirklich, das hatte sie ihm in seinem Leben schon relativ oft eindrucksvoll bewiesen und so tat er wie ihm geheißen und setzte sich grußlos zu ihr. In ihrem Scharfsinn bemerkte sie auch seinen Blick, der auf ihrer Näharbeit in ihren Händen lag und sie kicherte fröhlich.

„Für das neue Baby. Ihm wird natürlich auch einiges von seinem Halbbruder passen, aber ich denke, etwas neues wird ihm nicht schaden. Oder nicht?“

Er legte nur kurz die Stirn in Falten, den Blick jedoch nicht hebend, als er endlich mit ihr sprach.

„Das interessiert mich nicht ernsthaft. Du hast es ja gehört, wir werden die Bestien nicht vernichten, sondern...“

„Ist schon in Ordnung.“, fuhr sie ihm fröhlich ins Wort und langte kurz neben sich, auf eine Knochenplatte, auf der ein köstliches Stück Fleisch lag und hielt es dem jungen Mann hin, „Das haben die Zwillinge übrig gelassen. Bitte, du bist doch hungrig!“

Eigentlich hatte er es nicht annehmen wollen, aber er war wirklich hungrig... und es duftete herrlich. Mefasa war eine gute Köchin – das war leider einfach eine Tatsache. Und so nahm er die Nahrung wortlos an und schlang sie herunter. Er wäre froh gewesen, so schick essen zu können wie Kurapi, aber das war dieses elendige Biest ohnehin nicht wert...

„Ihr werdet sie beim nächsten Mal vernichten. Nicht nur Shiran spürt, dass es dieses Mal etwas... besonderes wird. Also sei unbesorgt und tu einfach dein bestes.“

Dem würde er ausnahmsweise einmal gern Folge leisten. Dabei quälte sie ihn doch so gern...

„Ist ja kaum zu glauben, dass du mir so... entgegenkommst.“

„Oh, keine Sorge, ich verlange dafür auch etwas!“, merkte sie darauf dann fröhlich an und er schnaubte. Natürlich, wie hatte er auch etwas anderes annehmen können? Intrigante Ziege...

Er wurde überrascht, als sie das nun fertige Babykleidungsstück hochhielt.

„Sag mir deine ehrliche Meinung. Was hältst du davon?“

Der Mann entschied, dass es klug war, diese Gegenleistung dann einfach zu erbringen, ohne sie in Frage zu stellen. So musterte er ihr Werk eine Weile und zuckte dann mit den Schultern.

„Für ein Baby wird es reichen.“

Seine Worte waren ehrlich und ihr Kichern war es auch, als sie ihm auf seine Antwort dann direkt in die dunklen Augen blickte.

„Na, etwas mehr Interesse bitte. Dieses Kind ist ein Segen, ist mir vor kurzem einmal aufgefallen... dank ihm habe ich dich – wenn du mir Grund dazu gibst – noch viel mehr in der Hand, weißt du?“

In ihr hübsches Gesicht schlich sich ein diabolisches Lächeln, als sie ihn erbleichen sah; letzteres wirkte bei seiner dunklen Haut irgendwie sehr abstrus.

„Ich meine... es wäre natürlich schon einmal interessant zu sehen, was Calyri dazu sagen würde, wenn sie wüsste, wer nun in Wahrheit der Vater dieses Babys ist... und wie meine ausgeschmückte Version seiner Entstehung wohl bei ihr ankäme. Was meinst du?“
 


 

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Moconi ist ja so ein dreckiger Schüft. oô

Schwäche

Im Gebirge war es wesentlich kälter als am Meer. Das mochte wohl an der Höhe liegen und war nicht weiter verwunderlich, dennoch zehrte es an den Kräften der Männer, die versuchten, in den Kampf gegen die Menschen zu ziehen und das gute Land nun endgültig für sich zu gewinnen.

Chigaru beobachtete skeptisch einzelne Schneefelder, an denen sie vorbeizogen. Die meisten nahmen an, der Aufstieg sei längst vorbei, doch ihm entging nicht, dass der Weg noch immer leicht anstieg und sie ganz unbemerkt in immer größere Höhen führte. Und mit letzterem nahm auch die Kälte zu – und die Gefahr der Vereisung des Passes. Er wusste, dass die beiden Brüder aus dem Ekarett-Clan definitiv nicht den ganzen Weg kontrolliert hatten – nur bis dahin, wo sie geglaubt hatten, der Aufstieg sei vorbei – und machte sich auf böse Überraschungen gefasst. Er war sehr gespannt darauf, wie Mahrran dann zu reagieren gedachte.

Der Mann war sich sicher, dass sie bestenfalls erfolglos und dezimiert zurückkehren würden. Er war von den Göttern sehr begünstigt und sie hatten in den vergangenen Nächten allerlei Besorgniserregendes erzählt. Shiran schien tatsächlich ausgeschaltet für den Zeitpunkt des Aufeinandertreffens – aber davor war er es nicht gewesen und so war der Feind mindestens gewarnt.

Es war ein Fehler, geschwächt von dieser strapaziösen Reise in einem fremden Land gegen vorbereitete, einheimische Jäger anzutreten – Mahrran würde es lernen, er hatte versucht, ihn zu warnen und es war ihm nicht gelungen.

Einen Augenblick fragte er sich, ob er das tatsächlich versucht hatte; man sagte ihm oft, dass er nicht deutlich genug wurde, das war er gewohnt.

Vielleicht war es im Moment ohnehin ratsamer, sich selbst eine gute Strategie zum Überleben auszudenken...

An letzteres dachte auch Irlak. Iavenya hatte vollkommen ruhig gemeint, er müsse sich keine Gedanken machen, es würde gut gehen, doch was wusste die schon? Sie war schließlich keine Seherin und selbst letzteren traute er was das betraf nur ungern. Auch, wenn sie männlich waren (genau genommen hatte es sein Leben lang noch keine Seherin gegeben, aber wer wusste schon).

Es besorgte ihn, dass er mit diesem blöden Speer noch immer nicht so richtig umgehen konnte. Er würde sich stark darauf konzentrieren müssen, wenn er ihn einzusetzen versuchte – und nichts war hinderlicher für seinen geliebten Blutrausch als Konzentration. Konzentration brachte einen wachen Geist hervor; der Rausch kam nur, wenn der Geist verschlossen war. Aber er fühlte es jedes Mal wieder intensiv... und es war gut.
 

Mahrrans Sorgen waren anderer Natur. Er zweifelte nicht daran, dass sie es schafften. Sie waren Kalenao, sie hatten mit den Speeren ihren primitiven Gegnern den einzigen Vorteil gestohlen und dieses Mal würde es keinen Shiran geben, der sie verraten konnte – was sollte also schief gehen?

Er konnte auf diese Frage nicht wirklich eingehen... seine Gedanken an das, was unweigerlich kommen würde, waren oberflächlich und verborgen hinter einem dunstigen, kalten Schleier.

Kalt... das war ein gutes Stichwort. Erschöpft sah der Mann sich unter seinem Gefolge um; ob außer ihm wohl noch einer so fror? Einige hüllten sich tatsächlich ziemlich ein, das beruhigte ihn...

Einiges Gebrüll an der Spitze der Gruppe riss seine Aufmerksamkeit auf sich – soweit das möglich war, aus irgendwelchen Gründen war sein Geist etwas abwesend, ohne, dass er es kontrollieren konnte. Und dieser schreckliche Husten... beim Atmen rasselte seine Lunge.

So verstand er trotz seines überdurchschnittlich gut ausgeprägten Gehörs nicht, wo das Problem lag, das die komplette Meute inne halten ließ, und irritiert von sich selbst war er dem seltsamen Chigaru mit einem Mal dankbar, als er plötzlich neben ihm erschien und ihm die Antwort gab, die er sich auch gewünscht hatte. Der andere blickte starr geradeaus durch seinen schwarzen Pony und brummte.

„Der Pass ist noch vereist.“

Mahrran hob beide Brauen, durch diesen Satz nun wieder etwas wach gerüttelt. Vereist? Das war ja grauenhaft – und definitiv nicht miteingeplant gewesen. Verwirrt blickte er zu dem anderen Mann, der nun bewegungslos und mit verschränkten Armen neben ihm stand und in die Richtung schaute, aus der die Probleme allem Anschein nach kamen.

„Wie kann das sein? Ich habe es doch extra kontrollieren lassen!“

Vor wenigen Stunden war der Weg doch völlig frei gewesen, wie war das möglich? Chigaru wandte sich ihm nicht zu, als er antwortete.

„Der Anstieg war noch nicht zu Ende, den höchsten Punkt haben wir noch nicht erreicht. Ihr spürt sie noch mehr als alle anderen, mein Herr, die Kälte – der komplette Pass liegt unter einer dicken Schicht aus Schnee und Eis begraben.“

„Was tun wir jetzt?“

Mahrran sah selbst verwirrt zu Rato, der von vorne zu ihm geeilt gekommen war und Chigarus Erklärung offenbar mitbekommen hatte, denn er sparte sich einen Lagebericht und starrte das Dorfoberhaupt bloß entsetzt an. Durch die Gruppe ging Murmeln.

Schließlich verkündete Mahrran seine Entscheidung schnaubend.

„Wir werden den Pass trotzdem zu überqueren versuchen, komme, was wolle! Um uns zu bremsen muss schon mehr geschehen als dass uns die Götter ein wenig gefrorenes Wasser in den Weg legen, nicht wahr?“

Er erhielt seine erhoffte Zustimmung grölend und die Krieger setzten ihren Weg langsam fort. Chigaru schüttelte bloß leicht den Kopf.

„Wo sind unsere Feuermagier?“, fragte das Dorfoberhaupt da mit künstlich lauter Stimme und einige meldeten sich, während sie auf den vereisten Teil des Weges zusteuerten. Vermutlich ahnte jeder, was er sich dachte; Chigaru hielt ihn auf.

„Wir werden alle Kraft brauchen, wenn wir in die Schlacht ziehen.“

Darauf war es kurz still. Irlak, weiter vorne, legte den Kopf schließlich schief, dann rief er über die Meute hinweg.

„Ja, das ist uns klar, na und?“

Mahrran war da augenscheinlich etwas schneller. Er hustete kurz, dann antwortete er an der Stelle des Schwarzhaarigen, der bloß ernst in Richtung des anderen Mannes schaute und scheinbar darüber nachdachte, was der nun nicht verstand.

„Körperliche Erschöpfung, die wir durch den beschwerlichen Weg erlangen werden, kuriert sich einfacher aus als die, die aus der Nutzung von Magier resultiert. Also bitte lieber ersteres. Mit anderen Worten – geht weiter und seid vorsichtig.“
 

Es war wirklich extrem anstrengend und unwegsam. Oft fielen manche hin und teilweise waren die Wege so glatt, dass die Eisschicht doch mittels Feuermagie weggeschmolzen werden musste; dennoch war es irgendwann vorbei und sie dankten den Göttern aufrichtig dafür.

Mahrran fragte sich nebenbei, wie lange sie wohl unterwegs gewesen waren, als sie die Stelle am Pass erreichten, von der aus man das Land der Menschen überblicken konnte. Das Eis hatte die Reise deutlich verzögert, wie deutlich, war ihm jedoch nicht klar. Obwohl sie dem Tal nahe waren und die Frühjahrssonne die Welt angenehm erwärmte, fror er wie im tiefsten Winter, während es in seinem Inneren brodelte. Der Anblick des Landes seiner Zukunft weckte weder Freude, noch Aufregung, noch irgendwelche anderen Gefühle – er spürte nichts, nicht einmal die Angst vor dem Scheitern. Ebenso wenig bemerkte er die Gespräche seiner Männer; nicht einmal ihre Stimmen oder überhaupt ihre Anwesenheit.

Aus seiner Starre riss ihn schließlich ein Hustenanfall, den er in diesem Ausmaß niemals zuvor erlebt gehabt hatte. Er riss die schlechten Augen so weit auf, wie es nur ging, während er sich verkrampfte und die Seele aus dem Leib hustete, dabei der festen Überzeugung war, er würde in wenigen Augenblicken ersticken... oder seine Lunge erbrechen.

Letzteres geschah schließlich nicht ganz. Er wusste nicht, wie er es geschafft hatte, in seiner totalen körperlichen Verkrampfung die Hände vor den Mund zu heben, er wusste letztendlich bloß, dass es eine weniger schleimige Konsistenz hatte, als normalerweise zu erwarten gewesen wäre. Als es dann auf einem Schlag vorbei war und er so da stand, nahezu versteinert und, wie er kurz darauf bemerken sollte, vor Erschöpfung der Ohnmacht nahe, erkannte er den Grund dafür rasch, als er den schlechten Blick auf seine Handflächen schweifen ließ. Und ihre Botschaft war deutlich... der Großteil von dem, was sein Körper da loszuwerden versuchte, war Blut.

„Wir sollten zurückkehren.“

Es war Chigarus Stimme, die sprach, und mit einem Mal wurde Mahrran bewusst, dass sich fast sein komplettes Gefolge um ihn herum versammelt hatte. Und ihn so gesehen hatte...

Er ignorierte seine noch immer angespannten Muskeln und den grauenhaften Schmerz in seiner Brust und stellte sich wieder aufrecht hin, die Hände mit Wassermagie rein waschend. Dann sah er, mehr instinktiv in die richtige Richtung, zu dem Älteren.

„Niemals. Ich bin bloß erkältet... aber hiervon hängt alles ab!“
 

Er war ein Götterkind, seine Worte waren Gesetz und letztendlich beugte sich jeder ihnen. Rato seinerseits fragte sich letztendlich, ob sie sich den ganzen Winter so extrem auf diesen Tag vorbereitet hatten, bloß um sich genauso wie beim ersten Versuch die Hänge hinab in die Savanne zu den Menschen zu stürzen, bloß weil ihr Anführer spontan seine Strategie vergessen hatte. Das einzige, was anders war als zuvor, waren die seltsamen Speere, mit denen sie nun ankamen; sie hatten es nicht geschafft, wirkliche Wurfspeere zu erschaffen, das, was sie da mit sich trugen, waren mehr Stichwaffen als alles andere. Was im Nahkampf vielleicht sogar ganz nützlich sein konnte, aber aus irgendwelchen Gründen hatte Rato das Gefühl, dass er nicht der einzige war, dessen Arme von der schweren Last nach kurzer Zeit taub und nach längerer Zeit beinahe unbrauchbar wurden. Sie besaßen keine körperliche Kraft – wenn sie nicht gerade im Blutrausch waren, waren sie nicht einmal in der Lage, ihre einzigen angeborenen physischen Waffen – ihre Nägel und ihr scharfes Gebiss – zu benutzen. Zumindest nicht in diesem Ausmaß... der Mann spürte, wie die Angst in ihm aufstieg und versuchte, sie zu verdrängen. Die Feigheit war ein Mörder.

Die Menschen erwarteten sie im Hinterhalt; hinter einzelnen Bäumen und zwischen Gebüsch, das nur in dieser Jahreszeit Laub trug, manche auch erst einen Hügel weiter. Sie waren gewarnt gewesen, Shiran war jedoch tatsächlich nicht mit dabei.
 

In Mahrrans Kopf zischten Götter und Windgeister gleichermaßen, als er das Zeichen zum Angriff gab und selbst im vorderen Mittelfeld unverzüglich mitzog. Er war etwas krank... das war eine Tatsache. Aber er war ein erwachsener Mann, davon würde er sich nicht aufhalten lassen! Es wurde langsam wirklich problematisch für sein Volk, die Nahrung war knapp, die Witterung oftmals zu schlecht für die meist altertümlichen kleinen Häuser, die der Seewind regelmäßig in die Knie zwang. Es war nicht unvernünftig... er wusste sehr wohl, wie ihm geschah. Er spürte ihn, den grauenhaften Schmerz in seinem Brustkorb, und er hustete sein eigenes Blut aus – etwas war nicht in Ordnung mit ihm. Aber was war sein eigenes Leben im Vergleich zu den ganzen Leben der Dorfbewohner; es mussten sicher einige hundert sein, die auf seinen Erfolg zählten. Und er würde sie nicht enttäuschen... er war ein Tankana.

Und so zwang er sich selbst, wieder klar zu sein. Er befahl seinem Körper, zu rennen, den schweren Speer mit nur einer Hand zu heben und gleichzeitig in der anderen einen gewaltigen Wasserzauber entstehen zu lassen. Das Bild der menschlichen Männer, die ihnen entgegen stürmten, ihrerseits genau so gut oder schlecht ausgestattet wie beim letzten Mal, ging mit dem rasselnden Geräusch seiner nahezu erfolglosen Atemversuche einher und vermischte sich mit der Kälte der Welt und der Hitze in seinem Inneren. Wie in einem Traum hob er den Speer und schlitze damit einem der Menschen die Seite auf, worauf dieser sich ihm schreiend und in seiner eigenen Sprache wüst schimpfend zuwandte und ihn mit seinem eigenen, viel besseren und dynamischeren Speer anzugreifen versuchte – im nächsten Moment hatte ein Wasserzauber den Fremden zerfetzt.

Ein geisterhaftes Lächeln schlich sich in Mahrrans Gesicht, als die Götter ihm seinen eigenen Tod prophezeiten.

Es sah gut aus für sie... sie stellten sich mit ihren Speeren doch gar nicht so dämlich an, wie einst angenommen. Bis auf Irlak, der sich seiner mäßig guten Waffe längst entledigt hatte und sich nun in seinem Blutrausch wieder wahllos auf die nächstbesten Opfer stürzte.
 

Sanan war entsetzt. Shiran hatte ein leichtes Spiel für sie vorhergesagt – warum ließ ihn dann das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas schwer aus der Bahn zu laufen drohte? Angewidert blickte er auf die Verletzten beider Seiten, die vereinzelt im Gras lagen und sicherlich Raubtiere anlocken würden... zu gern hätte er Shiran gefragt, was das nun sollte, aber aus irgendwelchen Gründen war er am Morgen plötzlich sehr krank gewesen und hatte nun nicht mit auf das Feld gekonnt. Kurzzeitig versuchten böse Windgeister ihm einzureden, der Seher sei Schuld, er habe das eingefädelt – dann verwarf er den Gedanken jedoch wieder. Er kannte seinen Bruder... irgendwie. Er mochte ihn, obwohl es ihn etwas störte... er wollte doch ein Mensch sein! Dabei erkannte er sich in dem Haufen an kleinen, schmächtigen Angreifern viel mehr selbst als er es in irgendeinem Menschen seines Stammes jemals getan hatte.

Er zuckte zusammen, als einer von ihnen versuchte, sich auf ihn zu stürzen. Sanan hob bereits seinen eigenen Speer zur Verteidigung, als der andere abrupt stoppte, ihn kurz blöd anguckte und dann in seiner eigenen Sprache, die der junge Mann bekanntlich ungewollt verstand, zu ihm sprach; und was er sagte passte erstaunlich gut zu seinen Gedanken von zuvor.

„Äh... gehörst du zu uns?“

Er musterte verwirrt die unbekannten Fellklamotten und Sanan lächelte bestürzt.

„Vielleicht...“

Dann wendete er den Speer und schlug den Mann bewusstlos. Er wusste, dass es seine Chance gewesen wäre, eine Bestie zu töten... aber er brachte das einfach nicht über sich.

Unweit entfernt hörte er einige andere Bestien wütend schreien... sie hatten versucht, um das ganze Geschehen herum zu schleichen und das Lager selbst von der anderen Seite anzugreifen – und damit alle Frauen und Kinder zu töten. Wie heimtückisch...

Und er erschauderte, als er erkannte, dass es nur die Zwillinge waren, die jenen Versuch bemerkt hatten und nun zu vereiteln versuchten. Sie waren kräftig und stark... aber erst zwölf Jahre alt. Und zu zweit gegen drei erwachsene Kalenao. Verzweifelt ließ er seinen Blick über die Schlacht schweifen, bloß um mit Gram festzustellen, dass er der einzige war, der die Gefahr bemerkt hatte. Dann musste er eben selbst eingreifen... als er sich umdrehte, wich er damit versehentlich einem nach ihm geworfenen Feuerzauber aus.
 

Als er sich der Gruppe näherte, wandten die Angreifer ihm den Rücken zu; Novaya und Semliya bemerkten ihn. Letzterer schenkte ihm einen Blick, der ihn erschaudern ließ – und noch ein weiteres Mal, als die Götter ihm die Botschaft, die darin gesteckt hatte, mitteilten.

Greife sie von hinten an. Sie rechnen nicht damit!

Verblüfft von dem vermutlich sehr starken Geist des Jüngeren hob er im Rennen seinen Speer und zwang sich, sich für sein eigenes Volk – den Schlangenstamm – zu überwinden.

Die Götter zischten in seinem Kopf, sagten Dinge, die er nicht verstand und ihre Anwesenheit war stärker als jemals zuvor in seinem Leben. Dennoch waren sie nicht mit ihm, denn noch ehe er den Speer tief in den Rücken des – für Kalenao-Verhältnisse – kräftigsten Angreifers hatte rammen können, drehte der sich zu ihm um und der Schaft brach ungewöhnlich leicht ab.

Er hatte nicht mehr die Gelegenheit, sich darüber zu wundern, warum das Holz plötzlich so brüchig war, da packte der etwas Größere ihn bereits unsanft am Hals, diabolisch seine Zähne fletschend.

„Was willst du denn? Du bist ja das mit Abstand... schlechteste Exemplar Mensch, das mir jemals untergekommen ist!“

Zur Irritation des Mannes grinste Sanan darauf. Vielleicht war es Zeit, für Klarheit zu sorgen.

„Ich bin besser als jeder Mensch – und jede Bestie.“

Verblüfft von seinen Sprachkenntnissen ließ der Fremde ihn sofort los, als er ihm mit aller Macht in den Bauch trat, zurücksprang und den übriggebliebenen Schaft wieder aufhob. Er hatte gelernt, auch ohne die Spitze konnte es ganz schön schmerzhaft sein, von so einem Ding getroffen zu werden...

Er zuckte auf das wilde Kampfgeschrei der Zwillinge hin zusammen; natürlich, die waren auch noch da.

Die jungen Männer hatten ihre Strategie offenbar geändert, sie stürzten sich zu zweit auf einen der übrigen Angreifer, der daraufhin auch tatsächlich Mühe hatte, sie abzublocken, dabei den letzten jedoch völlig außer acht lassend. Das war ein Fehler, den er den beiden nicht unbedingt zugetraut hätte – aber verdammt, sie waren zwölf Jahre alt! Andere Jungen in ihrem Alter saßen nun bei ihren Müttern im Lager!

„Novaya, Semliya, passt auf den...“

Er kam nicht dazu, ihnen zur Hilfe zu eilen, denn plötzlich stand der Mann mit der Speerspitze im Rücken wieder neben ihm und packte ihn abermals am Hals. Natürlich, so schnell war der nicht tot zu kriegen...

Er ließ in seiner freien Hand einen Wasserwirbel entstehen und Sanan schnappte empört nach Luft, als er bemerkte, dass er es nicht sofort schaffte, sich zu befreien. Die Götter in seinem Kopf zischten lauter und trieben ihn dazu, seinen Blick von dem tödlichen Zauber unmittelbar vor seinem Gesicht abzuwenden und zu den Zwillingen zu blicken, die sich einem der Magier mit leidenschaftlicher Brutalität widmeten, den anderen jedoch überhaupt nicht mehr bemerkten. Diese Männer waren nicht dumm... der eine ließ sich absichtlich so drangsalieren, damit sein Kumpane ungestört angreifen und die lästigen Jungen vernichten konnte. Diese hinterlistigen... er spürte, wie ihm vor Wut heiß wurde; dann bemerkte er plötzlich ein Krachen und sein Gegenüber ließ ihn los, der Wasserwirbel verschwand. Vor seinen Füßen hatte sich eine kleine Spalte aufgetan, in die einer der Füße des Kerls abgerutscht war; vielleicht war der jetzt gebrochen, sein schmerzerfüllter Aufschrei und sein zeitgleich schwindendes Interesse an der Schlacht sprachen immerhin dafür.

Fasziniert von seinem kleinen, unwissentlich ausgeführten Zauber bemerkte er den des dritten Angreifers erst, als ihm Staub in die Augen wehte. Als sein Blick wieder klar war, erkannte er, dass jener wohl auch Erdmagier sein musste – und ein wesentlich besserer als er selbst es war.

Geschockt starrte er über sich; die ganze Luft war voll von großen und noch größeren Brocken aus Gestein und Erde, die der Mann mit sagenhafter Leichtigkeit und bloß einer einzigen ausgestreckten Hand kontrollieren konnte.

Zeitgleich begann auch der, der sich so bereitwillig von den Brüdern niederprügeln ließ in seiner Pein zu lachen; er wusste, was geschehen würde.

„Passt auf! Lasst ihn los, lauft! PASST AUF!“

Die Zwillinge sahen verblüfft auf, weiteten synchron die hellblauen Augen und beinahe hätte Sanan geglaubt, er hätte es geschafft, sie rechtzeitig zu warnen, da geschah etwas, womit er nicht gerechnet hätte.

Novaya sprang augenblicklich auf und hechtete los, Semliya nicht. Er hob den Kopf nur kurz, sah seinem Zwilling nach, zischte und griff dann wieder nach seinem Speer, um das, was er begonnen hatte, zu beenden.

Sanan hätte ihm gern noch etwas zugerufen, als der fremde Erdmagier seinen Zauber losließ und ein Regen aus Gestein auf sie niederging. Mehr instinktiv riss Sanan darauf selbst die Arme in den Himmel, um die Gefahr irgendwie abzuwenden und war überrascht darüber, dass es ihm sogar irgendwie gelang. Semliya nutzte dies dazu aus, den von seiner nicht vorhandenen Furcht überrumpelten Prügelknaben gewissenhaft aufzuspießen.

„Jetzt steh endlich auf und mach, dass du wegkommst, du Spinner!“, rief der ewige Freund der Zwillinge ihm darauf erbost zu, als er sich sicherheitshalber vor ihn gestellt hatte und Böses ahnte, als der Magier das Gesicht zunächst vor Gram verzog und dann mit einer Handbewegung neue, größere und gefährlichere Brocken in die Lüfte erhob. Semliya drehte dem ganzen Spektakel den Rücken zu.

„Wozu? Du kannst das doch wunderbar. Sobald er aufgehört hat, zu röcheln, bin ich fort, keine Sorge...“

Sanan zischte vor Wut. Wunderbar? Er hatte keine Ahnung, was er tat, wie er es tat, und vor allen Dingen, ob er es bei den gewaltigen Brocken, die da auf sie zukamen, lange weiter würde tun können.

„Ich kann dich nicht beschützen, steh auf! Renn weg!“, versuchte er es abermals und bemerkte wie jede Faser seines Körpers unter der Magie, die er plötzlich in einem bisher unbekannten Ausmaß nutzte, zu brennen begann. Es tat weh und machte ihn müde, seine Arme und seine Beine wurden mit jedem Brocken, den er abwehrte schwächer. Er würde es nicht mehr lange schaffen...

„Na los doch, lass ihn verrecken, folge endlich Novaya!“

Kleinere Steine schlugen ihm gegen die Schenkel und er schnappte nach Luft, bemerkend, dass er den nächsten Schwall auf keinen Fall würde abhalten können. Was war nur los mit ihm?

„Ich bin aber nicht feige! Ich nicht!“

Dafür aber ein ganz furchtbarer Tölpel. Sanan erschauderte beim Anblick der nächsten Ladung... und fällte eine Entscheidung.

„Ich werde jetzt gehen!“

Er hatte die Zwillinge auf eine abstruse Art gern und er war auch bereit, ihnen zu helfen – aber für sie sterben wollte er nicht unbedingt, zumindest nicht, wenn sie es sich nicht auch verdienten. Und das tat Semliya im Moment definitiv nicht.

„Dann hau doch ab!“

Das ließ er sich nicht ein weiteres Mal sagen, und erschöpft ließ er die Arme sinken, drehte sich um und rannte. Trotz seiner vorangegangenen Reaktion fiel ihm ein Stein vom Herzen, als er die Schritte des Jüngeren unmittelbar hinter sich vernahm... und dann einen Schrei und ein unschönes Knacken.

Noch in dem Moment, in dem er herumfuhr, versiegte der Steinregen mit dem unschönen Geräusch eines Speeres, der sich durch Fleisch bohrte. Novaya war zurückgekehrt und hatte den Erdmagier erledigt. Sanans Aufmerksamkeit lag jedoch weniger bei ihm als bei seinem Bruder, der unmittelbar hinter ihm zu Boden gegangen war und nun mit dem Gesicht im Dreck lag, neben ihm ein blutverschmierter Brocken.
 

Mahrran wusste nicht, wie ihm geschehen war und er wusste nicht mehr, was ihn antrieb, doch er erkannte, auf wen er zusteuerte und schließlich auch, dass seine Götter ihn gut führten. Er grinste und war zum ersten Mal in seinem Leben darüber erleichtert, zumindest ein klein wenig Sehfähigkeit zu besitzen... er wollte doch sehen, ob Kili ihrem Bruder ähnelte.

Moconi war leicht zu erkennen, er trug den typischen Federschmuck, den man vor dem Dorfoberhaupt schon mehrmals erwähnt hatte. Der Häuptling war ein groß gewachsener Mann, kräftig und im Gegensatz zu seiner Schwester extrem gebräunt, mit Sicherheit dunkler als die meisten anderen Menschen es waren. Seine Augen funkelten in einer feindseligen Verzweiflung, während er sich gleich mit zwei Männern aus dem Ekarett-Clan herumschlug... denen würde Mahrran Abhilfe leisten.

„Schert euch fort!“, rief er seinem eigenen Gefolge zu, „Den erledige ich.“

Sie nickten gehorsam und Moconi fuhr augenblicklich zu ihm herum, als die beiden anderen verschwanden. Mahrran hielt wenige Fuß vor ihm inne und zeigte ein diabolisches Grinsen. Er erkannte ihn... er spürte es.

„Du bist Mahrran, ihr... Herr.“, stellte er in seiner eigenen Sprache fest und sein Gegenüber nickte, seinen eigenen Speer langsam gegen ihn richtend; er tat es ihm gleich. Er ging davon aus, dass er mit „ihr“ wohl das Volk der Kalenao meinte... Shiran sprach schließlich mit ihm.

„Gut erkannt. Und ich... werde dich und dein Volk in die Knie zwingen!“

Er wusste nicht, ob er die richtigen Worte verwendet hatte, es war ihm auch egal, die Götter sagten ihm, dass der andere ihn verstand.

„Wenn du das kannst. Aber sag mir zuerst, was du mit meiner Schwester gemacht hast!“

Auf seine beinahe verzweifelt klingende Aufforderung hin musste Mahrran lachen – sein kranker Brustkorb dankte es ihm nicht.

„Nichts. Kili geht es wunderbar, keine Sorge. Sie braucht dich nicht... niemand braucht dich!“

Und er stieß zu.

Es wunderte ihn nicht, dass er mit seinem Angriff nichts erreichte, Moconi war ein geschickter Jäger und konnte mit nur einer geschmeidigen Bewegung, in der er seinen eigenen Speer umdrehte, ausweichen. Dann drehte er sich halb um und schlug aus einer lockeren Handbewegung heraus nach Mahrran.

Es wäre ihm nicht schwer gefallen, auszuweichen, doch noch während er es versuchte, kribbelte der Husten in seinem Hals und alles was er tun konnte, war sich zu ducken und dann den nächsten Schlag in voller Härte abzubekommen. Er verlor das Gleichgewicht und ging hustend zu Boden. Die Atemnot unterband seinen Verstand, alles, was er wollte, war Luft; dass der Häuptling der Menschen ihm die Spitze seines perfekten Speeres an die Halsschlagader hielt oder dass um ihn herum eine Schlacht im Gange war, bekam er plötzlich nicht mehr mit.

Um ihn herum wurde es leise. Die Stimmen der Götter waren das Einzige, was er hörte... sie nannten ihn ein törichtes Kind und er fragte sich, ob sie ihn verlassen würden, als alles um ihn herum schwarz wurde.
 

Moconi rechnete nicht damit, dass es nun noch jemand wagen würde, ihn anzugreifen, umso überraschter war er, als mit einem kurzen Aufblitzen ein fremder Krieger der Kalenao vor ihm erschien, mit einer Hand sofort seinen Speer zurück und von Mahrrans Hals fort drückend.

Chigaru vermochte nicht, die Sprache der Menschen zu sprechen; er schenkte dem Häuptling bloß einen sehr tiefen, eindringlichen Blick, der ihm zu verstehen geben sollte, dass sie ihre Niederlage anerkannten. Dass er darauf bloß errötend die Brauen hob, war dem Mann dann letztendlich auch egal, er bückte sich zu seinem bewusstlosen Anführer, ihn sich mit etwas Mühe über die Schulter werfend. Der Häuptling hatte unterdessen wohl doch verstanden und eine Hand gehoben, seinen eigenen Männern in seiner Sprache wohl etwas zurufend, was sie dazu anhielt, die Kampfhandlungen einzustellen, worauf alle Blicke auf ihm, Mahrran und Chigaru lagen. Das traf sich gut; Moconi war weder ein dummer, noch ein schlechter Mann.

„Wir werden zurückkehren. Sofort.“

Die Magier starrten ihn geschlossen verblüfft an, während die menschlichen Krieger verwirrt zu tuscheln begannen. Der Häuptling musterte ihn aus scharfen Augen, sprach jedoch kein weiteres Wort.

„Bist du verrückt?! Wo wir jetzt so nah dran waren?!“

Es überraschte ihn nicht wirklich, dass die ersten Widerworte von Irlak kamen, der nun mit blutverschmierter Visage und wahnsinnigem Blick vor ihm auftauchte. Chigaru rührte sich nicht weiter, verlagerte bloß Mahrrans Gewicht etwas, als er ihm ruhig antwortete.

„Wir können nicht ohne unseren Herrn weiterkämpfen. Wir müssen auf der Stelle zurückkehren, ohne Pausen, sonst wird er sterben.“

Darauf verstummten alle Kalenao. Aus Irlaks Blick wich der Wahnsinn nicht – er fiel sehr schnell in einen sehr starken Blutrausch, der auf ihn wie eine den Geist vernebelnde Trance wirkte. Dennoch schien es in seinem Kopf zu arbeiten, seine Augen huschten hin und her, als stünde er unter Rauschmitteln, dann nickte er langsam.

„Aber... wir kommen hierher zurück.“, er drehte sich zu Moconi um, um ihm jene Worte ins Gesicht zu schreien, „Wir kehren zurück, hörst du, du Hornochse! Und dann... gibt es ein Festmahl! Für uns! Aber... ihr seid eingeladen...“

Er lachte wahnsinnig und der Häuptling erwiderte irgendetwas beinahe gelangweilt klingendes in seiner eigenen Sprache. Chigaru schenkte ihm einen kurzen, entschuldigenden Blick – der prompt abermals falsch verstanden wurde – und verschwand dann mittels Teleport.
 

Eine kleine Gruppe, bestehend aus den unversehrtesten Männern, ging mit Mahrran vor, die anderen folgten langsamer, denn es gab einige Schwerverletzte – und auch gänzliche Verluste. Chigaru war sich nicht sicher, ob Mahrran es schaffen konnte; er war kein Seher. Aber er wusste, es würde schlecht für das Dorf werden, wenn er verstarb. Nicht unbedingt, weil er als Dorfoberhaupt so absolut fabelhaft gewesen wäre, aber die Zeiten waren schwierig und das Volk brauchte eine feste Hand, die es führte. Da Nadeshda momentan wegen ihrer vermeintlichen Schwangerschaft nicht weiter öffentlich agieren konnte, würde die durch Mahrrans Verlust zunächst verloren gehen... und das konnte unter Umständen gefährlich werden. Es bestand dringender Handlungsbedarf.

„Dein Vater wäre stolz auf dich.“

Er blickte neben sich, wo ein bekanntes Gesicht aufgetaucht war. Der ältere Mann aus seiner Straße, der überhaupt dafür verantwortlich war, dass er nun derart das Bedürfnis hatte, sich nach bestem Wissen und Gewissen um diese ganze problematische Sache zu kümmern, war neben ihm aufgetaucht und lächelte ihn nun munter an. Wie schön, wenigstens der war wohlauf.

„Ich kann mich nicht sonderlich an ihn erinnern, aber danke.“

Kurz fragte er sich, was er denn wohl besonderes getan hatte, was Stolz gerechtfertigt hätte, da wechselte der Ältere das Thema.

„Das mit Mahrran sieht schlecht aus. Er hätte niemals mitgehen dürfen. Eigentlich müsste er dem Häuptling dankbar sein, dass er so viel Gnade hat walten lassen...“

Das war wahr, nachdem Chigaru aufgetaucht war, hatte er sich nicht mehr gerührt, obwohl es ihm ein leichtes gewesen wäre, den Herr der Kalenao in jenem Moment endgültig zu töten. Vielleicht hatte er die Situation aber auch so weit durchschaut, dass ihm klar geworden war, dass sich das wohl bloß als Energieverschwendung herausstellen würde und hatte es deshalb getan, wer wusste es schon.

„Man sollte aus dem heute eine Lehre ziehen. Das Land ist weit, es ist nicht nötig, darum zu kämpfen. Es macht die Götter zornig.“

Der alte Mann nickte missmutig.

„Wie man an Mahrran sieht.“
 

Es war ein kühler, dunstiger Morgen, als sie das Dorf an der Küste erreichten. Entweder hatte irgendwer einen lichten Moment gehabt oder jemand von denen, die den Herrn zurückgebracht hatten, hatte zu viel gesprochen, denn alle möglichen Frauen, Kinder und zurückgebliebenen Männer standen auf den Straßen und Wegen und versammelten sich nahezu wortlos mit dem Zug an erschöpften und verletzten Kriegern auf dem Dorfplatz. Doch es war niemand da, der zu ihnen sprechen wollte.

„Solltet ihr nicht lieber nach Hause gehen?“, erkundigte sich der alte Mann laut, „Seht euch eure Männer an, sie sind erschöpft, bringt sie heim! Hier ist niemand, der zu euch zu sprechen gedenkt!“

„Aber wir wollen, dass jemand zu uns spricht, Onkel!“

Es war die sehr vollbusige Frau, die sich hervortat, erschöpft, bleich und zitternd.

„Mein Mann ist nicht zurückgekehrt. Meine Brüder sind verletzt, wenn ich das jetzt richtig gesehen habe. Sollte das nicht der ultimative... Sieg werden? Was ist geschehen?!“

Der Mann fuhr sich seufzend durch sein helles Haar und Murmeln ging durch die Reihen. Er verstand, dass sie Auskunft wünschten... er wünschte sie sich auch. Aber von wem?

„Hör zu, mein Kind, wie du siehst, haben wir nicht gesiegt. Die Götter standen auf der Seite der Menschen, auch wenn es schwer ist, wir müssen das akzeptieren.“

„Akzeptieren?!“, mischte sich eine andere, ältere Frau zischend ein, „Akzeptieren, dass wir hier verhungern müssen in diesem schlechten Land?! Akzeptieren, dass wir... schlechter sind als die Primitiven?! Diese Schande!“

Sie fuhr sich durchs Gesicht und aus einigen Ecken ertönten empörte Rufe.

„Mir ist egal, ob Nadeshda sich hat schwängern lassen und nicht heiraten will, sie soll bloß ihren kleinen Hintern hierher bewegen und uns bei allen Göttern sagen, was wir nun zu tun haben!“, empörte sich ein sehr junger, offenbar am Arm verletzter Mann, der gerade erst zurückgekehrt war und sich nun an einem Mädchen stützte, das ihn bloß betroffen musterte.

Der ältere Mann seufzte. Er fühlte sich unwohl unter den ganzen anklagenden Blicken, die mit einem Mal auf ihm lagen, bloß weil er als erstes gesprochen hatte, und schenkte Chigaru einen hilfesuchenden Blick. Er reagierte nicht sichtbar darauf, half ihm jedoch trotzdem.

„Ich werde zum Haus der Himmelskinder gehen und klären, wie es nun weiter geht. Geht so lange nach Hause... wenn ihr es wünscht, spreche ich heute Abend zu euch.“

„Natürlich wünschen wir es!“, schnappte die vollbusige Frau, nickte ihm jedoch anerkennend zu. Dann drehte sie sich um und verließ den Platz, worauf sich auch die restliche Versammlung murmelnd auflöste.

Chigaru sah ihnen brummend nach.

„Das waren gute Worte.“, lobte der Alte ihn erfreut darüber, dass er nun aus dem Schneider war und der Jüngere schüttelte nur den Kopf.

„Ich bin kein Redner.“
 

Aber aus irgendwelchen Gründen hatte er das dringende Bedürfnis, sich um die Zukunft des Dorfes zu kümmern, wenn es denn nötig war – und das war es definitiv, denn er sah jene Zukunft in großer Gefahr.

Mabalysca öffnete ihm, als er kurz darauf bei den Tankanas anklopfte. Sie kannte ihn nicht, also musterte sie ihn misstrauisch, obwohl Chigaru sich sicher war, dass ihre Götter ihr sehr genau mitteilten, dass er keine Gefahr war.

„Wer bist du und was willst du?“, fragte sie dennoch in einem etwas weniger freundlichen Ton und er neigte höflich den Kopf leicht vor ihr.

„Mein Name ist Chigaru Tamassy, junge Herrin. Ich wünsche Eure Schwester zu sprechen; oder Euren Bruder, falls ein Wunder geschehen sein sollte.“

Die junge Frau hob kurz die Brauen, dann verhärtete sich ihr Ausdruck wieder und sie schnaubte säuerlich.

„Deinen Namen habe ich noch nie gehört. Mein Bruder ist krank und meine Schwester möchte niemanden sehen, also verschwinde.“

Das hatte er sich gedacht, aber so einfach ging das nicht. Die Tankana-Zwillinge waren zu früh an die Macht gekommen, sie waren fast noch Kinder gewesen und niemand hatte ihnen beigebracht, wie es anständig zu regieren galt. Das machte sich in solchen Situationen sehr deutlich bemerkbar.

„Ich vertrete das Volk.“, sprach er so unaufgefordert weiter, „Es verlangt dringend Antworten. Im Dorf herrscht Verzweiflung. Ich möchte Eure Schwester sprechen – gegen welche Heiratsregel auch immer sie gerade verstößt, ist mir dabei im übrigen relativ egal.“

Darauf herrschte kurz Stille. Chigaru fragte sich schließlich, ob er wohl irgendetwas besonderes an sich hatte, als auch Mabalysca leicht errötete und dann den Blick von ihm abwandte.

„Ich will sehen, was ich machen kann.“

Dann schloss sich die Tür für eine Weile. Als sie wieder geöffnete wurde, bat man ihn herein.
 

Nadeshda erwartete ihn im Kochzimmer. Tatsächlich zeichnete sich unter ihrem Kleid ein mehr als deutlich gerundeter Schwangerschaftsbauch ab, auf dem ihre zierlichen Hände ruhten, und sie errötete, als er den Raum betrat und sie musterte. Das war nun schon die dritte...

„Setze dich zu mir.“, bat sie ihm darauf dann unerwartet höflich an und deutete neben sich auf die Holzbank, auf der auch sie Platz genommen hatte. Der Mann hielt es für ratsamer, ihrem Angebot nachzukommen. Er musste nichts sagen, sie schnitt ihm sofort das Wort ab und wirkte dabei überraschenderweise etwas verlegen.

„Ich kann mir denken, warum man dich schickt. Ich spüre die Verzweiflung des Volkes, es... ist doch auch meine Verzweiflung. Und ich will ehrlich sein, ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Sie wandte den Blick ab.

„Ich selbst kann kaum etwas tun. Hinzu kommt die Sorge um Mahrran... es geht ihm sehr, sehr schlecht, Alaji wacht immerzu über ihn.“

Als sie schwieg, räusperte er sich verhalten.

„Und... was sage ich dem Volk nun?“

Sie sah wieder zu ihm, blickte ihm in die Augen und irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass er für sie kein Fremder war.

„Die Götter haben gesprochen.“, erklärte sie dann leise, „Rate ihnen, sich zunächst einmal auszuruhen. Ich sorge für Nahrung... es wird noch etwas reichen, wenn wir nicht verschwenderisch sind. In der Zeit hast du den Auftrag, dir den nächsten Schritt zu überlegen. Man... riet mir, dir zu vertrauen, Fremder.“
 


 

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Armer Semmi ^^

Gefolge

Die Kalenao waren abgezogen. Zurückgelassen hatten sie eine von ihren grauenhaften Zaubern verwüstete Landschaft, viele Verletzte und auch einige Tote.

Moconi starrte ihnen nahezu perplex nach. Er hätte ihn töten können, diesen Mahrran... das hätte vielleicht alles beendet. Aber er war vor seinen Füßen zusammengebrochen – wie hätte er ihm in einer solchen Situation zusätzlich noch Schaden zufügen können? Nein, das war ihm dann doch etwas zu unehrenhaft gewesen.

Murmeln legte sich über den blutgetränkten Ort und allmählich kamen die Frauen aus dem Lager, um nach den Verletzten zu sehen. In dem Moment, in dem der Häuptling sich zu ihnen umdrehte, lenkte ein hysterischer, langer Jungenschrei alle Aufmerksamkeit auf sich.

Novaya war vollkommen gleich, dass es noch andere Verletzte gab. Es war ihm auch egal, dass an jenem Tag auf beiden Seiten Krieger verstorben waren. Er dachte nicht darüber nach. Er dachte überhaupt nicht nach. Alles, was er wahrnahm, war das, war er da vor sich sah.

Semliya lag da, regungslos mit dem Gesicht im Staub, sein Schädel aufgeplatzt und an einer Stelle nahezu zertrümmert. Sanan sagte irgendetwas zu ihm – er hörte es nicht. Er hörte auch nicht sein eigenes Schreien, als er ohne darauf zu achten, was er tat und was das für Konsequenzen haben konnte, seinen Zwilling umdrehte, sodass er wenigstens nicht mehr mit dem Gesicht im Dreck lag – sondern mit der Wunde. Er wurde nicht wach davon und Novayas Zustand nicht besser, als er in das bleiche, plötzlich völlig fremde Gesicht seines Bruders blickte. Aus seiner Nase und seinem Mund rann Blut, ansonsten war er aschfahl. Und er blieb bewusstlos.

Das nächste, was er mitbekam, waren Hände, die nach ihm griffen. Er wusste nicht, zu wem sie gehörten, aber sie packten ihn, zogen ihn auf die Beine und hielten ihn fest, während Dherac, der, seinerseits selbst mit einer Platzwunder an der Stirn, nun angerannt kam, sich zu seinem Sohn bückte und ihn schließlich mit äußerster Vorsicht hochhob. Porit, der relativ zeitgleich aufgetaucht war, half ihm, indem er Semliyas Kopf stützte. Die Panik, die diese Bilder in ihm auslösten, schnürten Novaya die Luft zum atmen ab. Er bemerkte, wie er immer verzweifelter dagegen anzukämpfen versuchte, gleichzeitig seinen Vater und seinen Bruder mit seinem Blick verfolgend, bis er den Kampf in seiner eigenen Hysterie verlor und er sich der drückenden Schwärze hingab.
 

„Willst du uns für dumm verkaufen?! Was erlaubst du dir, du dreckige Missgeburt?!“

Shiran war tatsächlich krank, das konnte niemand bestreiten, aber er war wach, als Moconi ihn aus der Hütte zerrte, die er sich mit Sanan teilte und ihn mit seinem kräftigen Kinnhaken grüßte. Er biss sich auf die Lippe und spuckte Blut, als der Größere ihn achtlos ins Gras warf, vermutlich in der Hoffnung, er würde in einer giftigen Spinne oder einem Haufen beißender Käfer landen, was jedoch nicht eintrat. Etwas vernebelt von seinem noch immer leicht vorhandenen Fieber sah er zu dem Häuptling auf und musste zunächst überlegen, wo überhaupt das Problem lag. Dann senkte er den Blick.

Als Moconi weiter sprach, ballte er die Hände zu Fäusten und aus lauter Verzweiflung stiegen ihm die Tränen in die Augen, was den Seher dazu bewog, ihn nicht anzusehen.

„Heute sind zehn unserer Männer gestorben! Hörst du, zehn Stück! Ich weiß nicht, wie groß euer verdammtes Dorf ist, aber ich für meinen Teil habe keine Ahnung, wie ich meinen Stamm mit verdammten zehn Jägern weniger über den nächsten Winter bringen soll! Kannst du mir das sagen, du intrigantes Mistschwein?! Kannst du das?! Sag mir, was ich tun soll! Sag... es mir!“

Er verstummte und Shiran bemühte sich von seiner ihm künstlich auferlegten Krankheit geschwächt schwerfällig, wieder auf die Beine zu kommen, weiterhin vermeidend, seinem Gegenüber in sein Gesicht zu sehen, wie es krampfhaft gegen sein Schluchzen ankämpfte. Er hatte schon gewusst, weshalb er sich den Seher allein vorknöpfen hatte wollen... wobei die anderen nun gewiss genug zu tun hatten.

„Ich... wusste, was geschehen würde.“, gestand der Seher dann verhalten, „Es tut mir leid, dass ich nicht sprach. Glaube mir, oder glaube mir nicht, aber hätte euch die Wahrheit nicht den Mut gestohlen? Und Feigheit ist tödlich. Dieser Tag wäre noch viel schlimmer ausgegangen als ohnehin schon...“

Moconi erschauderte. Der Seher konnte ihm nicht übel nehmen, dass er ihm nun misstraute... es war wirklich schwierig. Aber sie hatten die Schlacht gewonnen. Zumindest diese.

Mit noch einmal zehn Jägern weniger würde die Lage wirklich langsam brenzlig werden, selbst bei gutem Wildbestand – und der Unterstützung des Kojotenstammes. Aber was hätte er sonst tun sollen? Er konnte nicht mehr, als die Menschen zu beraten. Und das war schwierig.

Das Schicksal so zu lenken, dass sie die Kämpfe gegen die Menschen einfach gewannen, kostete die schwächlichen Himmelskinder zu viel Kraft, dennoch lenkten sie einzelne Details genau in die Richtung, in die sie sie haben wollten und das war schwer zu kalkulieren. Shiran schwor sich, dass er versuchen würde, es besser zu verstehen...

Unterdessen wischte sich Moconi verlegen über sein Gesicht, dann räusperte er sich.

„Und... was sollen wir nun tun?“

Es gab viele Verletzte, schwerer und leichter, neben den Toten zu beklagen und der Seher war froh, dass er ihm immerhin diesbezüglich etwas positives mitteilen konnte. Er räusperte sich, sich kurz durch sein violettes Haar streichend.

„Der nächste Angriff wird noch eine Weile auf sich warten lassen. In dieser Zeit können sich alle auskurieren... und die Verstärkung vom Stamm am Horizont wird eintreffen.“

Der Häuptling nickte und als er aufsah, erwiderte Shiran seinen Blick endlich wieder.

„Werden es alle Verletzten schaffen?“

Ihn überkam eine Gänsehaut bei dem Blick des Magiers und er rechnete bereits mit dem Schlimmsten, da folgte die überraschende Antwort.

„Ausnahmslos alle. Aber es wäre besser, wenn dem nicht so wäre.“
 

Die Frauen rannten von Hütte zu Hütte. Sanan, der einfach irgendwo dazwischen saß und ihnen dabei zusah, fragte sich, ob sich die Götter hier wohl einen Streich erlaubten. Während man sich in der einen Hütte um den schwerverletzten Semliya kümmerte, wurde in der nächsten das Kind von Tanests Nichte geboren. Sein Ziehvater sagte immer, alle Welten hielten sich die Waage – das hieß, wenn einer ging, kam ein anderer nach. Er wollte nicht, dass der ältere Zwilling für das Kind dieser Frau Platz machte.

Er machte sich furchtbare Vorwürfe. Er hätte ihn doch beschützen müssen... er hatte die Magie so klar und deutlich gespürt, warum war er nur so rasch so erschöpft gewesen? Semliya war nicht im geringsten über seine Fähigkeiten überrascht gewesen, fiel ihm nebenbei ein. Das war eine beunruhigende Sache... die Zwillinge wussten um ihn. Er bemerkte irritiert, dass ihn das nicht einmal sonderlich überraschte... die beiden seltsamen Jungen kannten ihn aus unerfindlichen Gründen so gut, als konnten sie ihm in den Kopf schauen. Kopf... das erinnerte ihn wieder an Semliya. Er hatte einfach nicht wegrennen wollen... er hatte darauf bestanden, dieser elendigen Missgeburt noch beim verrecken zusehen zu müssen. Novaya war einfach gerannt... das war sonderbar gewesen. Letztendlich war er in seinen Armen ohnmächtig geworden... er hatte ihn dann in die Hütte von seiner Frau Mefasa getragen, die irgendwie so ausgesehen hatte, als wusste sie ziemlich genau, was geschehen war... zumindest hatte sie nicht unbedingt erfreut gewirkt.

Er war es auch nicht... er war erschöpft. Eigentlich hatte er längst zu seiner eigenen Hütte gewollt, er musste doch nach Shiran sehen... aber er hatte es nicht geschafft. Das Zaubern verlangte Übung... was er heute vollbracht hatte, wusste sein Körper noch längst nicht zu verarbeiten. Das verstand er und dennoch behinderte es ihn im Moment sehr...
 

Als Novaya endgültig erwachte, war es Abend. Er erinnerte sich daran, auch davor schon einmal kurz aufgewacht zu sein, doch er hatte sich so elendig gefühlt, dass er die Augen einfach wieder geschlossen hatte. Nun war er klarer... er lag in seinem Lager. In seinem Lager, das er sich normalerweise mit Semliya und Mefasa teilte, doch weder der eine, noch die andere war da. Als er sich aufsetzte, schwindelte es ihm kurz, dann klarte sich das Bild wieder. Seine Frau hatte das Kochfeuer entzündet und saß nun selbst davor, den kleinen Liran in den Schlaf wiegend. Sie bemerkte ihn wohl nicht, so zuckte sie erst, als er sich erhob, leicht zusammen und sah zu ihm auf, als er nervös nach seiner Kleidung griff und sie sich überstreifte. Irgendwer hatte wohl die Freundlichkeit besessen, dafür zu sorgen, dass er ordentlich schlafen konnte... Mefasa zu fragen, ob sie das gewesen war, hatte keinen Sinn, also unterließ er es gleich. Er sah ihr bloß einmal kurz in ihr Gesicht... das reichte, um ihm zu verraten, dass seine schlimmsten Albträume Realität waren.

Als er die schummrige Hütte verließ, hatte er das Gefühl, die kühle Schwärze der Nacht würde seine Sinne klaren. Der Wassermond leuchtete hell und der Sternenhimmel tauchte die ganze Welt in eine trügerisch friedliche Atmosphäre. Er zischte. Er musste zu Semliya... wo immer man ihn hingebracht hatte, seine Eltern würden es wohl wissen.

Und wenn es der Scheiterhaufen war.

War es nicht. Kinashi fiel ihm wortlos um den Hals, als er seine Familienhütte betrat. Alle Blicke legten sich auf ihn, als er sich umsah... sie alle waren da, mit Ausnahme von Calyri. Die Kleinen saßen eng zusammen an der Hinterwand der Hütte, Dherac, seinerseits nur leicht verletzt stocherte mit einem Knochen in der Talglampe herum und machte sie damit sicher bald kaputt und seine Frau wagte es, kurz zu schluchzen. Ganz leise nur... sie besaß den Stolz einer Frau. Und eine Mutter weinte nicht vor ihren Kindern... auch nicht an ihrer Schulter. Als sie in Novayas Gesicht blickte, lächelte sie bitter.

„Du möchtest wissen, wo er ist, nicht wahr?“

Er nickte wortlos. Sein Hals war ganz trocken... wie lange hatte er nun eigentlich schon nichts mehr gesagt?

„Arema hat uns freundlicherweise die kleine Hütte seines ältesten Sohnes überlassen – der braucht sie nach dem heutigen Tag ja nicht mehr. Wir dachten, es sei gut, wenn er sich da ausruhen kann... ohne, dass die ganze Familie – ob diese oder die bei Mefasa – ständig um ihn herum ist. Wir passen auf ihn auf... gerade ist Calyri bei ihm. Sie... erwartet dich sicher schon. Erschreck... dich nicht.“

Er nickte nur, dann löste er die Umarmung und machte sich auf den Weg.
 

An sich hatte er sich niemals für den ältesten Sohn von Arema interessiert; es war ein schlaksiger, dunkelblonder Kerl gewesen, gar nicht so viel älter als sie es nun waren. Er war weder ein besonders guter, noch besonders schlechter Jäger gewesen, man hatte sich mit ihm unterhalten können, hatte aber nicht unbedingt mit ihm befreundet sein müssen – alles in allem ein ganz und gar durchschnittlicher Typ, der am Morgen wohl verstorben war. Es irritierte Novaya, dass er tatsächlich so etwas wie einen Hauch von Mitleid für ihn empfand... irgendetwas stimmte wirklich nicht mehr. Er war einfach fort gerannt. Als diese gigantischen Felsbrocken einfach so über ihnen gewesen waren, hatte ihn die blanke Panik gepackt und er hatte einfach nicht anders können, als dem Drang, zu rennen, nachzugeben. Es war ein Fehler gewesen.

Er hätte Semliya zwingen müssen, mit ihm zu gehen. Oder er hätte bleiben müssen...wenn es ihm so ergangen wäre, wie ihm nun, wären sie wenigstens nicht getrennt worden. Egal wie, er hätte anders handeln müssen. Doch jetzt war es zu spät.

Die Hütte war wirklich winzig und beschränkte sich auf das Nötigste; selbst an der höchsten Stelle konnte man nicht aufrecht stehen. Calyri sah beinahe erschrocken zu ihm auf, als er eintrat. Das Innere war warm, obwohl bloß in einer winzigen Schale ein Feuer brannte... der kleine Raum benötigte wohl nicht mehr.

„Du bist wohlauf... wie schön.“

Er nickte und sie bemerkte, dass er nur sie anstarrte und nicht einmal auf das Lager schielte, wo sein Zwilling nun lag. Sie senkte den Blick.

„Soll ich... etwas nach draußen gehen?“

Als er abermals nickte, kam sie dem sofort nach und ließ die Brüder allein.

Novaya setzte sich dorthin, wo Calyri zuvor gesessen hatte, direkt an das linke Kopfende des Lagers. Seine Mutter hatte ihn gebeten, sich nicht zu erschrecken. Was er sah, erschreckte ihn nicht... es ließ bloß eine eigenartige Verwirrung in ihm aufkommen, denn zum ersten Mal in seinem Leben glichen er und sein Zwilling sich nicht.

Semliya hatte einen Verband aus dünnem Leder um den Kopf; über die Stirn zum verletzten Hinterkopf und wieder zurück. Vermutlich hatten sie die Wunde irgendwie genäht und das war es, was sein Äußeres so abstrus machte, denn sie hatten ihm sein störendes Haar raspelkurz abgeschnitten. Sein Gesicht war noch immer blass, aber die Blutungen aus Nase und Mund hatten scheinbar aufgehört, denn es war sauber. Als er es wagte, kurz darüber zu streichen, hätte er eigentlich etwas erwartet. Ein Zucken vielleicht, irgendeine Reaktion, doch nichts geschah. Er atmete bloß leise und stetig.

Novaya wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen, aber irgendwie traute er sich nicht. Semliya unterhielt sich nicht gern... aber irgendetwas musste er doch tun!

„Schicke Frisur hast du da...“, er räusperte sich. Gab es hier nicht zufällig Wasser?

Als jegliche Reaktion ausblieb, sprach er weiter.

„Erwarte aber nicht, dass ich mich dir anpasse. Mir steht das sicher nicht.“

Er lächelte kurz verzweifelt, doch er konnte die Lüge nicht lang aufrecht erhalten. Ihm war ganz und gar nicht zu lächeln zumute...

Am liebsten hätte er sich entschuldigt. Dafür, dass er fortgerannt war, dafür, dass er ihn nicht mitgenommen hatte... einfach für irgendetwas. Er entschuldigte sich doch ohnehin ständig bei ihm.

Aber vermutlich hörte er es momentan nicht einmal.

Der Junge senkte den Blick und bemerkte die Hand seines Zwillings, die unter der Felldecke hervorlugte. Mehr aus Reflex ergriff er sie... sie war überraschend warm, aber vollkommen schlapp.

„Weißt du...“, murmelte er dann, „Ich würde dir gerne sagen, dass ich mir um dich Sorgen mache. Aber dann würdest du sagen, ich sei töricht, du... würdest mich niemals allein lassen. Und... ich soll gefälligst nicht so viel reden. Also spare ich es mir einfach. Ich denke, es wäre besser, ich würde wieder gehen. Oder... soll ich bleiben?“

Er erwartete nicht ernsthaft eine Antwort. Umso überraschte war er, als er eine erhielt. Novaya wurde heiß und kalt gleichzeitig, als die Hand seines Bruders sich bewegte und seine schließlich einen Moment lang drückte. Er weitete die Augen perplex, dann lächelte er wieder.

„Na gut, dann... dann bleibe ich natürlich!“
 

Nach einer solch verhängnisvollen Schlacht war neues Leben eine gute Sache. Moconi versuchte sich krampfhaft daran zu erinnern, als ein guter Jäger aus seinem Stamm, etwas älter als er selbst, ihm stolz seinen erstgeborenen Sohn präsentierte, sodass er ihn als neues Mitglied des Stammes offiziell auf dem großen Platz im Mittelpunkt des Lagers annehmen konnte. Die Sonne war gerade dabei, über die Berge zu kriechen... die Zeit, so verlangte es die Tradition, um neues Leben vor allen willkommen zu heißen. Saltec hatte das seinerseits zu jeder Tages- und Nachtzeit getan, aber Moconi widersetzte sich dem wie so vielem und hatte extra den Sonnenaufgang abgewartet.

Nun war die Gemeinschaft also versammelt – soweit sie bei Kräften war – und freute sich über das Baby, denn man deutete es nach der verheerenden Schlacht als gutes Zeichen, zumal es sich um einen gesunden Jungen handelte.

Der Häuptling musterte das Kind missmutig, als sein Vater es ihm zur Zeremonie übergab. Das hübsche Köpfchen war bedeckt mit dem selben dunkelblonden Haar, wie es sein vermeintlicher Erzeuger auch auf dem Kopf trug und einen Moment lang glaubte Moconi, Mefasa hätte ihn angelogen, da öffnete der Säugling seine stechend hellblauen Augen und offenbarte damit die Babyversion eines Gesichts, das es in diesem Stamm bereits zwei Mal gab. Er verengte missmutig die Augen und versuchte das Stechen in seiner Brust, das das fröhliche Strahlen seines Gegenübers verursachte zu ignorieren und seiner Pflicht nachzukommen.

„Wie möchtest du deinen Sohn nennen?“

Der Mann erstrahlte noch mehr. Dem Häuptling wurde beinahe übel dabei; das verdiente dieser Kerl einfach nicht...

„Er soll den Namen Yeta tragen!“

Er nickte. Wenn er gewusst hätte, dass er eigentlich gar nicht dazu berechtigt war, diesem Kind einen Namen zu geben... ach, es war zu bitter. Er wollte es nun hinter sich bringen, so hob er den Säugling, der wohl am allerwenigsten für diese Ungerechtigkeit konnte, vorsichtig hoch und präsentierte ihn dem Stamm.

„An diesem Morgen stelle ich all meinen Brüdern, all meinen Schwestern und unserem Lebensspender Sonne, stellvertretend für alle Götter, diesen neuen Jäger Yeta vor. Auf dass wir ihm alle gemeinsam auf seinem Weg beistehen mögen.“

Die Menschen jubelten und der vermeintliche Vater starb beinahe vor lauter Stolz. Der Häuptling seufzte unmerklich und gab ihm das Kind zurück. Er hätte mehr sagen sollen... müssen. Es war nicht üblich, dass die Annahme so kurz abgehandelt wurde, aber in jenem Moment konnte er einfach nicht anders.
 

Nicht alle wohnten der Begrüßung bei. Shiran sah sich nicht unbedingt dazu berufen, er gehörte nicht zum Stamm, es tangierte ihn kaum und vermissen würde ihn ohnehin niemand. Dass seine ihm künstlich auferlegte Krankheit mittlerweile längst vergessen war, wunderte ihn nicht wirklich. Um Mahrran stand es schlecht, das Schicksal zu lenken war im Moment wohl das letzte, was er konnte und Nadeshda hatte gewiss andere Sorgen, zumal er ihnen nun auch gerade nicht gefährlich werden konnte. Wenn sie keinen Unsinn planten, kam er ihnen auch nicht in die Quere... so einfach war das.

Mit diesen Gedanken spazierte er durch das Lager und wäre um ein Haar überrascht gewesen, als er trotz der Zeremonie auf jemanden traf, der einfach nur vor seiner Hütte hockte und seiner Arbeit nachging. Die Person war es ihm dann doch wert, einmal kurz inne zu halten.

„Ist es nicht ein wenig sehr auffällig, wenn du nicht wie alle anderen das neue Stammesmitglied begrüßt?“

Sie sah nicht zu ihm auf, während sie Körner zwischen zwei Steinen zermahlte, um daraus am Abend etwas zuzubereiten.

„Keineswegs. Ich habe die Aufforderung zur Versammlung ohnehin nicht gehört – seltsam, zu sprechen, noch seltsamer, meine eigene Sprache zu benutzen.“

Daraufhin schenkte die rothaarige Frau dem Seher dann doch ein kurzes, erzwungenes Grinsen. Moconi falsch ins Gesicht zu kichern war leicht; zwar hielt sie ihn zweifelsohne für einen wahnsinnigen Tölpel, doch hasste sie ihn nicht. Shiran jedoch war allein für das, was er war und den Ort, von dem er kam, bereits verachtenswert. Und das wusste er auch.

„Das kann ich mir vorstellen.“

Er erlaubte sich, sich neben sie zu setzen. Sie hatte dazu nichts zu sagen und widmete sich behände weiter ihrer Arbeit, mit der sie sich wohl mehr die Zeit vertrieb, als dass sie wirklich notwendig war. Liran war noch zu klein, um das Gericht, das sie da vorbereitete, zu sich zu nehmen und ihre Männer waren beide nicht da.

„Du nimmst es den Zwillingen ziemlich übel.“, seufzte Shiran da und sie hielt inne und zischte.

„Deine Interesse an meinem Leben ehrt mich, da ich dir ohnehin nichts verheimlichen kann; ja, ich habe mir gewünscht, sie würden beide sterben für ihr Verhalten.“

Sie erschauderte, als sie ihr Werk fortsetzte, dabei den Stein unnötig brutal auf die Körner schlagend.

„Sie sind nicht wie Rhik. Rhik war ein guter Mann, der einzige mir würdige Mensch war er. Und den habt ihr getötet!“

Und ihr ganzes schönes Mehl ging in Flammen auf. Shiran hob eine Braue, als sie fauchend das Feuer ausschlug, anstatt es einfach wieder mit Magie zu löschen... sie war eine wirklich ungestüme Persönlichkeit.

„Kannst du dich eigentlich an mich erinnern?“, wechselte er galant das Thema, obwohl er ihre Antwort bereits ahnte und sie verschränkte die Arme grimmig vor der Brust, nachdem sie den Stein von sich geworfen hatte. Ihre schöne Arbeit war ohnehin ruiniert...

„Ja. Der Seher-Junge. Dein Vater hat manchmal Fisch gebracht.“

Shiran nickte und schenkte ihr ein gütiges Lächeln. Er hatte natürlich durch seine Götter früh von ihr und ihrem Schicksal gewusst, in gewisser Weise hatte er auch darüber entschieden. Wenn er so darüber nachdachte, verdiente sie es vielleicht, davon zu erfahren.

„Man hat dich sofort nach deiner Geburt zu den alten Weibern gegeben, damit die dir die nötige... Disziplin beibringen. Man sagte dir, es gäbe keinen besseren Weg, die Menschen zu verstehen, als wenn man einen von uns bei ihnen einschleuse... aber es wäre nicht nötig gewesen.“

Er verstummte kurz, als sie neben ihm zu zittern begann und ihm dann einen wässrigen Blick voller Zorn und Enttäuschung schenkte.

„Das... habe ich bemerkt. Schließlich habt ihr mich hier vergessen. Du hättest den Herrn ruhig daran erinnern können, dass... es mich noch gibt.“

Eine gewisse Spannung lag in der Luft und der Seher konnte sie förmlich spüren, ihre Wut und das mächtige Feuer in ihr, das am liebsten dafür gesorgt hätte, dass sie all den Frust, den sie über die letzten Jahre hinweg in sich angestaut hatte, an ihm ausließ. Letztendlich war es wohl ein kleines Wunder, dass sie sich zusammenreißen konnte. Der Mann seufzte.

„Da lag das Problem, der Herr ist früh verstorben, ich hätte ihn gar nicht daran erinnern können. Und außer ihm wusste niemand davon. Einmal davon abgesehen, dass die Aktion auch kaum Nutzen gebracht hat, es war mehr ein Gefallen des Herrn, den er deiner Mutter getan hat.“

Sie weitete irritiert die blauen Augen und er senkte sein Haupt ein Stück, sie jedoch weiter ansehend.

„Die Götter haben ihr früh gesagt, dass diese Tochter sehr nach ihrem Vater kommen würde... und das war nicht der Mann, mit dem sie verheiratet war.“

„Sie wollte mich einfach los werden?!“

Er nickte und hatte irgendwie das Gefühl, nicht unbedingt der richtige Kandidat zu sein, um über solche Familienmissstände mit ihr zu reden – doch wer hätte es sonst tun sollen? Alle anderen, die jemals darum gewusst hatten, waren zumeist tot oder zumindest mehrere Tagesreisen weit entfernt. Und nach all den Jahren verdiente sie zumindest ein klein wenig Wissen, fand er und seine Götter bekräftigten ihn darin.

„Sie war keine gute Frau... und das sage ich gewiss ungern, Venca.“

Darauf schwieg sie eine Weile. Scheinbar war sie auch nicht unbedingt erpicht darauf, mit ihm über ihre Familie, die sie nicht einmal kannte, zu sprechen, so schüttelte sie schließlich einfach den Kopf und erhob sich matt lächelnd.

„Venca.“, wiederholte sie dann versonnen, „So hat mich ja seit über zehn Sommern niemand mehr genannt.“
 

Es waren beinahe zwei Tage vergangen, als Semliya plötzlich die Augen öffnete. Da er in dieser Zeit absolut nichts getan hatte, außer sich ein paar wenige Schlücke Wasser einflößen zu lassen, waren bereits viele davon ausgegangen, dass sein Leben in der nächsten Nacht ein Ende finden würde, dementsprechend überrascht reagierte man.

Neben Kinashi, die zu jenem Zeitpunkt gerade über ihren Sohn wachte, war auch Novaya dabei. Ohne erklären zu wollen, weshalb, war er nicht mehr von der Seite seines Zwillings gewichen – und durchgehend der festen Überzeugung auf eine erfolgreiche Genesung gewesen. Scheinbar bestätigte sich seine Meinung und die gemeinsame Mutter erstrahlte in jenem Moment, als der noch sehr junge Mann plötzlich zu blinzeln begann und sich dann in der kleinen Hütte umsah, ohne sich weiter zu rühren.

„Du bist wach! Oh mein Himmel, bei allen Göttern, das ist ein Wunder!“

Sie war dabei gewesen, wie man seine Wunde vernäht hatte. Und sie hatte es gesehen, das, was die anderen Frauen ihr hatten verheimlichen wollen, denn sie war nicht dumm. Sein Schädel war kaputt... dementsprechend war sie eigentlich der festen Überzeugung gewesen, ihren Sohn bald zu verlieren. Es war eine sehr, sehr schlimmer Verletzung... Novaya hatte sie das gar nicht sagen dürfen.

Semliya ihrerseits sah sie kurz an, dann schloss er einen Moment die Augen und blickte ihr wieder kurz in ihr Gesicht, als wollte er ihr sagen Alles ist gut, mach dir keine Sorgen. und sie spürte, wie sie gegen die Tränen kämpfen musste. Sie hatte den Stolz einer Frau... aber so viele Gefühle strömten auf sie ein und drohten sie zu überwältigen, dass sie froh war, als der Junge statt sie dann seinen Zwilling anblickte, der regungslos neben ihr saß.

Einen Moment verharrte er einfach, dann schlich sich das hinreißendste und herzerwärmendste Lächeln in sein blasses Gesicht, das sowohl Kinashi als auch Novaya jemals bei irgendeinem Menschen gesehen hatten.

Letzterer erwiderte es nach bestem Können etwas irritiert – bei allen Göttern, so hatte er ihn nie angesehen. So hatte er niemanden jemals angesehen, Semliya hatte immer schon sehr ungern ehrlich gelächelt.

„Du scheinst mich zu erkennen.“, stellte er dann leise fest und bereute es sofort, als sein Bruder nicken wollte, direkt darauf aber zusammenzuckte und sein Antlitz schmerzerfüllt verzog, leise und gequält stöhnend.

„Bewege dich nicht. Du musst sehr vorsichtig sein und... Semliya!“

Kinashi war zu perplex, um etwas zu tun, als der Junge sich ohne Vorwarnung aufsetzte, ein weiteres Mal jämmerlich stöhnend und vorsichtig, aber motorisch gesehen etwas ungalant nach seiner Wunde griff. Novaya hob eine Braue.

„Du solltest liegen bleiben... das war sehr heftig.“

Und abermals schenkte er ihm ein absolut liebenswürdiges Lächeln in all seiner Qual, als er vorsichtig den Kopf zu ihm drehte.

„... ja.“, erwiderte er dann brüchig, „A-aber... ich... äh...“

Selbst etwas empört über die fehlende Gabe zur Artikulation hielt er inne und schenkte seinem Bruder nun einen etwas hilfesuchenden Blick – den er auch verstand. Jahrelang hatten sie ihre Blicke deuten gelernt; auch wenn diese nun wesentlich emotionsgeladener waren als normal, verstand Novaya sich darin, sie zu verstehen. Er seufzte.

„Na, das ist natürlich nicht verwunderlich. Ich helfe dir.“, er rutschte etwas näher und half ihm vorsichtig auf die Beine. Währenddessen klärte er die verwirrte Kinashi auf.

„Er hat Ewigkeiten hier herum gelegen, er muss sich dringend erleichtern. Ach ja... vielleicht wäre irgendetwas zu essen nicht schlecht.“

Sie hob erkennend ihre Brauen, während die Zwillinge mühsam die Hütte verließen und machte sich darauf daran, Novayas Vorschlag umzusetzen.
 

„Ja, es... ist bewölkt. Niray wird sicher nicht erfreut sein.“

Novaya beobachtete seinen Bruder skeptisch, als er ihn mehr mit sich mit schleifte, als dass er ihm beim Gehen half. Er konnte ohne ihn gar nicht stehen... und aus irgendwelchen Gründen starrte er immerzu in den Himmel. Er hoffte ja sehr, dass sich diese geistige Verwirrtheit mit der Zeit wieder gab... im Moment konnte er sie ihm wohl schlecht übel nehmen, er war gerade erst erwacht.

„Da... oben das... wie... die... argh!“

Semliya verzog sein Gesicht ergrimmt und sein Zwilling seufzte mitleidig. Irgendwie ließ ihn das Gefühl nicht los, dieser verfluchte Stein habe da oben wirklich irgendetwas ziemlich kaputt gemacht...

„Schon gut, wir unterhalten uns später. Mach jetzt endlich, damit du bald wieder in dein Lager kannst...“

Und er war beinahe überrascht, als sein Bruder dieser Aufforderung tatsächlich halbwegs geschickt nachkam.
 

Sanan seufzte erleichtert, als er Shiran fand. Er wusste nicht, woran es gelegen hatte... aus irgendwelchen Gründen hatte er zu seinem Bruder gewollt, aber er war nicht auffindbar gewesen. Vermutlich verdankte er es den Göttern, dass sie ihn nun hierher, an den Rand des Lagers geführt hatten. Im Westen ging die Sonne als riesiger, gleißender Feuerball unter, ohne den Rand der Welt zu verbrennen, wie sie es immer tat. Der junge Mann verstand nicht, wie das möglich war; vermutlich war es auch belanglos.

„Ich fühle mich geehrt, dass du besorgt um mich warst.“

Natürlich hatte er geahnt, dass Shiran seine Gedanken bereits sah, ehe er sich zu ihm umgedreht hatte. Letzteres unterließ er dann auch, schielte nur kurz über seine Schulter, bis der Jüngere neben ihm erschienen war. Etwas verlegen schwieg er auf seine Feststellung und der Seher war so frei, das Thema zu wechseln.

„Sieh dir den Horizont an.“, bat er, „Aber verbrenn dir nicht die Augen.“

Warum konnte man sich an der Sonne eigentlich die Augen verbrennen, aber der Horizont ging nie in Flammen auf? Er verkniff es sich, zu fragen, und kam der Aufforderung einfach wortlos nach.

Zu erkennen waren Silhouetten. Viele winzige Silhouetten, die sich auf dem Weg in ihre Richtung befanden. Er lächelte.

„Der Stamm am Horizont, so ein Glück!“

Shiran nickte.

„Morgen, am späten Nachmittag werden sie uns erreichen. Sie waren sehr schnell, sind beinahe die ganze Zeit durchgehend auf den Beinen gewesen... sie wissen um eure Situation. Obwohl... nicht ganz. Mahrran ist krank, davon wissen sie noch nichts.“

Mahrran... der Herr der Kalenao. Sanan hatte ihn nur kurz aus einiger Entfernung gesehen... und er war nicht das gewesen, was er sich unter einem Titel wie „Herr“ vorgestellt hatte. Noch kleiner als er selbst und schmächtiger als die meisten anderen Magier obendrein... irgendwer hatte gemeint, er habe nur ein funktionierendes Auge, aber das hatte er selbst nicht mitbekommen. Er fand es seltsam, dass so jemand eine so große Gefahr für einen so wundervollen Stamm wie der seine es war sein konnte.

„Oh doch, das ist er.“

Es war schon seltsam genug, plötzlich einen älteren Bruder zu haben, aber daran, dass der dann auch noch ständig seine Gedanken kannte, würde er sich sicher nicht gewöhnen. Er errötete, weil er sich irgendwie dumm fühlte.

„Seine Macht liegt nicht in seinem Körper.“, erklärte Shiran da ruhig weiter, seinen Blick weiter auf die noch weit entfernten Helfer gerichtet, „Du hast recht, er mag sehr schwächlich erscheinen – das ist Mahrran im Prinzip auch, auch in unserer Kultur gilt er als eher schmächtig. Aber er ist ein Götterkind... ich habe es bereits erwähnt, erinnerst du dich?“

Sanan nickte.

„Er kann das Schicksal lenken, ja. Aber was ich mich frage, warum...?“

Der Ältere unterbrach ihn glucksend, ehe er sich ihm zuwandte.

„Warum lässt er uns dann nicht einfach verlieren? Nun, um es kurz zu fassen, die Götter überlassen niemandem unendliche Macht. Natürlich könnte Mahrran sich das Schicksal einfach so drehen, dass wir bei der nächsten Schlacht allesamt drauf gehen, doch das würde ihn vermutlich ebenso töten. Je größer der Eingriff der Himmelskinder in den natürlichen Lauf der Dinge ist, desto mehr schadet es ihnen auch. Und das wollen sie natürlich nicht, sie sind ständig bemüht, einen Kompromiss zwischen ihrem eigenen Wohlergehen und ihrer Verantwortung für ihr Volk zu finden.“
 

Es kam, wie der Seher es angekündigt hatte – im übrigen auch vor Moconi, der zur Begrüßung des fremden Stammes ein großes Festmahl hatte vorbereiten lassen, schließlich waren sie sicherlich sehr erschöpft. Und Kurapi mochte das Essen hier doch so...

Dieses Mal erschreckte sich niemand mehr über die abstrusen schwarz-weißen Bemalungen der Krieger aus der Ferne – bloß dass auch die Frauen und Kinder so daherkamen, irritierte etwas, doch niemand sagte etwas dazu, als man sie am westlichen Rand des Lagers in Empfang nahm.

Moconi hatte seinen Häuptlingsschmuck und die in seinem Stamm für den Häuptling übliche, jedoch wesentlich weniger auffällige Bemalung angelegt; dabei hatte er sich kurzzeitig überlegt, ob das wohl zu viel des guten war, doch das andere Stammesoberhaupt, Kurapis Vater, ließ ihn nahezu bescheiden erscheinen. Und verdammt kindlich.

Der Mann, der seines Wissens nach auf den Namen Kewera hörte, trat langsam und andächtig aus den Reihen der Jäger hervor, die den ganzen Stamm auf seinem Weg angeführt hatten. Ringsherum stellten sich die Frauen und Kinder auf, so wie der Schlangenstamm einen Halbkreis um seinen eigenen Häuptling bildete, der nun ebenfalls hervortrat.

Kewera war in erster Linie groß. Bei Kurapis erstem Besuch hatte Moconi sich über sein Problem, das er mit seiner Körpergröße gehabt hatte gewundert; er war zwar eher klein geraten, aber nicht so sehr, dass er damit aufgefallen gewesen wäre. Jetzt konnte er es nachvollziehen, er hatte noch nie soweit zu jemandem aufsehen müssen wie zu diesem Mann – und er war nicht klein.

Sein pompöser schwarz-weißer Federkopfschmuck ließ ihn gleich noch eindrucksvoller erscheinen und sein ganzer Körper war geziert mit Ketten aus Steinen, Knochen, Federn, getrockneten Beeren und hin und wieder auch einmal einer Muschel.

„Ich führte meinen Stamm dem Sonnenaufgang entgegen, als mein Sohn mir von eurer Notlage berichtete.“, auf diese Worte trat auch Kurapi hervor, dessen persönliche Bemalung, wie Moconi nun, als er den Vergleich zu den anderen hatte, bemerkte, vermutlich nur so bedrohlich gehalten war, um sein tatsächlich eher lächerliches Erscheinungsbild neben allen anderen zu überspielen. In diesem Moment tat er ihm leid. Der andere schien dies jedoch nicht zu ahnen und schenkte ihm bloß ein fröhliches Grinsen, was bei seiner Bemalung etwas abstrus wirkte.

„Und dafür bedanke ich mich im Namen meines Stammes demütigst.“

Kewera nickte, dann schlich sich in sein Gesicht ein ähnliches Grinsen wie in das seines Sohnes, als er seinem Gegenüber erstaunlich kameradschaftlich auf die Schulter klopfte.

„Keine Sorge, wir wissen, wie man mit einer solchen Situation umgeht. Wir bleiben so lange, bis die Maden das Land unserer Vorfahren nicht einmal mehr anzuschielen wagen. Und...“

Er beugte sich etwas zu ihm, leiser fort fahrend.

„Lass dich nicht von meinen Leuten einschüchtern. Sieh es nicht als Beleidigung, aber du bist noch so jung, da hielt ich es besser, dich zu warnen.“
 

Der Kojotenstamm zeigte sich als einen Haufen aus furchtlosen, gut gelaunten Menschen, die es sich trotz des langen und anstrengenden Weges nicht nehmen ließen, ihre Ankunft ausgiebig zu feiern.

„Stell sie mir vor.“, bat Kewera den etwas überrumpelten Moconi schließlich, als er auf dem Ehrenplatz neben ihm am großen Feuer saß und alle in fröhlicher Manier beieinander hockten, miteinander aßen und sangen.

„Wen denn?“

„Na, deine Originale. Wen lohnt es sich, in deinem Stamm namentlich zu kennen, kleine schwarze Feder? Ich möchte doch wissen, mit wem ich es zu tun habe hier – selbstverständlich werde ich dir meine Besten auch vorstellen, doch der Gastgeber zuerst.“

Klein? Dieser Mann hatte eindeutig eine sehr seltsame Beziehung zu Körpergrößen, aber der Jüngere bemühte sich, sich seine minderschwere Empörung nicht anmerken zu lassen und tat wie ihm geheißen, als er auf den Fingern einmal schrill pfiff und so die geschlossene Aufmerksamkeit erhielt. Und zu seiner Irritation den Respekt der Jungen aus dem Kojotenstamm, die verblüfft versuchten, seine Geste nachzuahmen.

„Auf Vorschlag unseres Bruders Kewera eine kleine Vorstellungsrunde – oder so.“, er blickte einmal durch die Runde und fragte sich, bei wem es sich wohl lohnte, ihn zu erwähnen. Als er kurz zu Shiran schielte, schüttelte der den Kopf.

„Ich gehöre nicht dazu, außerdem hat Kurapi mich bereits sehr deutlich erwähnt.“

Genannter errötete etwas peinlich berührt und sein Vater hob skeptisch eine Braue. Na, was der wohl erzählt hatte... Dann eben nicht. Karem war ja leider nicht mehr da, der war wirklich ein Original, wie der Mann es so schön ausgedrückt hatte, gewesen. Wen gab es denn dann?

„Dahinten haben wir Teco.“, begann er dann einfach, den mürrischen Blick seines Cousins ignorierend, „Er sitzt zwar bei den Jungen, aber eigentlich war er unser bester Jäger. Bis die Kalenao sein Bein zerstört haben.“

Ein empörtes Murren ging durch die Reihen der Neuankömmlinge und Kewera pfiff durch die Zähne.

„Ja, dazu sind diese widerlichen Ausgeburten noch zu gebrauchen, nichts als Ärger.“

Moconi nickte und fuhr fort.

„Dherac hier hat seine Einäugigkeit ebenfalls den Bestien zu verdanken.“, er deutete auf den Mann, der nicht weit von ihm entfernt saß, „Aber er ist uns ja nicht verloren gegangen. Er ist übrigens der beste im Kinder machen.“

Das wollte erwähnt sein. Als die Fremden darauf erfreut und interessiert nach ihm riefen, schaltete sich auch Kewera grinsend ein.

„Oh, das ist interessant.“

Dherac hüstelte bloß geschmeichelt und winkte dann ab.

„Aber nicht doch, mit etwas Übung kann das sicher jeder.“

Darauf lachten die scheinbar ziemlich überdrehten und leicht zu erheiternden Jäger des Kojotenstammes; ihre Brüder aus dem Schlangenstamm stimmten jedoch schnell mit ein. Neu war dann, als plötzlich eine junge Frau das Wort ergriff. Sie saß neben Kurapi und ihrem Aussehen nach – zumindest soweit man es erkennen konnte – war sie vermutlich seine Schwester.

„So viel Ehre für den Mann, aber wo ist die Frau, die die ganzen Kinder austrägt?“

Moconi grinste und nickte ihr nach einem kurzen Blick auf ihren Vater zu.

„Kinashi, erhebe dich und trete hervor.“

Sie saß weiter hinten bei den heimischen Frauen und war so nicht wirklich zu erkennen, bis sie schließlich im Mittelpunkt der Versammlung stand und sich höflich vor den Fremden verneigte, die ihr interessierte und – zu ihrer Ehre – nicht abgeneigte Blicke schenkten.

„Sieh an.“, Dherac rümpfte wortlos die Nase, als auch Keweras Blick eindeutig seine Gedanken verriet. Ja, obwohl sie so viele Kinder geboren hatte, war sie eine sehr attraktive Frau... und die wollte er nur ungern teilen.

„Wie viele Kinder hast du deinem Mann denn bereits geschenkt?“, erkundigte sich der großgewachsene Jäger unterdessen, während Kinashi adrett vor ihm stand und sich keinen ihrer Gedanken anmerken ließ.

„Sieben an der Zahl. Bald acht. Einmal gab es auch zwei zugleich.“

Dafür hätte Moconi sie dann am liebsten verstoßen. Eine gespenstische Ruhe legte sich über die komplette Versammlung aller Stammesmitglieder bei der Erwähnung der Zwillinge... was, wenn eine solche Abnormität im Kojotenstamm noch verpönter war als bei ihnen? Was, wenn das sie nun ihre Unterstützung kostete? Moconi erschauderte, während er Kewera gespannt von der Seite anschielte und auf seine Reaktion wartete. Die folgte dann anders, als er es erwartet hätte.

„In meinem Leben haben erst zwei Mal Frauen in meinem Stamm zwei Kinder zugleich ausgetragen und beiden Male sind sie daran gestorben – und nur einmal haben die Kinder das überlebt. Du... musst wahrlich etwas besonderes sein.“

Irgendwie klangen seine Worte nicht erbost, sondern mehr wehmütig. Er lächelte sie an und sie erwiderte seinen Ausdruck etwas irritiert, als er sich erhob und zu ihr trat.

„Wo sind sie, deine Zwillinge? Ich würde sie gerne sehen.“

Sie nickte, dann warf sie den beiden Jungen, die relativ versteckt saßen, einen auffordernden Blick zu. Unterdessen ging dann durch den Schlangenstamm ein Raunen – Semliya nahm an der Begrüßung teil?

Offenbar hatte er sich nicht abhalten lassen. Novaya stützte ihn, als er mit seinem Bruder neben seine stolze Mutter trat, die die Verfassung ihres Sohne daraufhin erklärte.

„Eine Bestie hat ihm den Schädel zertrümmert. Wir wissen nicht, wie er es hat überleben können... normalerweise gleichen sich die beiden absolut, die Haare täuschen.“

Kewera musterte die beiden einen Augenblick schweigend, dann wandte er sich an Novaya.

„Ein Glück, dass die Götter dir deinen Bruder gelassen haben, nicht wahr?“

Der Angesprochene nickte irritiert. Semliya tat es ihm verpeilt gleich, obwohl er nicht gefragt war.

„Wie alt seid ihr?“

„Zwölf Sommer. Bald dreizehn.“

Dieses Mal hatte Moconi mit dem Raunen gerechnet, das durch die Meute ging. Dheracs Zwillinge toppten in ihrer Reife selbst die großgewachsenen Nachwuchsjäger ihrer Gäste, so war das gut.

Kewera nickte anerkennend.

„Meine Güte. Wäre ich stolz auf euch. Moment, ich stelle euch jemanden vor.“, er wollte sich umdrehen, doch man wartete sein Kommando nicht ab und synchron sprangen zwei kleine Jungen auf die Bildfläche, flachsblond, altersbedingt relativ zahnlos und mit einem etwas erschreckend hyperaktiven Ausdruck in den blauen Augen. Und beide identischen Äußerens.

„... ja. Ihr hättet noch warten sollen, aber egal.“, der Mann seufzte.

„Du hättest uns eh gerufen!“

„Genau!“

Semliya stieß seinen Zwilling unterdessen irritiert in die Rippen.

„Die sehen... ganz... äh... sehen gleich aus!“

Novaya nickte.

„Wahnsinnig gut erkannt. Mysteriös.“

Er strich seinem geistig noch immer etwas verwirrten Bruder sanft über den Kopf, wohl bedacht, nicht seine Wunder zu erwischen und seufzte bedauernd auf den irgendwie entschuldigenden Blick, den er darauf von ihm erhielt.

„Nun, das sind meine jüngsten Söhne.“, erklärte Kewera da über das ungestüme Verhalten seiner Kinder etwas peinlich berührt, „Roya und Zima. Fragt nicht, wer welcher ist, zur Not hören sie beide auf beide Namen.“

Dherac hüstelte auf seinem Platz etwas empört darüber, dass dieser Mann seine Kinder scheinbar nicht auseinander halten konnte, sagte aber nichts weiter dazu. Von einigen Stellen erklang entnervtes Stöhnen.

„Ihr seht ja eigentlich auch voll gleich aus!“, stellte Roya oder Zima da mit interessiertem Blick auf die älteren Jungen fest und sein Bruder nickte.

„Genau!“

Novaya verdrehte die Augen.

„Wie ich schon sagte: Wahnsinnig gut erkannt. Aber es ist und bleibt wohl ein Rätsel.“

Die Jüngeren erstrahlten.

„Ein Rätsel? Uuuui!“

Kewera hüstelte. Irgendwie war das so nicht geplant gewesen...

„Geht zurück auf euren Platz, na los.“

Die kleinen Jungen zogen eine Schnute, gehorchten aber. Irgendwo klatschte jemand beeindruckt in die Hände.

„Wir setzen uns auch lieber wieder.“, merkte Novaya an und als man ihm zunickte, kam er seinen Worten auch nach; Kinashi tat es ihnen gleich, nachdem sie sich noch einmal verneigt hatte.

Kewera sah ihr etwas verlegen hinterher – oder ihrem Hintern – dann räusperte er sich und wandte sich wieder an Moconi.

„Jetzt sind wir an der Reihe.“
 


 

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Eher Chaoten-Stamm als Kojoten-Stamm. XD

Windgeister

Es war kalt. Es war eiskalt, kälter als es jeder Winter im Land am Meer jemals sein konnte. Und dunkler. Es war pechschwarz.

Mahrran hasste die Schwärze; nicht die Dunkelheit an sich, sondern die innere Finsternis. Dass die Welt um ihn herum finster bis nicht erkennbar war, war er gewohnt; bereits schlechte Lichtverhältnisse an sehr bewölkten Tagen reichten aus, um ihn beinahe gänzlich blind zu machen – damit hatte er jedoch kein Problem, denn es war immer so gewesen, es war richtig so.

Aber er war Lichtmagier, er brauchte zumindest eine innere Helligkeit... Wärme.

Das hier war genau das Gegenteil von dem, was er sich wünschte, was er so dringend benötigte. Das war sein schleichender Tod.

Er wusste nicht, wo er sich befand, ob er lag oder stand, ob er wach war oder schlief, allein oder mit Gesellschaft. Er versuchte sich zu erinnern... an etwas anderes als an das Licht, das ihm Leben gab. An irgendetwas aus dem Leben.

Gesichter flackerten in der Schwärze auf, deutlicher als wenn er sie durch seine echten Augen – sein echtes Auge – angesehen hatte. Er versuchte sie zuzuordnen... da war Kili. Eine junge Frau aus dem Stamm der Menschen; stolz, schön und schwanger von ihm. Und dennoch hinterging sie ihn... wünschte sich vermutlich seinen Tod. Oder?

Bei dem Gedanken an Tod erkannte er ein weiteres Gesicht, mit dem er noch nicht viel zu tun gehabt hatte. Moconi, Kilis Bruder. Ja, sie liebte ihn mehr als ihren eigenen Mann... Menschen waren doch allesamt verachtenswert.

Ob er wohl bereits tot war?

Moconis Speer hatte es wohl entschieden. Er erinnerte sich an dieses Ding, diese so perfekte Waffe, die sein Volk niemals auch nur annähernd erreichen würde. Aber er wusste nicht, was sie getan hatte... ob sie etwas getan hatte. Verdammt, er musste hier heraus! Er musste heraus finden, was mit ihm war, wo er war – was er war.

Als Götterkind würde seine Seele nach seinem Tod nicht in die nächste Welt fahren – sie würde zu ihren göttlichen Eltern zurückkehren. Aber hier waren keine anderen Götter...

Irgendwo weit entfernt erklang eine Stimme. Nur kurz und er verstand sie nicht, aber nach einer Weile des Nachdenkens vermochte er sie zuzuordnen. Dieser hohe, etwas unangenehme Klang... das war seine kleine Zwillingsschwester Nadeshda.

Er hatte sie immer geliebt, aber sich nur schlecht mit ihr verstanden. Aber jetzt gab sie ihm Gewissheit... wenn er sie hören konnte, lebte er. Und er war zuhause. Das war eine gute Sache... ihm war nicht mehr so kalt.
 

Nadeshda seufzte kaum hörbar, als sie sich vom Lager ihres Bruders erhob. Niemals hatte sie vorgehabt, sich jemals wieder dort nieder zu lassen... aber da hatte sie auch nicht daran gedacht, dass Mahrran jemals so krank werden könnte. Sie hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt, es war ein seltsamer Husten gewesen. Das hatte er nun davon.

Gedanklich verfluchte sie die Tatsache, dass ihr im Lenken des Schicksals im Bezug auf Krankheiten teilweise ziemlich die Hände gebunden waren – und was dieses „teilweise“ nicht abdeckte, wurde von ihr selbst kaputt gemacht. Die Schicksalslenkung war keine rein geistige Angelegenheit; auch wenn der mentale Teil überwog, war die physische Verfassung des Anwenders von großer Bedeutung. Je größer der Eingriff in den natürlichen Lauf der Dinge war, desto größer war auch der Schaden, den das Götterkind nahm. Umgekehrt konnte ein körperlich geschwächtes Götterkind auch keine all zu großen Eingriffe vornehmen – und sie war schwanger. Sehr schwanger mittlerweile im übrigen, langsam wurde es nervig.

Abermals verfluchte sie Shiran. Wenn der gewusst hätte, wie sie jetzt herum rennen musste... und es würde sicherlich noch fast einen Mond dauern, bis dieses verdammte Kind sich endlich aus ihr heraus bequemte, dieses elendige. Wenn das doch bloß ihr einziges Problem gewesen wäre...

Mahrran lag noch immer flach atmend und zitternd in seinem Lager, weit entfernt von jedem Bewusstsein. Sie wachte bereits eine ganze Weile über ihn, nun brauchte sie selbst ein wenig Ruhe.

„Mach gefälligst, dass du bald wieder gesund wirst, Mahrran. Sonst werden uns die Menschen überrennen, ehe wir selbiges bei ihnen tun können. Oder dieser seltsame Dorfdepp mit dem wahnsinnig wissenden Blick reißt die Macht an sich – nicht weil er es will, sondern weil er es kann. Verhindere das bloß. Ich... hab dich ziemlich...“

Sie stockte. Sie konnte das nicht.

„Na ja, du weißt schon. Ich mag dich.“

Dann ging sie.
 

Chigaru dachte nicht daran, die Herrschaft über das Dorf an sich zu reißen, einfach, weil er es konnte. Er wusste nicht einmal, ob er es konnte und er verschwendete auch keine Gedanken daran, denn der Punkt war, er wollte gar keine Macht. Und keine Verantwortung – wo hatte er sich da bloß herein geritten? Er hatte ein schlechtes Gefühl. Warum hatte er auch auf den alten Mann gehört? Ach ja, er war eine Bereicherung für die Gruppe gewesen, oder wie auch immer er das damals formuliert gehabt hatte. Und jetzt war er darin verwickelt, weil er einmal zu viel gesprochen hatte. Dabei war er doch bloß gefolgt um aus dem verdammten Dorf weg zu kommen.

Chigaru lebte schon lange nicht mehr zuhause. Er war erst dreizehn gewesen, da hatte er die Hütte seiner Mutter verlassen und hatte sich freiwillig ins Armenviertel zurückgezogen – einen anderen Ort hatte es für einen so jungen Mann nicht gegeben. Seiner angeblichen Klugheit hatte er zu verdanken, dass er von dort schnell wieder weg gekonnt hatte und nun in seinem eigenen kleinen, aber nicht hässlichen Heim lebte. Er mochte es, dort zu sein, aber ab und an war es selbst ihm dort etwas zu einsam und er trat tatsächlich den relativ kurzen Weg zum Haus seiner Familie an. Immerhin gehörte er irgendwie dazu... irgendwie.

Jeder freute sich über ihn. Jeder mochte ihn. Seine Mutter, sein Stiefvater, seine ganzen jüngeren Halbgeschwister. Und wie jedes Mal, wenn er die vertraute, hölzerne Tür öffnete und ihm von überall begeisterte Reaktionen entgegenschlugen, fühlte er sich verdammt schäbig. Genau so, wie wenn er irgendwelchen seiner kleinen Halbgeschwister die eigene Haustür vor der Nase zuschlug, wenn sie da standen und ihn besuchen wollten.

Der Punkt war nicht, dass er sie nicht mochte. Irgendwie mochte er sie schon. Aber wirklich alles in ihm sträubte sich gegen den Kontakt mit den Plagen oder deren Vater – der ihn seit jeher wie sein eigenes Kind behandelt hatte und den er eigentlich auch irgendwo gern hatte.

So ließ er ein Aufeinandertreffen nur dann zu, wenn er es wirklich gebrauchen konnte – seltsamerweise hatte er danach immer einen ziemlich klaren Kopf und war währenddessen von so ziemlich allen Problemen der Welt abgelenkt.

Trotzdem kostete es ihn Überwindung – als er erst einmal in seinem Elternhaus war, ging es dann aber wie immer quasi von selbst. Irgendwer zog ihn zum Tisch, irgendjemand saß dann auf seinem Schoß, dann quetschte sich noch jemand, der schon viel zu groß war, dazu, dass seine Beine taub wurden, seine älteste jüngere Schwester, ihrerseits schon einundzwanzig, fing an zu heulen, weil sie keinen Platz mehr bei ihm hatte und sich ungeliebt fühlte und während seine Mutter sich darum bemühte, umgeben von den Plagen irgendetwas Essbares für ihren Sohn zu fabrizieren, erzählte ihr Mann ihm fröhlich allerlei sinnloses, was weder interessant, noch nachvollziehbar war.

Und er nickte und lächelte gezwungen, zwischendurch versuchend, seiner Schwester zu erklären, dass er sie sehr liebte und dann, dass er sie trotzdem nicht heiraten würde. Sie verstand das jedoch nicht und weinte einfach weiter.

Das war das Problem. Alle seine reichlich vorhandenen Geschwister waren reihum etwas seltsamen Gemütes. Es war schwer zu beschreiben – sie waren nicht das, was man gemeinhin als geistig krank bezeichnet hätte, aber sehr weit davon entfernt waren sie auch nicht. Ihr Intellekt beschränkte sich auf das Allernötigste, hatte er häufig das Gefühl. Sie konnten nichts dafür, versuchte er sich dann einzureden und dennoch waren sie ihm zuwider, denn er war nicht so wie sie und obwohl er damit als Außenseiter da stand, fühlte er sich richtig so, wie er war.

Das taten die anderen auch... vielleicht wäre es besser für ihn gewesen, genau so zu sein wie die anderen. Im Großen und Ganzen dankte er den Göttern jedoch für den Intellekt, den sie ihm geschenkt hatten, und nahm ihnen das Fehlen von selbigem bei seinen Geschwistern relativ übel.

„Hier, etwas anständiges zu essen für dich.“

Seine Mutter riss ihn aus seinen Gedanken, als sie ihm einen Teller mit gebratenem Fisch vorsetzte. Er mochte ihre Kochkünste und nickte ihr dankbar zu.

„Könnt ihr beiden bitte hinunter? Ich kann so nicht essen.“

Sein Bruder und seine Schwester, die noch immer auf seinem Schoß saßen, warfen zunächst sich gegenseitig, dann ihm einen irritierten Blick. Das war nun aber wirklich deutlich gewesen – ach Himmel, sie konnten nichts dafür.

„Ich bin hungrig, bitte steht auf.“

Sein kleiner Bruder stierte ihn wehleidig an.

„Bist du jetzt böse auf mich?“

„Nein, er ist böse auf mich, euch hat er wenigstens ein bisschen lieb!“, mischte sich seine älteste jüngere Schwester unglücklich ein und putzte sich deprimiert die Nase.

Chigaru seufzte. Nichts überstürzen.

„Kinder, lasst ihn doch mal essen!“, lachte der Vater da aus irgendwelchen Gründen furchtbar amüsiert und seine Tochter, die sich noch immer nicht bewegte, schnaubte empört.

„Lassen wir doch! Wir hindern ihn doch nicht!“

„Himmel, Vati, lach mich nicht aus, es ist nicht lustig, dass er mich nicht liebt!“

„Jetzt ist er sicher doch böse auf mich!“

„Ich habe meine Hose verloren...“

Der letzte Satz, gesprochen von dem jüngsten kleinen Bruder, seinerseits acht Jahre alt, bewegte seine Geschwister aus unerfindlichen Gründen zum entsetzten Aufspringen. Chigaru unterließ es, dem halbnackten Jungen irgendwelche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und aß hastig, ehe wieder irgendwer auf ihm saß, während die beiden, die gerade erst von ihm abgelassen hatten, dem Jüngsten beim Ausziehen seines Hemdes halfen, damit er nicht „unordentlich“, wie sie es nannten, aussah, und ihr Vater sie dabei auslachte.

„Ich habe gehört, du bist jetzt sehr wichtig für das Dorf.“, erwähnte seine Mutter da sehr zu seinem Leidwesen das Thema, vor dem er eigentlich hatte flüchten wollen. Er verdrehte entnervt die Augen.

„Ich habe einmal zu oft den Mund aufgemacht. Aber wie hätte ich zulassen können, dass wir in unser Verderben rennen?“

Die Frau schenkte ihm einen mitleidigen Blick. Auch wenn man es ihr nicht anmerkte, sie kannte und verstand ihn sehr gut und er spürte, dass er ihr leid tat, denn sie wusste, dass ihm die ganze Aufmerksamkeit, die ihm plötzlich zukam, mehr als nur unangenehm war.

„Du bist so klug, du wirst uns alle retten.“, merkte da sein mittlerer jüngerer Bruder an und lächelte fröhlich. Nanu, seit wann saß der ihm denn gegenüber? Chigaru aß missmutig weiter.

„Na, ich bin ja nicht so überzeugt.“

„Doch, doch, sicher! Du machst das schon.“, er kicherte, „Und bei der Gelegenheit suchst du dir endlich eine Frau!“

Im übrigen war dieser Junge der einzige unter den Plagen, mit dem man annähernd normal sprechen konnte. Er schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und ersparte sich einen Kommentar dazu.

Er hatte recht. Mit seinen vierundzwanzig Jahren wurde es mittlerweile allerhöchste Zeit für ihn, wenn er noch eine Familie gründen wollte. Letzteres wusste er jedoch nicht, im Moment war er auch ganz glücklich so – und immer, wenn er das Bedürfnis nach Kontakt mit Kindern hatte, konnte er sich seine Überdosis in seinem Elternhaus nehmen, so einfach war das. Aber das würde hier niemand verstehen, also sprach er es auch nicht aus.
 

Dass Alaji wütend war, kam selten vor. Dass sie es auf Nadeshda war, noch seltener. Und dass sie es dann auch noch zu zeigen wagte, war an sich undenkbar – dies war jedoch eine Ausnahme.

„Ständig sitzt du mir im Nacken.“, brummte sie sichtbar ergrimmt, während sie neben der etwas peinlich berührten Rayada auf der hölzernen Sitzbank im Kochzimmer saß und zu ihrer kleinen Herrin, die mit leicht gesenktem Haupt in der Tür stand, aufsah, „Ich weiß, dass ich Mahrran gesund machen soll. Für dich und für das Volk. Ich weiß auch, dass ich die einzige bin, die es vielleicht auch kann. Aber bitte akzeptiere, dass ich nicht all meine Kraft darauf verwenden werde!“

Sie gab sich wirklich alle Mühe, aber ihre Ausdauer und ihr Wissen kannten beides ein Ende – besonders ersteres war dank ihrer Schwangerschaft im Augenblick nur in sehr eingeschränktem Maße vorhanden. Das war auch noch so eine Sache...

„Weißt du, dass ich mich jederzeit bei deinem Bruder anstecken könnte? Dass das sowohl mich als auch mein Baby schneller töten könnte als Mahrran selbst? Ist dir vermutlich egal.“

Sie schnaubte und wandte ihren eigenen Blick von ihr ab, heimlich etwas verunsichert darüber, ob sie nicht vielleicht zu weit gegangen war mit ihrem letzten Satz. Sie entschloss sich dagegen – so wirkte es schließlich tatsächlich, sogar die dumme Kili ließ man aus Angst um ihr Kind nicht zu ihrem Mann, aber was aus Alajis einziger Erinnerung an den Mann in der Ferne, den sie so liebte, wurde, interessierte niemanden; sie war ja die Heilerin, das war ihre Arbeit, wie sich das auf ihr Privatleben auswirkte, konnte allen anderen ja egal sein.

„Das ist mir nicht egal, glaube mir, dein Glück liegt mir am Herzen.“, versuchte Nadeshda sich da handzahm und keineswegs erbost herauszureden. Das war an sich schon ein sehr deutlicher Hinweis darauf, dass sie eigentlich wusste, dass die andere Frau recht hatte. Leise seufzend strich sie über ihren eigenen gerundeten Bauch.

„Ich gehe doch auch zu ihm...“

„... du willst dein Kind ja auch nach seiner Geburt töten!“

Das würde sie im übrigen nicht zulassen. Sowohl Nadeshda, als auch Rayada, die sich noch immer etwas fehl am Platz fühlte – aber sie hatte doch gerade einen schönen Eintopf auf die Feuerstelle gestellt! – zuckten deutlich unter der erhobenen Stimme der Heilerin zusammen. Ja, verdammt, sie konnte auch sauer sein. Möglicherweise lag ihre Gereiztheit auch nur an ihrem Umstand, aber sie musste sich einmal Luft machen, denn hier ging ihr im Moment so einiges gehörig gegen den Strich.

„Aber... du sagtest, das kann auch einen selbst töten!“

Es war nur ein schwacher Versuch, sich abermals aus der Affäre zu ziehen. So war Nadeshda normalerweise nicht, sie war standhaft und ließ sich von niemandem etwas sagen – die Sache mit Mahrran nahm sie mit. Zusätzlich ging es mit dem Dorf steil bergab und sie konnte sich nicht darum kümmern – aus lauter Verzweiflung hatte sie es kurzerhand inoffiziell irgendeinem Dorftrottel überlassen, das musste für jemanden mit einem solchen Stolz, wie sie ihn besaß, nahezu unerträglich sein. Vielleicht war sie zu hart mit ihr...

„Aber du hast die Wahl.“

Alaji seufzte innerlich. Sie konnte nichts weiter gegen diese elendige Gereiztheit tun, als einfach ihre Gedanken auszusprechen. Das hier war kein Ort für sie... sie gehörte in Tecos Arme.

Zu Beginn hatte sie es so, wie es nun einmal gekommen war, einfach bedingungslos hingenommen; sie war dankbar gewesen, mit ihrem Leben davon gekommen zu sein. Doch in letzter Zeit wurde sie mehr und mehr immer unzufriedener und erwischte sich immer wieder heimlich dabei, Pläne zu schmieden, um wieder zu Teco zu können; leider waren sie meist vollkommen sinnfrei und kindisch, sie war nun einmal keine Strategin. Aber irgendetwas musste sie tun, sie wollte nicht unbedingt so enden wie Mabalysca...

„Dann sag mir, was ich tun soll!“

Die Heilerin zuckte zusammen, als die hohe Stimme ihrer Herrin mit einem Mal wieder gewaltig an Schärfe zugelegt hatte, und als sie aufsah stand in ihren Augen eine furchtbare Entschlossenheit.

„Du hast recht, du sollst dich nicht für meinen Bruder opfern. Aber ich werde es zur Not tun; ich brauche aber deine Hilfe, ich weiß doch nicht, wie man einen derartig Kranken versorgt.“

Rayada zuckte zusammen, dann griff sie sich entsetzt an die Stirn.

„Ach!“, kam dann, „Da hätten wir früher drauf kommen können. Die junge Herrin und ich können das doch auch übernehmen...“

Das klang ja utopisch. Alaji schüttelte nur den Kopf. Nein, genau das war das Problem, entweder, sie würde sich opfern oder Mahrran fand den sicheren Tod.

„Wenn ich genau wüsste, wie seine Krankheit verläuft, könnte ich euch natürlich sagen, wie ihr ihn behandeln müsst, aber dazu muss ich ihn doch untersuchen. Und euch das in angemessener Zeit beizubringen halte ich für annähernd unmöglich... tut mir leid.“
 

Im Moment war es leicht, die Geschehnisse im Dorf zu verfolgen. Mahrran war vollkommen ausgeschaltet und Nadeshda hatte im Moment wahrlich andere Gedanken – das machte das Ganze für den Seher so aber auch etwas uninteressant; wenn sie nichts versuchten, was den Menschen schaden würde, musste er an sich auch nicht wirklich so genau wissen, was sie taten. Dennoch interessierte es ihn.

Er seufzte, während er auf einem kleinen Felsen im Grasland hockte und einer Herde Antilopen unweit von sich entfernt zusah. Die hatten keine Probleme... außer menschlichen Speeren, aber das war wohl etwas anderes. Es war ein schöner Tag, die Temperaturen waren für den Wassermond wahrlich angenehm, bloß etwas windig war es. Seufzend band er sein zu seiner Freude etwas gewachsenes Haar mehr oder minder gut zusammen, damit es ihm nicht mehr so störrisch um den Kopf wehte; vielleicht sollte er sich ein paar Ratschläge bei Kajira nehmen, der kannte sich wohl aus.

Er lächelte unwillkürlich über die harmlosen Gedanken. Es gab so viel schlimmes, so viel besorgniserregendes... er war ein Seher. Er war damit aufgewachsen und trotzdem erschreckte er sich immer wieder. Auch jetzt erschreckte er sich... über die katastrophale Situation seines Dorfes. Kurzzeitig hatte er sogar darüber nachgedacht, zurückzukehren um irgendetwas sinnvolles zu tun, irgendwie zu helfen – dann waren ihm seine Prinzipien und Pläne wieder eingefallen und er hatte die unüberlegte Idee schnell wieder verworfen. Es war gut wenn sie litten, wenn sie sahen, wie viel Vertrauen die Tankanas verdienten.

Die Tankanas, die Himmelskinder, die kurz, nachdem sie ihre göttliche Herkunft bemerkt hatten, ihre eigenen Eltern ermordet hatten.

Es war einer der Gründe, für die er sie verabscheute. Sicherlich waren der alte Herr und seine Frau auch nicht wirklich das Musterbeispiel eines guten Herrscherpaares gewesen, aber darum ging es auch gar nicht – sie waren die Eltern von Mahrran und Nadeshda gewesen, sie hatten ihnen das Leben geschenkt. Und ihre eigenen Kinder hatten sie dann getötet.

Shiran fand das so abgrundtief widerlich, dass ihm schlecht wurde, wenn er auch nur daran dachte. Er hatte seine Eltern verloren, an die See und an die Krankheit, er hatte sie so geliebt, aber man hatte sie ihm genommen. Und diese beiden Götterschanden hatten diese wertvollen Leben einfach so weggeworfen, wie ein wertloses Stück Dreck.

Es war nur einer von vielen Gründen für seine Abscheu. Wenn das Dorf jetzt das Leiden lernte, dann würde es ihn als Herrscher erst recht zu schätzen wissen – zumindest, wenn er diesen seltsamen, urplötzlich aus der Versenkung aufgetauchten Kerl ebenso davon zu überzeugen vermochte, denn Chigaru Tamassy hatte das Talent, mit nur wenigen Worten das gesamte Volk hinter sich zu bekommen – ob er wollte, oder nicht. Und obgleich er nicht unbedingt der geborene Anführer war, besaß er einen über alle Maße ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und der würde es ihm verbieten, Shirans Herrschaft zuzulassen, wenn er auch nur einen einzigen Grund fand, ihm zu misstrauen.

Der Mann brummte mürrisch, als er weiter darüber nachdachte und sich fragte, warum ihm die Götter eigentlich grundsätzlich seit seiner Geburt immerzu Steine in den Weg legten.

Es hätte nicht sein müssen, Tamassy hätte auch den Mund halten können, dieser unverschämte Kerl mit dem noch unverschämter guten Aussehen. Nicht, dass Shiran sich sonderlich für das Äußere anderer Männer interessiert hätte, aber das war nicht nur seit jeher unglaublich auffällig, sondern für ihn auch ziemlich demütigend.

Ergrimmt beschloss er, alle, die ihn in seiner Kindheit wegen seiner Hässlichkeit ausgelacht hatten, zum Tode zu verurteilen. Und Tamassy gleich mit, zum einen, weil er dann gar nicht mehr dazu kommen würde, Kritik an ihm zu üben und zum anderen, weil er seine Eitelkeit noch immer verletzte. Ohne jemals etwas getan zu haben, aber wenn er erst einmal der Herr war, konnte er es sich wahrlich leisten, über einen solchen Unsinn zu richten. Oh, er freute sich so auf seinen hart erkämpften Sieg – er würde noch auf sich warten lassen und so beschloss er, diesen einen ruhigen Moment einfach dazu zu nutzen, sich etwas treiben zu lassen. Seine Götter unterrichteten ihn darüber, dass Nadeshda gleich baden würde... na, irgendwie lohnte sich das doch.
 

Sanan war abermals damit beschäftigt, seinen besten Speer zu reparieren. Er wusste nicht, ob es nun an seiner Ungeschicklichkeit in der Herstellung der Waffe oder an seiner Ungeschicklichkeit im Umgang mit der Waffe lag, aber aus irgendwelchen Gründen war sie nun zum zweiten Mal innerhalb eines Gefechts mit den Bestien zerstört worden und so saß er nun genervt vor seiner Hütte und versuchte, den Speer dieses Mal so zu bearbeiten, dass er etwas mehr aushielt als nur eine Schlacht. Schließlich musste er auch noch damit jagen...

„Versuche es einfach einmal mit mehr Sehnen.“

Er sah verblüfft auf und in Novayas gleichmütiges Gesicht, der auf seinen Blick nur mit den Schultern zuckte.

„Zumindest macht unser Vater das meist so.“

„Und der... ist... jagt gut.“

Semliya, der von seinem Zwilling gestützt wurde, bemühte sich offensichtlich um seinen einst so perfekten, nichtssagenden Ausdruck, doch seine Maske aufzusetzen wollte ihm partout nicht gelingen. Immer wieder huschten seine Augen ziellos umher, ohne, dass er es selbst wollte und seine Miene wirkte mehr apathisch als seriös – er konnte einem Leid tun.

„Mehr Sehnen? Na gut, einen Versuch ist es wert – setzt euch.“

Die Brüder kamen seiner Aufforderung wortlos nach und ließen sich dicht nebeneinander an der im Augenblick toten Feuerstelle nieder. Da fiel ihm ein, er brauchte auch dringend neues Brennmaterial... aber zunächst der Speer. Es machte ihn etwas nervös, dass die beiden eisblauen Augenpaare zunächst wortlos jede seiner Bewegungen genau studierten, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Stattdessen begann er ein belangloses Gespräch.

„Ist es denn in Ordnung für dich, wenn du so viel durch die Gegend rennst, Semliya?“

Der Angesprochene brauchte einen Moment, um zu reagieren. Als er bemerkte, dass er gemeint war, weitete er zunächst kurzzeitig überfordert die Augen, dann fiel ihm scheinbar ein, was er sagen wollte – wenn auch nicht wirklich konnte – und antwortete.

„... muss. Ich... nicht so liegen. Gehen... verstehst... du?“

Er errötete etwas und verlor abermals den Kampf darum, seine gewohnte Fassade aufzubauen, als er deprimiert sein Haupt senkte. Wenn man seinem Gestammel lauschte, hatte man im ersten Augenblick das Gefühl, er sei vollkommen verrückt, aber wenn man sich etwas auf den Inhalt davon einließ oder seine Bemühungen, sich wieder seinem Zwilling anzugleichen, dann wurde man das Gefühl nicht los, dass er in seinem Kopf längst nicht mehr so vernebelt war, wie die meisten wohl noch annahmen. Etwas in ihm war kaputt gegangen und das verhinderte nun, dass sein Körper ihm so gehorchte, wie sein Geist es von ihm verlangte... das musste ihn ziemlich mitnehmen. Sanan sah ihn ernst an – beinahe bedauernd, doch er konnte es sich gerade so noch verkneifen; er wollte ihn nicht noch zusätzlich entehren.

„Hör mal, es tut mir wirklich... grauenhaft leid, dass ich dir nicht habe helfen können.“

Und wollen, addierte er in Gedanken, denn als ihn das Gefühl überkommen hatte, die ohnehin brenzlige Lage vollkommen aus der Kontrolle zu verlieren, war er aus Selbstschutz einfach gerannt. Er war eben noch nicht sonderlich geübt in der Erdmagie...

„... aber wie du es versucht hast, war beeindruckend.“, unterbrach Novaya seine Gedanken da mit einem winzigen Hauch ehrlicher Bewunderung in seiner Stimme – einer Bewunderung, die er bis dahin bei den Zwillingen höchstens – und das auch nur sehr, sehr selten – vernommen hatte, wenn sie von Dherac gesprochen hatten. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder ob er über das Wissen der Brüder entsetzt sein sollte, so schwieg er zunächst.

„Du bist... Bestie. Eine Gute.“, ergänzte Semliya dann auch nach bestem Können und lächelte leicht. Sanan wandte sein Gesicht unglücklich ab.

„Ich bin keine Bestie. Ich bin ein Mensch. Vergesst, was ihr gesehen habt.“

Er bemerkte, wie Novaya bloß unbeeindruckt eine Braue hob. Dann lächelte er überraschend ebenfalls.

„Nein, eine Bestie bist du vielleicht nicht. Aber auch kein Mensch. Wir ahnten, wie du darüber denkst, es ist ja auch nicht weiter verwunderlich... alles, was wir dir sagen wollten...“

Er schielte kurz auffordernd zu Semliya, der dieses Mal erstaunlich schnell verstand und es sogar annähernd schaffte, sich dem Ausdruck seines Zwillings anzugleichen.

„... wir... sind stolz. Auf dich... Bruder.“
 

„Das ist doch nicht dein Ernst! Ist das dein Ernst? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“

Da es am Nachmittag im Land am Meer zu regnen begonnen hatte, hatten sich einige der wichtigsten Krieger an diesem Tag in einem seit einiger Zeit leer stehenden, zumindest halbwegs trockenen Gebäude versammelt. Die Meute starrte überrascht auf Irlak, der auf Chigarus an sich nachvollziehbare und nicht weiter verwunderliche Erläuterung der weiteren Vorgehensweise vollkommen die Fassung zu verlieren schien. Der unfreiwillige Anführer quittierte dies zunächst bloß mit einer gehobenen Braue und hielt es für ratsamer, den Mann aus dem Ekarett-Clan, aus dem in jenem Moment einige Mitglieder hier versammelt waren, erst einmal zu Ende anzuhören. Vielleicht hatte er ja einen wahrhaftigen Grund für seine Empörung, auch wenn er es bezweifelte.

„Wie lange sollen wir denn noch warten? Bis wir uns nur noch von Wurzeln und Dreck ernähren können hier, oder wie? Nein, ich... ich gehe in das neue Land, zur Not alleine, genau.“

Nicht, dass er es nicht geahnt gehabt hätte. Chigaru seufzte kaum hörbar.

„Wurzeln sind eine sinnvolle Nahrungsergänzung und können je nach Zubereitung sehr gut schmecken.“, erklärte er gleichmütig und meinte damit eigentlich, dass sie an sich nur etwas sparsam sein mussten, dann würde ihnen das Essen bis zu dem Tag, an dem es endlich soweit war, schon nicht ausgehen. Das verstand jedoch leider niemand.

Irlak eingeschlossen, der darauf nur empört die Hände zu Fäusten ballte.

„Ich will aber keine Wurzeln fressen! Ich will Fleisch! Und hör gefälligst auf zu seufzen, wenn ich etwas sage – ich sehe das ganz genau, oh ja!“

Rato schüttelte seufzend den Kopf. Sein Lieblingsbruder hatte schon immer ein ausgeprägtes Problem damit gehabt, wenn er sich nicht ernst genug genommen gefühlt hatte. Und Respekt hatte er vor Chigaru ohnehin nicht – war ihm auch recht so, warum übernahm der jetzt eigentlich die Führung? Am Ende war er es gewesen, der Nadeshda geschwängert hatte, um die Macht an sich zu reißen...

Er ahnte nicht, dass sich weit entfernt jemand anderes gerade extrem über seine Mutmaßung ärgerte und er infolge dessen ganz weit oben auf der gedanklichen Todesliste jener Person landete.

„Aber jetzt allein in das fremde Land zu gehen wäre töricht, Irlak. Warte, bis alle wieder soweit sind.“, riet Chigaru ihm unterdessen ruhig und ein anderer Mann zischte erbost.

„Ja, alle, einschließlich der Menschen. Ich hatte letzte Nacht einen Traum, in dem hatten sich diese Maden zahlenmäßig verdoppelt – ich glaube, die Götter haben zu mir gesprochen.“

Ein anderer Krieger lachte darauf bloß hohl.

„Verdoppelt? Na, wie machen die das denn? Laichen die wie die Fische, dass da auf einen Schlag gleich so viele mehr da sind...?“

Einige andere, aus unerfindlichen Gründen scheinbar gut gelaunt, stimmten lachend mit ein.

„Na, guck dir diese Kerle mal an, die schaffen sicher eine Menge!“

„Aber ob die Frauen da auch mitmachen?!“

„Die Frauen sind da sicher größer als unser Herr, also bestimmt...!“

Chigaru seufzte abermals, während der erste Mann, der von seinem Traum gesprochen hatte, bloß empört die Arme vor der Brust verschränkte.

„Der Schlangenstamm ist nicht allein in diesem Land. In der näheren Umgebung findet sich auch noch der Kojotenstamm – und unter den Menschen ist es üblich, sich in Notsituationen zu helfen.“

Darauf herrschte zunächst einmal entsetztes Schweigen. Der Traumdeuter nickte zufrieden, wenn auch etwas beunruhigt von der annähernden Bestätigung seiner Gedanken. Rato fasste sich verunsichert an den Kopf.

„Heißt das... wir müssen zwei dieser Stämme vernichten? Ach... kommt, wir suchen uns jetzt einfach ein eigenes Land, ich habe keine Lust mehr.“

Einer seiner Brüder boxte ihn auf die Schulter und schnaubte.

„Du Feigling.“

Ein Raunen ging durch die Reihen. Chigaru brummte nur. Sollte er es positiv sehen, wenn sie die nächste Schlacht gewannen, dann hatten sie auch auf einen Schlag beide Stämme aus dem Weg. Die Betonung lag allerdings auf dem wenn. Er war weder Götterkind, noch Seher, das war sehr schlecht, vor allen Dingen, wo ihn das Gefühl nicht losließ, dass die bald hochschwangere Nadeshda ernsthaft mit dem Gedanken spielte, nicht nur durch ihn zu regieren, sondern die gesamten Regierungsgeschäfte kurzzeitig auf ihn abzuschieben. Nicht, dass das verwunderlich gewesen wäre, ihr Umstand und die Tatsache, dass ihr Zwillingsbruder gerade im Sterben lag ließen nicht unbedingt einen besonders klaren Verstand zu, zumindest wenn man eine solch impulsive Persönlichkeit war wie die kleine Herrin.

„... aber ein eigenes Land wäre doch nicht schlecht. Ich sage, wir setzen uns in unsere Boote und fahren einfach drauf los, vielleicht entdecken wir ja etwas.“

„Genau, und dieses Land nennen wir dann Land, das wir mit dem Boot entdeckt haben-Land!“

„Spinnst du? Mit unseren kleinen Booten auf die Hochsee, dann können wir uns ja gleich von den Klippen stürzen. Ich sage, wir bereiten uns gut vor und dieses Mal vernichten wir die Primitiven – ihr Land wird das beste sein.“

„... und wir nennen es Land, das wir den Menschen abgenommen haben-Land!“

Chigaru räusperte sich.

„Ist es nicht noch etwas früh, sich über die Namen unserer Länder Gedanken zu machen? Und überhaupt, dieses Land hier hat doch auch keinen...“

Der Kerl mit den guten Vorschlägen starrte ihn entsetzt an.

„Das hier ist das Land zwischen Bergen und Meer-Land, du Tölpel.“

Ach so, das erschloss sich ihm dann sogar. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass die Kalenao jetzt nicht unbedingt so kreativ waren in manchen Bereichen, aber da das erstens nichts zur Sache tat und das zweitens ohnehin jeder falsch verstanden hätte, sparte er es sich.

„Jedenfalls, um noch einmal zum Thema zurückzukehren, wir werden jetzt eine Weile warten. Geschlossen alle von uns müssen stark und gesund sein, denn das, was wir vorhaben, haben wir uns selbst unnötig erschwert.“

Irlak brummte.

„Ich habe nichts falsches getan.“

Es hatte schon seinen Grund, dass er sich angesprochen fühlte. Chigaru schenkte ihm bloß einen kurzen Blick.

„Menschen sind keine Nahrung.“

„Ja, Steine auch nicht.“
 

Nadeshda hatte nicht unbedingt ein besonders gutes Gefühl, als sie daran dachte, dass es nun dieser komische Kerl aus dem Dorf war, dem sie blindlings diese Verantwortung übertragen hatte. Die Götter bestätigten sie in ihrem Handeln und dennoch war es irgendwie falsch... zumindest versuchte ihr eigener, machthungriger Geist ihr das einzureden. Sie wollte die einzige Herrscherin sein... aber das war im Augenblick unvernünftig, das wusste sie und dem beugte sie sich auch. Und dennoch war es grauenhaft für sie... sie hatte ihre Stellung nach dem Tod ihrer Eltern so genossen.

Versonnen streichelte sie – wenn auch ungewollt – über ihren runden Bauch, während sie auf ihrem Lager saß und durch die geöffnete Fensterklappe dem Prasseln des Regens lauschte.

Ihre Kindheit war grauenhaft für sie gewesen. In ihrem Inneren hatte es immer gleich ausgesehen. Immer schon hatte sie Macht gewollt, einen hohen Rang und an sich war sie dazu auch in die perfekte Familie geboren worden – es hieß, die Tankanas regierten überall auf der Welt. Aber sie war nicht so gewesen, wie es sich für ihren riesigen Clan gewöhnlich gehörte. Sie war so klein gewesen, so schwach, nicht einmal ihre eigenen Beine hatten sie getragen. Sie war absolut unselbstständig und abhängig von allen anderen gewesen... sie hatte es so gehasst. Aber noch viel mehr als ihre eigene Schwäche hatte sie die Reaktionen ihrer Eltern darauf verabscheut. Die normalen Kalenao aus dem Dorf hatten ihr dank ihres Familiennamens natürlich trotzdem größten Respekt gezollt, wenn sie ihr denn einmal begegnet waren – aber das war nicht häufig vorgekommen, ihre Eltern hatten sie versteckt.

Mit Gram erinnerte sie sich an das reservierte Paar zurück. Sie waren immerzu höflich zu ihr und Mahrran gewesen, solange sie ihnen nicht extrem widersprochen hatten, aber das war an sich nicht oft vorgekommen. Aber ihre Blicke hatten mehr gesagt als es tausende Worte je gekonnt hätten. Diese Enttäuschung... und die Scham.

Sie erschauderte und verengte ihre Augen verbittert zu schmalen Schlitzen.

Sie hatten doch nichts dafür gekonnt. Und trotzdem hatte sowohl sie selbst als auch Mahrran in ihrer Kindheit alles erdenkliche versucht, um ihren Eltern zu gefallen, obwohl es ihnen an sich klar gewesen war, dass es keinen Sinn gehabt hatte. Mabalysca war ja da gewesen, alles andere hatte man da ignorieren können, so lange es nur irgendwie in die perfekte Welt gepasst hatte. Und das war so einfach für sie gewesen. Einfach das kleine, krüppelige, behinderte Mädchen in ein hübsches Kleid stecken und irgendwohin setzen – es nahm ja nicht viel Platz weg. Bleib einfach da sitzen, sei still, rühre dich nicht vom Fleck. Und das hatte sie dann getan, ihr war ja nichts anderes übrig geblieben. Oftmals hatte man sie fast den ganzen Tag einfach so da sitzen gelassen, ohne sie weiter zu beachten, außer, wenn sie Hunger bekommen hatte oder sich einmal hatte erleichtern müssen, dann hatte man sich ihr gezwungenermaßen kurz lieblos gewidmet. Sie hätte so gerne einfach einmal gespielt. Manchmal war Mahrran gekommen. Manchmal hatte er sie einfach auf die Arme genommen. Er war selbst nie sonderlich groß oder kräftig gewesen und hatte sie immer nur wenige Schritte weit tragen können, aber sie hatte ihn dafür so geliebt. Aber es war nicht oft geschehen, denn wenn er dabei erwischt worden war, hatte er sich eine gefangen.

Deine Schwester ist zerbrechlich, du tust ihr weh!

Er hatte ihr kein einziges Mal auch nur ein kleines Bisschen weh getan. Aber sich darüber zu ärgern hatte für sie bereits damals keinen Sinn gemacht, Mahrran selbst war es nie besser gegangen als ihr. Zwar hatte er sich bewegen können – aber auch nur im Haus. Und wenn Gäste empfangen wurden, dann hatte er niemals zum schön aussehen da gesessen, denn die hatten ihn furchtbar hässlich gefunden. Nicht, weil er ein hässliches Gesicht gehabt hätte, aber sein Auge war für sie absolut widerlich gewesen. Ihre Mutter hatte es nicht ansehen können, sie hatte ihm immerzu das halbe Gesicht verbunden, damit ihr der ach so schlimme Anblick auch ja erspart blieb. Mahrrans krankem Auge hatte das gar nicht gefallen, es hatte getränt und sich dann unter den ständig feuchten Tüchern entzündet, sodass der kleine Junge quasi immerzu schlimme Schmerzen gehabt hatte. Aber wie es dem untauglichen, fast blinden Erben gegangen war, hatte auch niemanden interessiert. Sie hatten ja ihre Mabalysca gehabt.

Umso überraschender war dann gewesen, als sie eines Tages doch noch von ihren ältesten Kindern verlangt hatten, für die Tankanas der nächsten Generation zu sorgen – miteinander. Sie selbst hielten die Gefahr des Machtverlustes durch fremdes Blut für zu gewaltig, sodass sie es einmal mehr darauf ankommen lassen wollten. Und wie es den Kindern dabei gegangen war, hatte sie nicht interessiert...

Die Frau erhob sich zitternd, trat an die Fensteröffnung und schloss die Klappe etwas sehr schwungvoll. Sie wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen... sie hätte nicht darüber nachdenken sollen. Empört über sich selbst wischte sie sich über ihre etwas nassen Augen und schnaubte. Sie hasste sie so, sie war so froh, dass sie elendig verreckt waren. Sie hatte es genossen, die beiden in ihren letzten Stunden leiden zu sehen, ja, sie hatte vor ihnen gestanden und hatte gelacht, zum ersten Mal in ihrem Leben aus ganzem Herzen glücklich. Und Mahrran war es auch gewesen... Mahrran, den sie zu diesem Zeitpunkt nicht einmal mehr hatte ansehen können vor Scham und Unbehagen, denn ihre Eltern hatten es ja erfolgreich geschafft, ihre Beziehung zueinander nachhaltig zu zerstören.

Nein. Diese miesen Götterschanden hatten nichts zerstört, sie ließ es nicht mehr zu.

Bitter das geschlossene Fenster anlächelnd schwor sie sich, entgegen ihrer tiefen inneren Abneigung dagegen, Mahrran, wenn er wieder gesund wurde, einmal ganz innig zu umarmen. Ja, wenn er wieder gesund wurde, würde alles wieder gut werden, sie würde ihre Macht zurückerlangen und gemeinsam würden sie das neue Land erobern. Und dabei würden sie besser sein, als es ihre Eltern jemals gewesen waren.

Sie dankte den Göttern dafür, dass ihre Eltern damals so überraschend verstorben waren.
 


 

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Ein Herz für die Namensvorschläge für das neue Land. ♥

Vögel

Auf ihrer Reise hatten sie einiges erlebt. Häufig hatte man sie angegriffen, einmal war es eine ganze Horde der riesengroßen Savannenkatzen gewesen und im Nachhinein wusste keiner mehr, wie sie es geschafft hatten, zu entkommen. Größere Verletzungen hatte bisher niemand davon getragen und Ardoma war den Göttern dafür im Stillen mehr als dankbar gewesen, denn sie war keine Heilerin und konnte nicht mehr als dürftige Grundkenntnisse in der Heilkunst aufweisen. Die würden demnächst sicherlich nicht mehr reichen, musste sie sehr zu ihrem Leidwesen feststellen, als sie sich in jener Abenddämmerung umsah – und selbst, wenn sie theoretisch genügt hätten, so würde sie mit hoher Wahrscheinlichkeit demnächst selbst eine Behandlung benötigen. Und das in ihrem Umstand...

Karem stellte sich schützend vor sie und die Kinder, auf der anderen Seite tat es ihm ihr Bruder Randary gleich. Als auch ihr nun ältester Sohn Suale es den beiden gleich tun wollte, hielt sie ihn zurück und drängte ihn hinter sie selbst.

„Du bist noch ein Kind.“, zischte sie kaum hörbar und er hob verzweifelt die dunklen Brauen.

„Aber Vater und Onkel sind nur zwei Jäger... und das sind so viele! Ich muss ihnen helfen.“

„Einer mehr oder weniger wird sich nicht bemerkbar machen.“, knurrte darauf auch der Anführer der Gruppe, ohne den Blick von den Gestalten zu wenden, die sie hier, irgendwo im südlichen Ödland zwischen Gebirge und Savanne, umzingelt hatten.

Sie rührten sich nicht und auch die Gruppe blieb stehen und wartete ab. Sie waren unterlegen, wenn sie etwas taten, was diesen Fremden nicht gefiel, bedeutete das für sie den sicheren Tod – wenn der sie nicht ohnehin erwartete. Sie waren allesamt schwer bewaffnet, mit wunderbar gearbeiteten Speeren, soweit Ardoma das als Frau beurteilen konnte; was sie aber sicherlich wusste, war, dass diese Männer allesamt sehr gut gebaut und Karem mindestens ebenbürtig waren. Von Randary musste sie da gar nicht anfangen, als Kind derselben Eltern wie sie war er gerade so kräftig, wie sein verhältnismäßig kleiner Körper das auch verkraften konnte.

Ein kribbelndes Gefühl der Angst beschlich sie und ganz unmerklich und langsam hob sie eine ihrer Hände und legte sie Karem an den Rücken... am liebsten hätte sie gehabt, er hätte sie festgehalten, aber das war im Augenblick eine eher utopische Vorstellung.

An sich war alles Karems Schuld. Natürlich hatte er recht mit seinen Machtansprüchen – Saltec hatte sicherlich nicht geahnt, was er seinem langjährigen Freund mit seiner absolut nicht nachvollziehbaren Entscheidung vor seinem Tod antun würde – aber wie hatte er es sich mit Moconi derart verscherzen können?

Sie konnte ihm nicht wirklich böse sein. Er war ein beeindruckender Mann, aber tief im Inneren ziemlich naiv – manchmal verschloss er seine Augen einfach. Er erkannte nicht einmal sein eigenes Kind, wenn es vor ihm stand – es gab allerdings auch Dinge, bei denen sie es sich verkniff, ihn darauf hinzuweisen.

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als einer der Fremden ihnen plötzlich etwas in einem ganz und gar seltsamen, aber für ihre Ohren dennoch verständlichen Akzent zurief.

„Ihr befindet euch im Land von Kaless! Dass ihr es als Fremde betreten habt, sehe ich als eine Herausforderung an!“

Karem schnaubte.

„Wir wussten nicht, dass irgendjemand Anspruch auf dieses Land erhebt – es ist schließlich kein besonders gutes Land, warum sollten wir es wollen?“, er senkte die Brauen, „Und als Herausforderung bezeichnest du in diesem Fall...?“

Die Männer um sie herum brummten empört, vermutlich darüber, dass der Eindringling ihre Heimat als schlecht bezeichnet hatte – sie brachte prachtvolle Jäger hervor, also konnte sie so schlecht nicht sein, aber Ardoma verkniff es sich, ihren Mann darauf hinzuweisen, und verfolgte still weiter das Geschehen.

Der Rädelsführer der Einheimischen ließ sich jedoch nicht beirren und hob wichtig einen Finger.

„... ich nehme an, du möchtest meinen Stamm? Und das Land, in dem er lebt, das übrigens nur auf den ersten Blick schlecht ist.“

Karem gluckste, dann schüttelte er den Kopf.

„Das ist ein Missverständnis, ich hatte niemals vor, dir – ich nehme an, du bist Kaless – deinen Stamm und dein Land abzunehmen. Meine Sippe wird jetzt einfach umdrehen und wieder von hier verschwinden und du wirst niemals Ärger mit uns haben, einverstanden?“

Die Fremden zogen entsetzt die Luft ein. Kaless starrte ihn mit offenem Mund an – Ardoma verbesserte ihre Gedanken von zuvor, diese Jäger waren mehr seltsam als prachtvoll.

„... du kannst das nicht ablehnen, ich weiß doch, dass du meinen Stamm willst! Oder fürchtest du dich vor einem Kampf Mann gegen Mann mit jemandem wie mir?“

Vom äußeren Anschein her war der unbekannte Häuptling ihm mindestens ebenbürtig, aber es war nicht Karems Art, vor einer solch offensiven Aufforderung zurückzuschrecken. Dennoch zögerte er kurz.

„Wenn du so sehr darauf bestehst, kann ich dich gern vor deinen Männern entehren, deinen Stamm möchte ich trotzdem nicht...“

„Warum nicht?“, mischte sich plötzlich Randary in seiner gewohnt leisen Art ein, ohne sich dabei zu seinem Begleiter umzudrehen, „Da wären wir immerhin sicher. Und du wolltest doch immer Häuptling sein. Es ist ein Geschenk der Götter.“

Wenn es denn so einfach war, diesen komischen Kerl vor ihnen in die Knie zu zwingen, Ardoma war sich da ja nicht so sicher; prinzipiell stimmte sie ihrem Bruder jedoch zu. Hatten sie denn groß eine andere Wahl?

Karem brummte.

„Na gut, meinetwegen.“

Er seufzte und trat hervor. Darauf ließen die fremden Jäger ihre Speere sinken, einschließlich ihrem Häuptling, der nun anerkennend nickte und ebenfalls hervortrat. Da er scheinbar einen Kampf ohne Hilfsmittel wollte, zog auch Karem keinen Speer, als er seine Rückentrage abstellte. Er schielte kurz zu seiner Frau, die seinen Blick erwiderte.

Sei vorsichtig.

„Bist du bereit?“, wollte Kaless wissen und als sein Gegner nickte, verschwendete er auch keine weitere Zeit im schwindenden Licht des Abends und stürzte sich mit wildem Geschrei auf ihn. Karem, wesentlich ruhiger, wehrte ihn grob ab, indem er ihn – erstaunlich einfach – von sich schubste und zum Gegenangriff ansetzte. Er ging nicht davon aus, dass sein Kinnhaken ihn tatsächlich treffen würde, wurde aber einen Atemzug darauf eines besseren belehrt, als sein Gegenüber auf der Stelle bewusstlos zu Boden ging.

Einen Moment lang legte sich absolute Stille über die Versammlung, selbst die sich in der Nähe befindende Horde Hunde war plötzlich still.

Karem konnte sich nicht verkneifen, den anderen Mann am Boden, der vollkommen weggetreten war, etwas dümmlich zu mustern.

„War... war es das jetzt?!“, fragte er dann verblüfft in die Runde der Jäger, die sich gegenseitig betroffene Blicke zuwarfen und dann schließlich nickten. Dann hoben zwei von ihnen ihren einstigen Anführer auf und ein weiterer winkte der Familie zu.

„Folgt uns.“
 

Das Lager der Fremden war gänzlich anders als alles, was die Neuankömmlinge jemals gekannt hatten, denn es war vollkommen unbeweglich und musste sich schon seit Jahrzehnten an diesem Ort befinden. Die südwestlichsten Ausläufer des großen Gebirges bestanden aus weichem Material, in das sich die Menschen Höhlen gegraben hatten, und in diesen Höhlen standen ihre Hütten, vollkommen geschützt vor dem Wetter, aus schweren, stabilem Material und sehr geräumig, denn niemand musste sie tragen können. Ganz in der Nähe musste ein Bach fließen, denn man konnte Wasser rauschen hören, als man auf auf dem Mittelpunkt des seltsamen Lagers stand und sich verblüfft umsah. Sie befanden sich in einer Art Schlucht, erkannte Karem erstaunt, als er die bewohnten Berge, die ihn zu fast allen Seiten umgaben, betrachtete.

Kaless hatte man unverzüglich in eine dieser Hütten gebracht, damit man ihn versorgen konnte, und nun kamen von überall Männer, Frauen und Kinder und alle waren jung und gut gebaut.

Sie versammelten sich verblüfft um die fremde Gruppe, als einer der Jäger, die sie so überaus freundlich willkommen geheißen hatten, auf Karem deutete.

„Dieser Mann hat Kaless geschlagen. Hiermit ist er rechtmäßig und mit sofortiger Wirkung der Häuptling des Vogelstammes.“

Statt Entsetzen und Bedauern, wie der Mann es erwartet hätte, brach die Menge daraufhin in Jubeln aus und ließ es sich nicht nehmen, auf der Stelle und trotz fortgeschrittener Tageszeit eine Feier ihm zu Ehren vorzubereiten – und, was er nicht ahnte, eine sehr geräumige Hütte.
 

Der Wassermond stand hoch am Himmel, als ein großes Feuer brannte und sich alle im Kreis sitzend versammelt hatten – diese Szenerie erinnerte den Mann dann doch etwas an seine eigene Herkunft, dieses Bild war vertrauter und irgendwie beruhigte es sein verwirrtes Gemüt etwas. Was nun kam war klar, auch wenn sie sich noch so sehr über ihn freuten, jetzt wollten diese seltsamen Leute wissen, wer er und seine Familie denn eigentlich waren, also erhob er sich aus seinen Reihen, stellte sich für alle gut sichtbar hin und räusperte sich. Er ließ seinen Blick noch einmal über die Meute schweifen und irritiert stellte er fest, dass es hier wirklich keine Alten gab – oder irgendeine seltsame Sitte verbot es ihnen, an Festen teilzunehmen.

Er nahm es zunächst einmal hin und entschloss sich dazu, nun endlich seiner Verpflichtung nachzukommen – irgendwie fühlte es sich schon ganz gut an, endlich Häuptling zu sein, aber irgendwie wurde er auch das Gefühl nicht los, dass sein Stamm hier etwas seltsamen Gemütes war.

„Mein Name ist Karem und ich komme aus dem Schlangenstamm, der viele Tagemärsche von hier entfernt rastet. Ich bringe meine Frau Ardoma, ihren Bruder Randary und meine Kinder Suale, Resak, Rakia und Suhon mit. Und... nun ja, scheinbar bin ich nun euer Häuptling.“

Er sah sich kurz um.

„Ich bin gerne bereit, die Verantwortung für euch zu übernehmen, doch mit euren Sitten müsst ihr mich vertraut machen, denn ich kenne euch leider nicht.“

„Das ist kein Problem!“, erklärte einer der gut gebauten Jäger darauf frohen Mutes. Als er sich erhob, musterte Karem ihn kurz im Feuerschein, er schien ungefähr in seinem Alter zu sein.

„Es wird sich alles ergeben. Du wirst das gut machen – wie alt sind du, deine Frau und ihr Bruder eigentlich?“

Das neue Stammesoberhaupt hob irritiert seine Brauen. Warum wollte er denn so etwas belangloses wissen? Dennoch hielt er es für klüger, dem Mann zu antworten.

„Ich lebe seit siebenundzwanzig Jahren, meine Frau ein Jahr weniger und ihr Bruder ist vierundzwanzig Jahre alt.“

Ein erfreutes Getuschel ging durch die Reihen und sein Gegenüber grinste noch breiter.

„Das ist eine wunderbare Sache! Ich heiße Isinai, werde im Feuermond dreißig Jahre alt und werde dir bis dahin alle Fragen beantworten, damit du uns bald mit der sicheren Hand, die wir brauchen, führen kannst.“

Und dann begann die Feier und sie dauerte die ganze Nacht.
 

Am Morgen schliefen alle lange und Karem, der in seiner absolut luxuriösen Hütte in dem für ihn doch fremden, wenn auch sehr bequemen Lager bereits relativ früh mit seiner Ardoma in den Armen wach lag, fragte sich, was hier wohl für eine seltsame Moral herrschte.

„Ich fühle mich hier unwohl.“, flüsterte seine kleine Gefährtin schließlich kaum hörbar und er seufzte leise und vergrub sein Gesicht in ihrem weichen schwarzen Haar. Er doch auch...

„Aber zumindest eine Weile sollten wir hier bleiben, da hat dein Bruder schon recht.“, entgegnete er leise und strich sanft über ihren leicht gerundeten Bauch. Ja... da hatte sich abermals neues Leben eingenistet, obwohl sie keines mehr gewollt hatten. Aber nun war es da, auch wenn Ardoma es in Gedanken genau so wie bei allen anderen Schwangerschaften zuvor zu verdrängen versuchte. Sie nickte auf seine Worte nur.

Später klopfte es am Türpfosten und Isinai streckte bester Laune seinen Kopf herein.

„Ich hoffe, ihr habt euch gut ausruhen können von eurer langen Reise!“, begrüßte er die Familie und trat ein. Die noch etwas verunsicherten kleineren Kinder stellten ihr Spiel auf dem geräumigen Boden sofort ein, Ardoma kochte behände an ihrer hübschen Feuerstelle weiter und Karem und Randary standen auf, um den Gast zu empfangen.

„Das haben wir, ja.“, antwortete der Häuptling, worauf das unerschütterliche Lächeln seines Gegenübers noch breiter wurde.

„Wunderbar. Ich dachte, ich sehe einmal nach euch, du hast doch sicherlich einige Fragen, nicht wahr?“

Das stimmte allerdings und Karem nickte.

„Selbstverständlich. Ich muss wissen, wie es um den Stamm steht – wo gibt es Probleme, wo seid ihr gut versorgt? Außerdem würde mich eure Lagerhütte interessieren und wo genau sind eure Jagdgründe? Oh, ach ja, und noch etwas geht mir nicht aus dem Kopf, seit wir hier angekommen sind...“, er machte eine kurze Pause und Isinai hob erwartend seine Brauen, „Wo bei allen Göttern versteckt ihr eure Alten?“

Daraufhin wich die Fröhlichkeit der Irritation. Der Mann fasste sich an sein kurzes, braunes Haar.

„... verstecken? Wir verstecken uns doch nicht, hier!“, er deutete auf sich selbst, „Ich bin der Älteste hier!“

Darauf sah dann auch Ardoma auf. Natürlich galt man mit dreißig Jahren nicht mehr als jung, doch die meisten Mitglieder im Schlangenstamm erreichten dieses Alter, einige wurden sogar vierzig und ab und an, wenn auch selten, schaffte es jemand, fünfzig Jahre zu leben. Dass das hier niemandem gelang, war gleichermaßen verblüffend wie auch beängstigend.

Das fand auch Karem.

„Moment – wie kann das sein? Du bist kein alter Mann, es muss doch jemanden geben, der älter ist als du!“

Isinai sah sich etwas entsetzt um und hüstelte.

„Wie... um alles in der Welt sollte das denn bitte funktionieren, wenn ich fragen darf, Häuptling?“, wagte er dann dumpf sich zu erkundigen und sein Gegenüber und dessen Schwager warfen sich einen vielsagenden, vollkommen verwirrten Blick zu.

„Na ja... indem ihr einfach... lebt?“

Ardoma witterte ein beunruhigendes Missverständnis und erhob sich. Der Gast legte seinen Kopf leicht schief.

„Aber in dem Mond, in dem wir dreißig werden, müssen wir sterben. Bald ist es für mich soweit – ich bin schon ganz aufgeregt!“

Und er lächelte wieder. Daraufhin stand selbst Randary der Mund offen. Ardoma stellte sich schaudernd zu den Männern.

„Ihr tötet euch. Warum?“

Karem, der nicht ihre gespielte Nüchternheit besaß, ärgerte sich derweil darüber, dass er sich am vergangenen Abend nicht ein paar Jahre jünger gemacht hatte – hier würde er doch nicht bleiben!

„Töten?“, Isinai schüttelte den Kopf, als er scheinbar auch verstand, „Das ist mir absolut unbegreiflich, wie kann es diese mit Abstand wichtigste Sitte im Schlangenstamm nicht geben? Also gut, passt auf, ich erkläre es euch. Ein Leben hat dreißig Jahre – dann hat es so viel Weisheit inne, dass es sie weitergeben muss. Der Häuptling trennt dann die Weisheit von der Seele mit dem heiligen Speer – du wirst ihn noch erhalten – und die Seele darf in der nächsten Welt unendliches Glück erfahren, während der Stamm die Weisheit in sich aufnimmt.“

Karem schüttelte nur verwirrt den Kopf über die für ihn absolut abstrusen Worte dieses Kerls, als seine Frau die schmalen Augen etwas weitete und es auf den Punkt brachte.

„Oder kurz gefasst, wenn ihr dreißig werdet, tötet ihr euch und esst euch auf.“
 

Weit entfernt, im Lager des Schlangenstammes, dachte an diesem Morgen niemand daran, jemandem seinesgleichen zu töten und aufzuessen, schon gar nicht Semliya. Er fühlte sich unwohl, denn er war allein – vor einer Weile hatte man Novaya gezwungen, mit auf Kleintierjagd zu gehen. Er würde schon sehr bald zurückkommen, das wusste er zwar, aber er war nur ungern von ihm getrennt – mehr denn je seit dem Tag, an dem die Bestien ihn dumm gemacht hatten.

Er seufzte und lehnte sich an den kleinen Felsen, der ganz in der Nähe der Hütte seiner Eltern im Gras stand – mehr tun als hier zu sitzen konnte er ohnehin nicht. Er konnte gar nichts. Manchmal kam es ihm so vor, als sei es wieder in Ordnung – dann waren seine Gedanken klar und ein gewisses Gefühl der Kontrolle kehrte zurück. Aber nur kurz, dann kam wieder der Bruch. Er verlor den Faden, vergaß, worüber er gerade noch nachgedacht hatte, was er am tun war, wo er war und manchmal für einen Moment auch, wer er war. Zumindest das grundlegendste kehrte dann bald wieder zurück, aber letztendlich blieb er dumm, denn er konnte nie zu Ende denken. Einst war er ein Stratege gewesen, heute war er froh, wenn er nicht vergaß, wo seine Hütte stand.

Manchmal versagten ihm seine Beine und er stolperte und drohte, hinzufallen und das war bei allen Göttern das letzte, was sein ruinierter Kopf nun gebrauchen konnte. Deshalb hielt Novaya ihn immer fest – und hatte ihm nun, in seiner Abwesenheit, verboten, all zu weit fort zu gehen. Er hörte natürlich auf ihn, sein Zwilling war sein Held. Aber es langweilte ihn... er konnte auch nichts mit den Händen tun, denn seine Motorik war kaum mehr vorhanden, hätte er ein Werkzeug in die Hand genommen, so hätte er sich vermutlich sofort einen Finger damit abgeschnitten. Aber am schlimmsten war, dass nicht einmal sein Mund mehr das tat, was er von ihm verlangte. So sehr er sich auch auf das Sprechen konzentrierte, er klang immerzu wie ein Kleinkind, das das Reden gerade erst erlernte.

Sein Vater hatte gesagt, er musste lernen, sich damit abzufinden und Novaya hatte ihm versichert, dass er sich keine Sorgen machen musste, denn er würde sich immer gut um ihn kümmern, aber er empfand sich mehr und mehr als Last, die es galt, früher oder später loszuwerden. Er verstand Teco.

Eine Gestalt, die vor ihm auftauchte, riss ihn aus seinen ohnehin ziemlich abgehackten und unnachvollziehbaren Gedanken. Er sah auf und vor ihm stand einer seiner jüngeren Brüder – Ranisin – und lächelte ihn fröhlich an. Irgendetwas in seinem Kopf regte sich und er erinnerte sich daran, dass er mit ihm früher seinen Spaß gehabt hatte... aber irgendwie hatte der Kleine dabei eher selten so gestrahlt wie an diesem Tag, als er sich bester Laune vor ihn ins Gras hockte und ihn zunächst eine Weile musterte, ehe er zu sprechen begann.

„Du bist ja ganz alleine.“, stellte er fest, ohne wirklich bedauernd zu klingen, „Wie geht es dir denn, Semmi, tut der Kopf noch weh?“

Der Ältere entschloss irritiert, einfach zurückzulächeln und errötete etwas, als Ranisin kurz mit den Brauen zuckte, als sei das ein Fehler von ihm gewesen.

„Es... wenig. Geht. War... schlimmer.“

Es klopfte manchmal noch ein wenig, aber zumindest die äußere Wunde begann langsam aber sicher zu verheilen. Von den schmerzlindernden Kräutern, die er stets und ständig aß, erzählte er lieber nichts, das wäre seiner Zunge wohl auch zu anstrengend gewesen.

„Oh, es wird also besser?“

Sein jüngeres Gegenüber setzte sich in den Schneidersitz und stützte seinen Kopf auf einer Hand ab, mit der anderen sein schulterfreies Oberteil zurechtzupfend. Dann verschwand sein Lächeln mit einem Mal.

„Wie schade. Und dabei habe ich gehofft, dich vor Schmerzen schreien zu hören, du mieses Stück Dreck.“

Es benötigte nicht viel Intelligenz um zu verstehen, dass man gerade beleidigt worden war und so schnaubte Semliya empört und wich automatisch etwas zurück, sich gegen den Stein in seinem Rücken pressend, als Ranisin etwas näher zu ihm rutschte und ihn mit zu erstaunlich schmalen Schlitzen verengten, dunklen Augen einen Moment musterte.

„Hast du etwa Angst vor mir?“, fragte er dann mit seiner scheinbar unschuldigen, hohen Stimme und sein Bruder wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, „Erinnerst du dich noch daran, wie du und Naya immer mit mir gespielt habt? Seit ich lebe... seit ich ganz klein war. Oh, ihr habt immerzu wunderbar mit mir gespielt, es war mir immer eine Ehre, euer kleiner Bruder zu sein, aber ich habe mich noch niemals dafür revanchieren können. Das... tut mir ehrlich leid. Deshalb werde ich das jetzt nachholen.“

Er lächelte wieder und streckte eine seiner Hände aus, um dem Älteren damit sanft über seinen Kopf zu streicheln, dennoch erschauderte Semliya beunruhigt. Irgendwie hatte er das Gefühl, der wollte sich gar nicht bei ihm bedanken...

Zu seiner weiteren Irritation erhob sich Ranisin dann, blieb jedoch dicht vor ihm stehen und ließ seine Hand weiter auf seinem kurzhaarigen Haupt ruhen, ihn wieder kurz musternd. Dann sah er sich kurz zu allen Seiten um.

„Du bist zwar ein bisschen dumm jetzt, aber für irgendwelche dämlichen Arbeiten wirst du wohl noch taugen. Und solange du Naya hast, wird es dir sowieso gut gehen. Das passt mir irgendwie nicht, weißt du? Die Götter waren auf meiner Seite vor kurzem, aber sie waren ein wenig nachlässig, glaube ich.“ Er sah ihn wieder an. „Naya... Naya ist ohne dich nicht böse... du bist böse, Semmi. Ich frage mich seit ich lebe warum... und warum ausgerechnet zu mir. Na ja. Wie gesagt, ich wünsche mir, dich vor Schmerzen schreien zu hören, Semliya.“

Und diesen Wunsch erfüllte er sich selbst, indem er seine Hand blitzschnell über den Kopf seines Bruders zu seiner Wunde wandern ließ, und sie, bisher gut am verheilen, mit seinen ungewöhnlich spitzen Nägeln und einem absolut gefährlichen Druck wieder aufriss.

Der Schmerz, der den jungen Mann darauf durchfuhr, war wie ein Feuer aus purer Finsternis, sofort wurde ihm schwarz vor Augen, doch sein Bewusstsein verlor er nicht sofort. Er wollte sich wehren, aber er konnte nur schreien, ohne auch nur zu ahnen, was sein eigener Bruder da eigentlich mit seiner schweren Verletzung trieb.

„Das ist für jeden Schlag und jeden Tritt, den du mir versetzt hast, Semmi! Das ist für jede Spinne auf meinem Kopf, jeden Käfer in meinem Lager, das ist für all die Spielsachen, die ihr mir zerstört habt und für jedes böse Wort, Semliya! Ich hoffe, jetzt stirbst du!“
 

Ranisin war sich eigentlich gar nicht so sicher, ob er nun wirklich darauf hoffte, dass sein Bruder starb. Ob er lebte oder tot war, war ihm an sich gleich, aber Semliyas Tod hätte für ihn sicherlich unschöne Konsequenzen gehabt... darüber hatte er nachgedacht. Und er hatte beschlossen, das Risiko dennoch einzugehen, denn die Gier nach Rache für die jahrelangen Qualen waren mit jedem Tag, an dem er den Zwilling so wehrlos gesehen hatte, ins Unermessliche angewachsen... er hatte einfach etwas tun müssen.

Was er dann tat, widerte ihn selbst etwas an, es erinnerte ihn etwas an das Schlachten eines Beutetieres, aber da er als Junge – ob er nun wollte oder nicht – auch dieser Aufgabe gewachsen war, konnte er die aufkommende Übelkeit leicht herunterschlucken und tat behände das, was er auch vorgehabt hatte. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, als er die ordentlich vernähte Wunde einfach wieder aufgerissen, dabei absichtlich weiter zerfetzt hatte und schließlich in seiner unendlichen Kreativität einfach nach etwas Dreck griff und ihn in die Wunde streute – daraufhin verstummten dann die verzweifelten Schreie, die ihm den Rest seines Lebens im Ohr bleiben sollten und Semliya brach zu seinen Füßen zusammen.

„... bist du jetzt echt tot?“

Er tippte ihn kurz an und das Schaudern, das den Bewusstlosen überkam, verriet ihm das Gegenteil. Er seufzte. Zu schade, dass er da jetzt so lag... diese Wunde war echt hässlich. Angewidert entfernte der Jüngere ein paar Hautfetzen, die an seinen zitternden verschmierten Händen klebten, und überlegte sich, ob er diesen widerlichen Anblick wohl hinter ein paar Blumen verstecken sollte, Blumen konnten bekanntlich alles richten, denn sie waren wunderschön. Er liebte Blumen über alles, sie waren so friedlich und trotzdem so stark.

Im Gegensatz zu ihm, der absolut schwach war und alles andere als friedlich, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergab. Er wäre lieber wie eine Blume gewesen und plötzlich erschauderte er beim Anblick seines bewusstlosen, heftig zitternden und stark blutenden Bruders am Boden und ließ kurz Zweifel zu. Er betrachtete seine Hände, an denen Semliyas Blut klebte wie das eines Tieres und er fragte sich, wie er das nur hatte tun können, wo sie doch dieselben Eltern hatten – dann fiel es ihm wieder ein.

Das war für jahrelange Qual... ich hätte noch viel gemeiner sein sollen!
 

„Ranisin?“

Er drehte sich um und ihm gegenüber stand Novaya. In diesem Moment fror er zunächst einmal ein – noch sah er nicht, was er angerichtet hatte, denn das Gras wuchs an dieser Stelle hoch und verdeckte den verletzten Semliya, aber in wenigen Augenblicken würde er ihn sicher bemerken... und dann?

Oh Himmel, der brachte ihn bestimmt um dafür. Er war viel zu bezaubernd zum Sterben!

Novaya, seinerseits noch völlig unwissend, hob eine Braue.

„... was auch immer du für ein Problem hast – hast du Semliya gesehen? Wir... ach, ich habe ihn heute Morgen hier in der Nähe abgesetzt und gesagt, er sollte hier auf mich warten.“

Er sah sich etwas in der Gegend um, dann heftete sich der Blick aus den eisblauen Augen auf die blutigen Hände des Jüngeren, der darauf merklich zusammenzuckte. Beunruhigt näherte er sich darauf und Ranisin wich einen Schritt zurück und stieß an Semliya, der darauf wimmerte – und Novaya stürzte sich auf ihn.

Er hatte geglaubt, jetzt war es vorbei für ihn, denn er hielt die Zwillinge keineswegs für sanftmütiger, als er es selbst war; oh nein, er wusste, dass beide gemeine Bestien waren, auch wenn Semliya eindeutig gemeiner war. Aber Novaya konnte auch sehr skrupellos sein – um so überraschter war er, als er im Dreck landete und nichts weiter geschah, als dass der Ältere sich auf ihn setzte und mit Tränen in den Augen festhielt.

„Was hast du getan?! Was hast du nur getan, wie konntest du nur?! Wir... sind doch Brüder!“

Dann stand er eilig wieder auf, überließ den Jüngeren sich selbst und kümmerte sich um seinen Zwilling.
 

Semliyas Wunde erneut zu vernähen gestaltete sich beinahe als unmöglich. Tanest, die sich von allen Frauen noch am besten darauf verstand, schüttelte bei ihrer Arbeit empört den Kopf.

„Hätte man das alles so verheilen lassen, wie es war, hätte man da sicher kaum etwas von gesehen, so ist jetzt der ganze Hinterkopf entstellt.“

Moconi, der selbstverständlich da war, denn aus verschiedenen Gründen, die keiner wirklich aussprechen wollte, hatte man den Jungen dieses Mal in die Häuptlingshütte gebracht, hob bedauernd seine Brauen.

„Er sollte sich wohl sein Haar wachsen lassen...“

Leider konnte er nichts besonders kluges dazu beitragen, und Tanest lachte nur bitter. Die Wahrheit war, dass man als Verletzter einzig in der Häuptlingshütte landen konnte, wenn der Tod unmittelbar erwartet wurde. Niemand sprach es aus und man kümmerte sich trotzdem um die vermeintlich tödliche Verletzung, weil man den Göttern demonstrieren wollte, dass der Stamm noch nicht bereit war, jenes Leben in die nächste Welt zu entlassen und dass der Häuptling persönlich versuchte, den verwundeten Körper zu bewachen.

Moconi war etwas verunsichert, nicht nur, weil ihm diese Aufgabe nun zum ersten Mal zuteil wurde – er kannte im Gegensatz zu seinem Vater alle rituellen Gebete in und auswendig – sondern viel mehr, weil er nicht wusste, wie es nun weiter zu handeln galt.

An sich schickte es sich nicht, sich als Häuptling mit einer Frau zu beraten, aber er vertraute Tanest und sprach seine Gedanken deshalb einfach aus.

„Ich weiß nicht, was ich nun mit Ranisin machen soll... ich meine, er ist doch noch ein kleines Kind, ich kann ihn nicht besonders bestrafen, er ist noch in der Obhut von Dherac!“

Seine Tante seufzte, ohne zu ihm aufzusehen und tat weiter ihr bestes.

„Bestrafe ihn nicht weiter. Der Stamm wird kein Problem damit haben, da bin ich mir sicher – du weißt selbst warum.“

Er senkte den Blick. Ja, das war wohl wahr, zumindest das Motiv des kleinen Jungen war deutlich. Die Zwillinge waren garstige Zeitgenossen, immer zu absolut grausamen Dingen fähig, die sie dann an ihrem jüngeren Bruder ausließen. Ihr jüngerer Bruder, der alles andere als besser war als sie selbst, denn sein Motiv rechtfertigte keineswegs sein Handeln... was, wenn er so etwas noch einmal tat?

„Das wird er eher nicht.“, erriet die Frau seine Gedanken wohl, „Du hast ihn Dherac überlassen – der tut seines schon. Und der tut nicht zu wenig, glaube mir das.“
 

Dherac fragte sich, was er mit seinen Kindern wohl falsch machte. Die eine fand keinen Mann, die nächsten beiden waren kaum hörig und krankhaft ineinander vernarrt und der nächste entpuppte sich als grausames kleines Biest. Er machte sich Vorwürfe – er hatte gesehen, was die Zwillinge mit ihm getan hatten, aber viel zu selten eingegriffen – Ranisins Handeln war ein Armutszeugnis für sein Können als Vater und Kinashis Können als Mutter.

„Was hast du dir dabei gedacht?!“, fuhr er den kleinen Jungen an, den er unsanft aus dem Lager hinter einen kleinen Hügel gezerrt hatte, und das Kind erwiderte seinen Blick trotzig, die Hände noch immer verschmiert.

„Ich wollte Semmi bestrafen.“

„Bestrafen?!“, der Mann zischte, „Dazu bist du nicht befugt! Du hast ihn fast getötet und das in einer solch schweren Zeit, Ranisin, denkst du überhaupt nicht nach?!“

Er fragte sich, warum er gar nicht zurückwich, als er sich wie eine Gewitterwolke vor ihm aufbaute. Stattdessen verengte er bloß seine Augen etwas, vollkommen uneinsichtig.

„Doch. Eine andere Chance hatte ich nicht. Du hast die Zwillinge nie bestraft.“

Seine Worte versetzten Dherac einen Stich und einen Moment konnte er sich nicht rühren, weil er ihn offensichtlich auf den Fehler, den er selbst bereits geahnt hatte, hinwies. Es demütigte ihn und so schlug er dem Jungen ins Gesicht, sodass er mit blutender Nase zurückstolperte. Er fiel nicht hin und atmete bloß einmal schwer, anstatt sich irgendeine Schwäche anmerken zu lassen und kurzzeitig konnte der Mann es nicht vermeiden, stolz auf die Standhaftigkeit seines Sohnes zu sein. Er verdrängte es jedoch schnell wieder.

„Du hast deinen Bruder nicht zu verletzten, Ranisin, sieh das ein! Du tust das nie wieder, sonst verstoßen wir dich, ist das klar?!“

„Wenn es nicht nötig ist, tue ich es nicht wieder, versprochen, Vater.“

Er lächelte sein hinreißendstes Lächeln und zum ersten Mal bemerkte Dherac, wie falsch es eigentlich war; dieses Kind war eine hinterlistige Hyäne. Entsetzt von seiner Feststellung tat er das, was er seiner Überzeugung nach Semliya schuldig war, stürzte sich auf den Jungen und verpasste ihm die Tracht Prügel, die er sich auch redlich verdient hatte – wenn er es nicht getan hätte, hätte er ihm vielleicht niemals verzeihen können und das wollte er bei seinem eigenen Kind nicht riskieren.
 

Tanest legte ihre Werkzeuge beiseite und erhob sich. Moconi saß ernüchtert auf seinem eigenen Lager und beobachtete sie und den bewusstlosen Semliya. Er wollte Shiran fragen, was geschehen würde... aber irgendwie traute er sich nicht, er wusste nicht weshalb. Und der Seher schien das bereits zu ahnen, sonst wäre er längst mit des Rätsels Lösung bei ihm aufgetaucht. Außerdem misstraute er dem Mann mit dem schrecklichen Gebiss noch immer etwas... wieso hatte er diese Tat nicht verhindert?

Es ging ihn nichts an. Vermutlich hätte er ihm das geantwortet... Shiran ging es um die Sache als solche, um nichts weiter. Was mit dem Stamm geschah, war ihm vollkommen gleich... Moconi war froh, wenn er den Mann wieder los war.

Er verdrängte die Gedanken an den Magier, denn es gab im Augenblick wesentlich wichtigeres für ihn.

„Soll ich mit den Gebeten beginnen?“

Tanest drehte sich zu ihm um und schüttelte den Kopf.

„Nein. Kinashi und Novaya warten draußen, sie wollen ihn unbedingt noch einmal sehen... warte noch, ich bitte sie herein.“

Der Häuptling nickte und die Frau wollte sich schon in Richtung Ausgang bewegen, als beide bis in die tiefsten Abgründe ihrer Seele erschrocken wurden.

„Nein... ach. Keine Gebete. Und die beiden sollen bleiben wo sie sind. Ich will meine Ruhe, sonst nichts.“

Beider Blicke richteten sich vollkommen verblüfft auf den scheinbar schwer verletzten Jungen, der leise seufzte und seine Liegeposition etwas veränderte, als befände er sich gerade bei Nacht in seinem eigenen Lager und es sei das Normalste der Welt, dass er um Ruhe zum schlafen bat.

„Wie... wie ist das möglich?! Ich habe in das Innere deines Kopfes gesehen, dein Schädel ist zertrümmert, deine Kopfhaut zerfetzt!“

Tanest wechselte einen vollkommen konfusen Blick mit Moconi und Semliya brummte.

„... danke. Jetzt weiß ich, weshalb das so weh tut. Und jetzt seid still, ich bin verdammt müde!“

Moconi zuckte die Schultern und schüttelte mit dem Kopf, als die Frau bloß vollends mit ihrem Wissen am Ende die Hütte verließ, um Kinashi und Novaya von der mehr als nur seltsamen Entwicklung zu berichten. Der Häuptling blieb stumm sitzen. Semliya war ein böser Windgeist, da war er sich sicher... zu seiner Freude hatte Kurapi ihn in seine Hütte eingeladen, dann musste er nicht bei dieser Bestie übernachten – er bezweifelte, dass dieser seltsame Kerl noch irgendein Gebet benötigte.
 

Calyri wusste nicht, was sie mehr verblüffen sollte; die seltsame Reaktion Semliyas auf den Angriff seitens Ranisin, die Tatsache, dass Novaya das ganz und gar nicht komisch fand oder, dass selbiger sie vor Freude und Erleichterung über Tanests Worte wie wild umarmte. Besonders anhänglich waren die beiden nie gewesen, zumindest nicht was andere Familienmitglieder betraf, und so starrte sie ihn bloß skeptisch an, als er sie auf beide Wangen küsste.

„Dieses Mal dachte ich, es sei endgültig vorbei. Aber nichts und niemand kann uns trennen, das erlauben die Götter nicht!“, erklärte er ihr fröhlich und hielt sie weiter fest und sie lehnte sich etwas an ihn, weil es irgendwie eine gute, warme Umarmung war, die sie ihm wohl als allerletztes zugetraut gehabt hätte. Niray, die gerade die kleine Morny hielt, war von dem ganzen derart irritiert, dass sie vergaß, sich vor den Wolken zu fürchten und ganz ruhig da stand und dem Spektakel zuschaute.

Kinashi hatte andere Sorgen; natürlich freute sie sich ebenso wie ihr Sohn über die unverhofften guten Neuigkeiten, aber Dherac war mit Ranisin zurückgekehrt und wo ihr Mann nun seinen väterlichen Pflichten nachgekommen war, musste sie an dieser Stelle ihren mütterlichen Pflichten nachkommen und sich um die vergleichsweise kleinen Verletzungen des Jungen kümmern, der seltsamerweise nicht weinte, obwohl er normalerweise nah am Wasser gebaut hatte.

„Werde ich wieder so schön und bezaubernd wie zuvor?“, erkundigte er sich stattdessen bekümmert um sein angeschwollenes Gesicht, das seine Mutter gerade mit einem nassen Stück Fell zum kühlen abtupfte. Sie seufzte und nickte dann – jetzt, wo sie wusste, dass es Semliya trotz allem nicht all zu schlecht ging, konnte sie ihrem jüngeren Sohn nur noch halb so böse sein.

„Mit Sicherheit. Aber bis dahin wird noch eine Menge Zeit vergehen... bis dahin haben wir dir verziehen.“

Ranisin nickte. Sie allesamt hatten sich vor der Familienhütte versammelt und an jenem freundlichen Tag war das auch eine gute Sache. Kinashi bemerkte, wie ihr Sohn vor ihr deutlich zusammenzuckte, als ein Schatten über sie fiel. Als sie sich umdrehte stand dort Novaya, der scheinbar seinen Freudentanz mit Calyri beendet hatte und nun wieder wesentlich nüchterner wirkte als zuvor und seinen jüngeren Bruder musterte.

„Gib mir bitte das Fell, ich mache weiter.“, bat er seine Mutter, ohne sie anzusehen, und sie kam seiner Bitte nach und erhob sich – sein Blick hatte keine Widerrede geduldet. Als sie sich ein paar Schritte von den beiden entfernte, erfüllte sie der Stolz einer Mutter – ihre Zwillinge waren prachtvolle erwachsene Männer.

Calyri, die Niray gerade ihre jüngste Schwester abnahm, fragte sich, was Novaya Ranisin wohl erzählte, während er die Arbeit seiner Mutter mit äußerster Vorsicht fortsetzte, denn als sein Mund still stand, begann der Jüngere endlich zu weinen.
 


 

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Tjaja, Karem ist jetzt Häuptling der Kannibalen und Ranisin gewährt uns Einblicke in seinen reizenden Charakter... XD

Licht und Schatten

Einen Mond später
 

Nadeshda wusste nicht mehr, wie viele Flüche sie für Shiran ausgesprochen hatte, ohne sie wirklich ernst zu meinen. Vielleicht hätte sie sie sogar ernst gemeint – und wirksam gemacht – wäre ihre momentane Situation anders gewesen. Weniger anstrengend und schmerzhaft, zum Beispiel.

„Ich werde ihn erwürgen, ich werde seinen Kopf zerschmettern, das schwöre ich, argh!“

Sie keuchte erstickt und ließ ihr angehobenes Haupt wieder zurück auf die Felle sinken.

Die ganze Nacht hatte regelmäßig wiederkehrendes Ziehen in ihrem Unterleib ihr eigentlich schon deutlich gemacht, was sie erwarten würde, am Morgen hatte ein unangenehmer Schwall Wasser, den sie sehr zu ihrem Leidwesen gerade in Mahrrans Zimmer verteilt hatte, ihr dann ihren Verdacht bestätigt. Seitdem bemühte sie sich, das Baby, das scheinbar genau so einen dicken Holzkopf hatte wie sein Vater, endlich aus sich heraus zu pressen, in ständiger Begleitung von Alaji, selbst hochschwanger, und Mabalysca, die es bisher jedoch noch nicht wirklich geschafft hatte, sich nützlich zu machen. Die Heilerin im übrigen auch nur bedingt, was sollte sie auch tun, wenn das Kind einfach nicht kommen wollte? Inzwischen war es später Nachmittag und die kleine Frau verließ allmählich die Kraft.

„Sei tapfer, du hast es bald.“, hörte sie ihre beste Freundin behutsam auf sie einreden, während ihr entblößter Intimbereich von ihr fachmännisch begutachtet wurde. Mabalysca fiepste kurz auf; sie war mindestens so tapfer wie sie selbst, dachte sich Nadeshda, der es leid tat, dass sie ihr vermutlich seit Stunden jeden einzelnen Knochen in ihrer Hand brach – aber irgendwo dran musste sie es doch auslassen!

„Jaja, das sagst du so!“, schnaubte die kleine Frau schließlich, wieder an Alaji gerichtet, die jetzt jedoch erstaunlich ernst drein blickte.

„Nein, wirklich, gib dir noch einmal Mühe, dann hast du es.“

„Oh Himmel sei Dank!“, bekundete Mabalysca den Tränen nah und biss erwartend die Zähne zusammen, als eine erneute Wehe ihre Schwester überkam und diese ihren Schmerz in gewohnter Manier weitergeben musste.

Alaji atmete einmal tief ein und beugte sich dann dank ihres eigenen Bauches etwas schwerfällig nach vorn, um nach etwas zu greifen – dem Kopf des Kindes.

Dann ging es ganz schnell. Nadeshda bemerkte mehr beiläufig, wie sie daran zog, deutlicher war dann ein kurzes Gefühl der Erleichterung, als das Baby endlich geboren war. Weder, wie die Heilerin das Kleine von ihr trennte, noch die Nachgeburt bemerkte die Frau wirklich, als sie für einen kurzen Moment von Erschöpfung gepackt in einen Dämmerzustand fiel.

Das nächste, was sie mitbekam, war die Stimme von Mabalysca, die sie zu wecken versuchte. Sanft rüttelte sie an ihrer Schulter, bis Nadeshda schließlich schwerfällig wieder ihre Augen öffnete. Ihre Schwester strahlte.

„So wach doch auf!“, verlangte sie mit einer Fröhlichkeit, die sie seit Monden nicht mehr gezeigt hatte, „Du hast es geschafft, dein Baby ist da, sieh es dir an, halte es!“

Sieh es dir an, halte es.

Die Ältere verengte ihre Augen minimal. Nein, sie wollte kein Kind. Und sie würde auch kein Kind groß ziehen und dabei bei dem Volk noch mehr in Ungnaden fallen als ohnehin schon, vor allen Dingen, wenn es von Shiran war.

Also erwiderte sie Mabalyscas Frohsinn in keinster Weise.

„Du hattest klare Anweisungen bezüglich des Kindes, Alaji.“, sagte sie mit erstaunlich fester Stimme in den Raum, selbst die Zimmerdecke anstarrend. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie dennoch ihre erbleichende Schwester und die Heilerin, die näher kam.

„Stimmt etwas nicht mit dem Baby?!“, wollte die frisch gebackene Tante unterdessen beunruhigt wissen und Nadeshda drehte nun doch den Kopf zu ihrer besten Freundin, die dem Neugeborenen scheinbar routiniert mit dem Finger in den Hals fuhr und schließlich etwas Schleim heraus beförderte. Ohne zu antworten wischte sie ihn an einem Tuch ab, dann schlug sie dem Kind auf den nackten Hintern und grinste zufrieden, als es zu schreien begann.

„Na also, du kannst es ja doch.“

„Aww!“

Mabalysca klatschte entzückt in die Hände und Nadeshda erschauderte. Kurz klebte ihr Blick an dem Säugling; sie sah ihn nur von hinten, ein winziges nacktes, zitterndes Wesen, an dessen Kopf nass ein paar violette Haare klebten. Sie schnaubte und sah weg, als sich Alaji zu ihr an ihr Lager setzte.

„Nimm den Schreihals weg und entsorge ihn, ich bin müde!“

Sie bemerkte den zerknirschten Blick ihrer Schwester, die sich darauf kurz umsah, dann die blutigen Tücher aufhob und mit ihnen aus dem Raum verschwand. Irgendwie wäre es ihr lieber gewesen, sie wäre geblieben...

„Das ist ein gesundes kleines Mädchen.“, erklärte die Heilerin da ungefragt, „Ich tue, was du sagst, aber erst hältst du sie einen Moment.“

Es war keine Frage, nicht einmal eine Bitte oder Aufforderung, sondern eine selbstverständliche Feststellung. Nadeshda zischte und sah sie an, gekonnt das Kind ignorierend, und sie zischte. Was maßte sie sich an?!

„Ich bin deine Herrin und du tust, was ich dir...“

Tat sie nicht. Sie verstummte, als Alaji ihr den Säugling einfach mit einem siegessicheren Lächeln in die Arme legte – und sie ihn beinahe aus Reflex einfach hielt. In ihren Armen verstummte das Baby. Es öffnete seine Augen, die darauf im selben Orange leuchteten wie die seiner Mutter, und sah ihr in ihr Gesicht. Ein Moment verharrte es so, dann gab es glucksende Laute von sich und begann wieder zu zittern. Natürlich, es war nackt und gerade erst aus dem wärmenden Mutterleib gerissen worden...

Einen Augenblick lang ihre komplette Situation vergessend zog Nadeshda die Decke etwas höher, sodass sie den kleinen Körper bedeckte. Es war so ein hübsches Kind... und nur ihres. Sie war seine Mutter...
 

Nein. Sie durfte sich ihr Leben nicht ruinieren lassen!

Shiran hatte davon gewusst, von ihren weiblichen Instinkten, aber wenn er gedacht hatte, sie würde sich jenen unterwerfen, dann hatte er sich gewaltig geirrt. Mit verhärteter Miene hielt sie das kleine Mädchen wieder der Heilerin entgegen, die es verblüfft annahm – scheinbar hatte auch sie gedacht, ihre Herrin sei im Bezug auf ihr Kind gebrochen. Das war ein Irrtum... sie war bloß etwas angerissen.

Als sie sprach, hatte sie den Blick abgewandt. Das kleine Mädchen begann wieder zu jammern.

„Na schön, sie soll leben. Aber nicht bei mir. Bring sie da hin, wo du sie gut aufgehoben siehst.“

„Aber... bist du wirklich sicher?“

Ihre Stimme klang zittrig, als sie sich noch einmal vergewisserte, das Kind aber in weiser Erwartung bereits in eines der wertvollen, seltenen Felle wickelte, die Nadeshdas Lager inne hatte – immerhin das konnte sie ihrer Tochter geben.

„Alaji, tu das, was ich dir sage!“

Sie zuckte unter der scharfen Stimme zusammen, dann nickte sie schweren Herzens und schritt langsam aus dem Raum.

Dabei war sie sich so sicher gewesen...

Die Heilerin war bereits an der Außentür angelangt, als ihre Herrin ihr noch etwas nachrief.

„Ihr Name ist Nocasi!“
 

Der Abend dämmerte bereits. Im Dorf war es relativ still; die Zeiten waren schlecht und ein leichter Nieselregen fiel auf die Welt hinab. Alaji blickte seufzend in die Wolken, das Neugeborene sanft an sich pressend. Sie hätte schwören können, noch vor kurzem sei der Himmel vollkommen klar gewesen... das passte aber besser zu ihrer Stimmung.

Im Gehen schielte sie kurz in das kleine, vom unzufriedenen Jammern verzogene Gesicht. Nocasi war so niedlich... kerngesund, gut gewachsen, ein besseres Baby konnte man sich nicht wünschen, es war beneidenswert. Wie hatte Nadeshda ihr Kind bloß freiwillig weg geben können? Immerhin hatte sie nicht mehr seinen Tod verlangt, das sprach für sie, aber die Heilerin konnte es sich nicht im Entferntesten vorstellen, ihr Kleines freiwillig irgendjemandem fremdes in die Hände zu geben.

Immerhin wusste sie, wo sie hin wollte – als Heilerin half sie natürlich vielen Frauen bei der Geburt ihrer Kinder und hatte daher immer die meiste Ahnung davon, in welchem Haus es Frauen mit Babys – und genügend Milch – gab, denen sie eventuell die kleine Nocasi anvertrauen konnte. Es waren gute Leute...

Als sie in die nächste Gasse einbog, begann das Kind wieder aus ganzem Herzen zu schreien. Alaji hielt seufzend inne...

„Ja, meine Kleine, ich verstehe dich ja! Psst, alles wird gut... es ist kalt und nass und eklig, ich weiß, du Ärmste...“

Sie versuchte, das Kind zu beruhigen, indem sie es etwas wiegte, aber ihr eigener Bauch war ihr dabei im Weg – und irgendwie hatte sie auch keine Nerven dafür, sie fand diese ganze Situation einfach zu grauenhaft, um irgendeinen klaren Gedanken fassen zu können.
 

Von dem Weinen des Säuglings scheinbar verwirrt öffnete sich just in dem Moment, in dem sie die Unzufriedenheit des Mädchens schweren Herzens hatte ignorieren und weiter gehen wollen, die Tür zu einem kleinen, aber hübschen Haus, vor dem sie gerade gestanden hatte. Alaji erkannte den Mann sofort, als Kind hatte er in derselben Gasse gelebt wie sie und sie hatte seine Nähe gesucht, weil er ein so überaus hübscher Junge gewesen war und sie ihn als Mädchen nun einmal interessant gefunden hatte. Allerdings hatte sie das schnell wieder aufgegeben – nicht, dass er nicht nett gewesen wäre, bloß nicht interessiert und zu intelligent für ihr kindliches Spiel. Als er sie nur anstarrte und nichts sagte, errötete sie etwas.

„Ich... kann nichts dazu sagen.“, murmelte sie dann, bloß, um der unangenehmen Situation zu entfliehen – sie hatte doch nicht einfach weiter gehen können. Nocasi jammerte weiter.

Sein Blick wanderte ungewöhnlich langsam von Alajis Gesicht zu dem Neugeborenen, wo er auch eine Weile verharrte – dann sprach er endlich.

„Dieses... Fell. Es... ist schlecht.“, er drehte sich schwankend um und verschwand in seinem Haus, „Komm.“
 

Die Heilerin kam nicht dazu, sich großartig darüber Gedanken zu machen, weshalb seine Art zu sprechen auffällig schwerfällig war, als sie das kleine Haus betrat, war es ihr schnell klar. Sie hüstelte, aus Nocasis Schreien wurde ein Jammern, vermutlich, weil es nun wenigstens nicht mehr auf sie regnete.

„Chigaru, was hast du hier geraucht?!“

Er antwortete nicht sofort, sondern wühlte gemütlich in seinem Lager herum, zog verschiedene Tücher und Felle hervor, begutachtete sie gründlich und legte sie wieder bei Seite, weil irgendetwas mit ihnen nicht stimmte. Die Frau schüttelte den Kopf.

„Und vor allen Dingen... wie viel?“

Das Baby leicht vor sich hin wiegend sah sie sich etwas um – das war zwar nicht höflich, aber ihr seltsamer Gastgeber würde es vermutlich ohnehin nicht bemerken.

Es gab alles, was man gebrauchen konnte in schönster Ausführung. Ein vermutlich extrem gemütliches Lager, das er gerade sorgfältig auseinander nahm, eine gut gebaute Feuerstelle, eine Vorratsgrube, sogar einen Tisch und einen Stuhl, die er sich wahrscheinlich selbst gebaut hatte, denn mit Holz war er begabt – damit arbeitete er auch beruflich.

Beinahe erschrocken fuhr sie zu ihm herum, als er ihr nach einer Ewigkeit doch noch antwortete.

„Kräuter aus... Zerits Garten. In speziell getrocknete Blätter gedreht... auch von Zerit. Seit Ewigkeiten schon. Diese... ganze... dämliche... Aufmerksamkeit, sie... macht mich krank.“, er hob das Fell, das er begutachtet hatte, beinahe triumphierend hoch, auch wenn sein glasiger Blick aus den schmalen Augen nicht unbedingt von Stolz sprach.

„Mein bestes Fell... ich... nehme an, es ist das... das Kind der Herrin?“

Sie nahm das in der Tat ausgezeichnet verarbeitete Fell entgegen, befreite das jammernde Baby von dem nassen und kuschelte es rasch in das neue, trockene. Dabei seufzte sie.

„Ich kann nicht darüber reden.“

Er grinste kurz.

„Natürlich... natürlich ist es das. Man... sieht es doch.“

Mit zitternder Hand strich er dem kleinen Mädchen über den Kopf, dann fuhr er sich selbst durch sein Gesicht.

„Verzeihung, dass ich so... komisch bin. Ich hoffe... ich konnte irgendwie helfen... und habe mich da-damit nicht schon... wieder in irgendeine... komische Situation gebracht.“

Er drehte dich um und taumelte zu seinem Lager, das er achtlos wieder zusammenwarf und sich dann selbst darauf fallen ließ.

„Soll bloß keiner... irgendwie auf die Idee kommen, dass... dass ich auch Kinder hüten könnte... oder so.“

Sie schüttelte matt lächelnd den Kopf. Natürlich wusste sie von der Verantwortung, die man ihm mit einem Mal auferlegt hatte, bloß weil er im falschen Moment am falschen Ort die falschen Worte gesprochen hatte. Ihr war klar, dass ihm das nicht gefiel... und es tat ihr leid, dass es ihn so mitnahm. So verbeugte sie sich leicht, soweit es möglich war.

„Sei unbesorgt. Vielen Dank für deine Hilfe.“

Damit verabschiedete sie sich und brachte das Baby endgültig zu seiner vermeintlich neuen Familie.
 

„Dann hat sie das Kind tatsächlich weg gegeben? Bewundernswert, meine Schwester – auch wenn sie einst prophezeit hat, sie würde Shirans Tochter das Leben nicht gewähren, aber wäre sie dazu imstande gewesen, hätte ich auch ernsthaft an ihr gezweifelt.“

Mahrran saß auf seinem Lager und bekam gerade von Kili etwas Tee gebracht. Normalerweise war sie es, die bedient wurde, aber angesichts der schweren Krankheit ihres Mannes hatte sie sich was das betraf sehr kooperativ gezeigt.

Tatsächlich hatte er es irgendwie geschafft, zu überleben. Es hatte wirklich lange gedauert, bis er wieder einigermaßen stabil gewesen war und auch heute schaffte er nur wenige Schritte, ohne von einer zähen Erschöpfung niedergestreckt zu werden. Es gefiel ihm nicht, so viel Zeit zu vergeuden – besser war da schon, dass seine Schwester nun ihre Belastung los war und bald wieder die Politik würde regeln können; dieser Chigaru missfiel ihm immer mehr.

Er nahm den Tee von Kili an, ihr dankend, und sie setzte sich an seine Seite, als Mabalysca, die auf einem Schemel neben seinem Lager saß, unglücklich seufzte.

„Ich finde das schrecklich. Es ist so ein hübsches Baby gewesen, mit ganz dicken Bäckchen, ein ganz pummeliges, gut geratenes, da wären viele Frauen neidisch geworden.“

Sie im übrigen auch, mangels Kajira – wie sah der gleich noch einmal aus? – würde sie niemals ein Kind haben können. Ach Kajira...

„Du musst das verstehen.“, bat ihr Bruder sie da, einen Arm um seine ihrerseits ebenfalls hochschwangere Frau legend, „Nadeshda ist sehr wichtig für das Dorf, besonders in dieser Zeit. Sie darf nicht noch mehr vor dem Volk in Ungnaden fallen als ohnehin schon – sie hat sehr lobenswert gehandelt. Auch wenn ich selbst kein Problem mit meiner Nichte gehabt hätte, im übrigen.“

Er lächelte müde und strich seiner kleinen Schwester kurz über den Kopf.

„Wie geht es ihr denn?“

Mabalysca war zu unzufrieden mit der ganzen Situation, als dass sie zu ihm hätte aufsehen können.

„Ich habe ihr eben beim Waschen geholfen. Jetzt schläft sie.“
 

Sie schlief nicht. Die ganze Nacht nicht.

Alaji war nicht zurückgekommen, vielleicht hatte sie ausnahmsweise einmal wieder zuhause übernachtet, um ihr etwas Ruhe zu gönnen, an sich war es der jungen Frau jedoch auch gleich.

Ihrem eigenen leisen Atem lauschend lag sie auf dem Rücken und starrte in die Finsternis. Ihr Unterleib schmerzte... bedächtig, etwas zitternd, legte sie ihre Hand auf ihren Bauch. Er war etwas geschwollen... und sowieso nicht mehr so flach wie zuvor, denn in den vorangegangenen Monden hatte sie es tatsächlich geschafft, etwas zuzunehmen, aber er war leer. Nichts regte sich mehr... sie war wieder allein.

Sie erschauderte unter dieser Gewissheit, ohne sich weiter zu rühren. Ihre Brüste schmerzten auch... laut Alaji war das Bisschen, das die Götter ihr gegeben hatten, tatsächlich ganz wunderbar darin, gute Milch zu produzieren, mit der man auch locker zwei Kinder satt bekommen hätte.

Aber sie hatte überhaupt keines.

Zischend fuhr sie sich mit den Händen durch ihr Gesicht und schalt sich eine Närrin. Sie hatte alles richtig gemacht... sie sollte zufrieden sein. Sie brauchte keine Kinder, sie hatte nie welche gebraucht – und sie war ja wohl wirklich mehr als gnädig mit Shirans Balg gewesen!

Sie dachte an jenen stürmischen Tag, als er sie in jener Höhle geschwängert hatte... Nocasi war ein Wunder. Nicht nur, weil der Seher mit nur sehr begrenzt vorhandener Potenz gestraft war, dass sie schwanger geworden war, war wahrlich beinahe noch unwahrscheinlicher gewesen als sein Erfolg.

Ewige Jahre lang war sie davon überzeugt gewesen, unfruchtbar zu sein. Sie hatte keine Blutung bekommen, wie andere Frauen sie drei Mal im Mond bekamen – was ihren Eltern im übrigen egal gewesen war; mit genügend Willen war laut ihnen alles möglich gewesen. Eigentlich hatte Nadeshda sich niemals darüber gewundert, sie war es gewohnt gewesen, immer nur halb da zu sein, sie war nun einmal eine Missgeburt gewesen, auch wenn es sie schon sehr gestört hatte, als Mabalysca kurz nach ihrem zwölften Jahrestag geblutet hatte. Zu ihrer großen Überraschung war es bei ihr dann einen Mond später plötzlich doch noch dazu gekommen, aber es war nur so wenig gewesen und in den folgenden Mondzyklen so selten, dass sie auch in der Zeit danach nicht damit gerechnet hatte, eine ganze Frau zu sein – Nocasi hatte ihr das Gegenteil bewiesen. Sie war eine Frau, sie konnte Leben empfangen und austragen, sie konnte es gebären und ernähren... konnte.

Schwer atmend schloss sie die Augen und lernte unmittelbar darauf, dass das ein Fehler gewesen war, als die Götter ihr sofort die Bilder vom vergangenen Nachmittag zeigten... das kleine Köpfchen mit dem lichten, violetten Haar, der kleine, nackte Körper, der sich zitternd an sie geschmiegt hatte... weil sie seine Mutter war. Nur sie war Nocasis Mama.

Mama.

Sie setzte sich auf, den Schmerz ignorierend und die Hände vor das Gesicht schlagend.

Das Dorf, sie musste sich um das Dorf kümmern. Sie hatte alles richtig gemacht. Man würde ihren Schritt respektieren und bald würde sie die Macht zurück haben und ihr Volk in die letzte Schlacht führen, die unweigerlich in ihrem Sieg enden würde. Alles würde gut werden.

Das sagte ihr Verstand, aber ihr Herz, das sich ersterem sonst immerzu loyal gezeigt hatte, widersprach. Und die Götter schwiegen, als sie nachgab und zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren heftig zu weinen begann.

„Ich will mein Baby haben!“, jammerte sie in die Dunkelheit, ohne davon auszugehen, dass ihr jemand antworten würde, geschweige denn, dass ihr jemand den Wunsch erfüllte, „Ich will es zurück haben, ich... kann nicht ohne es leben, ich will es wieder haben, verdammt...“

Sie schluchzte heftig.

„Warum tut ihr mir das an?“
 

„Was tust du da? Du musst dich doch noch ausruhen!“

„Mabalysca hat völlig recht, was immer du vorhast, ich halte es nicht für gut...“

Mahrran und seine jüngste Schwester warfen sich einen irritierten Blick zu. Es war noch früh am Morgen, Mabalysca war noch im Nachtkleid und er hatte sich ebenfalls gerade erst aus seinem Lager gequält, damit er es nicht verlernte, wenigstens ein wenig mobil zu sein, bis die Götter ihm endlich wieder seinen Atem zurück gegeben hatten – er hoffte inständig, dass das bald der Fall war, er hatte es satt, so schwach zu sein.

Nadeshda schnaubte nur und band sich etwas schwerfällig ihre Sandalen, auf der Bank im Kochzimmer sitzend, wo Rayada nur kopfschüttelnd neben ihr saß, sich aber nicht wagte, sich einzumischen.

„Ich möchte bloß etwas an die frische Luft.“

„Aber dann nimm doch jemanden mit, du hast doch gestern erst entbunden, du solltest eigentlich noch in deinem Lager liegen... du wirkst völlig übernächtigt, Nadi.“

Und absolut schwächlich obendrein. Sie konnte sich kaum bücken, um ihr Schuhwerk richtig anzuziehen, vermutlich wegen der Schmerzen (als Mann wusste er das nicht so genau) und wie sie in ihr Kleid gekommen war, war ihm auch ein Rätsel, wenn man auf ihre zitternden Hände achtete. Ihr Gesicht war fahl und ihre Augen dunkel unterlaufen; sie wirkte absolut ungesund. Er hoffte bloß, dass Alaji bald zurück kam und sich um sie kümmerte...

Eigentlich hatte er sich ja von ihr lösen wollen, seiner älteren Schwester, aber mittlerweile hatte er genügend Distanz zu der ganzen Sache, dass er das als nicht mehr nötig ansah. Eigentlich war er schon seit Jahren sehr selbstständig, ohne, dass sie etwas davon wusste... es war belanglos, sie war seine Zwillingsschwester und sie war seiner Meinung, dass es an der Zeit war, ihren Streit beizulegen und zusammen zu arbeiten, denn darin waren sie geübt und gut. Er sorgte sich ehrlich um sie...

„Das bin ich auch.“, gab sie dann zu und erhob sich wankend und mit zitternden Knien, „Ich möchte frische Luft. Und ich möchte allein sein.“

Mit diesen Worten schritt sie langsam aus dem Kochzimmer und schließlich aus dem Haus. Einen Moment dachte Mahrran daran, ihr Rayada nachzuschicken, doch das hätte sie zweifelsohne bemerkt und vermutlich ein böses Ende genommen. So bat er die Götter bloß stumm, ihre Tochter zu beschützen.
 

Vor dem Haus begegnete ihr Alaji, die sie vollkommen entsetzt anstarrte, als Nadeshda ihr entgegen kam.

„Was... um Himmels Willen, bei allen Göttern, was machst du da?! Du bist doch noch völlig erschöpft, leg dich in dein Lager, verdammt!“

Sie wirkte tatsächlich etwas erbost... vermutlich hatte sie auch recht damit – wie mit so vielem. Aber sie hatte doch etwas zu erledigen... und sie spürte, dass ihre Götter ihr beistanden dabei.

„Ich möchte mir nur kurz die Beine vertreten.“, versuchte sie so, ihre beste Freundin abzuwimmeln und ging einfach weiter. Die Heilerin schnaubte empört und hielt sie am Oberarm fest.

„Nun ist aber gut, Beine vertreten, doch nicht ein paar Stunden, nachdem du ein Baby auf die Welt gebracht hast, bei einer derart anstrengenden Geburt! Du wirst zusammenbrechen, du bist völlig erschöpft, das schafft dein Körper nicht – tu dir das doch nicht an.“

Nadeshda riss sich los und ging ohne sich noch einmal umzusehen weiter bergab. Ja, sie wusste, dass sie recht hatte, aber es ging nicht anders...

„Mache dir keine Sorgen... das brauchst du wirklich nicht. Und wage nicht, mir zu folgen.“
 

Sie merkte selbst, dass sie schwach war. Ihr Bauch schmerzte noch immer und ihre Beine trugen sie kaum, doch sie beachtete es nicht, sondern konzentrierte sich vollkommen auf ihre Instinkte, die sie mit sicheren Schritten durch das Dorf führten – zumindest sicher im Bezug auf die Richtung, in die sie ging.

Es war ein schöner, klarer Morgen; die Sonne erhob sich gerade erst aus ihrem Lager im weiten Ozean und kaum jemand begegnete ihr; und wenn doch, dann grüßte er sie höflich und sie erwiderte es mit einem Nicken, die verblüfften, neugierigen Blicke, die darauf folgten, ignorierend.

Dass sie sich schlecht dabei fühlte lag letztendlich weniger an ihrem physischen als an ihrem psychischen Befinden, denn sie hatte das Gefühl, bewusst einen großen Fehler zu begehen. Ihr Verstand sträubte sich mit aller Macht gegen das, was ihr Geist ihr sagte, was sie tun musste und das tat ihr weh und machte sie mehr und mehr schwindelig, je länger sie ging und je mehr sie darüber nachdachte – vielleicht war es doch die Schwäche.

Seufzend lehnte sie sich gegen eine Hauswand und zuckte zusammen, als sich die Tür neben ihr öffnete und sie ein nur all zu bekanntes Gesicht mit hochgezogenen Brauen ansah.

„Die Götter lenken mich zielstrebig in Schwierigkeiten.“, war dann Chigaru Tamassys Begrüßung und sie schnaubte, nicht wissend, dass er am Abend zuvor bereits Alaji zu Hilfe gekommen war. Er wirkte ebenfalls etwas ermüdet und zitterte genau so wie sie, als sie sich einen Moment lang stumm ansahen.

Dieser Mann war sehr intelligent, auch wenn sie es nur ungern zugab. Und er regelte die Politik gut – wenn auch nicht mehr lang, sie würde ihre Macht zurück gewinnen; er hatte sie ja nicht einmal haben wollen, wenn ihre Götter sie da richtig unterrichtet hatten. Wie auch immer, dafür hatte sie nun keinen Kopf... sie zuckte heftig zusammen, als er ihr eine seiner zitternden Hände auf die Schulter legte.

„Ihr sucht Euer Kind... es ist bei der Mutter von Zerits Frau. Ich bringe euch hin, Herrin. Falls ihr erlaubt.“

Es war ihr zuwider, zu nicken, aber sie tat es dennoch, und als sie es wagte, ihm in sein Gesicht zu sehen, errötete sie. Sie würde sie ihm heimzahlen, seine unterschwellige Demütigung...
 

Mittels Teleport stand sie einen Augenblick später gemeinsam mit dem seltsamen Mann aus dem Dorf vor dem kleinen Haus, in dem sich ihre Tochter Nocasi nun befand. Sie erschauderte – sollte sie wirklich hinein gehen? Deprimiert erinnerte sie sich an ihre Verzweiflung der vergangenen Nacht... sie war so schwach. Sie warf ihr Leben fort für ein Kind, das ausgerechnet Shiran ihr untergejubelt hatte... und das als Tankana. Aber sie konnte nicht anders... wenn sie ihr Baby nicht zurück bekam, hätte es sie wahnsinnig gemacht.

Chigaru kramte unterdessen eine seltsame Zigarette aus einer in seine Hose eingenähte Tasche und zündete sie sich mittels Feuermagie an.

„Ich warte hier. Ich... habe heute nicht viel zu tun.“

Vermutlich meinte er damit, dass er sie auch wieder zurückbrachte... sie nickte, dann überwand sie sich und trat einfach ein – ohne zu klopfen, sie war die Herrin und zumindest etwas Würde wollte sie sich bewahren.

Das Haus hatte zwei Räume. Im vorderen traf sie auf den rothaarigen Mann, Zerits Schwiegervater, wenn man so wollte, der sie erschrocken anstarrte und sich dann hastig vor ihr verneigte, nicht mehr tragend als seine Unterwäsche, denn es war noch immer früh am Morgen. Sie seufzte.
 

Rayada dachte sich, sie hätte ihrer Herrin doch folgen sollen, denn alle Wut, die sie daraufhin auf sie gehabt hätte, wäre nicht so ätzend gewesen wie die Person, mit der sie nun sprechen musste. Das verdiente sie doch nicht – als sie auf ein Klopfen hin die Tür geöffnet hatte, hatte sie der Natter gegenübergestanden, die sie nun falsch anlächelte, die Hände über ihrem runden Bauch gefaltet.

„Wie schön, dich zu sehen.“, zwitscherte sie fröhlich und Rayada hob nur missmutig eine Braue und überlegte sich, dass sie das selbst mit noch so viel gutem Willen nicht ernst meinen konnte, denn in ihrer Kindheit hatte sie sie jedes Mal verprügelt, wenn sie ihr begegnet war. Sie konnte solche falschen Schlangen nicht ausstehen...

„Guten Morgen, Iavenya.“, erwiderte sie dennoch gezwungen neutral und fragte sich einen kurzen Moment, ob es in diesem Dorf wohl nur eine einzige Person gab, die es ihr ernsthaft übel nehmen würde, wenn sie sie einfach wie gehabt weiter verprügelte in jenem Moment – dann dachte sie an das unschuldige Kind unter ihrem Herzen und unterließ es; wobei diese Frau das Arme ohnehin verziehen würde.

„Ich wollte unseren Herrn Mahrran besuchen.“, erklärte die Natter unterdessen noch immer gut gelaunt und Rayada lehnte sich gegen den Türrahmen und musterte sie kurz, ehe sie sich zu einem kalten Lächeln herabließ.

„Ich nahm an, im Dorf wüsste man von seiner schweren Krankheit.“, war ihre Antwort und sie hoffte, dass das reichte, um das miese Stück wieder zu vertreiben, was auch immer es nun wirklich dazu veranlasst hatte, den anstrengenden Weg in seinem Zustand auf sich zu nehmen.

Iavenya, die scheinbar langsam auch genug von ihrer aufgesetzten guten Miene hatte, biss sich kurz auf die Unterlippe, dann blinzelte sie auffällig und lächelte weiter, den Blick etwas abwendend.

„Ich nahm an, in diesem Hause genest man gut. Ich meine... hier geht es einem doch allgemein gut, nicht? Sieh dich an...“

Rayada zog bloß abermals eine Braue hoch. Und aus diesem Grund verabscheute sie diese Frau. Sie war immer schon so gewesen, auf eine in fröhliche Worte gepackte, aber unglaublich direkte gemeine Art einfach bösartig. Die Haushälterin selbst war die meiste Zeit ihres Lebens etwas mollig gewesen, auch ohne viel zu essen, und das war der giftigen Zunge der Natter ein gefundenes Fressen gewesen... sie hatte sich ihre Abreibung immerzu verdient, oh ja. Aber dass ihr nach all den Jahren nichts neues einfiel, sprach für sich...

„Deine Kreativität lässt zu wünschen übrig, Iavenya. Ja, ich lebe hier sehr, sehr gut und wenn man es mir noch so sehr ansieht, sei es drum, ich würde um nichts auf der Welt tauschen wollen – und ich glaube, das weißt du auch. Bist du neidisch auf mich?“

Sie grinste. Wenn sie etwas über die Natter wusste, außer, dass sie einen extrem widerlichen Charakter hatte, dann, dass sie auch eine sehr begabte Magierin war und dass sie vermutlich wirklich genau wusste, dass ihr Gegenüber nicht log. Das zog dann scheinbar wirklich und die Schwangerer verdrehte die Augen und seufzte einmal tief.

„Hör mal.“, begann sie da scheinbar vernünftig, „Es geht dich zwar nichts an, aber da du mich sonst anscheinend nicht vorbei lässt... Die Götter sprachen davon, dass der Herr langsam damit beginnt, sich Gedanken über den nächsten Angriff zu machen. Mir ist allerdings leider ein Fehler bei einer meiner Karten unterlaufen und das würde seine Planung möglicherweise stark beeinflussen, also bin ich gekommen, um ihn darüber aufzuklären, damit die nächste Schlacht auch die letzte Schlacht wird – mit dem Sieg auf unserer Seite.“
 

Alaji verkniff sich jeglichen Kommentar, dennoch fühlte sie sich wie eine Siegerin. Und Mabalysca, die schweigend neben ihr saß und ihrem Blick folgte, ging es vermutlich ähnlich – Nadeshda war tatsächlich über ihren Schatten gesprungen und hatte sich ihr Kind zurückgeholt.

Es musste ihr sehr unangenehm sein – zudem warf es ihre ganze sorgfältige Planung über das zukünftige Vorgehen über den Haufen. Nicht nur, dass sie als alleinerziehende Mutter die Missgunst ihres Volkes auf sich ziehen konnte, mit einem Säugling war sie auch gewissermaßen angebunden; sie hatte Verpflichtungen, die es irgendwie mit den Verpflichtungen gegenüber dem Dorf zu kombinieren galt. Die Heilerin verstand ihre Motive, weshalb ihre beste Freundin sich zunächst des Kindes hatte entledigen wollen und sie schwor sich, ihr beizustehen, wo sie nur konnte. Es würde mit Sicherheit nicht leicht werden.

„Mache ich das so richtig?“, erkundigte Nadeshda sich da gedämpft, mit leicht geröteten Wangen ihre Tochter anblickend, die sie gerade zum ersten Mal in ihrem Leben stillte. Sie saßen einfach in ihrem Zimmer und schwiegen und jeder dachte sich seines... und die junge Mutter wollte alles richtig machen.

„Ja, genau so. Wenn du sie das nächste Mal fütterst, denke daran, die Brust zu wechseln. Immer abwechselnd, ganz wichtig.“

Alaji lächelte und Mabalysca tat es ihr gleich. Nadeshda nickte. Dann seufzte sie.

„Dieses Mädchen...“, begann sie dann beinahe vorsichtig; scheinbar schämte sie sich ihrer Schwäche tatsächlich, „Es sieht aus wie Shiran. Ist ja fürchterlich.“

Ihre Schwester kicherte darauf und sah zu ihr auf; während die Herrin es sich auf ihrem Lager bequem gemacht hatte, saß Alaji auf dem Schemel und Mabalysca einfach daneben am Boden; damit hatte sie trotz ihres Nachnamens keinerlei Probleme.

„Aber trotz allem ist Shiran doch ein schöner Mann, freu dich doch!“

„Schon...“, erwiderte die Ältere, ohne den Blick von dem friedlichen kleinen Gesicht ihrer Tochter zu heben, „Aber am Ende bekommt sie sein Gebiss...“

Daraufhin lachte auch die Heilerin und Nadeshda sah schnaubend auf.

„Ich finde das jetzt gar nicht mal so lustig.“
 

Am späteren Nachmittag hatten sich die beiden Besucherinnen auf ins Dorf gemacht, um etwas Kleidung für das kleine Mädchen zu besorgen. Die junge Mutter war ihnen dankbar – nicht nur für ihre Hilfe, sondern auch für die Ruhe, die sie ihr so gönnten.

Sie hatte es tatsächlich getan... Nocasi zu sich zurück genommen, sich dazu bereit erklärt, für das Kind zu sorgen, ihm eine Mutter zu sein. Und einmal ganz davon abgesehen, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wie es nun in nächster Zeit vorzugehen galt, ärgerte sie sich extrem darüber, dass der Seher weit entfernt nun vermutlich über sie lachte. Ja... er hatte gewonnen. Zumindest halb, geheiratet hatten sie offensichtlich nicht.

Aber sie hatte seine Tochter... und verdammt, sie liebte sie über alles, so sehr, dass es beinahe schmerzte. Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie mit Sicherheit, dass es Liebe war, was sie für dieses kleine Wesen empfand – es war ein ganz besonderer Zauber.

Irgendwann jedoch war das kleine Mädchen müde geworden und sie hatte es in seinen geflochtenen Korb gelegt, wo es in Ruhe schlafen konnte. Sie selbst war leisen Schrittes ins Kochzimmer gegangen, wo sie dann Kili und Rayada vorfand – würde Nocasi erwachen, würde sie sie hören. Nadeshda trieb die Neugierde, denn wie ihre Götter ihr verrieten, hatte ihr Bruder schon eine ganze Weile wichtigen Besuch; von wem und weshalb erschloss sich ihr jedoch nicht. Vielleicht wusste die Haushälterin ja etwas.

Sie stapelte gerade überraschend schlecht gelaunt Feuerholz, als ihre Herrin den Raum betrat. Die Menschenfrau ihrerseits saß mit einer Schale Tee auf der Sitzbank und ihre Miene sprach ebenfalls nicht von Begeisterung – Nadeshda fühlte sich in dem schlechten Gefühl, das ihre Götter ihr sandten, bestätigt.

„Wer ist da bei Mahrran?“

Sie hatte keine Lust, lange um den heißen Brei herum zu reden, und Rayada erhob sich schnaubend.

„Die Natter hat sich die Ehre gegeben. Warum, wissen nur die Aasgeier in der Savanne.“

Es wunderte sie nicht ernsthaft, dass die Haushälterin nicht sonderlich gut auf die zwielichtige Frau aus dem Dorf zu sprechen war; das war eigentlich niemand, höchstens Shiran, aber der war auch seltsam. Kili erschauderte.

„Slechte... Frau... ist das. Mag nicht... soll... wieder weg.“

Wenn selbst die es bemerkte... Nadeshda schüttelte seufzend den Kopf. Ihr Bruder würde sie schon noch darüber unterrichten. So griff sie nach einer Kanne und einer Schale und goss sich ebenfalls Tee ein...
 

Nocasi weinte. Nein, sie schrie. Sie schrie anders als am Tag zuvor, als sie geboren worden war und auch anders, als sie geschrien hatte, als sie vor kurzem in ihre Windeln gemacht hatte. Sie war ein Säugling, noch ganz klein, und dennoch überkam ihre Mutter das Gefühl, dass in ihrer doch eigentlich so zarten Stimme Panik mitschwang – und diese griff innerhalb eines Atemzuges so stark auf sie über, dass sie die Teeschale auf der Stelle auf dem Boden zerschellen ließ und in ihr Zimmer hastete.

Und sie wusste, weshalb ihre Götter warnend zischten, als sie ihr Baby in den Armen einer Person wieder fand, die ganz sicherlich nicht dazu privilegiert war, das Kind zu halten.

„Was tust du da?!“, fuhr sie Iavenya an, die sie fröhlich anlächelte, dabei die kleine Nocasi haltend. Unterdessen öffnete sich die Eingangstür des Hauses und aus der Küche hörte man laute Stimmen und dann aufgeregtes Geschrei; Nadeshda registrierte es nur am Rande.

„Es hat begonnen.“

Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht der Natter und ihre Stimme wurde so eisig, dass die Kleinere eine Gänsehaut überkam und ihre zittrigen Knie sie unschön an die Strapazen des vergangenen Tages zu erinnern begannen.

„Wovon... wovon redest du?!“, die Götter zischten unangenehm in ihrem Kopf, tausende Stimmen, die sie versuchten, wahnsinnig zu machen, als sie die Arme nach ihrer Tochter ausstreckte, „Gib mir mein Baby zurück!“

Iavenya legte bloß ihren Kopf leicht schief, ihr Gegenüber aus den schmalen, gelben Augen eine Weile musternd. Dann lächelte sie.

„Wie klein und armselig du bist, Nadeshda... und dir gehört das Erbe? Dass ich nicht lache. Das verdienst du nicht. Genau so wenig wie ein Kind von Shiran...“

Die Kleinere hob zitternd die Brauen. Erbe? Etwas sagte ihr, dass sie ihren Stand als Tankana ansprach – aber was wunderte sie sich darüber, es war doch ihr recht!

„Als... Tochter meiner abscheulichen Eltern steht mir die Herrschaft über das Dorf zu... mir und Mahrran. Was zweifelst du daran, Natter?!“

Ihr Gegenüber lachte kalt, das panisch schreiende Kind nur weiter an sich drückend.

„Ich zweifle nicht daran, dass du eine Erbin dieser Familie bist. Ich zweifle nur daran, dass du eine geeignete Erbin bist... du bist so klein und schwach, Nadi. Ich habe dir einiges voraus, im übrigen sogar ein männliches Kind.“

„Und warum bildest du dir ein, das würde dir irgendetwas nützen?!“, fauchte die Kleinere darauf empört und hätte sie am liebsten mit etwas Himmelsmagie zerstückelt – wenn ihr geschwächter Körper ihr denn gehorcht hätte. Sie war noch zu schwach... und die Götter sprachen unheilvoll, als die empörten Stimmen aus dem Kochzimmer verhallt waren.

Iavenya seufzte theatralisch.

„Sieh mich an. Sieh mich genau an... ich habe volles Haar, nicht wahr? Wie du. Ich habe eine leider ziemlich garstige Stimme... wie du. Sieh dir meine Augen an... sind es nicht deine?“, sie ließ einen Schwall Lichtmagie in einer ihrer Hände erscheinen, während sie den Säugling noch immer in der anderen hielt, „Ich bin größer und gesünder als du... weil unser Vater und meine Mutter nicht verwandt waren. Mein Glück. Und mein Anspruch auf mein Erbe... das du mir stiehlst, bloß weil du den... netteren Nachnamen hast, Nadeshda!“

Sie grinste sie verzerrt an, als sie die tödliche Magie langsam immer näher an das Köpfchen des vollkommen panischen Babys führte und dessen Mutter sie kurz nur entgeistert anstarrte.

„... was?!“

Dann ging alles ganz schnell. Was auch immer ihr die Götter in ihrer Vergangenheit vorenthalten haben mochten, nun war es belanglos; wichtig war Nocasi. Ihre eigene Schwäche ignorierend preschte sie nach vorn und ließ kurzzeitig einen gefährlichen Wasserwirbel zwischen ihren Handflächen entstehen; nur einen Moment, dann stolperte sie und ließ die Magie erlöschen, weil jemand sie an ihren zusammengebundenen Haaren gepackt hatte. Als sie sich kurz umsah, erblickte sie Irlak... diesen wahnsinnigen Menschenfresser. Panisch rappelte sie sich wieder auf und versuchte sich zu befreien, doch der Mann lachte nur und die Natter schenkte ihm in ihrem eigenen offensichtlichen Wahnsinn ein abstrus liebevolles Lächeln, als sie den mächtigen Lichtzauber unmittelbar vor dem winzigen Gesicht des kleinen Mädchens konzentriert hatte.

Nein. Meine Tochter gebe ich dir nicht. Genau so wenig wie meine Macht... Schwester.

In manchen Situationen galt es, Prioritäten zu setzen, besonders als Dorfoberhaupt. Nadeshda registrierte nicht wirklich, wie sie einen ihrer Arme hob und mit einem gezielten Schlag Wassermagie ihr langes Haar beinahe direkt an ihrem Kopf abtrennte, ebenso wenig, dass Iavenya aus irgendwelchen Gründen davor zögerte, das kleine Mädchen zu töten. Es war ihr Augenblick... da ihre Kraft für eine Dematerialisierung nicht ausreichte, überwand sie die Entfernung mit ihren wackeligen Beinen – und niemals zuvor hatten ihre schlechten Knie sie so schnell von einem Ort zum anderen befördert. Ohne weiter darüber nachzudenken, ob sie sich selbst womöglich an dem gleißenden Zauber ihrer Kontrahentin verletzen konnte, riss sie ihr ihre Tochter aus den Armen und schleuderte sie mit einem Schwall Wasser auf ihr eigenes Lager, wo sie schreiend landete. Irlak, der etwas dümmlich mit Nadeshdas Haaren in der Hand im Raum herum stand, starrte entsetzt zu seiner Frau, die sich sofort darauf empört wieder aufrappelte – und unter dem Blick ihrer Halbschwester zusammenzuckte.

„Ermesse meine Macht nicht an diesem elendigen kleinen Körper, den das Schicksal mir geschenkt hat, Iavenya, ich bin und bleibe eine Göttin des Wassermondes und glaube mir, ich werde deine Seele zerfetzen, wenn du nicht auf der Stelle verschwindest. Wage es niemals wieder, meine Tochter auch nur anzusehen.“

Nadeshdas Augen leuchteten unnatürlich und ein jedes Kind des Wassermondes – einschließlich Iavenya und auch Irlak – waren in diesem Augenblick gezwungen, sich ihrem Willen zu beugen. Die schwarzhaarige Frau erhob sich dank ihres Umstandes mühsam von dem Lager und schritt langsam an die Seite ihres Mannes, der nun endlich die einstige Haarpracht seiner Herrin zu Boden gleiten ließ.

„Für den Moment bist du uns los.“, stellte die Natter dann mit eisiger Miene klar, „Aber denke nicht, dass das so bleibt. Irgendwann bekomme ich dich, Schwester... und ich gestehe an dieser Stelle, dass ich mich wissentlich über die Götter meines Geburtsmondes stelle.“

Dann drehte sie sich um und ging, Irlak folgte ihr, einen verunsicherten Blick zurück werfend.
 

Nocasi verstummte, als ihre Mutter zusammenbrach, es nur mühsam schaffte, am Boden sitzen zu bleiben und nicht gänzlich ihr Bewusstsein zu verlieren. Draußen erklangen bekannte Stimmen.
 

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Hey, hier fängt die Story an XD

Entrissen

Es war ein milder Abend in der Savanne. Wäre alles so gewesen wie immer, hätte der Schlangenstamm bald sein Winterlager abgebrochen und wäre in Richtung Norden in das Land, in dem er im Frühjahr lebte, gezogen. Aber es war nicht alles so wie immer – der seltsame Seher hatte den vereinigten Stämmen geraten, weiter hier zu rasten, denn die nächste – womöglich entscheidende – Schlacht gegen die Kalenao stand kurz bevor und von dieser Position aus hatten die Krieger einfach eine bessere Möglichkeit, frühzeitig auf die Angreifer zu reagieren. Glücklicherweise schienen ihnen die Götter des aufgegangenen Feuermondes freundlich gesonnen zu sein, denn die Wildbestände im Land um das Winterlager waren noch immer recht passabel und würden die Menschen noch eine Weile ernähren können.

Die Zeiten hatten sich geändert. Obwohl es relativ spät war und am frühen Morgen eine Gruppe Jäger auf Kleintierjagd losziehen würde, waren noch immer vereinzelt Stimmen in dem riesigen Lager zu vernehmen, vor einigen Hütten brannten auch noch Feuer oder Rauch stieg aus den Abzügen, falls die Feuerstelle im Inneren war.

Teco lächelte matt. Bald würde etwas geschehen, das sagten ihm seine Instinkte. Seine Instinkte als Jäger... seufzend rieb er über seinen schmerzenden, entstellten Unterschenkel, während er vor seiner Familienhütte saß und in die Nacht starrte. Die Zeit, in der er selbst ein gefeierter Jäger gewesen war, schien so unendlich weit entfernt... und er so alt. Der Feuermond war aufgegangen, ungefähr zu dieser Zeit vor nunmehr sechzehn Jahren hatte seine Mutter ihn geboren. Sechzehn Jahre waren in Anbetracht dessen, dass die meisten Stammesmitglieder beinahe vierzig Mondzyklen erlebten, keine besonders lange Zeit, er war noch jung. Angenommen, er würde tatsächlich vierzig Feuermonde sehen... was sollte er denn bitte so lange machen? Der Gedanke daran, sein ganzes, scheinbar noch unendlich langes Leben so verbringen zu müssen wie die letzten Monde machte den jungen Mann beinahe krank. Es war so entwürdigend... er war ein erwachsener Mann, aber gänzlich auf die Großzügigkeit seines Vaters angewiesen. Ohne Porit wäre er verloren gewesen... und das nagte sehr an ihm, zumal ersterer kein besonders angesehener Jäger war.

Er hatte relativ gute Augen, aber auch sein Gehör sagte ihm, dass es zufällig sein Vater war, der in jenem Moment aus der Hütte gekrochen kam und sich neben ihn setzte.

„Was machst du denn zu dieser Zeit noch hier draußen?“, wollte der Mann in seiner gewohnt ruhigen, freundlichen Tonlage von ihm wissen und Teco seufzte hörbar. Er wäre auch gerne so ruhig gewesen... aber sich so sehr zurückzuhalten lag ihm überhaupt nicht, Tinash konnte das besser.

„Ich denke nach.“, entgegnete er dann, „Über alles mögliche, in der Hoffnung, einen Einfall zu haben, der so intelligent ist, dass er uns alle mit einem Schlag vor allem retten kann... zu mehr tauge ich ja nicht mehr.“

Porit schwieg zunächst eine Weile, dann legte er dem Jüngeren einen Arm um die Schulter. Teco rümpfte darüber kurz die Nase; eigentlich mochte er das nicht, aber er konnte ihn unmöglich entehren, wenn er es offensichtlich nur gut mit ihm meinte. Er war ja nicht Moconi... wenn er daran dachte, wie respektlos der mit seinem Vater umgegangen war, wurde ihm beinahe schlecht.

„Gib die Hoffnung nicht auf.“, sprach der Ältere da plötzlich, „Vielleicht entscheiden sich die Götter dazu, dein Bein doch noch irgendwann heilen zu lassen... manchmal gehen sie wirklich seltsame Wege, sieh dir Semliya an.“

Das war wohl wahr, die Unzerstörbarkeit des Zwillings machte tatsächlich etwas Mut und er musste kurz grinsen.

„Diese Hoffnung... ist das einzige, was mir noch geblieben ist. Sag mir, was soll ich tun, Vater?“

Abermals antwortete Porit nicht sofort, sondern wandte seinem Sohn stattdessen sein Gesicht zu und schenkte ihm einen, so vermutete Teco zumindest, etwas seltsamen Blick.

„Es... ehrt mich zutiefst, dass du mich das gerade gefragt hast. Ich meine... wir wissen beide, dass du keine all zu hohe Meinung von mir hast.“

Er drehte sein Haupt wieder fort uns starrte stattdessen nach vorn, in die Dunkelheit.

„Seit es dich gibt versuche ich einer Rolle gerecht zu werden, der ich nicht gewachsen bin... ich bin kein großer Mann.“

Verblüfft von der sehr eigensinnigen Antwort seines Vaters hob Teco eine Braue. Porit klang bedauernd.

„Aber du bist ein ganz... außergewöhnlich tolles Exemplar von einem Sohn, wenn ich das so sagen darf. Ich war dir nie gewachsen... es ist mir immer schwer gefallen, dich meinen Sohn zu nennen. In vielerlei Sichtweise. Wie dem auch sei...“

Er suchte wieder den Blickkontakt zu dem Jüngeren, der darauf von dem irgendwie gequälten Ausdruck des anderen überrascht wurde.

„Ich kann dir nicht sagen, was du am besten tun sollst. Ich glaube, selbst dieser seltsame Shiran wird das nicht können... ich rate dir nur, nicht aufzugeben. Warte geduldig und wenn dir das etwas hilft, dann versuche dich als Stratege, wie jetzt zum Beispiel – wir können ohnehin unmöglich die komplette Planung diesen beiden Himmelsblütern aus dem Kojotenstamm überlassen, das gefällt mir nicht.“

Teco rümpfte die Nase. Ja... das konnte er verstehen. Ihm wollte das auch nicht so recht gefallen... er erinnerte sich zurück an jenen Abend vor gut einem Mond, als der Kojotenstamm bei ihnen angekommen war.
 

„Mein Sohn Kurapi ist bekannt.“, hatte Kewera gesagt, während er im Mittelpunkt gestanden hatte und alle Blicke auf ihm gelegen hatten, „Die Zwillinge... haben sich ebenfalls dezent vorgestellt. Bleibt noch meine Tochter Araifa...“

Er deutete auf eine junge Frau, die sich daraufhin erhob. Viel von ihr erkennen konnte man nicht, die Bemalungen hatte ihr wahres Antlitz versteckt, dennoch war sie wohl eine recht begehrenswerte Frau mit vollem, schwarzen Haar, das unüblich lang war, ähnlich dem von Ardoma.

„Sie sucht übrigens noch einen Mann...“

Moconi hatte errötend den Blick abgewandt, als der andere Häuptling ihn extrem offensichtlich – und irgendwie auch auffordernd – angesehen hatte. Araifa selbst hatte Tecos Cousin einen zwar interessierten, aber nicht unbedingt überwältigten Blick geschenkt und als ihr Vater das bemerkt hatte, hatte er bloß seufzend die Augen verdreht.

„Dann nicht. Sie sollte aufhören, mit anderen Mädchen zu spielen, das dumme Wasserhuhn...“

Die Menge hatte auf seine Worte gelacht, Kurapi gehüstelt und Araifa selbst bloß ihr Haar zurück geworfen.

„Irgendetwas muss ich doch tun, bis mir ein wirklich... anständiger Mann begegnet.“

Selbstbewusste Frauen waren selten und so war zunächst ein Raunen, abermals gefolgt von Lachen durch die Reihen gegangen. Moconi, nun doch etwas offener, hatte geschnaubt.

„Was ist an mir nicht anständig?!“

Ehe Araifa etwas hätte entgegnen können, war ihr ihr Bruder ins Wort gefahren.

„An dir... ist so einiges unanständig, schwarze Feder, oh ja.“

Bevor das Ganze noch mehr hatte ausschweifen können – und um den brummenden und nun endgültig erröteten Moconi zu erretten – hatte sich dann der grinsende Kewera wieder eingeschaltet.

„So schön das Ganze nun auch sein mag, wir haben ja auch unsere Gründe für unseren Besuch...“, hatte er klar gestellt, dann kurz unauffällig in die Reihen seiner Stammesmitglieder geschielt und als sich zwei Gestalten erhoben hatten und nun neben in getreten waren, sprach er etwas ernster weiter, „Das sind Tejet und Glawis. Sie sind wertvoll, denn sie verstehen die Kalenao besser als alle anderen – ohne selbst welche zu sein oder auf sonst irgendeine Weise in direktem Kontakt mit ihnen zu stehen.“

Jener Tejet hatte sich als ein Mann mittleren Alters herausgestellt, etwas größer als Kurapi, mit kurzem schwarzen Haar und obsidianfarbenen Augen, absolut unscheinbar. Die Tatsache, dass er der Frau namens Glawis ganz unauffällig einen Arm um die Hüfte gelegt hatte, hatte nahegelegt, dass sie wohl zusammen gehörten – seine Gefährtin hatte ihr rotbraunes Haar in einem Zopf getragen, hatte ebenso dunkle Augen wie er gehabt und musste auch dasselbe Alter teilen, zumindest soweit man es in den schlechten Lichtverhältnissen und unter der seltsamen Bemalung einzuschätzen vermocht hatte.

Shiran, der bisher geschwiegen gehabt hatte, hatte gegrinst und dabei seine abstrusen Zahnreihen entblößt.

„Oh – Halbmenschen.“

„Wir nennen uns lieber Himmelsblüter, aber du hast es auf den Punkt gebracht, Seher.“, hatte die Frau darauf ruhig, aber reserviert, entgegnet. Ihr Mann hatte die Brauen etwas gesenkt, was seinem Gesicht einen etwas unheimlichen Ausdruck verliehen hatte; im Lager war es still gewesen, einzig das Knacken des großen Feuers hatte man vernehmen können.

Schließlich hatte Kewera sich mit einem Räuspern wieder eingemischt.

„Es würde zu weit führen, zu erklären, warum sie bei uns im Stamm leben – und glaubt mir, sie haben Auflagen.“

„Die wir immer noch erfüllt haben!“, war Tejet ihm da ins Wort gefahren und der Häuptling hatte ernst genickt.

„Sie verstehen so einiges. Und sie... sind intelligent. Intelligenter als wir.“

Darauf war es abermals kurz still gewesen, dann hatte sich Sanan zögernd von seinem Platz erhoben, sodass mit einem Mal alle Blicke auf ihm gelegen hatten. Man hatte ihm sein Unwohlsein angesehen, als er gesprochen hatte.

„Aber... das gilt für Shiran doch auch. Ich denke nicht, dass sie uns viel bringen werden...“

„Übe dich in Dankbarkeit, du Narr!“, war Tejet auch ihm ins Wort gefahren und seine Frau hatte nur leicht die Augen verengt.

„Aber wir... haben eine distanziertere Sichtweise als jemand, der bei den Kalenao aufgewachsen ist und... der Tag und Nacht von tausenden Stimmen in den Wahnsinn getrieben wird.“

Shiran hatte darauf nur gelacht.
 

Teco seufzte. Die Erinnerungen an jenen Abend waren ermüdend...

„Ich werde mein bestes geben, Vater. Wie immer. Versprochen.“

Porit lächelte.

„Ja. So bist du. Nun komm, es ist allmählich wirklich spät...“

Er half ihm dabei, in die Hütte zu klettern. Teco ließ es zu.
 

Sanan hatte einen empfindlichen Schlaf. Er wachte leicht auf – das war zu Beginn mit einer der Gründe gewesen, weshalb es ihm so überhaupt nicht gepasst hatte, dass die Bestie nun bei ihm leben sollte. Prinzipiell hatte sich daran nicht viel geändert; er hatte Shiran lieb gewonnen, aber wenn er sich zu viel bewegte, ließ ihn das aufwachen und wenn er einen gänzlich unruhigen Schlaf hatte, tat sein kleiner Bruder kein Auge zu. Er beschwerte sich nicht darüber... Shiran war ein Seher. Mit ihm war es anders als mit anderen Magiern, die Götter sprachen unentwegt auf ihn ein, zeigten ihm Bilder und sagten ihm Dinge, die er vielleicht gar nicht so genau hatte wissen wollen – Sanan wusste selbst, dass es einen beinahe verrückt machen konnte, dabei war er nur ein mittelmäßiger Erdmagier. Immerhin war er sich darüber nun endlich im klaren, eigentlich war diese Gewissheit ein Segen, überlegte er sich, während er wach in seinem Lager lag und sein Bruder sich auf der anderen Seite der Hütte hin und her wälzte. Er hatte immer gedacht, er sei vollkommen verrückt... das war eine schlechte Sache gewesen, sein Leben lang.

„Ach... es tut mir leid...“

Er zuckte etwas zusammen, ehe er sich in Richtung seines Bruders drehte, der scheinbar aufgewacht war. Er wusste, dass er ihn am schlafen hinderte... leider erkannte er ihn nicht in der Dunkelheit, dennoch lächelte er ihn kurz an.

„Ist schon in Ordnung. Du kannst nichts dafür.“

Er meinte es ernst... die Tatsache, dass Shiran beinahe allwissend war, hatte sowohl positive, als auch negative Seiten. Man konnte ihm nichts verheimlichen, das war ärgerlich, aber man musste auch nie befürchten, falsch verstanden zu werden und das sparte mitunter lästige Diskussionen.

Der Ältere bewegte sich irgendwie, es war nicht erkennbar, und seufzte dann.

„Es hat sich gewendet.“, sprach er dann zusammenhangslos, „Ich... habe dir erzählt, dass ich alles versuchen werden, um an die Macht über mein Volk zu gelangen und weshalb, nicht wahr? Ich... bin allerdings nicht allein. Es gibt noch jemanden, der... der Annahme ist, am besten für dieses wahrhaft wichtige Amt geeignet zu sein und ich muss gestehen, die Motive sind so verständlich wie nachvollziehbar. Allerdings... wird diese neue Situation im Dorf für uns hier bereits in wenigen Tagen alles ändern...“

Sanan hob alarmiert die Brauen. Er verstand nicht wirklich, wovon sein Bruder sprach, aber zumindest seine Tonlage klang nicht unbedingt positiv. Tonlage... sie sprachen sehr ähnlich, war ihm aufgefallen.

„Und... was wollen wir dagegen tun?“, wagte er, sich zu erkundigen und hörte den anderen darauf leise lachen. Es war kein fröhliches Lachen... es klang angespannt.

„Nichts. Wir müssen, nein, werden damit leben. Wenn es nur das wäre...“

Darauf schwieg er und nach einer Weile hörte der Jüngere, wie er sich auf seinem Lager wohl wieder umdrehte, um weiter zu schlafen. Er rümpfte die Nase – halbe Sätze mochte er nicht.

„Was ist denn noch?“

„Nichts, was für euch von Bedeutung wäre.“, war die knappe, ermüdete Antwort und Sanan setzte sich in seinem Lager auf. Das vielleicht nicht...

Keine halben Sachen, wenn du wirklich mein Bruder sein willst.

„Vielleicht nicht für uns, aber für dich. Erzähl es mir.“

Ihm war aufgefallen, dass er selbst dem Älteren bereits so einiges anvertraut hatte, umgekehrt aber nur selten etwas von ihm kam. Shiran gab ihm eine gewisse Sicherheit, die er mochte und er wollte, dass es umgekehrt genau so war – das nicht zu schaffen machte ihn auf seltsame Art und Weise unglücklich.

Zu seiner Erleichterung gab sich sein Bruder dann doch geschlagen, allerdings ohne sich umzudrehen oder gar, wenn auch vergebens, seinen Blick zu suchen.

„Ich bin Vater geworden. Im Augenblick ist das aber nicht nur für euch bedeutungslos, sondern auch für mich, denn mein Kind ist weit entfernt in der Heimat – es ist dennoch ein komischer Gedanke.“

Das hatte Sanan nicht erwartet. Ein Baby? Er hob verblüfft beide Brauen.

„Du... hast eine Frau? Das wusste ich gar nicht...“

Hatte er ihm nicht vor kurzem noch hinter vorgehaltener Hand erklärt, dass er sein besonderes Problem besser kannte als er selbst, da er es teilte? Das besondere Problem in Sachen Fortpflanzung...

„Ich habe keine Frau.“, erwiderte der Ältere da neutral, „Das Kind ist ein Überbleibsel eines gescheiterten Versuches, an Macht zu gelangen. Ich wollte die Herrin zwingen, meine Frau zu werden und mir so ihren Posten zu übertragen... daraus wurde nichts. Jetzt habe ich mit diesem kleinen Biest eine Tochter.“

Er drehte sich doch noch einmal um und gähnte zunächst ausgiebig.

„Gesundes Mädchen, ein kräftiges Kind. Wünschenswert. Schade, dass sie ausgerechnet unsere Tochter geworden ist, sie hätte etwas besseres verdient... ich sorge mich etwas. Ach... was rede ich? Wir sollten schlafen.“
 

Tinash wusste, wann es galt, aufzustehen, wenn man auf Kleintierjagd wollte. Und da er das wollte, setzte er sich pünktlich zum ersten Sonnenstrahl in seinem Lager auf und gähnte ausgiebig. Die Sonne schien bereits durch einen Spalt in dem Fell, das den Eingang verdeckte, obwohl sie kaum aufgegangen war – ein gutes Zeichen, das Wetter würde an diesem Tag prächtig werden. Und prächtiges Wetter machte dem jungen Mann gute Laune.

Lächelnd blickte er neben sich. Lauy war nun seine Frau... bereits eine ganze Weile. Zu Beginn war es sehr seltsam für ihn gewesen, er hatte nichts mit ihr anzufangen gewusst und vor allen Dingen hatte er sie nicht einschätzen können, denn auch wenn sie nicht so zurückgeblieben war, wie sie jahrelang vorgetäuscht gehabt hatte, so war sie dennoch etwas seltsamen Gemütes. Doch dann hatte er sie überraschend schnell schätzen gelernt, ihre von dürftigem Erfolg gekrönten Bemühungen, eine gute Frau zu sein, ihre in den seltsamsten Situationen vollkommen ruhige und in noch seltsameren Situationen absolut hysterische Art und ihre Bedürfnisse, die er seinerseits zu befriedigen hatte. Zu seiner absoluten Erleichterung war sie von jeglicher sexuellen Hinwendung vollkommen abgeneigt – er hatte sie irgendwann einmal danach gefragt und aus irgendwelchen Gründen schien für sie der Gedanke, sich überhaupt mit irgendwem das Lager zu teilen, absolut unangenehm zu sein; auch Moconi hatte auf seine Nachfrage hin berichtet, dass sie sich wohl sehr unwohl gefühlt haben musste, als er sie zur Frau gemacht hatte. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie sich keine Zuneigung von ihrem Mann wünschte, im Gegenteil, sie war furchtbar anhänglich und beteuerte, nur in seinen Armen einschlafen zu können – und er hielt sie gern im Arm dabei. Er liebte sie so sehr, wie er eine Frau nur lieben konnte und auf eine ganz und gar ungeahnte Art und Weise machte es ihn glücklich, so mit ihr zusammen zu leben.

Nun lag sie da friedlich schlafend neben ihm und es tat ihm leid, dass er sie gleich wecken musste – obgleich es an sich nicht nötig gewesen wäre, er kam wunderbar klar, aber sie bestand nun einmal darauf.

„So früh wache ich leider nicht auf.“, hatte sie ihm einmal bedauernd erklärt, „Aber ich möchte doch immer für dich da sein! Ich möchte dir eine gute Frau sein! Also wecke mich bitte...“

Und da er nicht wollte, dass sie sich nutzlos fühlte oder dachte, sie sei ihm eine schlechte Frau – dazu neigte sie nämlich sehr zu seinem Leidwesen sehr – hatte er sie bisher auch immer noch geweckt und sie hatte sich auch noch immer ohne Murren direkt nach dem Aufstehen an die oft in jenem Moment etwas überflüssige Arbeit gemacht. Sie war so bemüht... und so niedlich.

Lächelnd strich er durch ihr rötliches Haar und sie seufzte leise. Sie schlief so absolut friedlich... er wollte sie nicht wecken. Wirklich nicht. Er würde ihr einfach erzählen, er hätte es vergessen, genau, sie war ihm ohnehin nie sonderlich lang böse.

So beugte er sich zu ihr und küsste sie vorsichtig auf die Stirn, ehe er sich leise erhob und die Hütte verließ.
 

„Wir müssen aufstehen.“

„Ach... nein.“

Moconi verdrehte die Augen. Er hatte Besuch von Kurapi – nicht, dass er damit ein Problem gehabt hätte, aber mitunter war der Häuptlingssohn aus dem fremden Stamm etwas anstrengend. Zum Beispiel hatte er eine teilweise ziemlich abweichende Arbeitshaltung... was daran liegen mochte, dass er seine Prioritäten doch sehr differenziert zu setzen vermochte. Das war auch nicht unbedingt negativ, Kurapi war tüchtig und half wo er nur konnte – und er war als Jäger absolut begnadet – aber seit sie sich zum zweiten Mal getroffen hatten, legte er mitunter ein etwas irritierendes Verhalten an den Tag.

So auch jetzt, als er sich etwas murrend dennoch erhob und sich dann doch plötzlich bester Laune anzuziehen begann.

„Bist du hungrig? Ich kann was machen. Ja... ich kann nicht kochen und das Essen von eurem Stamm ist eh besser als das, was ich so kenne, aber... ich kann was machen. Soll ich?“

Der Häuptling erhob sich ebenfalls und seufzte. Genau das war es, was er meinte.

„Nein, lass, so früh möchte ich meist nichts besonderes essen. Außerdem bist du nicht meine Frau.“

Sein Gast schenkte ihm einen merkwürdigen Blick, als er sich seine scheinbar relativ neue Kette mit der auffälligen schwarzen Feder wieder umband.

„Nein, das nicht. War ja nur eine Frage.“

Und etwas missmutig verließ er die Hütte. Moconi verdrehte abermals die Augen.

„Er ist das älteste Kind des Häuptlings.“, hatte Araifa ihm vor kurzem erklärt, „Er kennt jede Tradition und achtet sie auch und er ist ein fabelhafter Jäger, aber er kann auch ganz schön schwierig werden. Sei ihm nicht böse, er bewundert dich zutiefst, du bist sein Vorbild.“

Vorbild... warum ausgerechnet er? An sich konnte er es sich ja denken, überlegte er sich, während er dem Jüngeren aus der Hütte zu dem kleinen Bachlauf in der Nähe folgte, um sich etwas zu reinigen. Kurapi sah sich dem Amt des Häuptlings genau so wenig gewachsen wie er selbst; dass er es dennoch – mehr schlecht als recht – bewältigte, schien ihm irgendwie zu imponieren. Vielleicht hätte er ihm einmal erklären sollen, dass er selbst doch ein Idiot war und dass er sich keine so großen Gedanken um die Zukunft machen sollte; noch erfreute sich Kewera schließlich bester Gesundheit.

Als er bei dem wenig Jüngeren angekommen war, war ihm allerdings bereits wieder eingefallen, wo dabei das Problem lag – er hatte ihm bereits gefühlte tausend Mal gesagt, dass er ein denkbar schlechtes Vorbild war. Irgendwie ließ er sich nicht abschütteln... nicht, dass Moconi das gewollt hätte, er war gern mit Kurapi zusammen, aber mitunter hatte er das Gefühl, umgekehrt sei Kurapi etwas zu gern mit ihm zusammen und das beunruhigte ihn ein wenig.

Er hätte alle Missverständnisse der Welt mit einem Mal klären können, wenn er Calyri endlich an sein Feuer genommen hätte. Aber es gab noch immer Teco – nicht, dass er sich etwas anderes gewünscht hätte – und sein Gewissen ließ vehement nicht zu, dass er sich der Frau seines Herzens ohne schlechtes Gefühl näherte.

Es war ein seltsamer Gedanke, kam ihm beim Waschen, während Kurapi es ihm unweit von ihm entfernt schweigend gleich tat, dabei aber nicht beleidigt oder dergleichen wirkte; vor wenigen Jahren war Calyri seine allerliebste Spielgefährtin gewesen und er hatte damals schon davon geträumt, sie an sein Feuer zu nehmen – damit sie für immer und ewig miteinander weiter spielen konnten. Als Kind hatte er sich nämlich nicht vorstellen können, dass man mit den Jahren die Lust, zu spielen, verlor. In einigen Bereichen tat man das ja auch nicht...

Er errötete unwillkürlich und war froh, als Kurapi ihn aus seinen Gedanken riss, als er zu sprechen begann.

„Ich hoffe, es wird eine erfolgreiche Jagd. Der Kalenao-Junge, also, Sanan, hat gesagt, eine große Herde an Huftieren wird kommen, aber bis dahin würden noch einige Tage vergehen, also muss das, was wir heute erlegen, noch eine ganze Weile ausreichen. Jagd auf große Tiere ist besser, ich mag das lieber. Außerdem... ist alles in Ordnung?“

Der Jüngere hob verblüfft beide Brauen, als er von dem Wasser auf- und dem anderen ins Gesicht sah.

„Du bist ja ganz rot...“, dann grinste er, „Denkst du etwas... unangebrachtes?“

Moconi verzog empört den Mund und wandte den Blick ab, sich seinem besonders scharfen Knochenmesser widmend, dass er sich mitgebracht hatte, um seine Körperbehaarung zu entfernen.

„Nichts, was dich etwas anginge, Kurapi.“, entgegnete er möglichst neutral in dem Versuch, als Häuptling etwas Würde zu bewahren; es war etwas seltsam mit seinem Bewunderer aus dem anderen Stamm, er hatte etwas an sich, was nicht ganz menschlich war, einen siebten Sinn, der ihm nicht nur verriet, mit welcher Rasse intelligentem Leben er es gerade zu tun hatte, sondern seinem Gegenüber, so kam es dem Häuptling zumindest hin und wieder vor, etwas in den Kopf schauen konnte. Zumindest hatte er eine unglaublich gute Menschenkenntnis.

Kurapi seinerseits schenkte ihm einen seltsamen Blick und kurz fragte er sich, ob er ihm wohl zu unfreundlich geantwortet hatte, da wandte der Jüngere sich bereits ab und begann, sein schwarzes Haar zu waschen. Das war etwas eigentümlich; es war ihm bereits bei einigen Mitgliedern des Kojotenstammes aufgefallen, dass ihr Haar nach einiger Zeit seltsam klebrig wurde, wenn sie es sich nicht zwischendurch wuschen – aus seinem eigenen Stamm kannte er das nicht. Kurapis Haar fühlte sich aber auch insgesamt anders an als seines, es war ganz weich, eigentlich schöner zu berühren als das, was ihm da so auf dem Kopf wucherte, denn das war hart und konnte, wenn man nicht hinsah, gut und gern mit vertrocknetem Gras verwechselt werden. Eine faszinierende Sache.

Er zuckte kurz zusammen, als ihm etwas Wasser in die Augen spritzte, weil Kurapi seinen nassen Kopf so schüttelte, wie es manchmal Hunde mit ihrem ganzen, fellbedeckten Körper tatet, wenn sie sich einmal dazu entschlossen hatten, irgendwo zu baden. Nicht, dass Moconi viel mit Hunden zu tun gehabt hätte, aber er hatte es schon das ein oder andere Mal beobachten können.

Aus Richtung des Lagers erklangen Stimmen.

„Ah, die anderen kommen auch, um sich zu reinigen.“, schlussfolgerte der Häuptling darauf und der andere sprang über den schmalen Bachlauf hinweg zu seinem Gastgeber und umarmte ihn kurz. Der Häuptling hüstelte verblüfft, als Kurapi ihn grinsend wieder los ließ.

„Entspanne dich mal.“, riet der Jüngere ihm darauf aus dem Kontext gerissen und erhob sich.
 

Die Jagd verlief erfolgreich. Die Jäger beider Stämme ergänzten sich gut, obwohl sie unterschiedliche Vorgehensweisen hatten und sowohl Kewera, als auch Moconi waren stolz auf das Ergebnis, das sie nun gemeinsam erzielt hatten. Es war nicht die erste gemeinsame Jagd gewesen, aber die bislang größte. Und nicht nur das.

„Wie fühlt es sich an, nach so langer Zeit wieder einen Speer in der einen und Beute in der anderen Hand zu halten?“

Der Häuptling des Kojotenstammes legte Semliya grinsend eine Hand auf die Schulter, als sie gerade das heimische Lager wieder erreicht hatten.

Nach Ranisins Angriff auf ihn war er wieder klaren Sinnes gewesen, dennoch war es ihm eine ganze Weile danach noch sehr schlecht gegangen. Umso mehr erfreuten sich alle daran, dass der mittlerweile dreizehnjährige langsam wieder zu alter Blüte gelangte. Auch wenn er auf seltsame Art und Weise etwas fremd wirkte mit einem Mal – vermutlich lag es an seinen längeren Haaren, die seinen hässlichen Hinterkopf verstecken sollten oder überhaupt an der Tatsache, ihn nach so langer Zeit endlich wieder aktiv zu sehen, redete Sanan sich ein, während er unweit hinter den Zwillingen und Kewera her ging. Letzterer hatte sich einen absoluten Narren an Dheracs ältesten Söhnen gefressen, er beschäftigte sich ständig mit ihnen. Und Semliya tat das mit seinem alt bekannten Hauch von aufgesetztem Lächeln ab und ließ es geschehen, antwortete, wenn man ihn fragte und sprach von sich selbst aus, wenn er es für sinnvoll hielt und von dem, was er sagte, ging eine so unglaubliche Ruhe und Intelligenz aus, dass der junge Mann es beinahe für unheimlich hielt. Viel unheimlicher war momentan aber Novaya, der im Augenblick viel weniger das gleichgestellte zweite Ich, als einen nutzlosen Schatten seines Zwillings darstellte. Niemand wusste, weshalb das so war und niemand wagte es auszusprechen, denn die Brüder taten nichts, was auf eventuelle Probleme zwischen ihnen hingedeutet hätte, aber aus irgendwelchen Gründen stand Novaya plötzlich hinten an, sprach seltener (obwohl er ursprünglich der gesprächigere Part der beiden gewesen war), ging hinter Semliya her und bediente ihn wie eine Respektsperson. Sanan ärgerte sich etwas darüber, dass auch er nicht mehr wusste als alle anderen, die sich darüber den Kopf zerbrechen mochten, wo sie ihn doch als ihren Bruder bezeichnet hatten.

„Alles ist in Ordnung.“, hatte Novaya geantwortet, als er ihn darauf angesprochen hatte, ohne eine Miene zu verziehen und Semliya hatte seinen grauenhaften, aufgesetzten Hauch von einem Lächeln gezeigt, ohne sich dazu zu äußern. Shiran, der es als Seher wissen musste, hatte bloß kopfschüttelnd geseufzt.

„Misch dich nicht ein.“

Das Ganze war für Sanan ziemlich unbefriedigend, aber ihm blieb keine andere Wahl, als sich dem zu fügen und abzuwarten, was sich daraus wohl entwickelte. Er hielt erschrocken an, als ihm die anderen Zwillinge, die aus dem Kojotenstamm, plötzlich vor die Füße rannten und sich dann weiter nach vorn zu ihrem Vater und Dheracs Söhnen arbeiteten.

„Hast du wieder gejagt?!“, erkundigte sich einer der kleinen Jungen an Semliya gewandt, ignorierend, dass ihr Vater gerade noch am Reden gewesen war. Der Angesprochene schenkte ihnen einen gütigen Blick.

„Wie ihr seht.“

„Uuuuui!“, kam es darauf im Chor und die Kleinen taten das, was sie seit sie da waren und andere Zwillinge getroffen hatten mit jenen sehr oft taten; jeder schnappte sich eine Hand von einem der Älteren und ging so mit ihm weiter; Kewera war der Meinung, es war ein wahrer Segen, wenn Novaya und Semliya Roya und Zima an der Hand führten, denn das wären wohl die wenigen Momente, in denen sie irgendwie zu bändigen waren gewesen.

„Freust du dich auch, Naya?“, wollte der andere Kleine wissen und der Ältere brauchte zunächst einen Augenblick, um zu antworten, bis er aus seinen Gedanken geschreckt war.

„Oh, selbstverständlich.“

Er sah zu dem Jungen herab, der ihm einen mehr als seltsamen Blick schenkte, mit dem er nichts anzufangen wusste. Viel mehr überraschen tat ihn dann aber das, was er sagte.

„Ich hab dich lieb, Novaya, ja?“
 

Tinash rechnete damit, von einer erbosten kleinen Frau, die ihn so lange beschimpfte, bis er sie liebevoll auf den Mund geküsst hatte, empfangen zu werden. Doch was dann geschah war anders als alles, was er sich ausgemalt hatte.

Er hatte sich bereits überlegt, wie er es wieder gut machen konnte, seine Lauy nicht geweckt zu haben. Mehr zufällig hatte er einen Vogel mit wahrlich prächtigem Federkleid erlegt – er würde ihr eröffnen, dass er ihr daraus wunderschönen Schmuck machen würde, denn wenn sie etwas sehr schätzte, dann die Geschenke, die er ihr hin und wieder machte. Und er freute sich über ihre beinahe kindliche Dankbarkeit.

Als seine Hütte in Sichtweite kam und niemand zu sehen war, entschloss er sich, sich anzukündigen.

„Lauy! Ich bin zurück! Tut mir ehrlich leid, dass...“

Er hielt inne, als sich das Fell, das die Öffnung der Hütte nach außen verdeckte, zur Seite schob und jemand anderes, der definitiv nicht Lauy war, zum Vorschein kam.

Tinash erstarrte einen Moment und ein düsteres, eiskaltes Gefühl überkam ihn beim Anblick von Randary, Lauys verhasstem Onkel.

„Was... bei allen Göttern machst du hier?“, er senkte die Brauen, „Was machst du bei meiner Frau? Sie will dich nicht, sieh es ein. Ist Karem auch hier?“

Schließlich war er mit ihm und seiner Familie fort gegangen. Zu seiner Irritation ging er nicht auf seine Worte ein, sondern starrte ihn selbst an, als sei es Tinash, der hier völlig fehl am Platze war. Und als sei Tinash ein böser Windgeist, der im Begriff war, ihm im nächsten Moment die Seele zu rauben. Er war ungewöhnlich blass und wirkte erschöpft, sein schwarzes Haar stand wirr vor seinem Kopf ab; der Jüngere näherte sich ihm und somit auch der Hütte beunruhigt.

„Na, wie auch immer. Lauy?“

Er war im Begriff, sich zum Eingang zu bücken, da schnellte Randary zu ihm herum und packte ihn an der Schulter, zog ihn überraschend brutal zurück und drehte ihn zu sich herum.

„Was hast du gemacht?“

Tinash hob beide Brauen – im Prinzip wäre das die nächste Frage gewesen, die er Ardomas Bruder gestellt gehabt hätte, dass dieser ihm mit selbiger zuvor kam, beunruhigte ihn noch mehr.

„Was soll ich gemacht haben? Ich war auf Jagd, du Trottel. Lass mich los, ich will zu meiner Frau. Zu meiner Frau, klar?!“

Er erwiderte nichts darauf und hielt zitternd inne, als der Jüngere seine Beute achtlos zu Boden warf und nun doch in die Hütte kletterte.
 

Tinash war irritiert. Dass kein Kochfeuer brannte, hatte er bereits von außen bemerkt, aber nicht einmal die Talglampe?

„Lauy?“

Im schwachen Licht sah er sie in ihrem Lager liegen – noch immer. Dass sie von selbst früh nicht aufwachte, war eine Sache, aber am Nachmittag noch immer nicht...?

Mit einem kalten Gefühl im Nacken schlich er zu ihr, ihr sanft durch ihr Haar streichend und die Hand auf ihrer kalten Stirn ablegend. Kalte Stirn. Ihr ganzes Gesicht war kalt. Ihr Körper war kalt. Alles an ihr war kalt. Bis auf ihr Atem.

Denn der war nicht mehr da.

Tinash wusste nicht, wie lange er da saß, seine Hand an ihrem Hals haltend, sich verzweifelt auf auch nur die leiseste Spur von Leben konzentrierend, bis er es aufgab und zitternd kurz in sich zusammen sank.

Was bei allem, was heilig war, war hier geschehen?! Sie lag da wie am Morgen, sie war gesund, nicht einmal eine Erkältung hatte sie. Gehabt.

Der junge Mann schnappte nach Luft, als sich in ihm etwas so schmerzhaft zusammen zog, dass er das Gefühl hatte, es würde zerreißen.

Sie lag da, als schliefe sie. Als er am Morgen aufgestanden war, hatte sie im Sterben gelegen und er hatte es nicht gemerkt.

Vielleicht wäre sie noch am Leben gewesen, wenn er sie denn geweckt gehabt hätte.

Er keuchte heftig, erschauderte und der Schmerz in seinem Inneren wurde einen Moment lang beinahe unerträglich.

Nein! Er hatte nichts falsch gemacht! Er war nicht Schuld! Er liebte sie doch, er hatte ihr doch niemals etwas böses gewollt!

Randary.

Er fuhr mit einem Mal auf, hechtete zum Ausgang und ignorierte den äußerlichen Schmerz, als er sich in seinen unkoordinierten Bewegungen mehrmals anstieß, während er seine Hütte verließ. Ardomas Bruder stand noch genau so da wie zuvor und starrte ihn auch noch genau so geisteskrank an wie zuvor.

Tinash musste nicht lange überlegen, um einen Grund für das Auftauchen des Mannes zu finden. Ohne Vorwarnung ergriff er ihn am Hals und würgte ihn.

„Du mieser, intriganter, kleiner Wurm! Sie wollte dich nicht, also sollte sie keiner haben, was? Ist es nicht so?! NICHT?!“

Randary griff erschrocken nach Tinashs Händen, um sich zu befreien, doch er war kleiner und etwas schmächtiger als der andere und es gelang ihm nicht. Er keuchte.

„Nein! Das... ist nicht wahr! Lass...“

Er hätte ihn erwürgt. Er hätte ihn getötet, wenn nicht auf ein kurzes Aufleuchten hin plötzlich Shiran neben ihm gestanden hätte, der sich trotz seiner selbst neben Randary zierlichen Statur zwischen sie warf und es gemeinsam mit der Gegenwehr seitens Ardomas Bruders tatsächlich schaffte, jenen aus Tinashs wahnsinnigem Griff zu befreien. In nächsten Moment kamen auch bereits mehrere andere Männer angerannt, unter ihnen auch Sanan, der ihnen wohl Bescheid gegeben hatte.

„Er hat meine Frau getötet! Sie ist tot, verdammt, Lauy ist tot! Er hat sie getötet! Ich will ihn dafür töten, lasst mich!“

Porit und Dherac gemeinsam hatten Mühe, den schreienden und wütend um sich schlagenden jungen Mann fest zu halten und selbst als zwei weitere Jäger aus dem Kojotenstamm ihnen zur Hilfe eilten, hatten sie noch Mühe, ihn zu bändigen.

Moconi erbleichte zunächst auf die Worte seines Cousins, dann drehte er den Kopf zu dem keuchenden Randary, der von Shiran freundlicherweise gestützt wurde.

„Ist das wahr?!“, fragte er dann ungeahnt scharf und es kehrte Ruhe ein; Tinash hörte auf, sich zu wehren, zitterte aber dennoch so stark, dass man ihn festhalten musste. Er schenkte dem schwarzhaarigen Mann einen Blick aus der Mischung aus Neugier, Wahnsinn und abgrundtiefem Hass.

„Das ist nicht wahr.“, antwortete Randary da gewohnt leise, aber verständlich, unbeweglich nur Moconi anstarrend, „Ich kam zurück, weil mich die Sitten in Karems neuem Stamm anwiderten, ich... wollte dich bitten, mich wieder aufzunehmen. Aber... als ich ankam, wart ihr auf Jagd und ich dachte mir, ich... ich sehe so lange nach Lauy. Ich... habe sie geliebt. Ich hatte niemals, niemals vor, ihr... etwas böses zu tun.“

„LÜGE!“, kreischte Tinash darauf direkt wieder und begann, weiter zu strampeln und um sich zu schlagen, und noch mehr Männer mussten kommen und zwangen ihn schließlich in die Knie.

Shiran schnaubte.

„Du verurteilst ihn, weil du in Wahrheit denkst, du seist an ihrem Tod Schuld, Tinash, leugne es nicht, denn ich weiß es.“

Alle Blicke lagen auf dem jungen Mann, der seine Wehr abermals eingestellt hatte, und nun auf dem Boden kniend und heftig zitternd, umgeben von einer ganzen Meute anderer Männer, die ihn alle irgendwie festhielten, dem Seher apathisch ins Gesicht starrte.

„Aber... es kann doch nicht sein... ich habe doch nichts falsch gemacht.“, er senkte den Blick und lachte kurz ein gänzlich grausam klingendes Lachen, „Ich dachte... ich täte ihr etwas gutes, wenn... wenn ich sie einmal ausschlafen ließe! Mehr nicht, ich wollte, dass sie sich wohl fühlt...“

Und er begann zu weinen. Randary wandte den Blick ab.

Shiran seufzte.

„Es hätte nichts genützt, sie zu wecken, Tinash. Lauy war krank, das war sie seit ihrer Geburt. Die Götter haben bereits, als sie im Bauch ihrer Mutter war, vorherbestimmt, dass ihr nur wenige Jahre in dieser Welt vergönnt sein werden. Das ist nicht deine Schuld und nicht die von Randary und am wenigsten ihre eigene Schuld. Das ist das Schicksal.“
 


 

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Oh noin, teh Drama XD

Komplizen

Nadeshda konnte sich nicht bewegen. Heftig zitternd drückte sie ihr jammerndes Baby an sich, ohne begreifen zu können, was zuvor geschehen war, was sie da gehört hatte.

Sie war die Halbschwester der Natter... und die wollte an ihr Erbe. Moment, sie war zuvor bei Mahrran gewesen!

Alarmiert erhob sich die junge Frau, schwankend sank sie nach wenigen Schritten jedoch wieder in sich zusammen – sie war nicht stark genug.

„Bei allen Göttern, was ist geschehen?!“, vernahm sie mit einem Mal die Stimme Mabalyscas direkt neben sich; ihre kleine Schwester hockte da, scheinbar ganz plötzlich, und starrte sie völlig verwirrt an, in einem Korb die versprochene Kinderkleidung tragend.

„Alaji ist im Kochzimmer, die haben Rayada und Kili bewusstlos geschlagen, beide haben eine Platzwunde am Kopf! Was war da los? Oh Himmel... was ist mit deinen schönen Haaren?“

Dass Irlak die beiden Frauen aus dem Weg geschafft hatte, wunderte sie nicht ernsthaft, sie hatte damit gerechnet, dennoch fiel es ihr schwer, ihre Gedanken zu sortieren und ihrem Gegenüber zu antworten. Geistesabwesend griff sie in ihren Nacken – und fand nichts. Natürlich nicht, ihre langen Haare lagen wenige Schritte von ihr entfernt... das einzig schöne, was jemals an ihr gewesen war, was sie so viele Jahre lang gehegt und gepflegt hatte. Es war vermutlich das erste Mal in ihrem Leben, in dem Mabalyscas Haar länger war als ihr eigenes. Sie lächelte allmählich bitter.

„Wunderbar, jetzt... sehe ich aus wie ein kleiner Junge.“ Sie seufzte bedauernd, ehe sie den fragenden Blick ihrer Schwester erwiderte. Aus dem Kochzimmer erklangen Geräusche.

„Ich... erkläre es dir später, ja? Halte bitte Nocasi einen Moment...“

Sie übergab ihr ihre kleine Nichte und rappelte sich ein weiteres Mal schwerfällig auf, langsam in den Flur tretend. Mahrran kam ihr in jenem Moment ganz von selbst entgegen und starrte sie mit leerem Blick an, schweigend. Sie erschauderte; etwas stimmte nicht mit ihm.

„Was ist geschehen?“, fragte sie ohne Umschweife und er schnaubte nur, „Die Schlange wollte mein Kind töten. Und sie hat deiner Frau geschadet!“

Jedes Wort war verschwendet an ihn. Nadeshda wusste es bereits, bevor ihre Götter es ihr sagten, und er schob sie unsanft beiseite, seine Schwäche vollkommen ignorierend und das Haus verlassend. Mabalysca, die aus der Türöffnung zu dem Zimmer ihrer älteren Schwester ebenso alles beobachtet hatte wie Alaji, die gerade aus dem Kochzimmer gekommen war, warfen sich einen gleichermaßen völlig konfusen Blick zu. Was war das denn bitte?

„Oh nein.“, kam dann brüchig von Nadeshda und sie stützte sich keuchend an der Wand ab, „Wir sind verloren, wir... werden sterben!“

Sie sah bebend auf und ihre beste Freundin näherte sich ihr alarmiert, um sie zu stützen. Im Prinzip war sie noch immer zu schwach für die ganze Aufregung, aber ihr das nun zu sagen hätte vermutlich nicht sonderlich viel gebracht... wahrscheinlich wäre es auch nur kontraproduktiv gewesen.

„Was meinst du damit?“

Mabalysca stellte sich ebenfalls direkt neben sie. Nadeshda zitterte heftig.

„Mahrran... ist verflucht. Es ist ein Fluch, den nur wir Tankanas beherrschen – und die Natter gehört dazu – aber ich weiß nicht, wo sie ihn erlernt hat. Jedenfalls... beherrscht sie ihn. Sie hat Mahrran in ihrer Gewalt.“

Sie stieß sich sowohl von der Wand, als auch von Alaji ab und begann zitternd, im Flur auf und ab zu gehen.

„Ein Fluch? Wie kommst du darauf? Kannst du ihn nicht brechen?“, wagte die Heilerin zu fragen und die Kleinere schnaubte.

„Indem ich die Natter töte oder mich so sehr in Mahrrans Seele bohre, dass er von selbst darauf kommt, aber unter Umständen dabei auch drauf geht, ja. Dieser Fluch... ist mächtig.“, sie hielt inne und schenkte den beiden einen düsteren Blick, „Mit ihm kann man nicht nur jemanden unter seine Kontrolle bringen, man kann ihn auch... zu Dingen zwingen, die er eigentlich nicht kann.“

Mabalysca keuchte, als ihr die Worte ihrer Schwester bekannt vorkamen, und kuschelte sich beunruhigt an ihre kleine Nichte. Alaji legte verunsichert ihren Kopf schief.

„Wie... wie soll das gehen?“

Nadeshda sah düster zu ihr auf. Ihre orangefarbenen Augen erschienen einen Moment lang ungesund trübe.

„Jeder von uns – selbst die Menschen – hat Zugriff auf die Energie seines Geburtsmondes. Und jeder unserer Körper hat ein gewisses Limit an Macht, die er verkraften kann – das hängt nicht zwingend mit der äußerlichen Statur zusammen – und die Natur hat eine Art... Grenze in jedem von uns angebracht, die den Energiefluss stoppt, wenn er droht, unseren Körpern zu schaden.“, sie schielte kurz zu Mabalysca, die schaudernd den Blick abwandte, „Dieser Fluch unterwirft nicht nur die Seele eines anderen... er hebt auch diese Grenze auf.“

Darauf herrschte kurz Schweigen und die kleine Herrin stützte sich wieder mit einer Hand an den kalten, steinernen Mauer ab. In der Küche vernahm man ein Wimmern seitens Kili.

Alaji schüttelte den Kopf.

„Ich verstehe nicht... was bedeutet das?“

„Ich denke, als Heilerin verstehst du sehr wohl, bloß, was das nun für uns bedeutet, ist dir nicht klar.“, Nadeshda grinste sie bitter an, „ Jene Grenze ist bei uns Götterkindern ohnehin schon weitaus lockerer als bei normalen Kalenao – oder Menschen – deshalb werden wir nicht nur müde, wenn wir es mit der Magie übertreiben, sondern teilweise wirklich krank. Wie viel jeder einzelne Körper aushält, ist individuell – Mahrran, auch wenn er noch geschwächt ist, ist diese Belastung in gewissermaßen gewohnt, er wird viel aushalten können. Und wenn ich so darüber nachdenke... dann ist genau das unser Problem.“

Sie wandte den Blick ab und Mabalysca, die ihr offenbar folgen konnte, sprach weiter.

„Mahrran beherrscht diesen Fluch auch... die Natter ist böse, ich denke, sie will Macht.“, ihre Schwester nickte, „Sie wird ihn dazu bringen, alle Bewohner dieses Dorfes...“

Nadeshda unterbrach sie.

„Alle, die von Nutzen sind.“

„... alle Bewohner, die ihr von Nutzen sind, damit zu belegen. Das macht uns alle... unglaublich stark, wir werden die Menschen... wir... werden sie zerfetzen können!“

„Und danach werden wir selbst sterben, weil die Magie jede einzelne Pore unseres Körpers ebenso zerfetzen wird.“, prophezeite Nadeshda letztendlich düster und Alaji weitete die Augen. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Und... und was bringt Iavenya das dann? Ich meine, wenn sie siegt, ist das schön und gut für sie – bei allen Göttern, so krank habe ich sie nicht eingeschätzt – aber wenn doch das ganze Volk dabei stirbt?“

Ihre beste Freundin schüttelte leicht den Kopf.

„Viele... werden sterben. Vermutlich achtet sie darauf, dass es nicht alle sind. Leute, wie... dieser Chigaru Tamassy werden es vielleicht überleben – aber sie wird uns allen ein grausames Ende bereiten, ein Ende, das nicht einmal die Primitiven hinter den Bergen verdient haben, denn... ihr glaubt nicht, zu was jeder einzelne Kalenao in diesem Ort in der Lage sein wird; besonders die Feuermagier im Moment.“

Der Feuermond war aufgegangen, demnach waren die Feuermagier im Augenblick begünstigt. Nadeshdas Worte klangen gleichermaßen schlüssig wie auch unnachvollziehbar. Im Kochzimmer begann Kili in ihrer Menschensprache zu schimpfen.

„Aber warum bist du dir so sicher, dass es so sein wird?“, erkundigte sich Alaji schließlich dumpf und die Kleinere wandte den Blick ab, vorsichtig ihr Baby wieder in den Arm nehmend, das sich darauf wieder vollends beruhigte.

„Ich habe es bereits angedeutet.“, erwiderte sie leise, „Die Natter ist ein Produkt eines Seitensprunges seitens meines Vaters mit ihrer Hure von Mutter. Ich habe gewusst, wie sie reagieren würde, in dem Moment, in dem sie mir das erzählt hat. Und den Fluch zu erkennen ist leicht, wenn man ihn selbst beherrscht. Und selbst wenn nicht... Mahrran ist mein Zwillingsbruder. Das Stück seiner Seele, das ich immer in mir getragen habe, habe ich verloren.“
 

Mahrran spürte nichts falsches in sich. Er fühlte sich zum ersten Mal seit über einem Mond gesund und stark und er war Iavenya dankbar für ihre ratsamen Worte; sie hatte wirklich gute Ideen und er war davon überzeugt, sein Volk ein für alle Mal aus seiner Krise erretten zu können. Aber was er tun musste war schwierig... gedankenversunken erklomm er den Berg hinter seinem Haus bis zu dem höchsten Plateau, von wo aus er, Nadeshda, seine Eltern und alle seine Vorfahren, seit diese hier gelebt hatten, die mächtigsten Zauber ausgesprochen gehabt hatten. Hier würde er sich darauf vorbereiten... mal sehen, ob das klappte, Iavenya war zuversichtlich gewesen.

„Pass auf Nadeshda auf.“, erinnerte er sich beiläufig an ihren Rat, „Sie ist dabei, dich ihr wieder vollkommen zu unterwerfen! Shiran, dieser kluge Mann, hatte vollkommen recht, als er dir sagte, sie nutze dich aus, so ist es auch! Also tu das einzig richtige und unterwerfe du sie dir!“

Es klang alles so sinnig und logisch... vielleicht hätte er gleich die Sache mit dem Seher zu Ende bringen sollen.

Seher... woher wusste Iavenya eigentlich, was Shiran zu ihm gesagt gehabt hatte? Eine Seherin war sie schließlich nicht...

Es war auch egal. Er musste sich vorbereiten – auf den Fluch seines Lebens. Er hoffte, dass er es schaffte... weiter reichten seine kontrollierten Gedanken nicht.
 

Chigaru hatte bereits den ganzen Tag ein ungutes Gefühl gehabt. Er hatte Rat gehalten mit den wichtigsten – gesunden – Männern des Dorfes; es war um relativ belangloses gegangen, eine möglicherweise bald stattfindende Jagd, da einige Dorfbewohner in der Nähe Schafe gesichtet hatten. Eigentlich ein Grund zur Freude, so würden sie nicht mehr so extrem sparsam leben müssen, und dennoch konnte der Mann sich nicht entspannen.

Seufzend stand er an einer seiner Fensterklappen und starrte in den Himmel, der sich immer mehr zuzog, sich eine seiner besonderen Zigaretten mittels Feuermagie mit zitternden Händen anzündend und sofort einen tiefen Zug davon einatmend. Er bemerkte, wie sein ganzer Körper sich auf der Stelle entspannte... sein Geist jedoch nicht. Das würde noch ein paar weitere solcher Zigaretten benötigen. Er brummte, als die Worte seiner Mutter ihm in den Ohren lagen, die sie schon bereits vor so vielen Jahren zu ihm gesagt gehabt hatte.

„Dieses Zeug ist schlecht für dich, es wird dich sicher krank machen! Stärke lieber deinen Geist, anstatt zu versuchen, ihn vor dem Leben zu verschließen, Chigaru!“

Das sagte sich so leicht... sie war eine kluge Frau. Dieses Zeug würde ihn nicht krank machen, denn er war es längst; wenn er es nicht hatte, hatte er das Gefühl, als müsste er bald sterben. Und es ärgerte ihn, dass er nicht wusste, weshalb das so war – vielleicht war sein Geist wirklich einfach zu schwach für das Leben.

Ihm fiel das Ende der Beratung ein, als urplötzlich Irlak aufgetaucht war und alle Ekarett-Männer gebeten hatte, mit ihm zu kommen, denn er hatte innerhalb des Familienkreises noch etwas zu besprechen.

Er verengte seine ohnehin sehr schmalen Augenschlitze merklich – es wollte ihm nicht gefallen. Die Götter zischten warnend in seinem Kopf – hier war etwas im Gange. Und er war noch immer für dieses verdammte Dorf verantwortlich... Warum war seine Zunge nicht immer so gelähmt wie direkt nach dem Rauchen? Wo er schon dabei war nahm er noch einen tiefen Zug, worauf er sich am liebsten einfach für den Rest des Tages in sein Lager gelegt hätte und für den Rest seines Lebens nie wieder aufgestanden wäre... das ging jedoch nicht.
 

Alles in ihm schlug Alarm, als es sachte an seiner Tür klopfte. Er schlurfte langsam zu ihr und zögerte zunächst einen Augenblick, ehe er öffnete – das ungute Gefühl kam schließlich nicht grundlos. Als stellvertretender Vorsteher des Dorfes konnte er es sich allerdings nicht erlauben, jemanden zu ignorieren, besonders nicht in einer Situation wie dieser.

Vor ihm stand die Natter, hochschwanger und fröhlich lächelnd.

„Hallo!“, begann sie bester Laune, „Bitte lasse dich nicht weiter belästigen von mir, ich wollte dich bloß in Kenntnis darüber setzen, dass Mahrran sich ab nun wieder um das Dorf kümmert – jetzt hast du deine Ruhe wieder.“

Sie wusste viel, zumindest, wenn sie tatsächlich die durchschnittliche Magierin war, für die sie sich immer ausgegeben hatte. Das war sie nicht. Chigaru senkte die Brauen.

„Dazu... ist er noch nicht in der Lage.“

Die Frau musterte sein Gesicht einen Moment schweigend, errötete dann und kicherte. Ach Himmel, die auch...?

„Oh, du hast geraucht, nicht? Man riecht es.“, sie wandte sich ab, blieb jedoch nach wenigen Schritten wieder stehen, „Kein Wunder, dass du keinen klaren Gedanken fassen kannst.“

Er fragte sich, was sie mit ihrem letzten Satz zu erreichen gedacht hatte. Keinen klaren Gedanken? Er war sich ziemlich sicher, dass auch sie, von den Göttern wesentlich begnadeter, als sie durchscheinen ließ, wusste, dass er noch sehr wohl gerade aus denken konnte. Das konnte er sehr lange, es übte sich mit den Jahren.

„Langsam.“, bat er deshalb mit ruhiger Stimme und sie drehte sich wieder zu ihm um, ihn neutral ansehend. Da der Weg, in dem er wohnte, relativ zentral lag, war auch die ein oder andere Person dort unterwegs und ein kleines Mädchen hatte seine Aufforderung fehlinterpretiert und gedacht, es sei gemeint, so blieb es nun starr vor dem Mann stehen und blickte ihn errötend an. Chigaru bemerkte die Kleine zunächst nicht.

„Oh, ist noch etwas?“, zwitscherte Iavenya schließlich, lächelte unpassend zu ihrem Ton jedoch nicht. Ein ungewöhnlich kühler Wind kam auf und wehte ihnen Sand vom Boden ins Gesicht. Das Mädchen nieste und fröstelte.

„Meine Zunge... ist vielleicht nicht gerade schnell... im Moment.“

Sogar ungewöhnlich lahm, fiel ihm auf.

„Die Qualität ist besonders gut, gib acht mit der Dosierung, ja?“, erinnerte er sich an Zerits Worte, als er ihm zuletzt ein kleines Säckchen voll mit den wertvollen getrockneten Blättern gegeben hatte, „Weniger als sonst, sonst macht es dich krank. Versprich mir, dass du weniger als sonst nimmst, sonst... sorge ich mich.“

Er hatte es ihm versprochen, hatte es dann aber, als er sich eine Zigarette gedreht hatte, ohne bösen Gedanken wieder vergessen. Zerit war ein seltsamer Zeitgenosse, eine interessante Person dank seiner Vergangenheit definitiv und er mochte ihn. Der Jüngere erwiderte diese Zuneigung offenbar, für Chigarus Geschmack allerdings etwas zu sehr – wobei es, seitdem er seine kleine Frau hatte, etwas nachgelassen hatte, zu seiner Freude.

Leider hatte er im Moment nicht die Zeit über seinen Bekannten nachzudenken, auch wenn er das wesentlich lieber getan hätte, als sich nun mit dieser seltsam giftigen Frau zu unterhalten. Das kleine Mädchen räusperte sich, wurde aber ignoriert.

„Das merke ich.“, schnappte die Natter da und er zuckte kurz mit den Brauen.

„Aber... meine Gedanken sind... sehr wohl... klar. Mahrran ist noch... schwach. Du steckst dahinter... er hat dich nicht... geschickt. Du zwingst ihm... irgendwie deinen Willen... auf. Nicht wahr?“

Sie hob ihre Brauen, dann kicherte sie leicht... und es war ehrlich, das hörte er sofort. Es hatte einen kalten, widerlichen Klang, anders als das aufgesetzte, das entgegen seiner Falschheit sehr angenehm in den Ohren lag. Das kleine Mädchen sah verwirrt zwischen den beiden her und winkte einer Freundin, die gerade des Weges kam und ihr kurz erläuterte, sie sei auf dem Weg zu ihrer Großmutter.

„Du bist wirklich scharfsinnig, das muss man dir lassen.“, auch ihre Stimme klang nun anders und erinnerte auf abstruse Weise an die von Nadeshda, „Nun gut, es ist egal, wer was weiß, es wird sich ergeben – du hast recht, du Fuchs. Ab heute lenke ich dieses Dorf, auf unbestimmte Zeit. Wer weiß, vielleicht teile ich meine Macht noch einmal mit dem Mann meines Herzens – der verdient sie mindestens so sehr wie ich und hat mir in gewissermaßen den Weg bis hierher etwas geebnet.“

Sie warf ihr volles schwarzes Haar elegant zurück und grinste.

„Und was möchtest du nun tun?“

Er schwieg einen Augenblick. An sich war genau das der Moment, auf den er gewartet hatte – jemand nahm ihm seine unerwünschte Macht ab. Aber es war mit einem schlechten Gefühl verbunden... er beschloss bei sich, die Frau zunächst einmal nicht aufhalten zu wollen und sie zu beobachten; so ganz geheuer war ihm das nicht, vermutlich würde er eingreifen müssen. Aber wenn sie es schaffte die Himmelskinder bei Seite zu schaffen – an ihm sollte es nicht scheitern, ihm lag nichts an den Tankanas; zumindest versuchte er sich das einzureden.

„Tu, was... du für angemessen hältst.“, seufzte er so, „Nur... eines noch. Wie schaffst... du es, Mahrran unter... deiner Kontrolle zu halten?“

Verdammt, dieses Zeug war wirklich stark. Sie kicherte wieder aufgesetzt und zuckte mit den Schultern.

„Ein Fluch.“, sie schielte zu dem kleinen Mädchen, das sie nun vollends verwirrt anstarrte und wohl annahm, nun erkläre man ihm endlich, weshalb man es denn angehalten hatte, „Pass auf. Mit der richtigen Übung geht es ganz schnell... besonders bei schwachen Seelen.“

Sie faltete die Hände und schloss die Augen, daraufhin ein paar unzusammenhängende Worte in seltsamen Akzent murmelnd. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihr scharfer Blick auf das Mädchen gerichtet – das nur den Kopf leicht schief legte. Iavenya lächelte sie gütig an.

„Bei Mahrran war das natürlich schwieriger – so, nun meine Kleine, dann beweise dem Herrn doch mal, was du für ein wohlerzogenes Kind bist.“

Das Mädchen strahlte sie an, dann machte es sich bester Laune auf die Suche nach etwas. Es lief die Straße mit wachsamen Augen auf und ab, schien aber nichts zu finden, dann kehrte es zurück und drängte sich noch immer bester Laune an Chigaru vorbei in dessen Haus.

„Na, spätestens da wird sie jetzt wohl etwas brauchbares gefunden haben. Dummes Ding.“, brummte die schwarzhaarige Frau unterdessen und verschränkte die Arme etwas umständlich über ihrem runden Bauch vor ihrem Busen, „Na los, sieh nach, was sie treibt.“

Chigaru hob skeptisch eine Braue und kam ihrer Aufforderung dann nach – ihn beschlich ein sehr ungutes Gefühl und einen Moment später erkannte er auch, warum.
 

Das Mädchen lag neben seiner Feuerstelle, aus seiner rechten Hand glitt gerade das knöcherne Messer, das er am Morgen dort abgelegt gehabt hatte, aus ihrem linken Handgelenk, das sie sich mit einem sauberen, tiefen Schnitt aufgeschlitzt hatte, quoll ihr Blut in Strömen. Trotz seiner leicht vernebelten Sinne stürzte er sofort zu ihm, nahm es vollkommen entsetzt in den Arm und versuchte planlos, die Wunde irgendwie abzudrücken – erfolglos, und das wusste er auch. Er war kein Heiler, aber selbst wenn er es gewesen wäre, hätte er vermutlich nichts mehr für die Kleine tun können. Am abscheulichsten jedoch war, dass das Kind ihn dabei noch fröhlich anlächelte.

„Ich war ganz brav!“, teilte es ihm mit, ehe ein heftiges Zittern seinen Körper durchfuhr, es seine Augen verdrehte und sein Bewusstsein verlor. Das Mädchen erschlaffte in seinen Armen, die Wunde blutete noch eine Weile weiter. Chigaru war einen Moment lang gelähmt, dann erschien die Natter ihn hohl anlächelnd im Eingang. Er starrte sie einen Augenblick lang nur an, dann löste sich seine Zunge angesichts seines Zustandes ziemlich beeindruckend.

„Du... miese, widerliche Hure, du abscheuliches Stück Dreck, wie... wie konntest du das tun?!“

Mit einem Mal war sein Haus trotz geöffneter Fensterklappen seltsam düster und vor allen Dingen kalt. Der Blutfluss begann langsam zu versiegen... einzelne Tropfen fielen geräuschvoll auf den nassen Boden. Die Frau ging nicht auf seine Beschimpfungen ein.

„Sie war sehr schwach... ich habe sogar ihren Körper unterwerfen können – sieh nur, wie schnell sie verblutet ist.“

Der Mann erhob sich, das tote Mädchen in den Armen haltend und an sich drückend, als sei sie sein Kind – dabei hatte er doch nichts für Kinder übrig. Seine Knie zitterten angesichts des unerwarteten Schocks, als er auf Iavenya zutrat.

„Welch böser Windgeist hat in deine Seele solche... Löcher gefressen, Natter, welche Kreatur hat... hat dafür gesorgt dass du, die du selbst ein Kind unter deinem Herzen trägst, einfach so... ohne zu zögern dieses unschuldige Mädchen ermorden konntest?!“

Sie zuckte abermals auf ihre eigentümliche Art mit den Schultern.

„Sie hat sich umgebracht, Tamassy.“

Er verengte seine ohnehin sehr schmalen Augen noch weiter und zischte nun seinerseits. Es brauchte einiges, um ihn aus der Ruhe zu bringen, das schafften wirklich nicht viele... die Natter hatte es gerade geschafft.

„Mach... dass du hier weg kommst... ganz schnell. Oder ich schwöre dir, ich... reiße dir dein Balg, das... definitiv nicht von Irlak ist, mit eigener Hand... aus dem Leib.“

Ihr Mundwinkel zuckte kurz, dann trat sie aber tatsächlich zurück und schickte sich zum Gehen.

„Noch kannst du mir drohen, Chigaru, aber sieh das, was du da in deinen Armen hältst, als Warnung; ich habe vielleicht nicht mehr die Macht, das auch mit dir zu tun, der Fluch ist für mich nur begrenzt einsetzbar, aber Mahrran... wird es für mich können. Also überlege dir lieber einmal zu oft was du tust und sagst.“

Dann ging sie.

Er starrte ihr keuchend nach. Vereinzelte Leute schritten an ihm vorbei und fragten sich wohl, weshalb er ein bewusstloses, blutendes Mädchen in seinen Armen hielt, aber er bemerkte sie nicht und es sprach ihn auch niemand an.

Diese... Bestie. Er musste etwas tun, egal wie wenig Lust er dazu hatte, diese Frau war absolut wahnsinnig! Er schauderte – sie hatte Mahrran an der Angel; was war mit Nadeshda? Oh Himmel, er musste sie irgendwie retten, sie musste in Sicherheit und wenn er dieses Monster vernichtet hatte sollte sie das Dorf wieder leiten, so wie sie es jahrelang gut getan hatte; bei allen Göttern, womit verdiente er das?

Er senkte seinen Blick langsam auf das kleine Mädchen in seinen Armen. Eine Fliege hatte sich auf ihre Nase gesetzt und er pustete sie erbost fort. Was sollte er nun ihren Eltern sagen? In ihm zog sich etwas zusammen, als er ihr blutiges Handgelenk ansah. Und sie hatte dabei gelächelt.

Und alles nur, weil sie ihn falsch verstanden hatte – warum konnte er sich einfach nicht deutlich genug ausdrücken?!
 

Nadeshda fühlte sich seltsam, als sie einfach so im Kochzimmer saß und ihr Baby stillte. Kili saß neben ihr und hielt sich ein kühles Tuch an den Kopf, auf der anderen Seite saß Rayada und ließ sich von Alaji, die vor ihr stand, ihre doch sehr heftige Platzwunde nähen; es war nicht so leicht, selbst wenn man von der schlechten Stelle, an der sich die Wunde befand absah, der sehr runde Bauch der Heilerin war nun einmal etwas im Weg. Mabalysca starrte beunruhigt aus dem Fenster.

Niemand sprach; Nadeshda fragte sich, weshalb. Es hätte genügend Gesprächsstoff gegeben... vielleicht ließ man ihr ihre Ruhe, damit sie nachdenken konnte.

Nachdenken über das, was es nun zu tun galt. Mahrran retten, ging ihr immer wieder durch den Kopf, aber wie? Die Natter töten – aber sie bekam ein Kind, das widersprach jeglichen Gesetzen. Außerdem hatte sie nicht unbedingt das Gefühl, dass dieses Biest sich leicht ermorden lassen würde... und sie war noch immer geschwächt. Mabalysca konnte sie das nicht zumuten, zwar schien sie tatsächlich langsam über ihren Kajira hinweg zu kommen, doch von der langen Trauerzeit war ihr zierlicher Körper mehr als ausgelaugt. Rayada und Alaji waren beide eher dürftige Magierinnen, zusätzlich war die eine verletzt und die andere hochschwanger und Kili war wohl von allen die schlimmste; sie war verletzt, hochschwanger und nicht einmal Magierin. Nein, irgendein Versuch, die Schlange im Moment aufzuhalten, hätte in ihren eigenen, engen Reihen wohl Leben gefordert – vielleicht hätte sie einfach zu ihrem Volk sprechen sollen, sie war schließlich nicht mehr schwanger. Aber Mahrran war auch auf den Beinen... und konnte dagegen reden. Er konnte sagen, es sei bloß ein Versuch, ihre Macht nach ihrer gesetzeswidrigen Schwangerschaft wieder zu erlangen und alles Lüge; nicht aus eigener Intriganz, sondern weil Iavenya ihm diese Worte in den Mund legte. Ob sie Irlak wohl auch so geködert hatte...?

Sie fragte sich, wie es sein konnte, dass sie diese geheime Familientechnik der Tankanas beherrschte; zwar war sie dank ihres Blutes natürlich in der Lage, sie auszuführen, aber wer hatte ihr diesen Fluch beigebracht?!

Vater. Er hatte von ihr gewusst. Er hatte gewusst, wer sie war und er hatte sich ihr verpflichtet gefühlt auf eine sehr seltsame Art und Weise – die irgendwie liebevoller roch als alles, was Nadeshda und ihre richtigen Geschwister jemals von ihrem Erzeuger erhalten hatten. Sie spürte das flaue Gefühl des Neids in ihrer Magengegend und verstand plötzlich, weshalb sie so handelte; nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters war sie vollkommen leer ausgegangen, obwohl sie sich dank der Aufmerksamkeit, die der Mann ihr geschenkt hatte, wie sein vollwertiges Kind und nicht das Erzeugnis einer Affäre mit einer Hure, wie sie es letztendlich wirklich war, gefühlt hatte. Sie hatte nicht verstanden, weshalb die verkrüppelten Zwillinge nun alle Macht haben sollten; vermutlich ging es ihr nicht einmal wirklich um Macht, es ging ihr einzig um ihr Recht. Und das erkämpfte sie sich nun auf dem Pfad einer wirklichen Tankana.

Und das war verdammt gefährlich.

Damit stand Nadeshda wieder am Anfang. Was sollte sie tun?!

Allesamt fuhren keuchend zusammen, als es an der Außentür anklopfte und niemand wagte, ein Wort zu sagen oder sich zu rühren, bis sie sich von selbst öffnete. Herein kam weder Mahrran, noch Iavenya oder Irlak; es war ihr stellvertretender Dorfverwalter, Chigaru.

Natürlich... er ist ein sehr gescheiter Magier, er wird spüren, dass etwas nicht stimmt.

Er sah sich kurz im Eingangsbereich um, dann fiel sein Blick in die Öffnung zum Kochzimmer und er verneigte sich leicht vor den Frauen.

„Verzeiht, ich wollte euch nicht erschrecken.“

Die Runde errötete und der Mann verdrehte missbilligend die Augen; Nadeshda erhob sich schließlich, ihre Tochter weiter stillend; langsam bekam sie Übung darin.

„Ist schon gut. Ich höre?“

Es war irgendwie sinnlos gewesen, sich aufzurichten, vor diesem für ihre Verhältnisse ziemlich groß gewachsenen Mann wirkte sie trotzdem wie ein Kind.

Wie ein kleiner Junge., addierte sie in Gedanken grantig angesichts ihrer absolut ruinierten Frisur.

Chigaru zuckte kurz; sie beschlich das Gefühl, dass er gerade ernsthaft darüber nachgedacht hatte, sich zu ihr zu bücken; er unterließ es zu seinem Glück jedoch. Kili senkte seufzend den Blick und Mabalysca wandte sich sichtlich unwohl wieder ab und dem Fenster zu, während Alaji sich weiter um Rayada bemühte, die dem Mann ein kurzes Lächeln schenkte, das der mit einem angedeuteten Nicken erwiderte; sie kannten sich wohl.

„Ich denke, ihr werdet alle bereits bemerkt haben, dass... etwas mit Mahrran nicht stimmen kann, nehme ich an.“

„Oh, sehr wohl.“, erwiderte die kleine Frau grimmig, Nocasi zärtlich ihr Köpfchen tätschelnd und Kili, die ihn scheinbar halbwegs verstanden hatte, brummte irgendetwas missbilligend auf ihrer eigenen Sprache.

„Es wäre von Nutzen, wenn wir Shiran hier hätten...“, murmelte der Mann dann mehr zu sich selbst und Nadeshda drückte ihr Baby fester an sich; die Kleine ließ sich jedoch nicht beirren und trank weiter. Alaji sagte, sie hatte einen ausgesprochen ausgeprägten Appetit.

„Was von Nutzen wäre, wissen wir selbst.“, zischte die Frau darauf in einem Ton, den alle anderen Anwesenden außer ihrem Gegenüber und dem Säugling abermals zusammenzucken ließ, „Ich denke selbst die ganze Zeit darüber nach, was wir tun könnten, aber ich will ehrlich sein, mir fällt nichts ein, was ohne weiteres umzusetzen wäre – spontan! Ich nehme an, dir ist der Fluch bekannt? Zumindest wirkst du so. Mahrran ist ein begnadeter Magier, er wird nicht viel Vorbereitungszeit brauchen – und dann sind wir alle, wirklich alle, absolut seelenlos; und verloren. Also, mein Vertreter, hast du etwas handfestes? Wenn nicht, dann scher dich weg und lass mir die Ruhe, die ich brauche.“

Das waren die Worte einer Herrin und Chigaru schwieg zunächst einen Moment. Am Fenster erschauderte Mabalysca bei einem Windhauch und Rayada blinzelte bereits erschrocken, weil sie kurz angenommen hatte, die junge Frau habe etwas entdeckt – etwas, das ihr dieses Mal endgültig den Schädel zertrümmerte... wie man es ihr auch deutlich angedroht gehabt hatte. Die Stimme des Mannes riss sie aus ihren Gedanken.

„Ihr müsst hier weg – am besten alle in diesem Raum. Ich kümmere mich darum – irgendwie.“

Nadeshda zischte, wandte sich dann kurz ab, um Kili, die ihr am nächsten saß, ihr nun sattes Baby in die Arme zu drücken und ihre eigene Bluse wieder zusammen zu nesteln.

„Weg sagst du. Und dir das ganze hier überlassen – irgendwie – natürlich. Für was hältst du mich eigentlich, Tamassy?!“

Chigaru ließ sich keine Gefühlsregung anmerken – vermutlich hatte er im Augenblick auch keine, er roch nach diesem seltsamen Zeug, das man bei Zerit erstehen konnte.

„Ich bin mir sicher, dass ich es vermag, irgendwie mit dieser Frau fertig zu werden – und selbst wenn nicht, Ihr habt gar keine andere Wahl, Herrin. Es wird nicht mehr lange dauern und von euch vermag niemand etwas dagegen zu tun.“, er senkte seine Brauen minimal, „Packt jetzt, allesamt. Und hört auf mich... ich will das Beste für das Dorf; und meine Ruhe... ehrlich gesagt. Also bringen wir das, was uns die Götter hier auferlegen, am besten einfach... schnell hinter uns.“

„Und wohin sollen wir gehen?!“

Die Blicke richteten sich auf Mabalysca, die sich nun vom Fenster ab- und ihm zugewandt hatte. Eine wahrlich interessante Frage... der Gedanke daran, sich einfach zu verstecken, missfiel Nadeshda sehr, aber angesichts der Tatsache, dass sie momentan in der Tat nichts besseres dazu wusste, schwieg sie.

Chigaru zuckte kurz mit den Brauen.

„Zu den Menschen.“ Er ignorierte, wie (fast) alle ihre Augen weiteten und Kili erschrocken den Kopf hob, „Ihr geht dahin, wo ihr am sichersten seid. Und da wird der Fluch euch garantiert nicht treffen; ich denke, sie wird die Menschen anders vernichten wollen. Wenn ihr da seid, schickt mir Shiran...“

Er konnte das allein nicht. Er war begnadet in der Magie, doch sein Wissen und seine Weitsicht reichten nicht aus, er konnte nichts tun gegen einen solchen vermutlich lange Zeit ausgefeilten Plan. Er hatte bereits selbst versucht, mit dem Seher in Kontakt zu treten – sie beherrschten beide die Telepathie – doch das war bisher von wenig Erfolg gekrönt gewesen.

„Eure Probleme, eure Sache.“, hatte er gesagt, „Ich tue das, was richtig ist und ich lasse mich von keinem einzigen Wort mehr ablenken. Vor allen Dingen nicht, wenn es von dir stammt; gerade DU solltest ohne mich zurechtkommen.“

Und dann hatte er den Kontakt blockiert. Aus irgendwelchen sich vermutlich in des Sehers Zahnfleisch befindenden Gründen konnte Shiran ihn auf den Tod nicht ausstehen; Chigaru hatte geahnt, dass sein Versuch nicht viel erreichen würde, aber er hatte es für absolut notwendig befunden. Er hoffte, dass Nadeshda mehr bei dem Mann erreichen konnte, denn er brauchte ihn wirklich.

„Wenn du das nicht hinbekommen hast – du beherrschst doch Telepathie – wie soll mir das dann gelingen?! Und in Moconis Schuld treibt mich nicht einmal der Tod.“

Die Herrin schnaubte entrüstet. Wenn der sie denn überhaupt aufgenommen hätte, so dumm schätzte sie nicht einmal ihn ein.

„Aber vielleicht die drohende Tyrannei eures Volkes?“, merkte Chigaru an und die Frau zischte beklommen. Bei den Menschen! Das musste doch alles ein Albtraum sein.

„Sprich weiter; ich will mir nicht nachsagen lassen, ich hätte nicht bis zum bitteren Ende gelauscht.“

Er verschwendete keine Zeit.

„Ihr werdet nicht alleine gehen können... ich kenne einen Mann, der einen guten Begleiter für euch abgibt, einen mehr als guten. Mir ist... bewusst, dass die Schwangeren und die frisch gebackene Mutter nicht weit werden laufen können... ich denke, den beschwerlichsten Teil, das Gebirge, kann ich euch mit Teleport abnehmen. Weiter reichen meine Kräfte bei einer solchen Gruppe nicht.“

Er tat es doch, bückte sich ein Stück zu Nadeshda und blickte sie eindringlich an, worauf sie abermals errötete.

„Vertraut mir, ich... möchte nur das Beste. Und meine Ruhe. Euch darf nichts geschehen... Ihr seid eine gute Herrin. Und Ihr habt eine schöne Frisur, aber das tut nichts zur Sache.“

Sie errötete heftiger, dann hielt sie nicht mehr stand und senkte ihr Haupt.

„Dann... sei es so. Aber wenn die Menschen uns aufspießen und essen – als verdiente Rache – dann ist das deine Schuld. Der Gedanke daran, ausgerechnet bei denen, die wir so lange gequält haben, Unterschlupf zu suchen, ist mir ein Graus... ich werde gezwungen sein, mit ihnen Verhandlungen einzugehen, ich... kann sie doch unmöglich vernichten, wenn es so kommt.“

Er wagte es, ihr kurz über ihr Haar und dann über die Wange zu streicheln und Rayada musste sich stark bremsen, nicht so, wie sie es normalerweise getan hätte, scharf die Luft einzuziehen. Nadeshda erschauderte, dann nickte sie apathisch und wandte den Blick noch weiter ab. Chigarus Mundwinkel zuckte kurz – der Hauch eines Lächelns – dann richtete er sich wieder auf und wandte sich vor allen Dingen an die weitgehend stillen Beobachterinnen.

„Packt eure Sachen. Ich werde eurem Begleiter die frohe Botschaft überbringen – wir treffen uns, sobald ihr soweit seid, am großen Pass. Es... ist belanglos, wer euch sieht, es geht vor allen Dingen darum, schnell zu sein.“

Die Frauen nickten – damit war es wohl beschlossen und jede einzelne hatte ihre Gedanken dazu.
 

„Du hoffst auf Kajira.“, stellte Alaji fest, während sie sich kurze Zeit später etwas schwerfällig eine Tragebinde umband und Mabalysca es ihr neben ihr gleich tat. Das Mädchen lächelte.

„Die Hoffnung brennt in mir wie eine lodernde Flamme, oh ja. Es wäre das schönste Geschenk. Das... solltest du am besten verstehen, nicht? Dein Baby ist halb das dieses Stammes, so war es doch?“

Die Heilerin nickte errötend. Die Jüngere kicherte verstohlen.

„Und Nadeshda bekommt ihren Shiran zurück.“

Ihre große Schwester war in ihrem eigenen Raum beschäftigt. Aus der Kammer trat gerade Rayada, die leise gluckste. Auch sie hatte sich reisefertig gemacht und ihr langes schwarzes Haar zusammengebunden.

„Jetzt hat sie doch Chigaru. Du meine Güte, dabei zeigt er doch normalerweise kein Interesse an solchen Dingen... ich kenne ihn lang – vielleicht nicht gut – ich mag zwar nicht so aussehen, aber ich bin seine Cousine. Wir stehen uns nicht so nah, meine Mutter war die Schwester seines Vaters und sie hat Chigarus Mutter gehasst, weshalb auch immer, jedenfalls musste ich mich nach Onkels Tod von seiner Familie fern halten – und der ist reichlich früh gestorben.“

Sie lächelte, ihre eigene Tragevorrichtung etwas richtend, und die anderen beiden warfen sich überraschte Blicke zu. Rayada war zwar pummelig, aber eigentlich eine ziemlich schöne Frau, das war Mabalysca bereits aufgefallen; was das betraf wunderte es sie weniger, als es vielleicht angebracht gewesen wäre.

„Ach, sei es drum, das interessiert momentan ohnehin niemanden.“

Rayada lachte.
 

Nadeshda war nicht ernsthaft darüber verwundert, dass Zerit sie begleiten würde und ernsthaft überraschend, dass er seine neue Frau Sundri mitnahm, war es auch nicht. Letztere lächelte voller Tatendrang, während ihr Mann bloß etwas unwohl unter sich blickte. Chigaru nickte der Gruppe Frauen zu.

„Gut, das ging fix. Dann sollten wir keine Zeit vergeuden – ach, immer ich.“

„Du bist gut.“, murmelte Zerit da leise, „Mein Garten war scheinbar ein Fehlgriff, ich hätte mich im Hühner zähmen versuchen sollen.“

Nicht, dass es häufig Hühner gegeben hätte, aber einige auf einem Haufen waren in etwa vergleichbar mit einer Gruppe an Frauen. Oder Ziegen... oh Himmel, worauf hatte er sich nur eingelassen?

„Du schaffst das schon.“, erklärte ihm Sundri unangebracht fröhlich und er seufzte nur.

Chigaru kratzte sich kurz unschlüssig am Kopf, dann nickte er seiner Herrin zu und noch ehe jemand ein Wort hätte erheben können, befand sich die Gruppe im Licht des Teleports – und als es versiegte im Grasland.

Nadeshda starrte mit geweiteten Augen die Kulisse der in einiger Entfernung liegenden Berge an – von der anderen Seite! Das war neu. Sie bemerkte nicht, was ihre Begleiter taten.

„Den Weg zum Lager werdet Ihr wohl selbst finden.“

Sie sah auf und erkannte Chigaru neben sich, der einiges an Gunst bei ihr gewonnen hatte – er war ein wahrlich begnadeter Magier; und sie vertraute ihm.

„Die Menschen zu überzeugen mag wohl auch eure Sache sein, ich würde sie euch gern abnehmen. Wie dem auch sei, ich werde nun zurückkehren, ehe ich zu erschöpft dafür bin.“

Sie nickte stumm überwältigt von der für sie vollkommen fremden Welt, die nicht einmal in ihrem Träumen annähernd so gewesen war wie das, was sie nun vor sich sah. Hier sollte also die Zukunft ihres Volkes liegen?

Der Mann musterte sie noch einen Moment. Dann brummte er.

„Ich kann mir ja nicht helfen... aber Eure Frisur ist wirklich... schön. Ich schätze Euer Vertrauen sehr, wirklich.“

Er schloss selbst kurz die Augen, als sie perplex über seine Worte wieder errötete. Ach, was sollte es, diese Drogen waren wirklich stark gewesen... sie rissen ihn aus seiner Welt in das wahre Leben.

„Viel Glück.“

Chigaru sehnte sich nach seiner Ruhe, aber wenn diese ihm schon nicht vergönnt war, dann ließ er es sich nicht nehmen, seiner Spontaneingebung zu folgen und die kleine Frau kurz, aber deutlich auf die Stirn zu küssen. Dann verschwand er in dem bekannten kurzen Licht.

Nadeshda schwindelte es.
 

Er zitterte, als er seine Heimat wieder erreichte, nun allein, wie er es auch gewohnt war – wie es ihm eigentlich lieber war. Er hatte lange keine geraucht, aber das musste nun warten. Jetzt war es Zeit für einen guten Hinweis seitens der Götter.

Die erste deutliche Stimme, die er dann vernahm, als er sich darauf konzentrierte, war jedoch nicht göttlichen Ursprungs – und sie ließ ihn grinsen.

„Du kannst es nicht lassen. Du musst es mir einfach geben, du Made.“

„Ich hoffe, du bist jetzt nicht ernsthaft eifersüchtig.“

„MEIN Kind ist ihr Kind.“

„Oh, du bist doch ernsthaft eifersüchtig. Ich habe ehrlich gesagt die ganze Zeit nicht an dich gedacht... das weißt du auch selbst.“

„... du... ach!“

Und es herrschte Schweigen.
 

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Chigaru herzt Nadi an und Shiran ist eifersüchtig XD

Leben und Überleben

„Für dich gibt es keinen Grund, nervös zu sein.“

Moconi zuckte kurz unter den ernst gemeinten Worten Keweras, während der ihn mit äußerst gekonnten Handbewegungen bemalte. Natürlich, in seinem Stamm übte sich das, dennoch half er dem Jüngeren in diesem Fall bei einer etwas überarbeiteten Version der traditionellen Muster seines eigenen Stammes – dass Schlangen- und Kojotenstamm getrennt lebten, wollte einen Grund haben.

Sie waren allein in der Hütte des Jüngeren. Kewera hatte seit er hier war immerzu das Gefühl, sich etwas um Moconi kümmern zu müssen, er war noch so jung und unerfahren – und hatte seinen Stamm dennoch bereits eine ganze Weile gut geführt, er bemühte sich, sich dies vor Augen zu halten, um ihn nicht unnötig zu entehren. Er war zu unsicher, dabei hatte er das nicht nötig... vielleicht war es gut, wenn er ein Auge auf ihn hatte, so lange es ihm denn möglich war. Saltec hatte sicherlich gewusst, was er tat, als er seinen Sohn zu seinem Nachfolger erwählt hatte – er würde mit Kurapi definitiv eines Tages dasselbe tun, egal, wie alt er dann war, denn er vertraute seinem Sohn, der jedoch ein ähnliches Problem wie das Oberhaupt des Schlangenstammes zu haben schien. Unsicherheit... dabei erhielten beide doch mehr Respekt, als ihnen gut tun konnte.

Sich darüber Gedanken zu machen war nun nicht angebracht. Er half Moconi dabei, sich zurecht zu machen, denn heute würde ein wichtiger Tag sein. Er selbst war schon fertig – seine Erscheinung fiel etwas weniger imposant aus, als sie hätte sein können, aber wie konnte er den Jungen denn stärken, wenn er sich nun als Häuptling der vereinigten Stämme präsentierte? Nein, das wollte er nicht sein, zumindest nicht in erster Linie.

Moconi seinerseits ließ sich nicht ernsthaft von seinen Sorgen ablenken. Er sah betreten aus, während der Ältere ihm sorgfältig sein Gesicht bemalte... er musste viel Farbe auftragen, seine Haut war wirklich ziemlich dunkel, dabei hatte er Kurapi bereits für ziemlich braun gehalten. So lernte man dazu...

„Wie soll ich nicht nervös sein, mein Bruder? Shirans Worte klangen nicht unbedingt positiv, nicht? Und dass deine Himmelsblüter ihn soweit es ihnen möglich war bestätigt haben, macht es nicht besser. Auch wenn ich nichts verstehe... von Flüchen und Umstürzen. Was meint er mit Umsturz? Wie kann es sein, dass irgendjemand aus dem Stamm plötzlich, einfach so, an Macht gelangt und alles noch viel schlimmer macht? Langsam... wird es mir zu viel.“

Er seufzte. Kewera hielt in seiner Arbeit inne uns schenkte ihm einen sehr ernsten Blick.

„Es darf dir nicht zu viel werden, Moconi, niemals, alle zählen auf dich.“, belehrte er ihn, „Wie das sein kann, erfahren wir dann vielleicht demnächst, wenn es denn von Belang ist für uns – sonst hätte der Seher es wohl erklärt, er wird es ja wissen. Du verlangst viel zu viel Kontrolle, Junge, du bist kein Gott. Lass es auf dich zukommen, dann denke nach und handle. Nicht zuerst denken, dann handeln, und dann bemerken, dass die Tat nicht zu dem, was geschieht, passt...“

Vermutlich errötete er... der Raum war nur von einer Talglampe beleuchtet und gegen Moconis Hautfarbe hatte die Röte an sich kaum eine Chance.

„Aber es macht mich krank, wenn ich nicht im Voraus weiß, wie ich reagieren soll. Bei Mahrran damals war das etwas anderes, es war eine Schlacht, ich musste gegen ihn kämpfen. Aber was soll ich mit dieser Nade... Nadeshda? So hieß sie. Was soll ich bitte mit der anfangen? Sie hat uns mondelang gequält und jetzt verlangt sie von uns Schutz, sagt Shiran, das ist doch paradox.“

Kewera grinste, als er seine Finger abermals in die Farbe tauchte, um sein Werk zu perfektionieren.

„Sehen, denken, handeln, Moconi. Sieh sie dir an und warte ab, was sie sagt.“

Er stöhnte gequält.

„Ja, aber die können alle gut sprechen, die Kalenao! Sie wird mich sicher umgarnen, wenn sie nicht unglaublich hässlich ist, sollte ihr das bei mir leicht gelingen. Und dann? Frauen können einem ganz schön die Gedanken vernebeln...“

„Kurapi auch.“, Kewera hob kurz wichtigtuerisch die Brauen und sein Gegenüber blickte ertappt neben sich, „Geh etwas in dich, ihre Worte mögen zwar eine Erklärung sein, aber entscheiden muss dein Gefühl ganz allein. Und jetzt entspanne dich endlich, so wird das nichts. Die Welt geht nicht unter.“

„Aber bald mit Sicherheit...“
 

Shirans Augen lagen missbilligend auf dem regen Treiben im Lager.

„Es wäre nicht nötig.“, brummte der Mann und Sanan, der neben ihm stand und gerade seine Speere zusammenband, um sie ordentlich verstauen zu können, hob fragend seine Brauen. Aus irgendwelchen Gründen war sein Bruder seit über einem Tag außergewöhnlich schlecht gelaunt... er wagte nicht, sich danach zu erkundigen, weshalb, allem Anschein nach lag es wohl an der Ankunft dieser seltsamen Kalenao, die er angekündigt hatte. Ihn verängstigte das mehr... nebenbei fiel ihm auf, dass er noch nie einen weiblichen Magier gesehen hatte – er war gespannt.

„Was wäre nicht nötig?“, wollte er dann doch kleinlaut wissen und der Seher schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Diese Mühe. Egal, wie sehr alle aufräumen und sich bemühen, dass alles hier gut aussieht, sie werden es trotzdem schrecklich finden...“

Als er zu dem Jüngeren sah, fing er sich einen zerknirschten Blick. Man wollte sich keine Blöße vor den eher unerwünschten Gästen geben, also hatten beide Häuptlinge die Menschen dazu aufgefordert, dafür zu sorgen, dass sich ihr Lager im allerbesten Licht präsentieren konnte. Sanan mochte es nicht, wenn man auf die angebliche Primitivität dieser Leute anspielte.

„Noch etwas anderes.“, riss ihn Shiran aus den Gedanken, „Zieh dir ein Stirnband an. Sie müssen dein Todesmal nicht unbedingt sehen.“

Er nickte stumm. Was sie wohl mit ihm tun würden, wenn sie es erkannten? Nachträglich versuchen, ihn umzubringen? Aber das würde der Stamm nicht zulassen... das war es, es würde ihn an den Stamm verraten.

Moconi wusste es definitiv. Kurapi, der die seltsame Fähigkeit besaß zu spüren, mit wem er es gerade zu tun hatte, hatte es nicht böse gemeint, als er ihn an seinen Häuptling verraten gehabt hatte, da war er sich mittlerweile sicher... und ebenso sicher war er sich, dass Moconi ihm geglaubt hatte. Aber es war ihm scheinbar egal, er ließ es auf sich beruhen... er dankte ihm von ganzem Herzen dafür; dafür, dass er ein einziges Mal über alle möglichen irrsinnigen Traditionen hinweg gesehen hatte. Aber ob das auch für alle anderen so gelten würde?

„Irrsinnige Traditionen sind letztendlich der Grund, warum du mir entrissen wurdest.“, brummte Shiran da und beobachtete wieder die eifrig aufräumenden anderen. Sanan senkte den Blick.

„Ich hasse sie. Ich... bin glücklich, dass ich dich kennen lernen durfte.“

Darauf zuckte einer der Mundwinkel des Älteren kurz und er zeigte den Hauch eines Lächelns.
 

Semliya strauchelte. Novaya befürchtete, er würde umkippen, und so legte er einen Arm um ihn und hielt ihn fest. Er übertrieb es... seine äußere Wunde war zwar gut am heilen, aber er hätte es trotzdem noch etwas langsamer angehen müssen. Aber das hatte er nicht zu entscheiden.

Sie waren allein, etwas außerhalb des Lagers, weil sie keine Lust gehabt hatten, bei der ganzen Aufräumaktion zu helfen, außerdem hatten sie Roya und Zima eine Weile entgehen wollen. Zwar waren die beiden auf ihre Weise allerliebst, aber irgendetwas stimmte auch nicht ganz mit ihnen; so wild war doch kein normales Kind.

Semliya rührte sich nicht und Novaya erschauderte.

„Wer... erlaubt dir, mich zu berühren?“, fragte der Ältere da dumpf und sein Bruder wich von ihm, ihn gequält ansehend.

„Verzeih mir.“

„Niemals, Verräter.“

Und er ging weiter, ohne ihm zuvor verraten zu haben, was er vorhatte – ob er überhaupt etwas vorhatte. Novaya folgte ihm mit gesenktem Haupt. Verräter. Er nannte ihn Verräter... sein eigener Zwillingsbruder nannte ihn Verräter.

„Du hast mich im Stich gelassen, du bist einfach gerannt... du solltest dich geehrt fühlen, dass ich dich überhaupt noch ansehe. Und wenn du in nächster Zeit etwas tust, was mir nicht gefällt, dann werde ich dich auch nicht mehr ansehen...“

Das hatte er gesagt. Der junge Mann erschauderte unglücklich.

Ihn nicht mehr ansehen? Wie sollte er das denn bitte aushalten?!

Semliya war nicht mehr in Ordnung. Niemand bemerkte es, nicht einmal er selbst, nur sein Zwilling konnte es spüren. Und Sanan irgendwie... aber er konnte nicht darüber mit ihm sprechen. Dann wäre er ja schon wieder zum Verräter geworden...

Die Frage war nicht, ob er wirklich ein Verräter war. Eigentlich wäre es belanglos gewesen, er hatte bereits ein zu genüge schlechtes Gewissen wegen dieser ganzen dummen Sache, aber Semliya, so, wie er früher gewesen war, hätte es ihm niemals vorgehalten.

Es ist geschehen. Es war meine Schuld. Sorge dich doch nicht.

Die Worte hallten so deutlich in seinen Ohren, dass er hätte schwören können, sein Bruder hätte sie wirklich gesprochen. Doch er schwieg, ihm den Rücken kehrend vor ihm her stapfend.

Wenn er schon nicht mehr den alten Semmi wieder haben konnte, dann wenigstens den, der etwas dumm gewesen war. Das war zwar anstrengend gewesen, aber wenn er in seine Augen geblickt hatte, hatte er dort seine Seele gesehen... die war nun verschwunden.

Semliya gab es nicht mehr. Der Junge, der dort vor ihm ging, liebte ihn nicht. Er kommandierte ihn herum, wenn es niemand bemerkte, und benutzte ihn für alle unschönen Aufgaben, die so anfielen, mehr auch nicht.

Und trotzdem konnte er sich nicht von ihm lösen... es tat weh. Sie waren doch ihr ganzes Leben lang zusammen gewesen, unzertrennlich.

Unzertrennlich sind wir schon lange nicht mehr., dachte er schließlich bitter bei sich, Wir wurden voneinander getrennt an dem Tag, an dem er den Stein abbekam... vermutlich für immer.

Er wollte sich befreien.
 

Es wurde Abend und es wurde Nacht.

„Du Irrsinniger hältst uns hier alle für nichts und wieder nichts auf!“, schimpfte Tejet, als sich alle am großen Feuer versammelt hatten, während Moconi sich von Kurapi bestätigen ließ, dass seine Bemalung noch optimal aussah, ebenso wie die aller anderen.

„Sie werden bald kommen.“, entgegnete Shiran dem Himmelsblüter düster und als der verächtlich schnaubte, fletschte der Seher kurz seine abstrusen Zahnreihen. Sanan rückte unterdessen sein Stirnband richtig; er trug selten welche, seiner seltsamen Tätowierung zum Trotz.

„Wir sollten sie am Rand des Lagers abholen, wir können wohl kaum erwarten, dass sie sich ohne ausdrücklich Erlaubnis einfach so zu uns ans Feuer gesellen.“, gab ein Mann aus dem Kojotenstamm zu bedenken und Kewera rollte mit den Augen.

„Wir haben doch Männer aufgestellt. Lausche, wenn wir etwas mitzuteilen haben, du Narr!“

Der Mann sank in sich zusammen und alle murmelten. Es herrschte eine angespannte Stimmung im Lager, die Erwartung von Unheil lag in der Luft und die Last davon lag auf Shirans Schultern, auch wenn Moconi sie ebenfalls zu spüren glaubte. Der Seher saß ruhig da, aber Sanan bemerkte seine Anspannung. Er erkannte ihn inzwischen.

Er beobachtete seinen Bruder einen scheinbar endlosen Augenblick und zuckte dann zusammen, als er plötzlich laut zu sprechen begann, ohne auf ihn einzugehen.

„Sie kommen. Sie sind da. Entscheide weise, Moconi... wir werden das Ziel ohnehin erreichen, es liegt an deiner Großherzigkeit.“

Der Häuptling nickte. Die Menschen murmelten wieder leise unter sich und es machte den jungen Mann nervös. Verdiente Nadeshda Großherzigkeit? Sie hatte sie so lange gequält, dieses verdammte Biest. Vielleicht hatte sie ein interessantes Angebot, überlegte er sich – er hoffte es, denn wenn es das gab, dann konnte er sie und ihre Meute einfach ohne weiteres aufnehmen. Wenn nicht... ach Himmel. Der Rat hatte die Entscheidung auf ihn abgeschoben... diese elenden.

Vielleicht sollte er es sich einfach machen.

Er erhob sich und verkündete seine Gedanken.
 

„Dich kennen wir noch.“

Dherac hob seine sichtbare Braue – die andere war unter dem Band, das sein nicht mehr vorhandenes Auge verdeckte – skeptisch und Zerit nickte. Diese Gruppe war irgendwie anders, als er sie sich vorgestellt hatte... das fand Porit auch, wie er an seinem Blick, den er kurz auf ihn schweifen ließ, bemerkte.

Der Magier nickte.

„Sehr wohl. Ich nehme an, wir waren angekündigt.“

Dherac nickte, irritiert zu der Gruppe an Mädchen, die ihm folgte, schielend. Wer von denen war denn nun jene Herrin? Am ehesten noch die Schwangere mit der seltsamen Kopfbedeckung... oder? Die schaute so ängstlich. Vielleicht ja die Pummlige? Immerhin schien die keine Scheu zu besitzen und lächelte einfach, als sie sich beobachtet fühlte.

„Wohl wahr. Folgt mir – das Urteil fällt der Häuptling.“

„Moconi?“, fragte eines der kleinen Mädchen ihn lauernd und drückte einen Säugling – zu wem auch immer der gehören mochte – an sich. Scheinbar hatte man ihr noch keinen Respekt vor Männern beigebracht; oder bei den Kalenao hatte man das einfach nicht. Der Mann entschloss sich großherzig dazu, sie nicht zurecht zu weisen und nickte.

„Genau der.“

Und sie folgten ihm.
 

Mit erstaunlichem Selbstbewusstsein traten die Fremden – bis auf die Schwangere, die sich sichtlich unwohl zu fühlen schien – vor allen Menschen der vereinigten Stämme im hell erleuchteten Zentrum des großen Lagers vor den Häuptling. Moconi erhob sich mit den anderen wichtigsten Jägern und scheinbar herrschte auch unter den Magiern etwas Verwirrung, wer denn nun hier wirklich der war, auf dessen Urteil sie hoffen mussten, nachdem Nadeshda, wer auch immer das nun sein mochte, ihre Situation erklärt hatte. Einzig das Knacken des mächtigen Feuers war zu vernehmen, ansonsten herrschte Ruhe. Die Schwangere hob vorsichtig ihr Haupt und ließ ihre Augen, die die Farbe von Spätsommerblumen hatten, durch die Reihen schweifen, als suche sie jemanden. Dann murmelte sie etwas leise und unverständlich.

Moconi wollte nicht darauf eingehen – gerade, als er zum sprechen ansetzen wollte, riss ein unverständlicher Freudenschrei alle Aufmerksamkeit auf sich. Von irgendwo kam der vor Ewigkeiten entführte und nie wieder frei gelassene Magierjunge ohne die empörten Rufe der Menschen zu achten einfach zu den Neuankömmlingen und warf sich einem der kleinen Mädchen an den Hals, es dabei beinahe umwerfend; er war zwar weder groß, noch kräftig, aber besonders die beiden Mädchen mit dem hellblauen Haar, das irritierenderweise dem Mahrrans glich, schienen mehr lebendig gewordene Puppen zu sein als wirkliche Kinder.

Er redete wild und in atemberaubender Geschwindigkeit auf sie ein, lachte und weinte dabei gleichzeitig, begann zu zittern und drückte sie immer fester und besitzergreifender an sich. Das Mädchen war zunächst wie erstarrt, dann schnappte es heftig nach Luft und begann ebenfalls zu weinen... es weinte einfach nur und klammerte sich an ihn.

„Sie... sind verlobt. Und haben sich vermisst.“, erklärte Zerit schließlich unberührt der verwirrten Meute und durch die Reihen der Frauen gingen Geräusche der Rührung. Auch Zerits Gefährtinnen schenkten der Szene ein Lächeln, dann sprach das Mädchen mit dem Baby zu dem Paar, ebenfalls unverständlich, denn in ihrer Sprache. Kajira sah kurz zu ihr, schnaubte dann empört und schimpfte etwas und seine augenscheinliche Verlobte presste sich noch mehr an ihn, als dachte sie nicht daran, ihn je wieder los zu lassen.

„Sie hat sich dafür entschuldigt, es nicht geschafft zu haben, ihn zu befreien.“, erklärte Shiran von seinem Platz aus mehr beiläufig. Sanan bemerkte, dass er zitterte.

„Und er beschwert sich und sagt, eine ordentliche Entschuldigung sei mehr als nur angebracht... sie sieht das ein.“

Sie sprach abermals etwas und der Junge nickte... dann räusperte sich Moconi und gewann so endgültig die Aufmerksamkeit. Verdammt, diese ganze Verzögerung hatte ihn doch nur noch nervöser gemacht...

Er musterte die Gruppe. Eine Schwangere, ein Baby und lauter kleine Mädchen, von Zerit abgesehen; er hatte von seinen Männern verlangt, sie einfach dann, wenn es sich anbot, abzustechen, aber das widersprach so ziemlich jeder ihm bekannten Regel. Man durfte weder Kinder noch Schwangere töten! Und wo bei allem, was heilig war, war Nadeshda, diese feige Bergziege? Schickte die tatsächlich einen so schwächlichen Haufen vor? Erbärmlich.

„Euer Bekannter Shiran hat euch bereits angekündigt – ich weiß nicht genau, wer ihr seid, aber ihr gehört zu unseren Feinden, um das vorweg zu klären, achtet auf eure Worte.“

Er schielte zu jenen, die er dazu auserkoren hatte, die Ermordung durchzuführen und schüttelte den Kopf – sie schienen darauf erleichtert; ihnen waren jene Regeln auch bekannt.

„Warum hast du ihm nicht gesagt, dass er sie nicht töten kann?“, erkundigte sich Sanan dumpf bei seinem Bruder, der wie versteinert auf die Gruppe Kalenao starrte. Er erwartete nicht ernsthaft eine Antwort, erhielt sie dann jedoch dennoch.

„Überflüssig, er sieht es ja selbst.“

Die Magier lauschten aufmerksam, von einigen erhielt der Häuptling jedoch nur verwirrte Gesichter, das Mädchen mit dem Baby verengte die Augen und die andere schmiegte sich noch immer etwas abwesend an Kajira.

„Die verloben sich aber ganz schön jung.“, bemerkte Kinashi nebenbei leise und Tanest nickte.

„Da Zerit scheinbar eingeschlafen ist, übernehme ich es.“, sprach Shiran da plötzlich laut in der Sprache der Menschen, dann redete er an die Gruppe gewandt seine eigene Sprache und Sanan bemerkte, dass er Moconis Worte wiederholte. Zerit zuckte mit den Schultern, aber irgendwie merkte man ihm dennoch an, dass es ihm unangenehm war.

Die Magierinnen tauschten daraufhin betroffene, verängstigte oder wütende Blicke aus, es war eine seltsame Sache. Bloß Kajiras Verlobte schien rundherum glücklich und störte sich überhaupt nicht mehr an dem, was um sie herum geschah.

„Danke, Shiran.“, sprach daraufhin überraschend das Mädchen mit dem Baby, das daraufhin zu quengeln begann. Es wiegte es darauf in gewohnter Manier und das Kind beruhigte sich wieder. Dann sagte sie etwas in ihrer Sprache an den Seher gewandt und dieser antwortete grinsend; dann errötete sie und wandte den Blick wieder von ihm ab.

„Seid ihr so weit?“, brummte Moconi und baute sich vor den eher unerwünschten Gästen auf, „Mein Name ist Moconi, Sohn Saltecs und ich bin der Häuptling des Schlangenstammes; zu meiner rechten haben wir Kewera, den Häuptling des Kojotenstammes.“

Der Mann rührte sich nicht, starrte bloß ernst geradeaus und der Jüngere dachte sich, dass er dabei wohl viel imposanter wirken musste als er selbst. Keine Zweifel, verdammt...

„Dann... du bist das.“, entgegnete das Mädchen mit dem Baby und erst jetzt bemerkte man, das ihre Sprachkenntnis wohl auch eher lückenhaft war, denn ihr Akzent war von ihrem abenteuerlichen Satzbau einmal abgesehen noch viel stärker ausgeprägt als der von Shiran, „Bist... ein anders Mann als is... ich denkte. Sieht mehr... anders aus.“

Sie musterte ihn eingehend und Moconi hob missbilligend über ihre maßlose Art eine Braue.

„Ich hätte sie doch zügeln sollen...“, brummte Dherac neben Porit missgelaunt, nicht ahnend, dass sein Häuptling momentan nicht im Entferntesten daran dachte, ihm einen Vorwurf deswegen zu machen.

„Das mag sein. Ist das von Bedeutung? Wo ist deine Herrin?“

Sie schien einen Moment lang darüber nachzudenken und Zerit hob seine Brauen und wandte den Blick etwas verlegen ab. Sie verstand die Logik seiner Frage mit ihren schlechten Sprachkenntnissen nicht und irgendwie hatte er nicht das Bedürfnis, sie ihr zu erklären. Sie ignorierte zunächst seine Frage.

„Is... äh, ich... Zerit soll sagen was ich sage... ich nicht gut mit deine Sprache, hörst du. Und müde von... äh... bekommen das.“

Sie deutete auf den Säugling in ihren Armen und ein Raunen ging durch die Reihen. Moconi hob die Brauen. Was war das bitte für ein absolut abstruses Volk?! Er hatte genug davon, er wollte das endlich hinter sich bringen...

„Wo ist Nadeshda?“, fragte er dieses Mal deutlicher und Zerit war sich sicher, dass sie das nun verstanden hatte.

Zunächst schaute sie ihn verblüfft an, dann verengte sie ihre Augen und zischte.

„Ich... bin Nadeshda, Moconi.“
 

Abermals herrschte Schweigen und das im kompletten Lager. Irgendwie schien auch das Feuer einen Moment lang keinen Laut von sich zu geben. Der Häuptling war froh, sich nicht selbst zu sehen... er hüstelte, als sich das Gesicht seines winzigen Gegenübers zuerst hochrot und dann violett verfärbte.

„Werat Tèv raschari, quiadt tanjet mece?!“

Sanan hüstelte... das war aber dumm gelaufen. Ja, er war irgendwie wirklich ein Hornochse, sie hatte schon recht...

Zerit hielt es nicht für nötig, das zu übersetzen. Die Schwangere legte der kindlichen Herrin – die so kindlich gar nicht sein konnte, sie hatte bereits ein Baby, wie man sehen konnte – behutsam eine Hand auf die Schulter und Nadeshda schnappte nach Luft, um sich zu beruhigen. Moconi errötete beschämt.

Sie war klein, wirklich klein und hatte nicht das Gesicht einer Frau. Als er sie nun eingehender musterte, bemerkte er, dass sie tatsächlich leicht ausgeprägte Rundungen besaß; sie konnte unmöglich so jung sein, wie sie schien.

„Verzeihung.“, brachte er so schließlich hervor und die Magierin schluckte erschaudernd und ziemlich offensichtlich ihren Ärger herunter und sprach gekonnt ruhig in ihrer eigenen Sprache weiter.

„Sie sagt, ihr wüsstet dank Shiran, dem absoluten... nun ja, also ihr wüsstet dank Shiran ja ohnehin Bescheid und worum es geht. Sie kann sich denken, dass ihr wohl einen ernsthaften Grund braucht, weshalb ihr uns hier aufnehmen solltet und den haben wir auch für euch.“

Sie machte eine Spannungspause und lächelte dann auf eine seltsam berechnende Weise. Ja, sie war definitiv älter, als ihre Körpergröße es vermuten ließ...

„Ihr Bruder Mahrran hat deine Schwester, Moconi, zu seiner Frau genommen.“, übersetzte Zerit schließlich weiter, als sie ihre Rede fortsetzte, „Er hat ihr die Sterne vom Himmel geholt, sagt sie, er hat ihr neues Leben eingepflanzt, es wird bald geboren. Aber Mahrrans Gedanken sind nun nicht mehr frei und Kili wäre es ab nun schlecht bei ihm ergangen... also haben wir sie mitgebracht, sie wartet vor dem Lager... irgendwo.“

Sie konnten beide nicht weiter sprechen, denn von überall erklang wildes Gemurmel über diese wahrlich überraschende Nachricht. Moconi selbst hatte die Augen geweitet und schien seine Worte zunächst einmal verdauen zu müssen. Dann wandte er sich langsam an Shiran.

„Spricht sie die Wahrheit?“

„Mit jedem Wort.“, bestätigte er nahezu starr und der Häuptling erschauderte entgegen seines Vorhabens, stark zu wirken.

„Soll ich diese Tatsache als Anlass nehmen... ihnen den Aufenthalt zu gestatten?“

„Damit locken sie dich nur.“, fuhr ihm Kewera ins Wort, „Aber du kannst vielleicht mit ihnen verhandeln... wenn die Kleine ihr Volk wieder im Griff hat, soll sie euch Ruhe gönnen. Das klingt vernünftig.“

Shiran nickte bestätigend. Moconi wandte sich wieder an Nadeshda.

„So sei es. Bring mir meine Schwester her, auf der Stelle. Und schwöre mir, dass ihr uns in Ruhe lasst, wenn du wieder die Herrin über dein wahnsinniges Volk geworden bist, Tirafasa.“

Zerit übersetzte seine Worte und die Magierin hob eine Braue; ob es nun wegen seiner Forderung oder des fremden Namens war, ließ sie nicht erkennen.

Vor seinem Volk hatte Moconi damit ein Zeichen gesetzt, er hatte ihr einen anderen Rufnahmen gegeben, Tirafasa – kleines blaues Mädchen, und es fand es sehr passend – damit hatte er sie mehr oder weniger entmündigt; in seinem Stamm war sie ihm damit bedingungslos unterworfen und die einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, wäre gewesen, wieder zu verschwinden. Sie protestierte auch nicht dagegen, sondern schien kurz nachzudenken und nickte dann langsam. Ein gewisses Unbehagen stand in ihrem kleinen Gesicht, während sie ihr Baby an sich drückte und Zerit scheinbar dazu anwies, des Häuptlings Schwester zu holen. Er machte sich sofort auf.

Als er aus dem Sichtfeld der versammelten Gruppe verschwunden war, trat Shiran hervor, sich ohne sie eines Blickes zu würdigen neben seine Herrin stellend.

„Sie haben noch etwas, womit sie deinem Stamm dienen können.“, erklärte er an Moconi gewandt und der hob seine Brauen.

„Ich höre?“

Der Seher deutete auf die schüchterne Schwangere.

„Diese Frau, Alaji, ist Heilerin. Eine außergewöhnliche Heilerin, sie kann nahezu alles heilen, wenn der Betroffene nicht unbedingt zum sterben verdammt ist. Sie sollte sich Tecos Bein ansehen.“

Die Frau mit der seltsamen Kopfbedeckung zuckte merklich zusammen und Nadeshda schielte den Mann von der Seite an, aus irgendwelchen Gründen versuchend, ihr Kind vor ihm zu verbergen.

Tanest erhob sich augenblicklich aus den Reihen der Frauen und trat hervor.

„Ist dem so?!“, erkundigte sie sich in ihrer ungestümen Art und jene Alaji wich etwas vor ihr zurück; sie hörte nur den barschen Klang ihrer Stimme, verstand jedoch nicht ihre Worte. „Teco wollte sich nicht zeigen an diesem Abend, zu groß ist seine Scham. Er... wollte euch Bestien nicht die Genugtuung gönnen, seine Wunde zu sehen. Aber wenn du ihm helfen kannst... ich bringe dich sofort zu ihm, und seist du noch so sehr eine elende Magierin.“

Shiran sprach mit der Heilerin, übersetzte Tanests Worte und sprach noch mehr und die Frau schnappte errötend nach Luft, dann wandte sie sich an Tecos Mutter und nickte ihr zu.

„Darf ich sie zu ihm bringen?“, freute die sich daraufhin und Moconi nickte ihr zu. In den Augen der Menschenfrau stand Hoffnung, aber auch eine gewisse Furcht, als sie sich wieder an Alaji wandte.

„Und wage es nicht, ihm ein Leid anzutun.“

Der Seher hielt es nicht für nötig, ihre Worte zu übersetzen. Er grinste leicht.

„Das... wird sicherlich das letzte sein, was sie jemals tun würde.“
 

„Schade, dass du mich nicht verstehst, Mädchen.“, seufzte Tanest, während sie sich mit der Heilerin im Schlepptau von der Versammlung entfernte, „Was bist du für ein komisches Ding, scheinst dich ja vor uns zu fürchten. Keine Angst, Teco ist ein guter... wo ist eigentlich dein Mann? Du wirst doch einen haben... hoffentlich nicht dieser komische Zerit, dem misstraue ich.“

Sie drehte sich kurz zu ihr um und sah, dass die Schwangere sie errötend anlächelte. Sie verstand kein Wort, aber sie bemühte sich, nett zu sein... ach, wer sagte denn, dass alle Bestien gleich waren? Welch interessanter Abend.

Als sie anhielt, wäre sie beinahe in sie hinein gerannt und sie gluckste, während die Heilerin verzweifelt die Hände hob und sich irgendwie zu entschuldigen zu versuchte.

„Nicht doch.“, sie deutete auf ihre Hütte, „Hier leben wir. Ich erzähle ihm von seinem Glück, einen Augenblick bitte.“

Sie kletterte in das Innere ihrer Behausung und ließ Alaji zunächst unschlüssig draußen warten.

Teco saß missgelaunt am anderen Ende der Hütte und verbesserte die Speere seines Vaters.

„Was machst du denn schon hier, ist die Versammlung bereits zu Ende?“, erkundigte er sich brummend bei seiner Mutter, die ihn bloß anlächelte.

„Nein, noch nicht. Aber die haben jemanden dabei, jemanden, der sich mit Verletzungen auskennt oder so...“, der junge Mann hielt abrupt in der Bewegung inne, „Shiran hat gesagt, das Mädchen könnte die helfen. Ich denke, sie ist in Ordnung... möchtest du es auf einen Versuch ankommen lassen?“

Er hob langsam den Kopf zu ihr und Tanest hob auf seinen seltsamen Blick hin eine Braue. Dann legte er sein Werkzeug auf der Stelle bei Seite und faltete die Hände.

„Hast du sie mitgebracht? Rufe sie herein, bitte.“

Die Frau lächelte zufrieden.

„Ich wusste, das würde dir gefallen.“

Eine neue Hoffnung. Und Hoffnung war wichtig.
 

Teco fühlte sich wie erstarrt, als seine Mutter aus dem Ausgang lugte und versuchte, jene Heilerin zu sich zu rufen. Sein Herz pochte so laut, dass er das Gefühl hatte, man konnte es hören. Sie ahnte ja nicht, dass sein Bein nebensächlich war in jenem Moment... es zählte etwas anderes.

Alaji. Seine Alaji. Die seltsame Frau, die er ursprünglich hatte entführen wollen, mit der er sich dann verlaufen hatte und dann Ewigkeiten mit ihr zusammen gewesen war... und sich in sie verliebt hatte. Selbst mit funktionstüchtigem Bein hätte er Calyri nicht ohne schlechtes Gewissen an sein Feuer nehmen können, inzwischen war ihm das klar. Ein Grund mehr, sie zu Moconi zu schicken, der das aber irgendwie einfach nicht verstehen zu wollen schien. Nur kurz hatte er gewagt zu hoffen, dass sie mitkommen würde, als der Seher die Gruppe angekündigt hatte, aber er hatte nicht ernsthaft daran geglaubt... es nicht können.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sie plötzlich da war. Einfach so kam sie mit einem Mal hinter Tanest in die Hütte und tat sich schwer, zu ihm zu kommen, denn sie... war schwanger? Eigentlich wollte er das seinen Eltern anders erklären, aber er kam nicht umhin, seine Augen zu weiten bei ihrem Anblick... und sie tat es doch genau so.

Oh Himmel... sie war so schön. Sie war so schön! Sie war noch viel schöner als in seiner Erinnerung! Sie hatte das bezauberndste Gesicht der Welt und sie strahlte eine solche Wärme aus und sie... lächelte ihn an. Er lächelte auch.

Tanest hob ihre Brauen.

„Alles in Ordnung?“, wollte sie wissen und ihr Sohn konnte seinen Blick nicht von der Magierin abwenden.

„Ja... alles in Ordnung. Danke, dass du sie mir gebracht hast... gehe wieder zu der Versammlung, es ist nicht nötig, dass du alles wegen mir verpasst. Ich komme zurecht.“

Die Frau machte nicht den Eindruck, als hätte sie die Versammlung in jenem Moment interessanter gefunden; aber irgendwie ließ sie das Gefühl nicht los, dass ihr ältester Sohn mit der Magierin allein zu sein wünschte. Sie kam dem nickend nach.
 

Sie küssten sich. Sie mussten nicht weiter darüber nachdenken, es war belanglos, was zuvor geschehen war, wie es kam, dass Alaji plötzlich hier, in seiner Hütte war oder weshalb er es auch war und nicht auf der Versammlung, es war einfach vollkommen gleich. Er zog sie zu sich und ließ sie nicht mehr los. Sie zu berühren, zu halten und zu küssen war eine Art Erlösung und einen Augenblick lang fühlte er sich einfach frei, seinem kaputten Bein zum Trotz.

Letztendlich wusste er nicht, wie lange sie sich einfach so liebkost hatten, ohne, dass irgendetwas anderes von Bedeutung gewesen war; es war jedenfalls Alaji, die plötzlich auf etwas anderes „zu sprechen kam“.

Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren deutlich gerundeten Bauch, ihn verliebt anlächelnd.

„Tecos.“, erklärte sie alles in nur einem einzigen, leisen Wort und der Mann antwortete ihr mit einem weiteren Kuss, sanft über ihren Bauch streichelnd.

„Tecos.“, bestätigte er, „Und Alajis. Wir werden offenbar zu Vater und Mutter... ich glaube, das Glück raubt mir die Luft zum Atmen.“

Er verschwendete keine Gedanken mehr daran, dass die Beziehung zwischen ihnen auf irgendeine Weise anstößig war, dass jemand etwas dagegen haben konnte... sie würde ihn heilen und er würde sie an sein Feuer nehmen und sie würden mit ihren vielen guten Kindern zusammen leben. Das musste einfach so sein, dass sie nun hier war, in seinen Armen, war ein gutes Zeichen. Und er wurde Vater... Vater! Er dankte den Göttern.
 

Kili machte sich bereits bemerkbar, bevor sie da war. Sie schrie und lachte vor Freude, als sie, wie man sehr bald darauf bemerkte trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft, durch das Lager rannte, zielstrebig in Richtung Zentrum, denn sie wusste, in welcher Ordnung sie ihre Hütten jedes Mal aufbauten. Sie war wieder zuhause... es hatte sich viel verändert, das bemerkte sie, als sie schlagartig stehen blieb, ringsherum umgeben von allen Menschen – vielen fremden Menschen – und alle starrten sie an. Sie starrte zurück, vollkommen außer Atem, nicht bemerkend, das auch Zerit plötzlich hinter ihr aufgetaucht war. Ihre Augen suchten nach ihrem Bruder... und fanden ihn schließlich.

Da stand er, würdevoll, prachtvoll geschmückt... er war ein Bild von einem Mann. In jenem Moment war es, dass sie bemerkte, wie stolz sie auf ihn war... am liebsten hätte sie sich in seine Arme gestürzt und wäre so an ihm hängen geblieben wie Mabalysca es gerade mit Kajira tat – zumindest nahm sie an, dass jener junge Mann Kajira war.

Aber jener Respekt, den sie mit einem Mal vor dem Mann, der ihr Bruder war, hatte, veranlasste sie dazu, einfach im Mittelpunkt des Platzes, in der Nähe des Feuers, stehen zu bleiben und die Hände lächelnd über ihrem Bauch zu falten, ihn einfach nur ansehen. Er erwiderte ihren Blick starr.

Da stand sie, auf den ersten Blick kam sie ihm vor wie eine Fremde. Ja, Kili bekam ein Baby, einen kleinen Himmelsblüter... was konnte sie schon dafür? Trotzdem war es abstrus, sie schwanger zu sehen. Ihre Kleidung war die der Bestien, kein einziges Fell bedeckte ihren Körper. Dafür erkannte er im Licht des Feuers, dass sie tatsächlich noch blasser geworden war... beinahe hätte man sie selbst für eine Magierin halten können. Beinahe. In ihren Augen lag ihre Seele. Die Seele von Kili, seiner kleinen Schwester... wie hatte er sie nur mit Karem mitschicken können damals? Er erschauderte unmerklich... dann lächelte er sie an. Und sie strahlte, dann überwand sie die Distanz und warf sich in seine Arme.

Die Stämme jubelten. Kili lachte. Ihr Herz hatte auf gewisse Weise geblutet, nachdem Mahrran verrückt geworden war – anders konnte sie es sich nicht erklären – sie waren lange zusammen gewesen und obgleich sie von ihrer Heimat getrennt gewesen war, konnte sie es nicht unbedingt als schlechte Zeit bezeichnen. Sie hatte sich mit dem Gedanken angefreundet, in seinem seltsamen Haus als seine Frau und Mutter seiner Kinder zu leben... dass es nun wieder ganz anders aussah, verwirrte sie mehr, als sie zugeben wollte. Aber es brachte auch Gutes mit sich... wie Moconi.

„Ich bin da!“, verkündete sie strahlend und er küsste sie auf Stirn und Wangen und umarmte sie noch einmal fest – aber nicht zu fest.

„Ich sehe es. Ich bin unwürdig, dich um Verzeihung zu bitten, ich sollte demütig vor deinen Füßen kriechen, es... tut mir so leid.“

Er streichelte durch ihr länger gewordenes Haar und sie kicherte entgegen aller Vernunft nur.

„Gräme dich nicht, mein Bruder. Alles ist... wird gut. Ich hoffe, du... nimmst mich und mein Kind noch hier auf...“

Er wusste, worauf sie anspielte, als sie ihr Gesicht in seiner Weste vergrub. Oh, wie sie den Geruch von Fellklamotten liebte!

„Manchmal ist es angebracht, Traditionen zu brechen.“, entgegnete er darauf nach kurzem Zögern so leise, dass nur sie es hören konnte, und sie blickte verblüfft zu ihm auf. Nebenbei bemerkte sie, dass einer der fremden Männer, der zu Beginn neben Moconi gestanden hatte, sprach und viele sich daraufhin erhoben... es war einer der seltsamsten Momente ihres Lebens.

Einen Mondzyklus zuvor war sie eine junge Frau aus dem Schlangenstamm gewesen, die Schwester des Häuptlings, die es geliebt hatte, sich schön zu machen und schöne Dinge zu erschaffen. Wenn sie sich dazu berufen gefühlt hatte, dann hatte sie Frauenarbeit verrichtet und niemals hatte sie sich vorgestellt, dass sich dies ändern würde – höchstens im Sinne davon, dass endlich ein Mann sie an sein Feuer nahm und sie von da an bei ihm lebte anstatt bei ihrem Bruder.

Heute, ein Jahr später, stand sie nahezu als Fremde in ihrem eigenen Stamm, schwanger von einer Bestie, umgeben von vollkommen unbekannten Gesichtern und Magiern, die sie gar nicht hatte kennen wollen in einer Zeit, die von Unsicherheit nur so geplagt war – vielleicht würden sie bald alle sterben.

Aber wenn es so kam, dann war sie bereit – nicht, weil sie nicht mehr leben wollte; auf abstruse Weise war für sie in jenem Augenblick einfach alles in Ordnung.
 

Und es war besiegelt. Nadeshda war speiübel, als sie Rayada bat, sich etwas um Nocasi zu kümmern... Moconi hatte sie fest im Griff. Natürlich, sie hatte nichts anderes erwartet, aber trotzdem stieß es ihr sauer auf. Sie würden sich alle zusammen eine dieser muffigen Erdhütten teilen müssen... das würde ein Spaß werden. Und dennoch forderten ihre Götter sie zur Dankbarkeit auf. Auf ihr Lager freute sie sich an dieser Stelle tatsächlich, sie war absolut erschöpft, dabei hatte doch Zerit sie den halben Weg getragen – ihre Beine trugen sie so kurze Zeit nach der Geburt ihrer Tochter noch nicht besonders weit. Der arme Kerl.

Jetzt, mitten in der Nacht, suchte sie zunächst einmal nach einem anderen Kerl. Ihre Sinne führten sie zielsicher durch das nach einem für sie an sich vollkommen undurchschaubaren Prinzip erbaute Lager zu einer unscheinbaren Hütte relativ weit außen – hier lebte Shiran, das wusste sie. Noch ehe sie ihn heraus bitten musste, stand er bereits vor ihr, gefolgt von einem schwarzhaarigen jungen Mann, der für einen Menschen ziemlich schmächtig wirkte. Es sollte ihr egal sein, ebenso wie die ganzen dämlichen Blicke, die diese Maden ihr schenkten. Ja, verdammt, sie war nun einmal klein, na und?

Shiran wunderte sich darüber natürlich nicht. Sie hatte ihn lange nicht gesehen... sein Gesicht hatte sich nicht verändert, nur sein Haar war gewachsen. Und er trug diese elende Menschenkleidung... bald würde sie sie sicher auch tragen müssen; sie glaubte kaum, dass die Bäume, die die Früchte trugen, aus denen man Stoff herstellte konnte, in diesem Land überleben konnten. Das musste zunächst jedoch nebensächlich sein.

„Es ist an sich nicht nötig, dass ich noch mit dir spreche.“, begrüßte sie den Seher uncharmant und der Schwarzhaarige hob seine Brauen. Shiran rührte sich nicht.

„Chigaru hat schon mit dir gesprochen... du weißt, was du zu tun hast; was du tun musst. Schließlich ist es doch unser Volk, das du... beherrschen möchtest, nicht? Und nicht das der Menschen.“

Der Seher bedachte sie eines ungewohnt düsteren Blickes.

„Ich werde nicht zurückgehen und mich selbst verfluchen lassen, Nadeshda. Es ist bereits zu spät dafür, wir müssen uns auf das, was unausweichlich ist, vorbereiten. Mehr können wir nicht tun.“

Sie starrte ihn einen Augenblick empört an, dann fuhr sie sich zischend durch ihr kurzes blaues Haar.

„Kann ich dir das glauben?“

„Du hast mein eigenes Interesse erwähnt, was das betrifft...“

Sie schnaubte. Na, wenn das so war... dieser intrigante Mistkerl. Ihm ihre Macht zu überlassen war mit Sicherheit das letzte, was sie jemals tun würde. Wenn sie nicht selbst so versessen darauf gewesen wäre, selbst wieder Oberhaupt der Kalenao zu werden, dann hätte sie Chigaru, sobald das alles vorbei war, vor des Sehers Augen zum Dorfoberhaupt gemacht. Vielleicht tat sie es... oder sie fragte ihn, ob er vielleicht mit ihr zusammen regieren wollte. Er wünschte sich Ruhe, hatte er gesagt... aber wenn sie es zusammen täten...

„... und ich werde ihm auch nicht Bescheid sagen oder ihn vor irgendetwas warnen, diesen wertlosen, widerlichen Wurm.“

Oh, ihn ärgerten ihre Gedanken. Sie grinste. Roch sie da so etwas wie Neid?

„Abwarten. Ich vertraue Chigaru, er kommt sicherlich auch ohne dich klar. Und du... weißt das auch, nicht wahr?“

Sie kicherte mädchenhaft und obwohl vor der Hütte nur ein kleines Feuer brannte und es ansonsten stockdunkel war, sah Sanan seinen Bruder vor Wut erbleichen.
 

Moconi ließ sich erschöpft auf sein Lager sinken, seine Bemalungen ignorierend. Er war einfach nur müde... und er fragte sich, was sowohl Kurapi als auch Tinash jetzt noch bei ihm wollten.

„... geht heim, ich habe hier keinen Platz für euch, Kili ist wieder da.“, brummte er irritiert und im nächsten Moment betrat seine Schwester zum ersten Mal seit langer Zeit wieder die Hütte, die sie sich so lange mit ihrem Bruder geteilt gehabt hatte, und schenkte den beiden Gästen einen zunächst irritierten, dann amüsierten Blick, wandte sich jedoch sofort an Moconi.

„Du hast mein Schlaflager ja bereits gemacht.“

„Seit du weg warst in jedem neuen Lager, Kili. Ich habe auf dich gewartet.“

Er sah nicht auf und sie lächelte gerührt, die beiden anderen schielten sich kurz an.

„Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich heute trotzdem bei dir schlafe?“

Als Antwort klopfte er bloß auf sein Fell neben sich und sie kicherte und legte sich zu ihm, sich an ihn schmiegend. Tinash hob beide Brauen, das Geschehen monotonen Blickes verfolgend.

„Darf ich dann so lange in deinem Lager schlafen, Kili?“

Kurapi sah ihn doof an, dann kratzte er sich am Kopf. „Eigentlich waren wir ja verab... ach, was soll es. Ich vergesse nichts, Moconi.“

Der Häuptling sah nicht auf, hob bloß eine Hand und bewegte sie beschwichtigend.

„Tut mir leid, demnächst.“

„Jaja.“

Und er verschwand. Kili hatte das Gefühl, so einiges verpasst zu haben...

„Warum möchtest du unbedingt hier sein? Du kannst gern in meinem Lager schlafen, aber mache es nicht schmutzig.“

Ihr Cousin machte es sich ohne ein weiteres Wort in ihrem Lager bequem. Moconi übernahm für ihn schläfrig das Antworten.

„Es mag merkwürdig klingen für dich... aber Tinash hatte eine Frau an seinem Feuer, Lauy, Karems Tochter. Er mochte sie sehr, aber vor kurzem ist sie plötzlich gestorben... nun ja.“

„Ich mag nicht in dem Lager liegen, in dem sie neben mir gestorben ist!“, zischte der andere junge Mann bitter und Kili sah ihn durch die Dunkelheit betroffen an.

„Oh nein... das tut mir sehr leid.“

Es wunderte ihn, dass sie sich nicht darüber lustig gemacht hatte, dass er sich ausgerechnet sie ausgewählt gehabt hatte... vielleicht war sie etwas erwachsener geworden. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken.

„Wir sollten schlafen.“, riss Moconi die Aufmerksamkeit wieder an sich, „Wir... haben vermutlich viel vor uns in nächster Zeit.“
 

Porit entfachte extra die Talglampe, nur, um sicher zu gehen, dass seine Augen ihn nicht täuschten. Teco, der davon erwachte, blinzelte zunächst müde und verwirrt unter den perplexen Blicken seiner Eltern und seiner beiden jüngsten Geschwister, die sich um sein Lager versammelt hatten. Dann verstand er auch, weshalb.

Die Tatsache, dass Alaji eng an ihn gekuschelt in seinen Armen schlief, ignorierend, hob er errötend grinsend sein Bein an.

„Es geht ihm viel besser, ich... werde sicher bald wieder jagen können! Hehe...“

Porit legte vollkommen verwirrt den Kopf schief, während seine beiden jüngsten Kinder vielsagende Blicke miteinander austauschten.

„Du... hast dir auch eine Frau genommen, die bereits schwanger war?!“

„Ach was.“, schnaubte Tanest errötend, „Die... ist von ihm schwanger. Oder?“

Der junge Mann wandte verlegen den Blick ab und die Frau in seinen Armen sprach irgendwelche unverständlichen Worte im Schlaf, erwachte aber nicht.

„Sie war, als ich vom Stamm getrennt war, eine Weile bei mir... in der Zeit war sie meine Frau. Ich hätte sie gern bereits damals an mein Feuer genommen, aber ich hatte das Gefühl, das sei nicht möglich, also habe ich sie wieder zurück geschickt.“, gestand er ehrlich.

„Du hast mit einer Magierin ein Baby gemacht?!“, platzte es aus seiner Schwester Bylema und sein Bruder Ubane schnaubte empört.

„Also wirklich!“

Tanest hob ihre Brauen und schwieg. Porit kratzte sich verwirrt am Kopf. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann wandte Ubane sich an seinen Vater.

„Du, darf Teco das Mädchen behalten? Ich finde es nett.“

Bylema schlug ihm gegen den Kopf.

„Es schläft doch nur, wie kannst du es nett finden?!“

Tanest schwieg, schielte jedoch auffordernd zu ihrem Mann. Teco streichelte nur sanft über den gerundeten Bauch der Magierin... das hätte er bedenken müssen. Aus ihm war ein Idiot geworden... aber er war sich wirklich sicher, bald wieder jagen zu können, davon einmal abgesehen.

Porit räusperte sich.

„Das... klärst du am besten mit Moconi. Wenn es denn wirklich dein Wunsch ist, dass sie... also, willst du wirklich, dass sie deine Frau wird?!“

Der Sohn kam nicht zum antworten; Tanest mischte sich schnaubend ein.

„Sieh dir die beiden an, was denkst du?!“

Der Mann hüstelte.

„Ich meine ja nur...“

Teco seufzte.

„Ich... kümmere mich darum. Seid bitte nicht... enttäuscht von mir.“
 

Er brachte es gleich am Morgen des nächsten Tages hinter sich. Moconi war gerade erst vom Reinigen zurückgekehrt und starrte ihn perplex an, als er ihm von seinem Vorhaben, eine der Magierinnen an sein Feuer zu nehmen, berichtete.

Sie standen vor der Häuptlingshütte, es war ein schöner Tag, doch das Stammesoberhaupt wirkte übernächtigt. Teco konnte es ihm nicht verdenken.

„Langsam, bitte!“, bat sein Cousin ihn da, die Hände hebend und seine eigene Erschöpfung einen Moment vergessend, als er so vor ihm stand, „Du... du willst die Heilerin zur Frau nehmen? Meinst du nicht, das ist... nun ja, etwas übertrieben? Ist ja schön, dass sie dein Bein soweit wieder gerichtet hat... Augenblick, geh mal ein paar Schritte. Wo sind deine Stützen?!“

Teco grinste stolz, als er leicht humpelnd, aber in annehmbarer Geschwindigkeit einmal in einem großen Kreis um Moconi herum schritt und der ihn mit seinem Blick verblüfft verfolgte.

„Wahrlich beeindruckend, wie... wie schön für dich!“, gestand er dann grinsend und Teco nickte und blieb wieder vor ihm stehen. Er spürte seinen Stolz zurückkehren... den Stolz eines wahren Jägers. Wenn er daran dachte, wie er wieder dem großen Wild nachstellte, machte ihn das beinahe euphorisch... er erlaubte sich zu träumen. Waren Träume von einer besseren Zeit nicht das, was sie alle am Leben erhielt?

„Aber ich möchte Alaji nicht deswegen an mein Feuer nehmen.“, kam er zu seinem eigentlichen Anliegen zurück und bemühte sich, Haltung zu wahren. In jenem Augenblick kehrte auch Kili von der Reinigung zurück; anscheinend hatte sie seine letzten Worte auch gehört.

„Oh, du nimmst sie an dein Feuer? Wie schön, sie hat dich sehr vermisst.“

Sie blieb neben Moconi stehen und lehnte sich glücklich an ihn; er legte perplex einen Arm um sie.

„Vermisst?!“

„Ja.“, nahm Kili ihrem Cousin in der gewohnten Manier einer Häuptlingsschwester das Wort aus dem Mund, „Sie kennen sich schon länger, sie sind soweit ich das verstanden habe eine Weile gemeinsam herum gereist und ihr Baby ist Tecos Baby. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?“

Sie wandte sich lächelnd an Teco, der daraufhin den Kopf schüttelte und ihr tatsächlich etwas dankbar war, dass sie die Erklärung an seiner Stelle übernommen hatte.

Moconi sah eine Weile zwischen den beiden her.

„Darüber... muss ich nachdenken.“, kündigte er dann an und senkte den Blick mit in Falten gelegter Stirn, wie er es bereits als Kind getan hatte, wenn er sich über irgendetwas ernsthafte Gedanken gemacht hatte.

„Du siehst gut aus.“, sagte Teco unterdessen zu seiner Cousine und die lächelte.

„Es geht mir auch erstaunlich gut. Ich freue mich, euch alle wieder zu haben... hier gehöre ich hin.“

Als der Häuptling sein Haupt mit geweiteten Augen wieder hob, wandten sich die beiden anderen ihm sofort wieder zu. Scheinbar hatte ihn die Erleuchtung des Tages gepackt, zumindest stand etwas in dieser Richtung daraufhin in seinem Blick geschrieben.

„Ja.“, erlaubte er dann überraschend ohne weitere Einwände, „Du bist natürlich für das, was sie tut, verantwortlich und tu uns allen den Gefallen und bringe ihr Sprechen bei, aber ja, nimm sie an dein Feuer.“

Das Gesicht seines Gegenübers erhellte sich merklich. Noch ehe ihm passende Worte des Dankes einfielen, hatte Moconi beschwichtigend die Hände gehoben.

„Lass gut sein und entschuldige mich, ich... habe noch etwas vor.“

Und er ließ seine Schwester los, drehte sich um und rannte los. Kili lachte, während Teco ihm verwirrt nachblickte.
 

Es war ihm egal, was sie dachten, als er an ihnen vorbei rannte. Er rannte an allen vorbei, ohne auch nur einen einzigen eines Blickes zu würdigen – Moment, doch. Er bremste so abrupt, dass er Gras und Erde aufwirbelte und beinahe hingefallen wäre; Ranisin, neben dem er zum stehen kam, fuhr erschrocken zusammen, entspannte sich jedoch sofort wieder, als Moconi ihn fröhlich angrinste. Er lächelte stolz und präsentierte ihm einen äußerst gut gearbeiteten Kinderspeer.

„Schau, ich habe ihn ganz allein gemacht, ist er nicht bezaubernd?“

„Ganz bezaubernd, sicher der beste Speer in deiner Altersgruppe.“, bestätigte er grinsend und der Junge kicherte fröhlich und sichtlich zufrieden mit seinem Werk, „Weißt du, ob Calyri bei euch ist? Oder wo sie ist?“

Ranisin kratzte sich nachdenklich an seiner Wange, zufällig an einer der Stellen, die noch blau waren von seiner berechtigten Prügel.

„Ja... also eben war sie es noch. Hat mit Morny gespielt, glaube ich.“

Er lächelte und Moconi nickte ihm dankbar zu und rannte weiter.
 

Ihr Bruder hatte nicht gelogen. Sie saß da im Gras, vor sich das kleine Mädchen, das mit ihrer Hilfe auch sitzen konnte, und beschäftigte die Kleine mit einer alten Lederpuppe. Moconi wusste, dass es sich für einen erwachsenen Mann nicht schickte, aber es war ihm vollkommen egal, als er auf ebenso unsanfte Art wie zuvor abbremste, sich vor ihr auf die Knie fallen ließ – und sie wild auf die Lippen küsste. Er sah sie an... er sah, wie sie ihre Augen perplex weitete und zunächst erstarrt war, aber er nahm sich vor, sie so lange zu küssen, bis sie den Kuss zu erwidern wusste... und das dauerte gar nicht so lang, wie er es sich vorgestellt hatte. Er ließ sich nicht stören, auch nicht, als Dherac aus der Hütte kam und die beiden mit seinem einen verbliebenen Auge überrumpelt anstarrte und auch von Kinashi nicht, die mit einem Mal hinter der Hütte erschien und sich verblüfft neben ihren Mann stellte.

Er ließ erst von ihr ab, als ihm die Luft knapp wurde und grinste sie, heftig atmend, breit an. Sie lächelte etwas neben sich zurück – Morny rupfte etwas Gras und warf es auf Moconi, aber das bemerkte niemand.

„W-was ist los...?!“, stammelte Calyri verwirrt und Dherac im Hintergrund schnaubte. Wie konnte er es wagen, seine geliebte Tochter so zu überfallen?!

Er nahm ihre Hände in seine. Die junge Frau schnappte nach Luft und starrte ihn errötend an.

„Teco hat sich erledigt, er wird glücklich sein, wir müssen nicht mehr an ihn denken.“, erklärte er mit dem schelmischen Lächeln eines kleinen Jungen – ja, das war Moconi, wie sie ihn kannte. Kinashi schlug sich die Hände vor den Mund.

„Oh – oh mein Himmel! Dherac, unser kleines Baby geht endlich an das Lager eines Mannes!“

Der Mann schielte sie irritiert an.

„Ich glaube, er hat Calyri gemeint, Kinashi...“

Moconi blickte ihr bis in die tiefsten Abgründe ihrer Seele, hatte die junge Frau das Gefühl, während seine Hände sanft über ihre streichelten.

„Also...“, sprach er dann behutsam, „... möchtest du an meine Feuerstelle kommen, Tochter Kinashis?“

Einen Moment starrte sie ihn nur an. Sie hatte die Hoffnung verloren gehabt... niemals hätte sie damit gerechnet, dass er sie diese Worte jemals fragen würde. Nun war es doch geschehen, auch wenn sie noch nicht so genau begriff, weshalb eigentlich. Sie konnte bloß nicken. Ihre Antwort kam stimmlos, denn ihr traten Tränen in die Augen.

„Ja, das möchte ich...“
 

Semliya starrte ihn mit offenem Mund an. Dieses Mal war es Novaya, der darauf bestanden hatte, dass sie das Lager verließen – er musste mit ihm reden. Dringend.

Sein Herz tat weh... es tat so weh, er hatte das Gefühl, als würde er gleich an den Schmerzen sterben. Dennoch bemühte er sich, sich nichts anmerken zu lassen.

„Wovon... wagst du da zu sprechen?!“, fauchte sein Zwilling ihn da an und sah ihm gezwungen ruhig in die hellblauen Augen, die seinen so ähnlich waren.

„Du hast mich schon verstanden. Halte dich fern von mir. Du bist nicht Semliya, Semliya ist gestorben, Semliya lebt nur noch in meinem Herzen. Du bist nur ein böser Windgeist, der seinen Körper entehrt... und wenn du das schon tun musst, dann reiße dich dabei wenigstens zusammen und hör auf, ständig zu versuchen, Ranisins Essen zu vergiften, er hat seine Strafe längst. Und Mefasa hat ja wohl alles recht dazu, dich nicht mehr ran zu lassen, sie ist nicht dumm.“

Er sah sein Gegenüber vor Zorn beben und einen Moment befürchtete er, es würde sich auf ihn stürzen. Doch nichts geschah. Schließlich schlich sich ein ganz und gar grausames Lächeln in sein Gesicht.

„Nun gut. Deine Sache. Ich komme klar. Du auch? Glaube ich nicht. Aber sei dir gewiss...“, er schritt langsam auf ihn zu und Novaya bemerkte, dass er zitterte, als er mit ihm auf gleicher Höhe stand, „Ich werde dir das Leben zur Hölle machen, verlass dich darauf.“

Dann ging er und ließ seinen Zwilling stehen.
 

Novaya sank ins Gras. Ihm war egal, welche Tiere darin lauern konnten... am liebsten wäre er gestorben. Er vermisste ihn... er vermisste ihn so sehr, er vermisste seine Umarmungen und seine Wärme in kalten Nächten, er vermisste seine Worte, die nur er gehört hatte, er vermisste sein Lächeln, seine Art und die Gewissheit, immer verstanden zu werden, er vermisste... seinen Gefährten, seinen Seelenverwandten. Es hatte niemals jemanden gegeben, den er mehr geliebt hatte, und dem Jungen kamen die Tränen... er hatte auch keine Lust, sie zurück zu halten, dann weinte er halt.

Er keuchte erschrocken, als sich das Gras neben ihm plötzlich bewegte und mit einem Mal eine Person neben ihm saß.

„Dein Bruder... ist geworden verrückt... nicht? Meiner auch.“

Er wischte sich über die Augen und setzte sich auf. Neben ihm im Gras saß die kleine Herrin der Kalenao und sah ihn aufmerksam an, sich scheinbar überhaupt nicht an seinen verheulten Augen störend.

„Wurden bekommen... zusammen. Wie du und Bruder.“

Er beschloss tapfer, sich seine Irritation nicht anmerken zu lassen; vermutlich war sie die ganze Zeit in der Nähe gewesen, vielleicht hatte sie sich erleichtert, man sah sie ja nicht.

„Tirafasa und ihr Bruder sind Zwillinge?“, ging er auf ihre Worte ein und sie dachte kurz nach, dann nickte sie.

„Glaubt. Zwillinge... Frau bekommt zwei Babys?“

„Ja, genau.“

Novaya dachte kurz nach. Ja, Shiran hatte so etwas schon einmal erwähnt... er hatte es ganz vergessen. Vielleicht war sie deshalb gekommen...

„Er hat einen Stein abbekommen. Der hat ihn verrückt gemacht.“

Sie nickte und musterte ihn in ihrer gleichermaßen natürlichen, als auch respektlosen Art.

„Er hat... Fluch bekommen. Hat ihn verrückt macht.“

Sie zog die Beine an und er tat es ihr gleich. Faszinierend, eine so kleine erwachsene Frau...

„Kannst du den Fluch nicht weg machen?“, wollte er wissen und sie zuckte mit ihren zierlichen Schultern und wandte den Blick ab.

„Zu schwierig, denkt. Zu lange dauert... wäre schlimm für anderen... Kalenao-Dorf, versteht?“

Er sah sie nachdenklich an. Sie wollte ihren Bruder für ihr Volk opfern, wenn er das richtig verstand... eine tapfere Herrscherin, aber eine schlechte Schwester. Dabei ging das Blut doch über alles... besonders, wenn man ein Zwilling war.

„Du solltest Mahrran nicht aufgeben, Tirafasa... wenn ich nicht alles versucht hätte, ich würde Semliya niemals... opfern. Eure Mutter hat euch gemeinsam geboren, ihr wart immer zusammen, bereits in ihrem Leib! Du spürst das doch... diese Verbundenheit, die du sicher mit Mahrran hast... oder nicht?“

Er war sich weder sicher, ob er sich nicht zufällig in etwas verrannte, noch, ob sie ihn wirklich verstand, aber er hatte das Gefühl gehabt, sie darauf hinweisen zu müssen. Sie sah nachdenklich zu ihm auf.

„Habe ich.“, bestätigte sie, „Aber... ich muss aufpassen auf Dorf, verstehst?“

Als sie sprach, hatte sie nichts mehr vom vergangenen Abend an sich, sie wirkte zerbrechlich, nicht herrisch... es passte besser zu ihrer winzigen Gestalt. Auf abstruse Weise machte es sie fast schon niedlich.

„Ja, aber er ist doch dein Zwillingsbruder – glaube mir, du wirst im Leben nicht mehr froh, wenn du ihn verlierst!“

Im nächsten Moment tat es ihm leid, dass er sie sie angefahren hatte und seufzte entschuldigend. Sie sah ihn bestürzt an.

„Im Leben nicht mehr... versteht. Aber... hab ich Wahl?“

Er schielte sie verschwörerisch an.

„Man... hat immer eine Wahl, Tirafasa.“

Darauf schwieg sie, stumm auf ihre in seltsames Schuhwerk gepackten Füße starrend. Sie war insgesamt eher seltsam gekleidet... was sie trug, bestand nicht aus Fell. Aber es war schön, es schmeichelte ihrem kleinen, zierlichen Körper. Es faszinierte ihn... und er ließ es gern zu – er wollte von Semliya abgelenkt sein. Kurz ging ihm ein unwirklicher Gedanke durch den Kopf und aus Gründen, die es später nicht mehr benennen konnte, ließ er ihn zu und hob eine Hand, um ihr eigenartiges Oberteil zu berühren. Den Ärmel... ihre Schulter... ihren Kragen – ach, was sollte es schon? Neugierig legte er seine Hand auf ihren kleinen, von Milch prallen Busen und sie schnaubte.

„Freches Junge, was tut?!“

„Neugierde.“, verteidigte er sich schulterzuckend und kniete sich vor sie. Sie hob ihre Brauen und sah ihn an, während er begann, sie zu streicheln, ihr selbst in ihr Gesicht starrend, um all ihre Regungen mitverfolgen zu können.

„Blute ich noch.“, er hielt abrupt inne. Moment, sie hatte ihm gerade erzählt, dass sie von der Geburt ihres Babys noch blutete... wie weit hatte die denn gerade gedacht, bloß weil er ihr an die Brüste fasste?! Er errötete... irgendwie reizte ihn der Gedanke an das, was sie sich ausmalte, mit einem Mal ungemein, und er grinste.

„... das ist mir egal.“

Er war gespannt, wie sie darauf reagierte und wagte es, vorsichtig mit der Hand unter ihr Oberteil zu fahren und ihre Haut zu berühren, worauf sie eine Gänsehaut bekam. Kurz schien sie über etwas nachzudenken, dann grinste sie leicht.

„Na gut... seltsames Junge.“

Er schnappte nach Luft, als sie das Kleidungsstück einfach aufband und es sich auszog.
 

Letztendlich geschah es einfach und unmittelbar danach fragte Nadeshda sich, welcher Windgeist wohl plötzlich in ihrem Hirn Einzug gehalten hatte, dass sie mit einem minderwertigen Menschenjungen geschlafen hatte. Nicht, dass es schlecht gewesen wäre, aber was hatte sie sich dabei bitte gedacht?!

Sie zog sich hastig und verlegen wieder an – und er tat es ihr gleich, sein vorangegangener Enthusiasmus hatte ihn augenscheinlich auch verlassen. Er hieß Novaya... sein Name machte nur in Kombination mit dem seines Zwillingsbruders einen Sinn. Seine Worte hallten ebenso in ihrem Kopf wie die auf abstruse Weise niedlichen Geräusche, die er danach so von sich gegeben hatte...

„Muss... etwas tun.“, verabschiedete sie sich und ärgerte sich über die Schmerzen, die diese Spontanaktion ihr nun bereitet hatte. Er nickte und blickte ihr errötend nach.

Sie war zwar schwach, aber um die Zurechtweisung einer verwirrten menschlichen Seele, einer Seele, an deren Irrsinn ihr Volk auch noch die Schuld trug, würde sie ihre Götter dennoch mit Leichtigkeit bitten können.
 

Als sie, erschöpft wie sie war, in das Lager zurückkehrte, hatte sie ein schlechtes Gefühl. Die Götter zischten in ihrem Kopf und die Aufregung, die besonders unter den Frauen herrschte, schien dazu zu passen... Shiran kam auf sie zu und sie erwartete bereits einen Kommentar über ihren kleinen Ausrutscher mit dem Menschenjungen, doch sein Blick war ernst.

„Alaji hat Wehen bekommen. Komm mit.“

Er führte sie schnellen Schrittes durch das Lager zu der Hütte, in der wohl ihr Teco leben musste – am vergangenen Abend war sie nicht mehr von ihm zurückgekehrt, aber die Götter hatten ihrer besten Freundin schnell klar gemacht, dass alles gut war, so hatte sie sich nicht gesorgt und sich stumm für sie gefreut.

„Es ist noch zu früh!“, stellte sie im Laufen, was ihr im übrigen schwer fiel, fest und Shiran nickte.

„Das ist weniger das Problem. Es ist ein starkes Baby. Und Alaji ist eine starke Frau.“

Nadeshda starrte ihn überrascht von hinten an. Wo war dann das Problem? Natürlich hieß sie es gut, dass er sie rief, aber irgendwie wirkte das Ganze mehr so, als sei etwas schlimmes im Gange.

Vor der Hütte war eine ganze Menschenmenge; das war normal so, wenn es nicht gerade etwas wichtigeres gab.

„Hat sie Hilfe da drin?“, erkundigte sich die kleine Frau, als sie so da standen bei dem Seher, und der nickte ernst.

„Ja, aber du musst sie verscheuchen. Du musst ihr helfen.“, sie sah ihn entsetzt und verständnislos an. „Ich erkläre es dir.“
 

In der Hütte war es heiß und stickig, zumindest kam es Alaji so vor. Sie hatte keine besonders große Angst... sie spürte instinktiv, dass es ihrem Baby gut gehen würde, auch wenn es zu früh zur Welt kam. Und es ging ziemlich schnell, bestätigten ihr auch die Menschenfrauen, soweit sie es verstand. Zwei Stück waren da, um ihr beizustehen, Tecos Mutter und eine andere Frau mit braunem Haar. Es lief gut, hatte sie trotz der großen Anstrengung und der Schmerzen das Gefühl, bald würde man den Kopf des Kindes greifen können... und dann würde sie Mutter und ihr geliebter Teco Vater sein. Die Gedanken daran machten sie glücklich und gaben ihr Kraft, weiter zu machen.

Ein kühler Lufthauch streifte ihr Gesicht und sie öffnete die Augen – zu ihrer Überraschung war es Nadeshda, die eingetreten war. Sie sagte etwas zu den Frauen in deren Sprache und Tecos Mutter erwiderte etwas, schien verwundert. Als die kleine Magierin weiter sprach, tauschten die Menschenfrauen einen Blick miteinander aus und zuckten dann mit den Schultern. Tecos Mutter, die sie die ganze Zeit bei der anstrengenden Haltung gestützt hatte, ließ sie sanft auf das Lager sinken, dann verschwand sie zusammen mit der anderen Frau. Die Heilerin sah zunächst beiden perplex nach, dann wandte sie sich an ihre beste Freundin.

„Wa-warum hast du sie weg geschickt?“, fragte sie keuchend, aber Nadeshda konzentrierte sich bloß auf das Geschehen zwischen ihren Schenkeln.

„Erkläre ich dir später. Gib dir Mühe, jetzt!“

Sie gehorchte natürlich, wenn auch mehr aus einem natürlichen Instinkt. Die Kleinere streckte die Hände nach dem Köpfchen aus... dabei hatte sie eigentlich Angst davor, das Baby an das Licht der grausamen Welt zu zerren und das nicht nur, weil sie zum ersten Mal einer Geburt beistand.

Sie dachte an Shirans Worte.

„Die Menschen handhaben einige Dinge anders als wir. Du musst dafür sorgen, dass in Alajis Fall nach dem Recht der Kalenao gehandelt wird und nicht nach dem der Menschen, sonst wird sie nie wieder glücklich, das schwöre ich dir.“

Das Köpfchen war greifbar. Sie zog das winzige Kind an die Welt und tat das, was der Seher ihr auf die Schnelle erklärt hatte; es von seiner Mutter trennen, es zum Schreien bringen... es ganz schnell in das nächstbeste Fell wickeln.

Alaji, die sich noch ihrer Nachgeburt zu entledigen versuchte, lächelte bereits selig... sie würde ihr Baby gleich haben wollen. Nadeshda wandte ihr erschaudernd den Rücken zu, vorsichtig die Felldecke um den winzig kleinen, aber tatsächlich relativ kräftig schreienden Säugling wickelnd.

„Was... was ist es? Ein Junge oder ein Mädchen? Gib es mir! Oh... oh hör wie es schreit! Es schreit wunderschön! Gib es mir!“

Man merkte Alaji an, dass ihre Geburt alles in allem einfacher verlaufen war als die von Nadeshda, dachte sich letztere und lächelte bitter. Sie war so enthusiastisch... voller Freude und Glück. Es tat ihr weh...

„Bei den Menschen haben die Geburtshelferinnen das Recht, nein, sogar die Pflicht, der Mutter ihr Kind nicht einmal zu zeigen, sondern sofort damit zu verschwinden und es zu töten, wenn es nicht so ist, wie sie es für... gut befinden. Anders als bei uns, wo die Eltern eines solchen Kindes selbst frei entscheiden können, ob es sterben soll, oder ob sie es behalten möchten... Teco und Alaji sollten es behalten, etwas besseres als dieses Kind werden die beiden zusammen leider nicht zustande bringen. Wenn dir Alaji am Herzen liegt, Nadeshda, dann geh und rette ihren kleinen Krüppel.“

Sie schluckte tapfer ihre Tränen herunter, als sie sich umdrehte, die verbluteten Felle mit dem Fuß beiseite schiebend und ihre Freundin mit einem sauberen zudeckend. Alaji strahlte... sie spürte ihren Stolz und ihre Liebe. Verdammt... das war nicht gerecht. Sie konnte die Tränen letztendlich doch nicht zurückhalten, als sie ihr das Baby übergab.

Die Heilerin starrte zunächst sie irritiert an, ehe ihr Blick auf das schreiende Neugeborene fiel. Sie lächelte kurz, ehe sie das Fell, in das das Baby gewickelt war, öffnete.

Der kleine Junge war wunderschön. Auf seinem Kopf wuchs kaum Haar, aber er hatte ein wunderbares Gesicht und seine Haut hatte bereits ohne, dass sie jemals direkter Sonnenstrahlung ausgesetzt gewesen wäre, die schöne, dunkle Farbe seines Vaters. Er wäre ein absolut perfektes Baby gewesen, wie Alaji und vermutlich auch Teco es verdient hatten, aber aus ihm würde nie etwas werden.

Die frisch gebackene Mutter sah zu ihrer weinenden Freundin auf, als wollte sie ihr vorwerfen, sie erlaube sich einen üblen Scherz mit ihr. Nadeshda schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht, wie es weiter geht jetzt... aber sie hätten ihn getötet, sie erlauben solche Kinder nicht. Shiran schickt mich, er sagt, Teco und... du, ihr sollt euch hüten, ihr beiden, ihr... könnt keine gesunden Kinder miteinander bekommen.“

Sie weinte wirklich. Es war das erste Mal, das Alaji Nadeshda weinen sah... sie selbst wandte den Blick von ihrem seltsam wirkenden Gesicht ab und dem Baby, das sich allmählich in ihren Armen zu beruhigen begann, zu.

„Sein Fuß...“, sprach sie leise, beinahe andächtig, „Er hat einen vollkommen verkrüppelten Fuß... warum hat er das?“

Sie senkte ihre Brauen und das Kind bewegte sich – für ein zu früh zur Welt gekommenes Baby war es sehr energiegeladen im übrigen.

„Ich habe nichts falsch gemacht!“, fauchte sie, „Ich habe immer alles richtig gemacht, was man als Schwangere nur so richtig machen kann, warum ist mein Kind verkrüppelt?! Das ist nicht wahr, es kann nicht wahr sein, Nadeshda, es ist einfach nicht gerecht – verdammt, TU WAS!“

Sie bemerkte erst, dass sie geschrien hatte, als ihre Freundin, inzwischen nicht mehr weinend, von ihr zurückgewichen war. Sie war Götterkind... aber so etwas konnte sie nicht ändern, dazu war sie nicht in der Lage. Das konnte sie nicht verlangen.

„Ich weiß... wie gesagt nicht, wie es nun weiter gehen soll... oder kann. Shiran spricht mit Teco. Ihr müsst zusammen entscheiden, was ihr tut... wenn ihr es behalten wollt, dann... dann bekommen wir das hin, denke ich. Es ist... ein wunderschöner Junge, du solltest ihn behalten.“

Das wusste sie, vor allen Dingen, wenn sie ansonsten keine brauchbaren Kinder mehr bekommen konnte. Sie erschauderte, den abstrus deformierten kleinen Fuß anstarrend. Würde er überhaupt jemals laufen lernen? Oder, was bei den Menschen hier doch so wichtig war, jagen können? Ihr Herz wollte, dass ihr Baby lebte... sie liebte es so sehr. Aber gerade deshalb fragte sie sich, ob sie ihm keinen Gefallen damit getan hätte, wenn sie ihm das Leben, das wahrscheinlich auf es zukam, erspart hätte...
 

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Ich wusste gar nicht mehr, dass dieses Kapitel so lang war... oô

Blutopfer

„Ich erlaube dir viel, viel zu viel, eigentlich.“

Moconis Hütte wurde an jenem Abend wie so oft nur von einer kleinen Talglampe beleuchtet, Kili war nicht da. Ihm gegenüber hockte Teco, mit demütig gesenktem Haupt, in seinen Armen sein winziges Baby. Es schlief ruhig und atmete ohne Probleme... es war ein starkes Kind, wenn man bedachte, dass ihm zu wenig Zeit im Leibe seiner Mutter erlaubt gewesen war.

„Das weiß ich, Moconi.“, antwortete Teco ruhig, „Ich weiß nicht, was ich dir anbieten kann, damit du meiner Bitte nachkommst, ich...“

Er brachte es nicht heraus. In ihm zog sich etwas zusammen, als er an die Worte des Sehers am Nachmittag dachte.

Du magst in vielem begabt sein, aber nicht im Kinder machen. Du kannst keine gesunden Kinder machen, Teco, das ist dein Schicksal. Die Götter haben dir dennoch ein Baby geschenkt, weil sie dich sehr lieben... vergiss das nicht. Sei dankbar.

Er versuchte, dankbar zu sein. Aber es war nicht leicht... das Gefühl, das er hatte, wenn er den kleinen Jungen ansah, war ein anderes, als ein Mann seiner Zeit in seiner Situation wohl hätte haben sollen. Es war keine Scham... er schämte sich dafür, dass er keine gesunden Kinder haben konnte, aber nicht für die Verkrüppelung seines kleinen Jungen. Nein, was er fühlte, war Angst. Soweit er mitbekommen hatte, konnte Alaji nichts für ihn tun... sie konnte Verletzungen heilen, aber keine Körper verändern – so, wie ihr Baby geboren worden war, war es in den Augen der Götter richtig, alles an ihm war so, wie es sein sollte. Aber es war ungewiss... seine Frau hatte nicht einmal mit Sicherheit sagen können, dass der Junge jemals gehen lernen würde mit einem so extrem deformierten Fuß... das war ein hartes Los. Er fürchtete sich vor der Zukunft...

Er spürte Moconis nachdenklichen Blick auf seinem schlafenden Säugling und sah auf.

„Ich weiß nicht...“, sprach er dann langsam, „Manche Traditionen lohnt es sich, zu brechen... aber nicht alle. Und zu unterscheiden ist schwer. Was ich damit sagen will, du selbst weißt doch auch, was ich meine... wie soll er denn so jagen? Der Fuß, wenn man das Ding so nennen kann, sieht schlimm aus, ich glaube nicht, dass er damit besonders schnell sein wird...“

Nicht besonders schnell, sagte er, Teco fand seine Worte äußerst optimistisch. Er nickte. Langsam erschloss sich ihm, dass er keine andere Wahl hatte... er musste es aussprechen. Errötend wandte er den Blick ab.

„Der Seher sagte mir, es... sei das beste Kind, das mir zusteht. Ich... kann keine gesunden Kinder machen, Moconi.“

Und es gab kaum etwas schlimmeres, als ohne einen Erben zu sein – ein verkrüppelter Erbe war da noch immer ein dutzend Mal besser als überhaupt keiner, mindestens. Das sah auch der Häuptling ein, der betroffen seine Brauen hob.

„Das bleibt unter uns.“, versprach er seinem Cousin, dann seufzte er, „Na schön. Auf deine Verantwortung, Teco... vielleicht entwickelt es sich ja besser, als wir es uns zu erhoffen wagen.“

Sein Gegenüber zeigte kurz den Hauch eines dankbaren Lächelns und nickte. Moconi grinste ermunternd.

„Nicht so trübe, mein Bruder. In der nächsten Zeit werden schlimme Dinge geschehen, dann wird dieser Blick gerechtfertigt sein – doch nicht jetzt. Du musst das Gute sehen, du bist heute Vater geworden! Wie heißt dein Sohn, Teco?“

Er wollte ihn aufmuntern... eigentlich hätte er sich an dieser Stelle über diese Entehrung empört, doch in jenem Moment war er seinem Gegenüber tatsächlich dankbar. Er lächelte leicht.

„Er heißt vermutlich Sami.“
 

Iavenya musste zugeben, dass sie sich ernsthaft erschrocken hatte... und dass sie verwirrt war. Machte sich nicht gerade fast ihr ganzes Volk gehorsam auf in Richtung des großen Passes? Mahrrans Fluch wirkte tadellos, alle taten das, was sie sollten – Nadeshda und ihre Begleiter einmal ausgenommen, aber sie ahnte, wo sie sich befanden und schon bald würden sie für ihren lächerlichen Fluchtversuch genau so bezahlen wie die garstigen Menschen und alle Kalenao, die sie in ihrem Leben ausgelacht und gequält hatten. Oh ja... sie wollte, dass in ihren Reihen viele starben. Es war kein Versuch, ihre Macht auszutesten und auch kein Gefallen, den sie dem Dorf tat; alles, was sie tat, tat sie für sich selbst und verdammt, es war gut. Sie würde darauf achten, dass genügend Magier übrig blieben... und die würden vor ihr kriechen. Was sie mit Mahrran tun sollte hatte sie sich im übrigen noch offen gelassen, sie wollte abwarten, wie sich das Ganze entwickelte... vielleicht tat Nadeshda ja ihres dazu und dann hatte es sich ohnehin erledigt.

Im Augenblick, sie hatte sich gerade aufmachen wollen, um die Gruppe, die sie mit Irlak vorgeschickt hatte, einzuholen – zuvor hatte sie noch den wenigen im Dorf verbliebenen Kalenao etwas Arbeit aufgetragen, bis sie zurückkehrte – hatte sie jedenfalls unerwartet andere Probleme.

„Du bist gut... aber nicht so gut. Was hast du getan, dass deine Seele für Mahrrans Fluch blockiert war, Tamassy?!“

Der hübsche Mann hatte mit einem Mal vollkommen ohne Vorwarnung vor ihr gestanden und obwohl er sie vollkommen ruhig und ohne jegliche Gefühlsregung ansah, überkam sie ein flaues Gefühl. Er hätte nicht hier sein sollen... etwas war schief gelaufen.

„Es war in der Tat nicht einfach, dem zu entgehen, Iavenya.“, gestand er da, „Aber so schwierig auch wieder nicht. Ich musste nur... einen einzigen Schritt weiter denken als du. Und das war dann auch nicht so schwer.“

Er lächelte sie an und obwohl er das in jenem Moment garantiert nicht beabsichtigt hatte, wirkte er dabei so anziehend, dass sie errötete. Dabei gehörte ihr Herz auf ewig nur einem einzigen, und das war nicht dieser verfluchte Irre, der sie irgendwie hatte überlisten können...

Wenn er es bemerkte, so ignorierte er es.

„Du denkst geradlinig. Du planst, das tust du gut, deine Pläne sind mindestens so ausgereift wie die, die du zeichnest. Aber du kalkulierst keine... eventuellen Unebenheiten mit ein. Das macht es leicht.“

Sie zischte empört. Wovon redete er?

„Eventuelle Unebenheiten? Du meinst, irgendwelche Fähigkeiten von irgendwelchen Leuten, von denen ich nichts wissen kann? Nein, du hast recht, die sind leider nicht eingeplant.“

Er schüttelte leicht den Kopf und trat langsam auf sie zu.

„Nein, nicht doch. Ich rede von Dingen, über die du genau Bescheid weißt, Iavenya.“, er blieb vor ihr stehen und zog aus der Tasche in seiner Hose eine seiner Zigaretten und präsentierte sie ihr, „Das, meine Teuerste, ist ein Rauschmittel. Ich brauche viel, wirklich viel davon, um meinen Geist völlig auszuschalten, aber sei gewiss, ich weiß, wie ich diese Dosis erreiche.“

Sie weitete die Augen. Diese Runde ging an ihn, damit hatte sie nicht gerechnet.

„Du hast dir deinen Verstand so weit vernebelt, dass du von dem Fluch abgeschirmt warst!“, stellte sie fest und ihr Gegenüber nickte und steckte die Droge wieder weg, auch wenn man ihm ansah, dass er sich sie in jenem Moment lieber angezündet und genüsslich geraucht hätte.

Seine Augen verengten sich unmerklich.

„Irlak ist nicht hier. Mahrran ist nicht hier. Du bist mächtig, aber die Schwangerschaft zehrt auch an deinem Körper... ich könnte es beenden.“, sie sah ihm starr ins Gesicht, „Aber... ich möchte mir nicht unnötig noch mehr Feinde machen, als ich ohnehin schon habe. Beende es selbst, Iavenya.“

Komm ihr nicht zu nah, Tamassy, du bist nicht befugt, dich in das Schicksal einzumischen.

Die Frau erkannte keinen Grund dafür, dass er im nächsten Moment mit den Augen rollte und seufzte. Nein, die Telepathie war ihr fremd.

Du kannst nicht zwei Wegen gleichzeitig folgen, Seher. Entscheidest du dich für Nadeshdas Weg, dann lasse mich Iavenyas Weg beenden. Entscheidest du dich für Iavenyas Weg, dann lass mich Nadeshda auf ihrem Weg begleiten – wo ich stehen möchte, ist mir klar. Ich richte mich nach dir.

„Ich werde es ganz sicher nicht beenden.“, fauchte die Frau vor ihm da und unterbrach seinen gedanklichen Dialog mit Shiran somit, „Womit willst du mir schon drohen?!“

Er lächelte matt.

„Ich werde dich nun begleiten, wir folgen dem Volk gemeinsam. Dann beendest du es.“, er beugte sich verschwörerisch direkt neben ihr Ohr und sie errötete abermals, „Das Gesetz sagt, einer Schwangeren darf kein Leid zugefügt werden. Aber es wurde nie etwas davon gesagt, dass man... diese Schwangerschaft nicht vorher beenden darf.“
 

Shiran zischte. Es war kühl an jenem Tag, die frische Meeresluft trieb eine Herde kleiner weißer Wolken über das Gebirge, das der Seher wie gebannt anstarrte. Von dort würde die Gefahr kommen, bereits in wenigen Tagen würde es soweit sein. Und er wusste nicht, wo er stehen sollte, da hatte dieser verdammte Hornochse einfach recht.

Nadeshda war die, der der Titel „Herrscherin“ gebührte. Sie war eine Tankana, mit ihrem ganzen kleinen Leibe, sie war nicht nur wie wild darauf, ihre alte Macht wieder zu erlangen; sie wusste auch damit umzugehen. Es war nicht so, dass das Volk glücklich gewesen wäre über die unbrechbare Herrschaft jenes uralten Clans – der Seher war sich sicher, Tankanas hatte es bereits gegeben, als Mensch und Kalenao noch die selben Eltern geteilt hatten – besonders die Himmelskinder, wie man sie ehrfürchtig genannt hatte, hatten immer eine Art Schreckensherrschaft geführt. Aber so lange man ihnen treu und loyal gewesen war, hatte man gut leben können. Mahrran und Nadeshda war ihre eigene Position wichtig und wenn es ihren Untertanen bei der Achtung dieser gut ging, dann hatten sie das auch mehr als nur gut geheißen.

Iavenya war auch eine Tankana, aber sie war anders erzogen. Das Problem bei ihr war, dass sie zwar sehr wohl die bestialische Ader ihrer Familie besaß, aber nicht die Weitsicht, dafür zu sorgen, dass ihre Untertanen ein erträgliches Leben führen konnten. Nein, sie wehrte sich sogar dagegen... sie befürwortete das Gegenteil.

Ich wünsche mir ihr Leid, ich möchte, dass sie alle leiden, Shiran!“, hatte sie vor scheinbar unendlich langer Zeit zu ihm gesagt, „Zu ungerecht haben sie mich behandelt, ohne zu ahnen, wer ich bin! Nur ein bisschen Respekt habe ich mir gewünscht... ich zahle es ihnen heim.

Er verstand sie, er verstand sie sogar sehr gut. Jedes ihrer Worte entsprach der Wahrheit und vermutlich verdiente dieser primitive Haufen wirklich eine Strafe, aber konnte man sich davon leiten lassen? Musste man als Herrscher nicht in einem gewissen Maß über die Fehler seiner Untertanen hinweg sehen können?

Chigaru hatte es gesagt, nun kam es auf die Wahl des Sehers an. Eigentlich hätte er beruhigt sein sollen... für welche der beiden Schwestern er sich auch entschied, dank seiner Fähigkeiten wusste er, dass er bei beiden bereits gewonnen hatte, auch wenn es ihn bei Nadeshda, die sich bisher noch immer vehement geweigert hatte, ihm auch nur einen einzigen Blick auf seine eigene Tochter zu gewähren, doch sehr wunderte. Sein Platz konnte neben beiden sein... einmal für die Kalenao, einmal gegen die Kalenao. Und immer gegen die Menschen – nicht, dass ihm das etwas ausgemacht hätte.

Er musste sich entscheiden.

Iavenya zu unterstützen wäre eine Tat aus blanker Zuneigung gewesen, doch weder sinnvoll, noch mit Zukunft. Bei Nadeshda war das anders – aber vor allen Dingen, wenn er sich ihr nicht loyal erwies, dann würde es Chigaru tun und dass der seine Tochter aufzog, gönnte er ihm mit Sicherheit nicht.
 

Die Krieger waren schnell. Erst am höchsten Punkt des Passes konnte Chigaru sie mit der Natter abfangen – nicht, dass das ein Problem gewesen wäre, er beherrschte schließlich den Teleport, aber es wunderte ihn, mindestens so sehr wie die Auswahl derer, die in der ersten Reihe stehen würden.

Er hob eine Braue und die Frau keuchte, als die gewaltige Schar ihrer Krieger abrupt vor ihnen abbremste und sie verwirrt anstarrte.

„... mir ist klar, dass es sinnvoll ist, die Schwächsten zu opfer, aber warum um alles in der Welt hast du Frauen und Kinder in die erste Reihe gestellt?!“

Oder besser, warum hatte sie überhaupt Frauen und Kinder mitgenommen?! Der Gedanke dahinter war vielleicht gar nicht einmal dumm, kam dem Mann, schließlich konnten Frauen in der Magie mindestens genau so gut sein wie Männer und auch einige der älteren Kinder beherrschten bereits die wichtigsten Grundtechniken ihres Elementes – aber in ihnen lag auch die Zukunft ihres Volkes, wer blieb denn bitte übrig, wenn nur die Alten und Kranken noch im Dorf waren?!

„Deine Rache, wenn ich das richtig verstanden habe, in aller Ehre, aber ich denke, das geht zu weit.“, brummte er schließlich und die Frau kicherte und riss sich gewaltsam von ihm los.

„Oh, Tamassy!“, sie breitete gebieterisch ihre Arme vor der ausnahmslos schweigenden und sie anstarrenden Meute aus, „Du... kennst noch nicht alle Fassetten dieses Fluches. Mahrran!“

In einem Lichtschwall erschien das unterworfene Dorfoberhaupt neben seiner Halbschwester, höflich sein Haupt kurz vor ihr neigend.

„Wie schön, dich zu sehen.“, sprach er scheinbar guter Laune, doch seine Stimme war mit einer seltsamen Kühle durchsetzt, die Chigaru kurz frösteln ließ, „Läuft etwas nicht nach deinen Wünschen?“

Sie schenkte ihm ein aufgesetztes, falsches Lächeln, dann nickte sie dem Schwarzhaarigen zu.

„Tamassy unterschätzt unsere Kämpfer.“, erklärte sie und Mahrran hob seine Brauen.

„Das ist ja schrecklich.“

„In der Tat.“, bestätigte sie ihn und schielte dann auf die Kinder in der ersten Reihe. Einige waren nicht einmal ausgereift genug, um überhaupt auch nur einen Hauch von Magie kontrollieren zu können – diese Fähigkeit setzte im Normalfall erst dann ein, wenn auch die körperliche Reife zum Erwachsenen langsam sichtbar wurde – und die, die er da vor sich hatte, waren teilweise noch wirklich klein. Er erkannte die Freundin des Mädchens, das sich mit seinem Messer das Leben genommen hatte, wieder. Mit geflochtenen Zöpfen und einem mühevoll rot gefärbten Kleid stand sie da, neben einem etwas älteren Mädchen mit Blumen im Haar und einem noch wirklich sehr kleinen Jungen, der sich unschuldig einen Finger in den Mund steckte. Sie alle standen in einer Reihe vor kaum furchteinflößenderen jungen Frauen – was der Mann da sah war alles, bloß Krieger waren es nicht.

„Wollen wir ihn einmal unsere Männer und Frauen schätzen lehren?“, fragte Iavenya unterdessen an Mahrran gewandt; es war mehr ein Befehl als eine Frage. Er nickte, dann beugte er sich zu den Kindern.

„Zeigt dem Guten doch einmal, was in euch steckt, damit Vati und Mutti stolz auf euch sein können.“

Die Kinder strahlten ihn einen Moment lang an, dann traten sie langsam an ihm vorbei und umzingelten Chigaru in einem wenig beeindruckenden Kreis von allen Seiten.

Der Mann schnaubte.

„... verlangst du jetzt von mir, dass ich ihnen die Milchzähne ausschlage?!“, empörte er sich, doch eine Antwort erübrigte sich im nächsten Moment, als er sich mehr reflexartig unter einer Flamme hinweg duckte – einer Flamme, die der kleine Junge nach ihm geworfen hatte. Er starrte ihn verblüfft an.

„... wie alt bist du bitte?!“

Das Kind lächelte und wiegte sich unschuldig hin und her.

„Schon vier!“, kam dann die Erwiderung und Iavenya kicherte und warf ihr schwarzes Haar elegant zurück, während der Rest des Volkes noch immer starr und schweigend verharrte.

„Siehst du? Du unterschätzt unsere Jugend!“

Unterschätzen war gut gesagt, niemand konnte mit vier Jahren solche Flammen erschaffen, nicht er mit seiner übermäßigen Begabung, nicht die Himmelskinder, auch nicht Shiran! Ihm blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, als er im nächsten Moment von einem harten Wasserstrahl zu Boden geworfen und im Augenblick darauf beinahe von einem gewaltigen Stein zermalmt worden wäre, hätte er ihn nicht kurz, bevor es zu spät gewesen wäre, selbst mit einem gezielten Schlag Feuermagie zerstört. Es war nicht schwer zu erkennen, dass die beiden Mädchen dieses Attentat auf ihn verübt hatten – verdammt, kämpfte er hier ernsthaft gerade mit kleinen Kindern?!

Dieser Fluch war pervers.

„Wolltest du es nicht beenden?“, spottete die Natter scheinbar höchst amüsiert über ihn und als auch in Mahrrans Gesicht ein Grinsen schlich, stimmte das erstarrte Volk mit verhaltenem Lachen mit ein. Ja, das war tatsächlich ziemlich demütigend, er konnte die Reaktion der anderen durchaus nachvollziehen.

Empört versuchte er, sich wieder aufzurichten – und ließ sich sofort wieder fallen, weil ein anderes Kind seinen Kopf ansonsten ohne Rücksicht mit Windmagie abgeschlagen hätte. Er schnaubte und sah dem Jungen, der seiner Stirntätowierung zu Folge wohl aus dem Ekarett-Clan stammte, einen Moment lang in die Augen.

Da war nicht die Seele eines Kindes. Keine dieser kleinen Bestien hatte seine Seele noch... genau so wenig wie seinen Verstand, der jeden normalen Jungen und jedes Mädchen davon abgehalten hätte, ihn einfach so ermorden zu wollen. Er keuchte, als sich ihm langsam erschloss, was hier vor sich ging... ihm wurde schlecht.

Chigaru sprang hastig auf die Beine und ließ um sich herum einen Kreis aus Flammen auflodern, der die Kinder erschrocken zurückweichen ließ. Iavenya hob unbeeindruckt eine Braue.

„Ich würde niemals einem kleinen Kind Schmerzen zufügen, wenn es sich nicht vermeiden lässt.“, erklärte er sein Handeln zunächst düster und auch das Kichern im Volk erstarb, „Auch wenn es bei diesen hier vermutlich egal wäre. Dieser Fluch ist so real wie unfassbar... ich habe mich gefragt, warum keiner der Tankanas, an die ich mich in meinem vierundzwanzig komplette Mondzyklen langen Leben erinnern kann, ihn jemals angewendet hat, egal welche Unruhen und Probleme es im Volk gab. Jetzt ist es mir klar...“

Er ließ seinen Blick aus den schmalen Augen noch einmal über die Kinderschar schweifen, die nun wieder starr um ihn herum stand und scheinbar auf neue Anweisungen seitens Mahrrans wartete – und der seinerseits auf welche von Iavenya, die im Augenblick jedoch noch Chigaru lauschte.

„Dieser Fluch... nimmt keine Rücksicht auf die Geister und Körper der Verfluchten... diese Kinder hier sind todgeweiht. Keines von ihnen hat auch nur den Hauch einer Chance, das, was du ihnen antust, zu überleben... Kinder können keine Magie beherrschen! Sie dürfen es nicht, ihr Körper erträgt das nicht, Natter! Wie kannst du nur so erbarmungslos sein?!“

Sie zeigte abermals ihr falsches Grinsen, denn scheinbar gefiel es ihr, wie er sich an ihrem Tun ereiferte. Er wurde nicht oft laut... auch nun beruhigte er sich rasch wieder, einmal tief einatmend und dann weiter sprechend.

„Du hast einen sehr kranken Geist... was auch immer dir in deinem Leben widerfahren ist, diese Kinder hier waren zu jung, um dir jemals ein Leid zugefügt zu haben. Sie... waren in gewissermaßen deine Chance auf Respekt und Sympathie...“

Ihr Grinsen erstarb und er fixierte mit seinen Augen abermals das Mädchen in dem roten Kleid, das sich keinerlei Regung darauf anmerken ließ. Natürlich nicht, alle standen unter absoluter Kontrolle...

„Ich werde niemandem mehr weh tun, als es ohnehin sein muss. An dieser Stelle hast du gewonnen, ich werde dich wo anders stoppen.“

Und mit seinem Teleport erlosch auch sein Feuerkreis.
 

Shiran hatte gesprochen, bald war es soweit. Im Lager war es unruhig, man hatte sich an die letzten Vorbereitungen gemacht. Alles musste perfekt sein – von den Speeren bis zu der Bemalung. Moconi hatte sich dazu entschlossen, seine dieses Mal seiner Calyri zu überlassen. Seiner Calyri...

Er sah es als gutes Omen, dass sie so unerwartet mit ihm das Lager teilte – und nur wenig entfernt wieder seine geliebte kleine Schwester Kili ihre Nächte verbrachte. Und wenn er scheiterte, dann hatte man ihm wenigstens seine dringendsten Sehnsüchte erfüllt...

Moconi erwartete, dass er scheiterte. Shiran fürchtete sich, er wagte die Zeichen nicht zu deuten, hatte Sanan ihm berichtet. Der Häuptling selbst hatte sich nicht gewagt, den Seher, wie er so verbiestert und tief in Gedanken vor dem Lager gestanden hatte – lange Zeit und mit nur seltenen Unterbrechungen – anzusprechen. Bisher war er immer zuversichtlich gewesen; teilweise auch zu sehr, er erinnerte sich mit einem schlechten Gefühl in der Magengegend an den Tag, an dem sein Stamm ganze zehn wertvolle Jäger verloren hatte. Wenn der Magier nun also so angespannt war, dann konnte das nichts gutes bedeuten.

„Du sorgst dich zu sehr.“

Calyri, die gerade seinen nackten Rücken kunstvoll gestaltete, sprach mit sanfter Stimme auf ihn ein. Kili nickte.

„Die Kalenao sind nicht alle begabt in der Magie. Aber allesamt schwächlich, körperliche Stärke erlangen sie nur, wenn sie Blut geleckt haben... und das auch nicht alle, einige brauchen viel Blut, bis sie soweit sind.“

Er brummte und fragte sich, warum die beiden ihn derart durchschauen konnten. Er hatte mit ihnen seine Kindheit verbracht... er kannte sie umgekehrt auch, es war wohl recht so. Es waren sehr intelligente Frauen.

„Außerdem sind wir nun so viele!“, sprach Calyri unterdessen guter Dinge weiter, sich über seine Schulter beugend und ihn sanft auf die Wange küssend. Die würde sie auch noch bemalen müssen, im übrigen.

Moconi lächelte matt und nickte.

Er hatte mit Kewera gesprochen. Es war ein langes Gespräch gewesen und es hatte beinahe die halbe Nacht gedauert – es war sehr wichtig gewesen. Sie wussten nicht, wie viele Völker das unendlich scheinende Land noch beherbergte, Fakt war aber, es waren alles ihre Brüder und Schwestern. In gewisser Weise trugen sie in diesen Tagen die Verantwortung für viele – für mehr als nur zwei Stämme, da waren sie sich beinahe sicher. Und sie waren sich sicher, dass die Kalenao so lange nicht der kleine Giftzwerg Nadeshda – oder Tirafasa – die Macht über sie hatte, wenn überhaupt, niemals Ruhe geben würden. Sie würden immer da sein und immer versuchen, die Menschen aus ihrer eigenen Heimat zu vertreiben... das war eine Tatsache. Also hatte er mit Kewera einen geheimen Pakt gesprochen... und um sicher zu gehen, dass dieser auch erfüllt wurde, würde er bald noch mit jemandem sprechen müssen. Und das machte ihm große Bauchschmerzen... bald würde alles enden, so oder so, und die Wahrscheinlichkeit, dass es ein gutes Ende nehmen würde, war verschwindend gering.
 

Er sah gut aus. Imposant und in gewissermaßen mächtig; die kleine entmachtete Herrin ihrer Feinde hatte ihn mehr als nur beeindruckt gemustert, als er sie getroffen hatte auf seinem Weg zu der Person, die seinen Pakt besiegeln würde.

„Machst fast schon Angst.“, hatte sie ihm gesagt und wie es nun einmal ihre Art war nicht einmal versucht, zu verstecken, dass sie ihn eingehend musterte, „Bist aber schöner Mann, für Mensch.“

Das unerwartete Kompliment hatte ihn dann doch grinsen lassen, ja, versteckt hinter der Bemalung, in seinen besten Hosen und mit seinem Federkopfschmuck, der seinen grausamen Haarschopf effizient versteckte, sah er tatsächlich gut aus. Sie war wohl auch darum bemüht, etwas her zu machen, hatte sich aber wohl von jemandem aus dem Kojotenstamm bemalen lassen; zumindest trug sie deren traditionelle Bemalung und deren Federschmuck. In ihren Armen hatte ihr Baby gelegen.

„Möchtest du dich tatsächlich so mit deinem Bruder anlegen?“, hatte er sie gefragt und das Kind angeschielt, „Es ist noch nicht lange auf der Welt, denke ich.“

Sie hatte mit den Schultern gezuckt.

„Wahr ist, ja. Aber muss. Und wird.“, darauf hatte sie den Säugling kurz angelächelt und dann geseufzt, „Ergebe ich mich. Hat so ein dummes Vater... muss ich trotzdem mal zeigen... sonst tot und nie gesehen.“

Darauf hatte sie ihm zugenickt und war weiter gegangen. Tot und nie gesehen... er hatte sich bereits gefragt, ob er den Vater des Babys nicht ganz heimlich bereits längst kannte... da hatte er dann die Bestätigung.
 

Die, die er gesucht hatte, fand er mit ihrem eigenen Baby vor ihrer Hütte, doch sicherheitshalber – das war dieses Mal nötiger als jemals zuvor – führte er die irritierte Frau ein Stück aus dem Lager.

„Ich wusste, du würdest kommen – aber warum?“, erkundigte sich die, die er seit er sie kannte Mefasa genannt hatte, sobald sie weit genug von den anderen entfernt waren und Liran auf ihrem Arm musterte den Mann skeptisch. Er sah Rhik unglaublich ähnlich, fiel Moconi dabei nebenbei auf.

„Weil ich eine Bitte an dich habe.“, antwortete der Häuptling darauf gezwungen gefasst und es fiel ihm schwer, ihr dabei in die Augen zu sehen – und das nicht, weil er sich um sein Anliegen schämte.

„So, eine Bitte?!“

Sie hatte ein ungutes Gefühl, das sah er ihr an. Da war nicht ihr aufgesetztes Lächeln oder ihre falsche Unschuld... in ihrem Blick lag Unbehagen und eine gewisse Hast, als erwarte sie, jemand würde sie jeden Moment von hinten angreifen und töten. Er konnte ihre Gefühle nachvollziehen...

„Es ist ganz einfach.“, sprach der Mann darauf ohne Zeit zu verlieren weiter, „Mache die Drohung, die du vor viel zu langer Zeit ausgesprochen hast, wahr.“

Sie weitete die Augen kurz – in jenem Moment wusste er, dass er nicht weiter darauf eingehen musste, sie erinnerte sich sehr genau daran.

„Das Dornenfeuer?!“, wagte sie ungläubig zu fragen und drückte ihren Sohn etwas fester an sich. Das Kind brummte.

„Ja, das Dornenfeuer. Sie werden vom großen Pass kommen, etwas südlich von hier... gib Calyri dein Kind, sie wird so lange auf es acht geben. Wenn wir Krieger uns auf den Weg machen, um die Bestien abzufangen, komme mit uns, aber verhülle dich etwas und bleibe bei mir; es müssen dich nicht zu viele erkennen. Außer Kewera und mir weiß keiner etwas davon...“, er räusperte sich und wandte den Blick ab, auf die offene Prärie, „Es gibt eine Art Abzweigung, du warst da wohl nie, aber ich bin mir sicher, als Kalenao wirst du sie erkennen. Es ist eine Art Pfad, er führt einen der ersten Gebirgsausläufer hoch... folge ihm, dann wirst du über dem Geschehen sein. Zumindest versuchen wir, sie noch in dieser Schlucht zu bekommen. Und wenn wir es nicht schaffen... bist du an der Reihe.“

Sie verstand genau was er meinte. Als er ihr seinen Blick wieder zuwandte, sah sie ihm eine Weile ausdruckslos in die dunklen Augen... Liran drückte sich an sie.

„Du meinst das ernst.“, stellte sie dann trocken fest und er nickte. Es musste enden... die Kalenao waren verflucht, das machte sie dieses Mal stärker. Und die Menschen waren in der Überzahl, das wiederum stärkte sie – damit waren beide Parteien abermals, wie die beiden Male zuvor, gleich stark. Er wusste es genau, es würde kaum eine Chance geben, die Bestien zu besiegen, wenn nicht irgendein göttliches Wunder geschah... aber sie mussten es beenden. Und wenn sie es nicht mit eigener Kraft schafften, dann musste das Dornenfeuer ihnen helfen.

Die Vorstellung davon, seinen eigenen Stamm, seine Verwandten und Freunde, bei lebendigem Leibe verbrennen zu sehen, machte Moconi furchtbare Angst; aber es musste enden, was das betraf war er sich mit Kewera einfach einig.

Sie haben uns schon einmal angegriffen und sie würden es auch wieder tun.“, hatte er ihm vor nicht langer Zeit erzählt, „Entdeckt haben sie uns, weil eine ihrer schwangeren Frauen vor ihrer grausigen Tradition, Babys, deren Vater vor der Geburt stirbt, auch zu töten, geflüchtet und zufällig bei uns gelandet ist. Wir waren zu gutmütig, wir haben sie eben aufgenommen. Sie hat ihr Kind bekommen und was soll ich sagen, das Mädchen und der Kleine haben uns nie Probleme gemacht; so lange, bis sie sie gefunden hatten. Und glaube mir, ich habe daraus gelernt, dass sie gewissen- und erbarmungslos sind. Sie haben das Mädchen auf der Stelle getötet und den Jungen, er war bereits über zwölf Sommer alt, mitgenommen. Er ist ohne zu zögern mit den Mördern seiner Mutter gegangen – bei uns hat er sich angeblich nicht willkommen gefühlt. Ich sage, sie sind allesamt seelenlos und deshalb rotten sie sich zusammen; nicht ein gutes Wort hatte Zerit, als ich ihn in gutem Willen kürzlich angesprochen habe, für mich übrig; das spricht für sich. Nein, wir... müssen die Welt, unsere Welt, vor diesen Bestien befreien... es wird ihnen weniger weh tun als uns.

Das glaubte er ihm und deshalb hatten sie sich auf diese radikale Maßnahme geeinigt. Frauen und Kinder würden verschont bleiben, sie würden schließlich im Lager warten... sie hatten eine Zukunft, auch ohne die Männer.

„Wenn du zurückgehst, musst du sprechen, Mefasa, vor allen.“, erklärte er ihr ihre Aufgabe etwas benommen von seinen Gedanken weiter, „Du musst sagen, was du auf meinen ausdrücklichen Befehl hin getan hast. Und du musst ihnen sagen, dass es an der Zeit für eine... große Wanderung ist. Ich bin mir sicher, irgendwo in diesem großen Land gibt es noch Menschen, die auch die kümmerlichen Reste des Schlangen- und des Kojotenstammes aufnehmen werden.“

Sie erschauderte. Aus irgendwelchen Gründen wunderte es ihn nicht, dass es sie etwas mitnahm, auch wenn es ursprünglich ihre eigene Idee gewesen war. Auch sie kannte er lange... sie konnte wirklich radikal sein und man tat gut daran, sich ihr gegenüber gehorsam zu zeigen, aber vor wirklich großen Dingen fürchtete auch sie sich. In diesem Moment schien sie ihn jedoch zu verstehen.

„Wenn es keinen anderen Weg gibt...“, lenkte sie bitter lächelnd ein, „Nun gut. Dann höre ich ausnahmsweise auf dich.“

Dann tat sie etwas, womit er nicht gerechnet hätte; sie trat auf ihn zu und umarmte ihn, so gut es ihr mit Liran möglich war.

„Viel Glück uns beiden.“
 

„Wir werden uns bald auf den Weg machen. Du wirst wohl an der Spitze sein, also dachte ich, ich rufe dich, wenn du es schon nicht von selbst schaffst, zu kommen... damit hast du ja ohnehin immer so deine Probleme, nicht wahr?“

Erst auf ihre letzten Worte hatte Shiran über seine Schultern zu ihr geschaut. Immerhin war er vorbereitet... auch wenn seine einfache, schwarze Bemalung viel mehr wie ein hübscher Schmuck als wie eine Bedrohung wirkte. Nocasi gluckste in den Armen ihrer Mutter. Nadeshda musterte ihn, war jedoch bemüht, sich ihre Irritation über den seltsam melancholischen und irgendwie geschwächt wirkenden Blick seitens des Mannes nicht anmerken zu lassen.

„Sie sprechen alle auf mich ein.“, erklärte er dann mit einer Stimme ohne jeglichen Argwohn und drehte sich ganz zu ihr um – wie so oft hatte er sich in das Grasland außerhalb des Lagers zurückgezogen. Er wirkte verändert... mit der ledernen Hose und dem – was für Kalenao äußerst untypisch war – freigelegten, nur hinter der Bemalung versteckten Oberkörper stellte er eine abstruse Mischung aus Mensch und Magier dar.

„Es ist schlimmer als im höchsten Windmond, alle wollen mir zugleich wichtige Dinge sagen, es sind so viele, dass ich meine inneren Ohren vor ihnen verschließen muss... das kam bisher selten in meinem Leben vor.“

Sie hob ihre Brauen, unschlüssig, was sie erwidern sollte, als er langsam auf sie zutrat.

„Die Götter treiben seltsame Spiele mit uns.“, sprach er dann, „Wir alle wissen, dass bald etwas geschehen wird, was unser aller Leben grundlegend verändern kann... und was tun wir? Wir bemalen uns und richten uns her... um Ruhe zu bewahren. Dabei kribbelt es jedem einzelnen so in den Fingern... ja, wir machen uns bald auf, das ist richtig so. Ich weiß es.“

Es musste Intuition sein, denn wenn er die Trance gesucht hatte, um seinen Geist vor den quälenden göttlichen Stimmen zu bewahren, dann sprachen diese nun auch nicht mehr mit ihm. Aber er war von magischem Blute, ganz und gar... sein Blick legte sich auf das Baby. Nadeshda seufzte... sie war zu gutherzig geworden. Ohne ein weiteres Wort legte sie es ihm in die Arme und er lächelte, das kleine Mädchen vorsichtig haltend.

„Unter welchen Umständen auch immer sie entstanden ist, wir haben sie gut hinbekommen.“, bemerkte er dann mit dem Stolz eines Vaters in der Stimme und sie musste gegen ihren Willen ebenfalls lächeln.

„Ich will sie groß ziehen. Aber ich weiß nicht, ob ich zurückkehre... wenn ich es nicht tue, du jedoch schon... dann...“

„Ja, das werde ich.“

Sie konnte ihn doch um nichts bitten, aber scheinbar hatte er auch so geahnt, was sie von ihm hatte verlangen wollen. Wenn auch er nicht zurückkam, musste Alaji sie ersetzen... aber die hatte mit ihrem kleinen Krüppel in Zukunft sicher selbst genügend zu tun, sie wollte ihr nicht noch zusätzliche Probleme bereiten.

Nadeshda wurde aus ihren Gedanken gerissen, als er das Baby vorsichtig etwas hochhob und dann liebevoll auf die Stirn küsste. Er hatte immer an seiner Familie gehangen, irgendwie war sie nicht überrascht, dass er sich von seinen Vatergefühlen so sehr einnehmen ließ. Dann wandte er sich wieder an sie.

„Ich weiß nicht genau, was geschehen wird. Die Völker werden leben... aber ich weiß nicht wie und unter welchen Umständen. Ich will es auch nicht wissen... vermutlich habe ich damit als Seher versagt, aber das ist mir egal. Ich habe es mir nicht ausgesucht und bei allen Göttern, letztendlich bin ich auch nur ein normaler Mann.“

Sie nickte und wunderte sich selbst über das Verständnis, das sie ihm gegenüber plötzlich aufbringen konnte. Die Zeiten hatten sich wirklich geändert...sie konnte niemandem mehr – abgesehen von der, die an dieser Misere letztendlich schuld hatte – wirklich böse sein. Sie wusste nicht, wie lange sie noch die Gelegenheit hatte, in dieser Welt zu weilen... sie wollte ihren Frieden machen. Shiran wollte das auch, das spürte sie instinktiv.

„Wir bringen sie wohl zu Alaji.“, stellte er fest und sie nickte und als er los ging, folgte sie ihm.

„Vielleicht ist das unsere letzte Gelegenheit, einfach so miteinander zu sprechen.“, merkte sie nach wenigen Schritten an, ohne selbst zu wissen, weshalb. Er sah sie nicht an, als er antwortete.

„Haben wir denn jemals einfach so miteinander gesprochen, Nadeshda? Das hat man uns doch nie erlaubt.“, sie nickte und er grinste, „Dann ist es wohl die einzige Gelegenheit überhaupt, einfach so miteinander zu sprechen. Ich will sie nutzen und dir etwas gestehen.“

Er wiegte behutsam seine Tochter, während sie durch das Lager schritten, in dem die letzten Vorbereitungen nun abgeschlossen waren und sie schielte ihn mit hochgezogenen Brauen an.

„Ich... schaue dir seit Monden beim Umziehen zu. Und ich erfreue mich daran... hach, mein Gewissen ist rein.“

Er strahlte sie übertrieben an und sie errötete, einerseits überrascht von seiner Fähigkeit, noch scherzen zu können und andererseits von seinen Worten etwas erschlagen.

„Beim Umziehen? Du siehst mich gerne nackt?! Du brauchst Hilfe, Shiran.“

Sie schnaubte und er gluckste, als er das Gewicht des kleinen Mädchens auf einen Arm lagerte und den anderen um die Schultern seiner einstigen Herrin legte – vielleicht war es seine einzige Gelegenheit dazu.

„Nicht doch. Ich hatte nicht vor, dir das zu gestehen, Nadeshda... nicht in diesem Leben. Es überkam mich...“, er hielt sie an, indem er sich vor sie stellte und seufzte. Dann lächelte er sie matt an.

„Hoffen wir auf das Beste... zu viel ist geschehen, als dass ich mich vor dir noch so stark zeigen könnte, wie ich es gleich vor allen anderen tun muss, verzeih. Ich hoffe, deine Bemalung hält gut...“

Sie wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber es erübrigte sich. Als er sie küsste, war es anders als damals, an dem weit entfernten Tag in der Höhle während des Sturmes... es war ein Kuss so voller wehleidiger Erinnerungen wie sie in dem Blick, den er ihr kurz zuvor, als sie ihn vor dem Lager aufgesucht hatte, geschenkt hatte, gelegen hatten. Er war zärtlich... vielleicht war es ein Abschiedskuss. Und vermutlich gab er ihn ihr für den Fall, dass es seine letzte Gelegenheit war, es zu tun.
 

Vor den Kriegern der versammelten Stämme war er wieder stark – oder er tat zumindest so. Während Shiran nun mit Moconi und Kewera da stand und beobachtete, wie sie alle Männer – und tatsächlich einige Frauen – versammelten, suchte er in seinem Inneren nach einer Möglichkeit, in der Wand, die ihn vor den Stimmen schützte, einen Riss zu schaffen... damit er nicht völlig taub war. Als Kalenao fühlte er sich ohne göttlichen Beistand schwach und ängstlich, er war sich sicher, den anderen ging es genau so. Soweit sie noch eine Seele besaßen...

„Und du führst die Frauen an?!“, vernahm er mit einem Mal Moconis Stimme neben sich. Vor ihm war Araifa aufgetaucht, Keweras Tochter, nach der Tradition ihres Stammes bemalt und mit einer Art überdimensionalem Spieß in der Hand – Frauen war es nicht erlaubt, Speere zu tragen, aber ihre seltsame Waffe war vermutlich in der Lage, ähnlichen Schaden anzurichten. Hinter ihr hatte sich eine weitere Gruppe junger Frauen versammelt – allesamt so anmutend wie die Häuptlingstochter und ebenso aus dem Kojotenstamm; der weibliche Teil des Schlangenstammes war nicht auf Kampf ausgerichtet.

„Natürlich. Und unterschätze uns nicht, wir sind schnell und handeln effektiv.“

Araifas Lächeln wirkte unter ihrer Bemalung bizarr, aber nicht ganz so furchteinflößend, wie ihr sehr schlecht gelaunter und extrem angespannter Bruder Kurapi wirkte, mit dem sich dessen Vater gerade befasste.

„Du bist zu angespannt.“, tadelte er ihn und jeder andere wäre unter dem wahrlich sehr imposanten Stammesoberhaupt zusammengesunken; der Sohn schnaubte jedoch nur, seinen Speer fest umklammert.

„Es juckt mich bloß so in den Fingern... ich möchte es hinter mich bringen!“

Das wollten andere auch.

In geringer Entfernung musste sich Kinashi mit aller Macht an den Stolz einer Frau erinnern, um nicht vor Verzweiflung zu weinen – nicht nur, dass ihr armer, halbblinder Dherac und ihre geliebten Zwillinge Novaya und Semliya in die Schlacht ziehen mussten, nein, jetzt wollte Ranisin auch noch mit – wollte!

Er war noch kein Mann und musste nicht, Jungen in seinem Alter war es frei gestellt, ob sie mitgehen wollten oder nicht. Jedenfalls schien der sonst so mädchenhafte Ranisin gerade seinen sehr männlichen Moment zu haben und das äußerte sich sehr zum Leidwesen seiner Eltern in seinem Entschluss, die Krieger zu begleiten.

„Du bist doch noch so jung!“, jammerte die Frau verzweifelt und das Kind schnaubte und schüttelte demonstrativ seinen kunstvoll gearbeiteten Speer.

„Nicht viel jünger als die Zwillinge. Lass mich beweisen, dass ich zumindest darin tauge, Mutter!“

Dherac, der daneben stand, kratzte sich seufzend am Kopf.

„Hör zu, wenn du hier bleibst, dann sage ich zu Niray, sie soll dir eines ihrer Kleider schenken, einverstanden?“

Leider war Ranisin weder käuflich, noch einfältig. Er schenkte seinem Vater einen vernichtenden Blick.

„So verlockend es klingt, manchmal muss man eben seinen Mann stehen! Ich muss das heute!“

„Stimmt.“

Sie fuhren herum und erblickten die Zwillinge – die wohl für jeden anderen nicht mehr zu unterscheiden gewesen wären. Auch sie waren bemalt – und hatten sich wohl einen Spaß daraus gemacht, die Tätowierung des jeweils anderen nachzuzeichnen, sodass es keinen Anhaltspunkt mehr gab, um zu erkennen, welcher von ihnen nun wer war. Zu Kinashis Freude waren die beiden seit kurzem – ohne nennbaren Grund – wieder genau so, wie sie gehörten... und nicht mehr so verändert wie kurz nach Semliyas Genesung.

„Oh, ihr stimmt mir zu?“, freute sich Ranisin schon, dann erlosch sein Lächeln, „Bestimmt, weil ihr hofft, dass mich jemand tötet und aufisst, oder so.“

Auf seine Mutmaßung gingen sie nicht ein; es war wohl Novaya, der zu ihm sprach.

„Nicht ganz, wir finden, du solltest hier bleiben.“

„Wenn Vater und uns etwas zustößt, gibt es in unserer Familie außer dir keinen Mann mehr, der für alle sorgen könnte. Dieses Risiko können wir nicht eingehen.“, ergänzte Semliya und ihr Bruder blinzelte verblüfft. Dann senkte er deprimiert den Blick.

„Aber dann denken alle, ich sei feige! Das bin ich doch gar nicht!“

Wenn man von Begegnungen mit Spinnen und Insekten einmal absah. Novaya schüttelte den Kopf.

„Sei ein Mann und steh da drüber. Dein Ruf ist zweitrangig, deine Familie sollte im Vordergrund stehen.“

Dherac nickte seinen älteren Söhnen anerkennend zu.

„Deine Brüder sprechen klug, hör auf sie und bewache deine Mutter und deine Geschwister, Ranisin.“
 

Im Nachhinein wusste niemand mehr, wie lang genau der Weg bis zu jener Schlucht gewesen war. Keiner erinnerte sich mehr an das Aussehen des so umkämpften Landes in jenem Feuermond und auch gesprochen wurde nicht viel.

„Halte dich von fliegenden Steinen fern.“, murmelte Novaya irgendwann und Semliya griff nach seiner Hand und hielt sie so fest, wie sie es als kleine Kinder immer getan hatten, bis sie dort ankamen, wo sie auch hingewollt hatten.

Moconi stand vorn, gemeinsam mit Kewera und Shiran. Nadeshda war sowohl mit den Kalenao-, als auch mit den menschlichen Frauen und den jüngsten Männern auf einer Anhöhe in Sichtweite.

„Sollen wir... einfach warten?“, erkundigte sich Moconi schließlich und fühlte sich dabei wie ein dummes kleines Kind. Auch um die Aufstellung der Krieger hatte Kewera sich gekümmert... er war einfach viel erfahrener. Allerdings war es Shiran, der ihm zunickte.

„Wenn du ganz still bist, dann hörst du sie.“

Und sie waren ganz still. Es waren bloß Schritte, dumpfes Stampfen auf dem sandigen Boden in diesem Teil des Gebirges, das sich zu ihrer linken und ihrer rechten steil nach oben empor erhob. Es war das Ende des großes Passes... das Ziel war es, sie nicht durchzulassen und derart zu schwächen, dass Iavenya, wie diese seltsame Frau hieß, daran zu hindern, einen weiteren Versuch an der Spitze zu starten. Tirafasa – oder Nadeshda – würde versuchen, ihren Bruder wieder zu Verstand zu bringen, wie auch immer ihr das gelingen sollte, und so wieder ihre Macht zurückzugewinnen. Im Idealfall würde sie dann bald mit ihrem zurückgewonnen Volk irgendwo in eine entlegene Ecke des großen weiten Landes ziehen und es würde nie wieder zu Problemen zwischen Mensch und Kalenao kommen.

Soviel zu dem bekannten Plan. Und für den Notfall gab es Mefasa, die nun, weit über ihnen auf einem Plateau über der Schlucht stand und sie beobachtete... und darauf wartete, dass sie eingreifen konnte.
 

Und plötzlich verhallten die Schritte. Unter den Menschen kam murmeln auf, dem Kewera, indem er einfach nur eine Hand hob, Einhalt gebot. Alle Blicke richteten sich nach vorn, dorthin, wo hinter einer Biegung nun ihre Feinde lauern mussten... und erscheinen taten plötzlich Mahrran, Iavenya und Irlak. Letzterer grinste sein wahnsinniges Grinsen – das war selbst aus der Ferne zu erkennen.

„Man heißt uns willkommen!“, brüllte er dann und seine Worte hallten einige Male durch die Schlucht. Nadeshda schnaubte.

„Mahrran!“, schrie sie und auch die grellen Laute ihrer Stimmer wiederholten sich mehrmals, „Befreie deinen Geist, du bist ein Tankana, mit vollem Blute, lass dich nicht benutzen!“

Ihr Bruder grinste. Als er ihr antwortete, fixierten seine schlechten Augen jedoch nicht sie, sondern Moconi, der darauf die Brauen senkte und seinen Speer bereit hielt.

„Ist es letztendlich nicht egal, von welcher meiner Schwestern ich mich benutzen lasse? Iavenya hat mich immerhin nicht an die Menschen verraten.“

Erwähnte Frau lachte glockenhell – abermals hallte es durch die Schlucht – dann lugte sie um die Ecke und hob einen Arm.

„Wir lassen uns nicht aufhalten, wir kämpfen für unser Land.“

Mahrran schielte kurz zu ihr, dann wandte er sich an das Volk – mit nur einem Wort, das alles besiegeln sollte und das in jenem Moment auch alle Menschen verstanden.

„LOS!“
 

Sie kamen nicht nur von hinter der Biegung. Niemand wusste genau, wie sie es gemacht hatten – letztendlich vermutlich mit Teleport und Dematerialisierung – aber mit einem Mal waren sie da und das von allen Seiten. In einem Schwall Licht erschien Mahrran vor Moconi und obwohl er so klein und schmal war, wirkte er bedrohlicher als das gefährlichste Raubtier. Der Häuptling weitete die Augen, verlor jedoch keine Zeit und stach nach ihm... und traf in Licht. Ohne den erwarteten Widerstand stolperte er nach vorn und wurde von einem heftigen Strahl Wasser über den damit schlammigen Boden davon gefegt, zwischen die Füße von irgendwelchen jungen Frauen, die unverzüglich einen Regen aus Gestein auf ihn niedergehen ließen. Der Mann kniff entsetzt die Augen zusammen und als er mit dem Speerschaft nach ihnen schlug, war es mehr Zufall, als er ihre Beine traf und sie zurückstolperten, was ihm Zeit gab, sich aufzurichten und nach Mahrran zu sehen – der mit einem Mal in dem Chaos, das plötzlich entstanden war, verschwunden war.

Sein Blick fegte hastig durch die Menge... aus irgendwelchen Gründen war im klar, Mahrran war sein Gegner, es war nicht rechtens, wenn jemand anderes ihn erledigte – oder von ihm erledigt wurde. Tirafasa wollte versuchen, seinen Geist zu heilen, aber für den Notfall hatte jeder die Erlaubnis, ihn zu töten, um sein eigenes Leben zu beschützen. Möglicherweise würde er darauf zurückgreifen müssen.

„Hinter dir.“

Vielleicht war es nicht gut, dass der normale Mensch auf diese Worte hin herumschnellte, wie es auch Moconi in jenem Moment tat und so von einem Wasserzauber frontal in sein Gesicht getroffen wurde, was ihn abermals umwarf. Beinahe wäre er von einem Mann aus dem Kojotenstamm zertrampelt worden, aber dank dessen reflexartigem Sprung zur Seite, als der Häuptling des Schlangenstammes mit einem Mal in seiner Bahn gelandet war, kam er zumindest was das betraf noch einmal davon.

Moconi sprang abermals auf die Beine und sah sich keuchend nach der ebenfalls abermals untergetauchten Bestie um. Als er nach seinem tauben Gesicht fasste, war seine Hand blutverschmiert... so würde es nicht weiter gehen. Er spürte seinen Zorn in sich auflodern wie eine Flamme und er wusste, egal, was nun mit ihm geschehen würde, er würde es nicht spüren und er würde ihm egal sein.

Als Mahrran abermals hinter ihm auftauchte, war er schneller. Der Mann keuchte, als er am Kragen gepackt wurde und in das abstrus grinsende, verletzte Antlitz seines Gegners blickte.

„Auch Menschen haben Instinkte!“, lehrte er ihn, dann ließ er ihn los und schlug ihm mit seiner nun wieder freien Hand mit ganzer Kraft in sein Gesicht. Obwohl es laut war um sie herum, hörte er es zwei Mal knacken... und Mahrran ging schreiend zu Boden.

„Es tut mir ja leid für deine Schwestern... und für meine.“, schnarrte Moconi da, mit einem Mal über ihm, seine Speerspitze an den Hals seines Gegners pressend, der darauf die Augen entsetzt weitete, „Aber wenn ich dich jetzt erledige, dann hat sich die ganze Sache – und das wäre gut.“

Der Magier senkte die Brauen.

„So leicht... ist das nicht.“, erwiderte er in seinem eigentümlichen Akzent, „Du bist gut... nicht gut genug.“

Moconi wusste nicht, was es war, doch es blendete ihn auf so grauenhafte Art und Weise, dass er kurzzeitig, wenn auch nur für wenige Atemzüge, davon erblindete. Noch ehe sein Blick sich wieder klarte, schleuderte ihn ein gewaltiger Schwall Wasser gegen eine der steinernen Bergwände und er verlor sein Bewusstsein.
 

Nadeshda fand Mahrran nicht. Sie fand prinzipiell niemanden in dem Getümmel, sie war einfach zu klein, um über irgendjemanden hinweg sehen zu können. Eigentlich war geplant gewesen, mit den anderen Frauen und jungen Männern von ihrer kleinen Anhöhe aus von oben in das Geschehen einzugreifen, doch dass so viele ihrer Blutsbrüder- und schwestern sich mit irgendeiner Art von Himmelsmagie behelfen und direkt neben ihnen, auf ihrem vermeintlich sicheren Posten, erscheinen würden, hatte sie nicht eingeplant. Natürlich, der Fluch hob alle Grenzen auf... so beherrschte mit einem Mal jeder sein zweites, angeborenes Element. Selbst die Kinder, wie sie entsetzt bemerkte. Es war Sanan, auf den sie es abgesehen hatten; er war in der Erdmagie nicht schlecht, stellte sie verblüfft fest, aber er war von viel zu vielen manipulierten kleinen Monstern umgeben, als dass er eine Chance gehabt hätte. Sie hatten ihn in eine Art Einbuchtung im Felsen gedrängt und umzingelten ihn von allen Seiten; er selbst wich mehr schlecht als recht vor ihren Zaubern aus; abfangen konnte er schließlich nur die Erdmagie. Und er schien sich davor zu zieren, Kindern etwas anzutun.

„Bruder von Shiran!“

Er sah verblüfft auf, über die Horde an Angreifern hinweg zu Nadeshda, die einen brüllenden Ekarett mit einem gezielten Schlag Wassermagie von sich weg schleuderte, um an ihn und die Kinder heran zu kommen.

„Woher...?! Aah!“

Er duckte sich im letzten Augenblick unter einer mächtigen Stichflamme hinweg; seine Angreifer schienen sich nicht am Auftauchen ihrer einstigen Herrin zu stören und bedrängten ihn behände weiter. Es ging ihnen nicht nur darum, ihn zu töten... es ging ihnen auch nicht um den eigenen Spaß. Nadeshda schnappte empört nach Luft – es ging um Iavenyas alleiniges Vergnügen. Die Menschen sollten möglichst lange leiden und die Kalenao ebenso; je mehr sie die viel zu mächtigen Zauber anwandten, desto länger wurde auch ihr Leidensweg danach.

Sie durfte nicht darüber nachdenken, schalt sie sich.

„Die Zähne!“, antwortete sie auf ihren Mund deutend dem verblüfften jungen Mann, der abermals einen gewaltigen Brocken von sich ablenkte... und sich tatsächlich dazu überwand, ihn auf das Kind zu schleudern, das für ihn verantwortlich war. Mit einem Schrei wurde es darunter begraben.

Nadeshda nutzte den Moment der Irritation, um mittels Dematerialisierung neben Sanan aufzutauchen, der sein Gesicht vor Ekel über seine eigene Tat verzog.

„Denk nicht weiter darüber nach.“, riet sie ihm, die kleinen Bestien, die verwirrt den Felsen, unter dem ihr Kumpane begraben lag, anstarrten, visierend, „Ach ja, und neben deinen Zähnen vor allem die Augen... aber auch der Rest deines Gesichts. Nimm es als Kompliment – und zeige nun keine Gnade, Sohn Morys'!“

Sanan nickte und verschob seine Verwirrung auf später, sich wieder den Kindern zuwendend, die sich nun schulterzuckend wieder auf ihn konzentrierten. Warum hatten die es so auf ihn abgesehen?!

„Ich... kann ihnen doch nicht weh tun, sie sind noch so klein!“, jammerte er auf einen zu langen Blick in die unschuldigen Gesichter und die kleine Frau zischte.

„Vergiss das! Schau her, so musst du das machen!“

Sie streckte ihre Arme aus und schlug ihre Handflächen gegeneinander. Alle Zauber der Kinder verschwanden, als Nadeshda die Arme langsam voneinander entfernte, bis sie sie zu beiden Seiten ausgebreitet hatte – und eine gewaltige Flutwelle über das Feld fegte und neben den Kleinen auch einige andere Kalenao – und zu ihrem Leidwesen auch Menschen – mit sich nahm. Sanan keuchte.
 

„Du bist völlig von Sinnen!“

Kajira keuchte, als er zum wiederholten Male Ratos Feuer auswich, das ihm dabei beinahe sein wunderschönes Haar, das er zu diesem Anlass wie alle Magier offen trug, versengt hätte. Sein älterer Bruder ging nicht darauf ein. Sein Blick war starr, sein Mund war verkniffen – auf jeden daneben gegangenen Versuch folgte ein weiterer; er wusste, dass er ihn irgendwann erwischen würde. Und Kajira konnte sich nicht dazu überwinden, sich zu wehren... es war doch sein Bruder! Und daran musste Rato sich doch auch irgendwo erinnern, zumindest vertrat er diese Meinung.

„Erkennst du mich denn nicht mehr? Ich bin Kajira, Rato, bitte hör auf damit!“

Er sprang gekonnt zur Seite und damit einem seiner Cousins auf die Füße, so heftig, dass es knackte und er schreiend zu Boden ging. Der junge Mann hustete... das war keine Absicht gewesen, aber vermutlich hatte der ohnehin versuchen wollen, ihn zu ermorden, wie es gerade alle seine Verwandten mit ihm vorhatten...

Auf Ratos nächsten Angriff war er nicht gefasst gewesen. Als er sich zu seinem Bruder umdrehen wollte, wurde es schwarz vor seinen Augen und während er das Gefühl hatte, zu fallen, breitete sich ein unglaublicher Druck auf seinen Körper aus. Moment, er beherrschte Schattenmagie?!

Instinktiv wusste er, dass er nun, regungslos, wie er nun am Boden lag, Ziel eines vermutlich pervers mächtigen Feuerzaubers werden würde – es musste an dem Fluch liegen, den Mabalysca erwähnt hatte.

Mabalysca...

„Hör auf damit!“

Die Schattenmagie brach in sich zusammen, als Rato seinerseits selbst vor einer gewaltigen Flamme in Deckung gehen musste; Mabalysca hatte ihn gespürt. Kajira blinzelte, sich matt aufrichtend... sie stand vor ihm wie eine kleine, stolze Kriegerin und auch ohne ihr Gesicht zu sehen, sie kehrte ihm Rato zugewandt wohl oder übel den Rücken, wusste er, dass sie nun diesen ganz bestimmten Blick aufgelegt hatte. Diesen Blick, der einfach sagte... Ich bin eine Tankana.

Er war stolz auf sie und in dem Moment, in dem er aufgestanden war und an ihre Seite eilen wollte, bemerkte er den Erdzauber, den sein Cousin mit den gebrochenen Füßen hinter ihm heraufbeschwor... es war ein Inferno an Steinen, das auf ihn niedergehen würde und auch Mabalysca bemerkte es und riss ihn mit einem Schrei aus seiner Starre. Plötzlich war es ihm möglich, reflexartig die Arme zu erheben und einen schützenden Windwirbel um sich zu erschaffen, der ihn vor den tödlichen Geschossen beschützen würde. Damit war für ihn gesorgt... aus den Augenwinkeln sah er abermals Feuer und er streckte die Arme aus, den Wirbel von sich selbst in tödlicher Manier auf seinen Cousin lenkend. Er wusste nicht, ob er es schaffte, auszuweichen oder zu parieren, denn als er sich umdrehte, sah er Mabalysca am Boden und das beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Plötzlich hatte er keine Probleme mehr damit, Rato mit einer gezielten Windklinge die Kehle aufzuschlitzen – er tat es, ohne darüber nachzudenken. Sein Bruder riss die Augen auf und ging neben der jungen Frau gurgelnd zu Boden; Kajira ignorierte ihn.

„Mabalyscachen! Wach auf!“

Er rüttelte unsanft an ihren Schultern und sie stöhnte. Da sie nicht verbrannt war, ging er davon aus, dass das Feuer, das er gesehen hatte, von ihr selbst ausgegangen war... Rato hatte sie vermutlich mit Schattenmagie in die Knie gezwungen... und dabei hatte sie sich den Hinterkopf heftig angeschlagen, wie er an dem Blut, das unter ihr hervor rann, bemerkte. Er zischte... er musste sie von hier weg bringen, ehe es zu spät war.

Shiran hatte sich Mühe mit ihm gegeben. Er hatte von ihm gelernt. Die benötigte Konzentration in jener Situation aufzubringen gestaltete sich als grauenhaft schwierig, doch es gelang ihm gerade noch rechtzeitig. Mabalysca verschwand mit ihm in einem matten Licht, einen Moment, bevor eine Windklinge ihm den Kopf abgehauen hätte.
 

Kurapi war umzingelt, abermals. Er fragte sich, ob er der einzige war, der bemerkte, dass die Kalenao kaum tot zu bekommen waren, aber es war niemand da, den er hätte fragen können... um ihn herum waren nur Magier, die sich von allen Seiten mit ihren Zaubern voran auf ihn stürzten. Er war begabt, sowohl in der Jagd, als auch als Krieger, und er hatte seine Fähigkeiten – seltsamerweise ging von diesen Kalenao nicht viel aus, vermutlich, weil ihre Seelen nicht frei waren, wie Shiran erklärt hatte. Es war auch gleich, dank seiner ausgeprägten Instinkte gelang es ihm, immer wieder auszuweichen und ab und an auch einmal eine Gelegenheit zur Gegenwehr zu erhalten. Aber letzteres nützte ihm kaum... egal, wie fest er einem den Speerschaft gegen die Schläfe schlug oder mit der Spitze seine Seiten aufriss; nicht einmal wenn er einem zwischen die Beine trat, nützte es dauerhaft etwas. Und einen Treffer ins Herz einer dieser Bestien zu erreichen gestaltete sich so, wie es war, als nahezu unmöglich...

Sie werden nicht langsamer... sie werden schneller!

Oder sie blieben gleich und seine eigene Geschwindigkeit ließ nach... natürlich, sie wurden im Gegensatz zu ihm nicht müde. Er merkte, wie die Erschöpfung an jeder Faser seines Körpers zerrte und keuchte, als er sich abermals unter einem mit beeindruckendem Druck abgefeuerten Schwall Wasser hinweg ducken musste und verzweifelt versuchte, seinem Angreifer seinen Speer in den Bauch zu rammen; eine Wand aus von einem Windzauber aufgewirbelten Staub hielt ihn ab und riss ihn von den Beinen.

Er keuchte, als er die brennenden Augen öffnete und über sich die seelenlosen Fratzen seiner Gegner erblickte... egal, wie gut er gewesen war, das war es dann wohl. Er konnte nicht weiter denken, weil einer der Magier plötzlich von einem Speer durchbohrt wurde, und zwar dort, wo es effektiv war und noch ehe einer der anderen hätte reagieren können, war bereits der nächste dran. Die beiden gingen zu Boden und Kurapi nutzte die Gelegenheit, seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren und auf die Beine zu springen. Er keuchte.

„Vater!“

Kewera visierte die übrig gebliebenen Angreifer seines Sohnes argwöhnisch an und zischte.

„Du musst vorsichtiger sein.“

Das war ihm klar, aber angesichts der Situation verkniff er sich eine bissige Antwort lieber und konzentrierte sich auf die Bestien, die synchron die Arme hoben, um weitere Zauber auf sie loszulassen. Gekonnt wich er genau so wie der Häuptling abermals aus und wie abgesprochen nutzten sie die Zeit, um sich den Magiern von zwei Seiten zu nähern; dieses Mal erwischte Kurapi einen am Bauch, aber obwohl er durchbohrt war, tat der Mann seinen Angriff bloß mit einem Schnauben ab.

Der Häuptlingssohn starrte ihn überfordert an – das hätte ihn töten müssen! Er hatte gerade alle seine wichtigen Organe verletzt, warum konnte dieser Kerl bitte noch aufrecht stehen?!

„Du Träumer!“

Er schrie, als sein Vater ihn gewaltsam zur Seite stieß; er landete im Dreck und sein Speerschaft brach durch, doch das war nebensächlich. Kewera hatte dem Kalenao, der gerade eine ganze Armee an Windklingen auf sie abgefeuert hatte, seinen Speer mit der gewohnten Zielgenauigkeit in sein Herz gebohrt; der Mann grinste ihn im Sterben an und als Kurapi sich aufsetzte und seinen Blick von ihm ab- und seinem Vater zuwandte, verstand er auch, weshalb. Er keuchte.

„Nein, der... der nimmt dich nicht mit, du lässt dich doch nicht von ihm mitnehmen!“

Mitnehmen in die nächste Welt. Kewera sank mit aufgeschlitztem Oberkörper in sich zusammen, heftig atmend. Blut rann aus seiner Nase und seinem Mund... und aus den gewaltigen Wunden. Der rote Lebenssaft verwandelte seine Bemalung in etwas grausiges, dem sein Sohn keinen Namen zu geben vermochte. Er keuchte, zitternd neben den Mann stürzend.

„Oh Himmel, steh auf!“, forderte er verzweifelt, „Ich bringe dich fort von hier!“

Kewera grinste, zitternd zu ihm aufsehend. Seine Augenlider flackerten auf beängstigende Art und Weise.

„Was gibt es schon ehrenvolleres für einen Mann wie mich als auf dem Schlachtfeld zu sterben?“, sprach er seine Gedanken aus und Kurapi schnappte verzweifelt nach Luft. Kewera lächelte weiter, seine Blutungen ignorierend tapfer gegen die Schwärze ankämpfend und weiter auf Knien vor seinem Sohn hockend, als er hinter seinen Kopf griff und seinen erstaunlich intakten Federkopfschmuck löste... und ihn seinem Gegenüber, vermutlich mit letzter Kraft, umband. Er hustete heftig, dann legte er seinem erstarrten Sohn eine Hand auf die Schulter.

„Wage dich nicht, dir Vorwürfe zu machen, das... ich verbiete es dir.“, Kurapi weinte, „Ich bin so stolz auf dich. Ich... weiß, dass du unseren Stamm zum Triumph führen... wirst. Jetzt... erst recht.“

Er lachte und das Blut quoll nur umso stärker hervor.

„Beweise dich... zeige allen, wer du bist... und was du kannst. Moconi... braucht deine Hilfe. Jetzt und... in Zukunft. Deine Geschwister brauchen... dich... alle brauchen sie dich. Ich... habe meinem Stamm lange gedient... ich glaube, ich habe es gut gemacht. Habe ich das?“

Kurapi bemerkte beiläufig, dass einige Männer seines Stammes plötzlich da waren – vermutlich waren auch sie es, die sie vor weiteren Angriffen seitens der Kalenao bisher beschützt hatten.

„Du... warst der beste Häuptling, den der Kojotenstamm jemals hatte... Vater!“

Er packte ihn an seinen Schultern, damit er nicht zusammen brach. Kewera hustete, dann lächelte er abermals.

„Übertreibe es... es nicht. Du... du wirst mich übertreffen, ja?“

Der Jüngere nickte vorsichtig, obwohl er von den Worten seines Vaters nicht überzeugt war, und weinte weiter – er schämte sich dessen nicht.

Sein Gegenüber erschauderte heftig.

„Sag den Kleinen... ich... grüße Mutter von ihnen. Sie haben sie nie... nie gesehen. Ich grüße sie von euch... allen.“

Er sank in sich zusammen.

„Viel Glück...“
 

In seinem Kopf dröhnte es grauenhaft. Als er die Augen öffnete, war es Teco, der verzweifelt an ihm rüttelte... ach ja, der war auch mitgekommen. Mitgekommen... wohin?

Moconi setzte sich mehr reflexartig auf und sein Cousin, der neben ihm hockte, sagte etwas zu ihm... er verstand es nicht. Da war nur dieses Dröhnen... irritiert blickte er sich um. Unweit von ihnen entfernt tobte die Schlacht noch immer... und aus irgendwelchen Gründen hatte er das Gefühl, er sah mehr Magier, als Menschen. Teco fasste nach seiner Schulter und sprach abermals auf ihn ein... doch da war nur das Dröhnen. Sein Gegenüber deutete auf ihn, auf sein Gesicht, seinen Kopf und sah ihn dann fragend an. Fragend... er hatte ihn etwas gefragt.

„Kannst du vielleicht etwas lauter sprechen?!“

Sein Cousin wich erschrocken zurück und Moconi blinzelte selbst überrascht – seine Stimme hatte das Dröhnen in normaler Lautstärke übertönt, dabei war er der Meinung gewesen, er hätte geschrien. Kam dieses Dröhnen überhaupt von den Kämpfen?

Teco tat ihm jedoch den Gefallen und sprach etwas lauter mit ihm... und sah dabei beunruhigenderweise auch so aus, als schrie er.

„Du bist verletzt, Moconi! Dein Gesicht muss genäht werden! Und dein Kopf! Du hast ihn dir angeschlagen, ziemlich heftig, ich glaube, deshalb hörst du nicht richtig! Kann das sein?“

Der Häuptling dachte kurz nach. Verdammt, Mahrran, diese verfluchte Bestie... er nickte zischend. Sein Gesicht tat tatsächlich ganz schön weh und jede Bewegung zog, während er merkte, dass sich eine dicke Schicht Schorf bereits unangenehm auszubilden begonnen hatte. Er brummte.

„Ich muss Mahrran finden!“, verkündete er und nachdem Teco abermals mit zusammengekniffenen Augen zurückwich, drosselte er seine Lautstärke etwas, auch wenn er sich selbst kaum noch verstehen konnte, „Ich muss das beenden!“

„Das wird nicht so einfach sein, fürchte ich, deshalb habe ich dich ja gesucht!“, erwiderte sein Cousin, kurz prüfend zum Kampfgeschehen schielend. Die waren miteinander beschäftigt, gut...

„Die sind unglaublich schwierig klein zu bekommen! Die schlachten uns ab wie Vieh, die Frauen haben wir bereits umkoordiniert – die sind inzwischen nur noch dafür verantwortlich, dass unsere Verletzten irgendwie vom Schlachtfeld verschwinden! Von Kewera ist keine Spur, Nadeshda ist umzingelt, Shiran fand ich nicht... was sollen wir nun tun?!“

Teco keuchte. Sein Cousin sah die Verzweiflung in seinen Augen... er hatte während seiner Bewusstlosigkeit vermutlich Dinge gesehen, für die er sich wohl bei den Göttern bedanken musste, dass sie sie ihm in jenem Moment vorenthalten hatten.

Er erhob sich langsam, den heftigen Schwindel ignorierend, und der andere Jäger tat es ihm gleich. So viele verdammte Magier... wo war die Übermacht an seinen Kriegern hin verschwunden?! Die Bestien kämpften mit aufgeschlitzten Körpern als sei nichts...

Moconi wurde kalt. Er erinnerte sich an das Abkommen... das war die Situation. Mefasa war nicht dumm... bald würde sie handeln.

Er bemühte sich darum, Haltung zu wahren... und seine eigene kalte Todesangst so weit es ihm möglich war, zu verdrängen. Teco sah ihn fragend an.

„Was tun wir nun?“

„Nichts.“
 

Shiran verfluchte die tausend schlechten Gefühle, die die Götter ihm vermittelten, als er sich durch das Getümmel kämpfte, auf der Suche nach irgendjemandem, der das Ganze endlich beenden konnte – langsam stimmte er zumindest in diesem Punkt mit Tamassy überein, er brauchte Ruhe. Erst in jenem Moment, umgeben von schreienden, blutenden, tapfer kämpfenden Menschen und stummen, seelenlosen, teilweise ebenso schwer verletzten Kalenao, wurde ihm bewusst, wie sehr die letzten Monde an seinen Nerven gezehrt hatten... Die Luft war heiß und stank nach Blut und Tod, als er sich ohne ein Ziel mit Namen zu haben durch die Masse kämpfte – und letzteres bekam er plötzlich, als er mit einem Mal einer bekannten, blutverschmierten Fratze gegenüberstand. Er hielt inne, und Irlak weitete seine wahnsinnigen Augen, dann grinste er abstrus. Shiran verkniff es sich, sein Gesicht angewidert zu verziehen, als er die Fleischfetzen zwischen den Zähnen seines Gegenübers erkannte.

„Der Fluch ist ein Segen!“, überraschte Iavenyas Sklave ihn da mit ungeahntem Wissen und breitete den Göttern dankbar die Arme aus und gen Himmel, „Er macht uns alle... so stark!“

Der Seher antwortete ihm nicht. Er hatte kein Interesse, ihm aus seinem gefährlichen Halbwissen zu helfen... nun war er sein Gegner.

Shiran war kein Kämpfer und prinzipiell an keinem Kampf interessiert, doch er fügte sich seinem Schicksal und er wusste, dass Irlak sich innerhalb der nächsten Atemzüge auf ihn stürzen würde. Nun würde seine Sehensgabe hoffentlich wieder hilfreich werden... anstatt ihn zu verwirren wäre er seinen Göttern verbunden gewesen, wenn sie ihn nun unterstützt hätten – wenn er denn auf der richtigen Seite kämpfte, dessen war er sich trotz seiner getroffenen Entscheidung nicht sicher.

Die Wasserwand, die sein Gegenüber im nächsten Moment auf ihn losließ übertraf alles, was er bisher in jener Schlucht gesehen hatte... auch alles, was seine Götter ihm jemals gezeigt hatten. Er brachte nicht genügend Konzentration auf für einen Teleport, so blieb ihm keine andere Wahl, als mehr instinktiv als geplant, eine annähernd so gewaltige Wand aus wirbelnden Winden um sich herum zu erschaffen... und nachdem das Wasser daran abgeprallt war, auf Irlak los zu lassen. Er sah ihn in dem Gewühl aus Zaubern zunächst nicht, doch er wusste, dass er ihn verfehlt hatte.

Der Mann aus dem Ekarett-Clan war eigentlich nicht in der Lage, das ihm angeborene telepathische Element zu nutzen, nicht nur aus Mangel an Talent, sondern vor allen Dingen, weil er keine Konzentration dafür aufbringen konnte. Im Augenblick schien er auch keine dafür zu brauchen, denn spöttisch lachend tauchte er dank Teleport im nächsten Moment hinter Shirans Rücken auf. Der fuhr wissend herum und begrüßte sein Auftauchen mit einer ganzen Herde von tödlichen Windklingen, doch Irlak bewies in unnatürlicher Geschwindigkeit sein Talent darin, sich aus Wasser einen Schutzwall zu errichten... und seinen Gegner mit jenem darauf beinahe wegzuschwemmen.

Es gelang dem Seher nur schwer, sich auf den Beinen zu halten und fluchend versuchte er es abermals mit den Klingen – beinahe mit Erfolg, doch Irlak ließ sich kurz, bevor er getroffen worden wäre, wie ein spielendes Kind lachend, einfach rückwärts zu Boden fallen und wurde dank dessen abermals verfehlt. Shiran seufzte... Iavenya machte es ihnen wirklich nicht leicht. Sie hatte seinen Respekt.

Seine Götter ließen ihn nicht im Stich, als sie ihn dazu aufforderten, sich abermals ein Stück fort zu teleportieren, um der nächsten Flutwelle zu entgehen – leider landete vor den Füßen einer jungen Erdmagierin, die kichernd die Arme hob. Der Seher schnappte nach Luft – ohne Teleport hatte er nun ein gewaltiges Problem, aber er war im Gegensatz zu seinen Blutsbrüdern und -schwestern erschöpft.

„Meinen Respekt für deine Fähigkeit, aus dem Boden und Irlaks Wasser Treibsand zu machen... ich bin bisher niemandem begegnet, der das gekonnt hätte.“, sprach er ruhig an die Frau gewandt, in deren Augen darauf kurz der Hauch einer Seele über das unerwartete Kompliment erschien.

„Ich... konnte das schon immer...“, merkte sie dann verdattert an, aber Shiran kam nicht dazu, ihr zu antworten, denn er fuhr zu Irlak herum, der nun an den trockenen Grenzen der nassen Sandgrube stand, in die der Seher bereits bis zu den Knien eingesunken war und ihm einen tödlichen Wasserwirbel grinsend präsentierte.
 

Mefasa erkannte, was unter ihr geschah. Sie sah sie zu Boden gehen, die Menschen... die sie eigentlich zu ihren Feinden hätte zählen sollen.

Sie hatte es gehasst, im Schlangenstamm zu leben. Sie hatte sich zu gut dafür gefühlt... sie hatte sich einen Spaß daraus gemacht, in ihrer eigenen Verzweiflung des Häuptlings Kinder zu quälen. Dann war deren Mutter verstorben und ihr Vater hatte sie nicht mit seinen bösen Sprösslingen allein lassen wollen. Daraufhin war Rhik erschienen. Sie hatte ihn bereits zuvor gekannt, er war ein Freund Saltecs gewesen... kein besonders hübscher Mann. Nicht beschämend hässlich, aber sicher nicht schön. Sie hatte ein ungutes Gefühl gehabt, als er auf seine eigene, verhaltene Art um ihre Hand angehalten hatte, aber sie war mit ihm gegangen... schlechter hatte es nicht werden können. Und sie hatte recht behalten, mehr als sie es sich jemals zu erhoffen gewagt gehabt hätte... Rhik war der mit Abstand vollkommenste Mensch gewesen, der jemals in diesem Lande gelebt hatte, dessen war sie sich absolut sicher. Seine Art hatte sie beruhigt... er war gut mit ihr umgegangen, aber er hatte es nie übertrieben, sie war seine Frau gewesen, er hatte ihr einen richtigen Platz gegeben... nicht im Stamm, im Leben.

Ich bin zu hässlich für dich.“, hatte er eines abends gesagt, sie war noch nicht lange bei ihm gewesen, als sie sich in ihr Lager gelegt hatten. Er hatte noch nicht gewusst, dass sie genau verstand, was er sagte.

Ich kann dir nicht antun, wie eine richtige Frau unter mir zu liegen, aber ich passe gerne auf dich auf, so lange du neben mir liegst. Zumindest wird dich hier niemand mehr ärgern.

Er hatte sie matt angegrinst und war in jenem Augenblick zum schönsten Mann der Welt geworden... und sie hatte sich über ihn gebeugt und ihn mit einem solchen Verlangen auf den Mund geküsst, dass er seine zuvor gesprochenen Worte hatte vergessen müssen. Und danach hatte sie mit ihm gesprochen... sie hatte sich an ihn geschmiegt und ihm in ihrem grenzenlosen Vertrauen ihre gesamte Geschichte anvertraut. Und er hatte ihr ohne Empörung gelauscht... er war ihr nicht böse gewesen. Er war für sie da gewesen... er war bei ihr gewesen.

Die junge Frau umschlang zitternd ihren Oberkörper. Dieses Gefühl des Verständnisses war das mit Abstand beste gewesen, was sie jemals empfunden hatte. Rhiks Liebe... er war bereits so lange tot. Und daran war eines dieser Monster von ihrem Blute Schuld. Ja, sie wollte ihnen das Dornenfeuer geben... aber sie spürte Moconis Furcht so tief in sich wie ihre eigene davor, all den Personen, mit denen sie ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte, mit einem Mal zu ermorden. Sie war mit Abstand nicht die mächtigste Magierin an diesem Tag... aber die einzige, die in der Lage war, das Ganze zu beenden.

Moconis Wille war stärker als seine Furcht.

Zitternd hob sie die Arme langsam gen Himmel, heftig atmend. Es tat ihr leid... es tat ihr unglaublich leid! Sie kniff die Augen zusammen und ließ zu, dass die Magie ihres aufgegangenen Geburtsmondes sie durchströmte. Das Dornenfeuer gab es nur in einer Legende des Schlangenstammes... sie würde einfach einen mächtigen Feuerzauber anwenden. Den Mächtigsten... damit es schnell ging.

In ihr wurde es heiß... jede ihrer Fasern schien in Flammen aufzugehen. Sie öffnete die Augen, dann wollte sie es tun – dass sie es nicht konnte, lag nicht an ihrem Unwillen sondern daran, dass jemand ihre Arme mit sanfter Gewalt nach unten zerrte und sie an den Schultern ein Stück vom Abgrund wegzog.

Erschrocken fuhr sie herum und blickte in das unbekannte Gesicht eines fremden Mannes, dessen Existenz sie plötzlich so sehr überforderte, dass ihr die Tränen kamen. Seine Schönheit war wie ein Gedenken an Rhiks Seele, die sie in der nächsten Welt erwartete... und vielleicht von ihm geschickt.

„Lass das sein.“, sprach der Mann ruhig und hob seine Brauen, als sie schluchzend die Hände vor ihr Gesicht schlug, „Es ist noch nicht vorbei... hilf deinem Stamm anders. Sieh mich an, Frau...“

Bebend ließ sie zu, dass er ihre Hände von ihrem Gesicht weg nahm und sie in seinen eigenen festhielt. Er lächelte sie matt an.

„Sieh hinter mich, Frau.“

Sie gehorchte und lugte über seine Schulter – und weitete die Augen, vergessend, wer sie die ganzen Jahre lang gewesen war, als sie unter vielen fremden Gesichtern Karem erkannte.

„Wer... sind diese Leute?“, fragte sie an ihn gewandt und der hübsche Mann, der ihre Hände hielt, lugte über seine Schulter zu dem Häuptling des Vogelstammes. Letzterer kratzte sich irritiert an der Stirn, knapp unter dem Band, das seinen eindrucksvollen Federkopfschmuck hielt – der seine momentane Stellung deutlich verriet.

„Welch nette Stimme du doch hast, Mefasa, bei allen Göttern.“, sie errötete, aber er schien zu ahnen, dass dies nicht der Augenblick für viele Fragen war und antwortete ihr, „Wir sind eure Rettung, Mädchen. Unser nicht besonders sprachbegabter Freund hier stand kürzlich vor mir und hat meinen Stamm quasi entführt; wir landeten kurz nach eurem Aufbruch am Lager der vereinigten Stämme, die Frauen haben uns das Ganze dann erklärt; unseren Freund kannten sie allerdings auch nicht. Wie auch immer, spare dir das, was du vorhattest, lieber für später und geh zur Seite.“

Obwohl der hübsche Mann Karem nicht verstand, zog er sie in jenem Moment aus dem Weg. Mefasa starrte ihren Bekannten verblüfft an.

„Wie...?! Wollt ihr einfach über die Klippen?“

Der Mann grinste.

„Das hier, meine Liebe, sind die Krieger des Vogelstammes.“
 

Sie konnten wirklich fliegen. Zumindest wirkte es so, denn die Sprünge, mit denen sie den Höhenunterschied überwanden, waren absolut beeindruckend – und Karem hatte wohl von ihnen gelernt. Mefasa sah der Meute an mächtigen Kriegern beeindruckt zu, wie sie mit wildem Geschrei, das so ganz anders klang als das ihres eigenen Stammes, nach unten in die Schlucht stürzten, fest entschlossen, für Menschen, von deren Existenz sie bis vor kurzem vermutlich nicht einmal gewusst hatten, ihr Leben zu geben. Der hübsche Mann vor ihr – der wohl definitiv vom Blute der Kalenao war, ansonsten hätte Karem ihn ja verstanden – lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich, als er von ihr ließ und sich einen Schritt entfernte.

„Ich möchte mir nicht nachsagen lassen, selbst untätig gewesen zu sein.“, erklärte er flüchtig lächelnd und trat an den Abgrund. Die Frau fasste sich an ihren Kopf.

„Willst du etwa auch da herunter springen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich wünschte, ich wäre auch so eine Bergziege. Nein, Teleport.“

Sie wandte auf sein unerschütterliches Lächeln hin kurz den Blick ab. Wer auch immer das war, vielleicht hatte er dazu beigetragen, dass sie diesen grausamen Zauber nicht anwenden musste – dann war sie ihm ab nun für den Rest ihres Lebens dankbar.

Und er hatte sie an etwas erinnert – den Platz im Leben, den sie von Rhik erhalten hatte. Sie wollte sich wieder hinein finden...

„Nimm mich mit nach unten.“, bat sie so und sah ihn wieder an, „Ich bin gut in der Feuermagie.“

Der Mann erwiderte ihren Blick kurz, dann lächelte er wieder und reichte ihr eine Hand.

„Darauf habe ich fast schon gewartet.“
 

Shiran wusste, dass er nicht sterben würde. Er hatte keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie er, von seinen übermäßig oft genutzten Teleports geschwächt, knietief im Treibsand feststeckend und quasi einen tödlichen Wasserzauber vor der Nase, nun überleben sollte – dazu ging es zu schnell. Aber er war ein Seher und so war er nur halb so sehr darüber überrascht, dass er letztendlich gerettet wurde, wie es alle anderen waren – umso mehr jedoch darüber, wem er seine Rettung verdankte.

Irlak war nicht tot, der Mann hatte ihn bloß mit dem stumpfen Ende seines Speeres bewusstlos geschlagen, als er plötzlich hinter ihm aufgetaucht war. Nun ignorierte er das wieder aufflammende Chaos im wiederbelebten Geschehen um sich herum und trat einen Schritt auf die nasse Sandgrube hin zu – das Mädchen, das sie geschaffen hatte, rannte fort.

Shiran vermutete, dass er ziemlich dumm aussah in jenem Moment, in dem sein Retter ihm mit dem unverschämt schönen Grinsen im Gesicht wiederum die stumpfe Seite seines Speeres reichte, damit er sich aus seiner Falle befreien konnte. Er nahm die Hilfe an, auch wenn es ihm unangenehm war, und schnaubte, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

„Vielen Dank.“, sagte er dann dennoch und Karem gluckste und klopfte ihm nahezu kameradschaftlich auf die Schulter.

„Da nicht für. Wo ist denn Moconi?“

Shiran antwortete nicht sofort, fasziniert von den unheimlich kampflustigen Kriegern des Vogelstammes, die es ihrem neuen Häuptling tatsächlich erlaubten, mitten im schlimmsten Getümmel zu stehen und sich zu unterhalten. Natürlich, der Tod war für sie eine rein angenehme Erfahrung und nichts bedauerliches, sie achteten nicht auf ihre eigene Sicherheit und kannten kaum Angst...

„Moconi... wird so, wie es hier aussieht, schwer zu erreichen sein.“, erwiderte er schließlich und sparte es sich, zu erklären, weshalb; Karem war schließlich nicht dumm, er konnte sich wohl denken, dass der, nach dem er verlangte, sich am anderen Ende der Schlucht befand. Er hatte auch keine Gelegenheit mehr, sich weiter zu erkundigen, da wurden beide Männer von einer weiteren plötzlichen Flutwelle überrascht. Shiran musste sich nicht umdrehen, um zu erkennen, dass Irlak wieder wach war – den bekam man so leicht nicht tot, auch nicht ohne den Fluch.

Das ahnte auch Karem und er brummte, als er wieder in das wahnsinnige Gesicht des Magiers blickte... und sowohl er als auch sein Gegenüber zuckten zusammen, als eine Stimme, die zu einem Mann gehörte, der nur wenige Fuß von ihnen entfernt aufgetaucht war, alles übertönte.

„Töte ihn, Vater!“

Karem blinzelte, dann erkannte er die Person trotz ihrer abstrusen Bemalung. Er schnappte nach Luft und Irlak sah blinzelnd zwischen den beiden her. Was sollte das?

„Joru, du bist das ja...“

Sein Sohn schnaubte, aber nicht über ihn, sondern vor Wut, die sich offensichtlich in seinem Gesicht abzeichnete.

„Der war es, der hat Rhik damals getötet! Wegen dem musste ich gehen, der ist Schuld an allem!“, er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Irlak, der genervt brummte, „Dass du einen Fehler gemacht hast, Vater, hast du hoffentlich eingesehen, ich wollte dich eigentlich nie wieder treffen, aber ich gebe dir eine Chance, dich zu... entschuldigen, wenn du ihn mit mir tötest.“

Iavenyas Mann bemerkte, dass Jorus Worte nicht an ihn gegangen waren und schleuderte einen kleinen Wasserwirbel nach dem Störenfried, dem er jedoch ohne größere Mühen und mit einem Geschick, das Karem ihm niemals in seinem Leben zugetraut hätte, auswich, nun seinen Vater mit nassen Augen fixierend.

„Er kam zurück, weil er dich sehen wollte.“, brummte Shiran neben jenem und der Häuptling des Vogelstammes atmete einmal tief ein, ehe er leise etwas erwiderte.

„Ich erledige das Monster.“, erklärte er, ohne dass sich seine Mimik nennbar änderte, „Tu du mir einen Gefallen; für das vorhin, wenn du so willst. Sieh nach Teco, pass auf ihn auf... du wirst wohl wissen warum.“

Er war noch immer nicht in der Lage, einen erneuten Teleport an das andere Ende der Schlucht, wo sich Teco nun mit seinem vermeintlichen Cousin Moconi wieder in das Geschehen gestürzt hatte, zu machen und es reizte ihn nicht wirklich, sich durch dieses Chaos zu kämpfen, aber Karem hatte recht; er wollte ihm nichts schuldig bleiben und so gehorchte er mit einem Nicken und machte sich auf, ohne, dass Irlak irgendwelche Anstalten machte, ihn zu verfolgen – der hatte nun neue Opfer.
 

Karem erkannte beruhigt, dass der elendige Seher ihm tatsächlich gehorchte. Gut so... die Chance, die Joru ihm da gab, wollte er kommentarlos nutzen; er hatte schließlich nicht damit gerechnet und betrachtete sie als Geschenk. Außerdem war Rhik auch ein guter Bekannter seinerseits gewesen... und Mefasa, die kleine Betrügerin, würde ihm wohl danken, wenn er es schaffte, dieses Vieh zu vernichten. Aber es gab noch ein weiteres Versprechen, das er kürzlich gegeben hatte und an das er sich gern halten wollte.

Sie hatten nur kurz im Lager der vereinigten Stämme Rast gemacht, aber noch ehe er sich mit seinen Männern hatte aufmachen können, hatte Tanest ihn zurückgehalten und ihn um etwas gebeten, was für alle anderen Menschen, die in der Nähe gewesen waren wohl genau so seltsam geklungen haben musste wie für ihn – im ersten Moment.

Porit liebt Teco.“, hatte sie erstaunlich kleinlaut begonnen, ihm jedoch mit der gewohnten Festigkeit in die Augen geblickt, „Aber er wird versuchen, auf Tinash acht zu geben. Tu mir den Gefallen, und... sieh du nach Teco. Bitte.“

Er hatte bereits irritiert die Brauen gehoben und die Frage, weshalb ausgerechnet er auf ihren ältesten Sohn aufpassen sollte, hatte ihm auf der Zunge gelegen, da hatte sie ihren Blick tatsächlich ein klein wenig verlegen abgewandt.

Weißt du...“, hatte sie, auf seltsame Art versuchend, seriös zu wirken, dann angefügt, „Es liegt an der Zeit von Tecos Geburt damals. Verstehst du das? Du erinnerst dich doch sicher daran, die Zeit von Tecos Geburt... und davor, nicht?

Als sie wieder zu ihm aufgesehen hatte, hatte er sie endlich verstanden – sie war dezent gewesen, aber sie hatte viele Jahre zu spät gesprochen und dafür würde er sie sicherlich auch noch rügen, aber in jenem Moment hatte er verblüfft bloß nicken können und hatte sich mit einer beinahe unangebrachten Euphorie auf den Weg in den Kampf gemacht. Er wollte nach Teco sehen... aber es gab nun auch Joru und um den würde er sich zuerst kümmern.

Er hatte sich ziemlich verändert. Karem öffnete verblüfft den Mund, ohne etwas zu sagen, als sein Sohn sich brüllend auf den Magier stürzte – und das so schnell, dass der sich nicht mehr zur Wehr setzen konnte. Er warf ihn zu Boden und setzte sich auf seinen Bauch, seine Arme neben seinem Kopf auf den Boden pressend.

Der Magier fauchte etwas in seiner Sprache, und Joru lachte ihm auf beinahe abscheuliche Art ins Gesicht. Karem trat verblüfft neben ihn.

„Ja, da schimpfst du, was? Erkennst du mich noch? Ich bin der, dessen Leben du Abschaum zerstört hast!“

Er verfestigte seinen Griff um die Handgelenke und der Blauhaarige schnappte vom Schmerz überwältigt nach Luft... seine Gelenke waren schmal, Karem fragte sich, ob man sie wohl einfach so brechen konnte; sein Sohn riss ihn aus seinen Gedanken, als er seinen Kopf zu ihm drehte und ihm auffordernd in die Augen blickte.

„Na los, tu etwas! Tu ihm weh Vater, bitte! Ich hasse ihn, ich verabscheue ihn! Aber wenn du ihm weh tust... weil du es willst, dann muss ich dich vielleicht nicht mehr verabscheuen...“

Jorus Blick war der von Ardoma und verblüfft bemerkte der Häuptling des Vogelstammes, dass er stolz auf ihn war – und konnte seinen Hass teilen. Die Bestie strampelte und schrie unter seinem Sohn, der sie unbarmherzig weiter festhielt.

„Ich schlitze ihn auf für dich...“, kündigte Karem so ruhig an und Joru erhob sich, die Handgelenke noch immer haltend, und hockte sich stattdessen neben sein Opfer, um seinem Vater Platz zu machen; Irlak ahnte natürlich, was geschehen würde, als der Mann seine Speerspitze an seinem Brustbein anlegte... und hielt es für klüger, doch schnell zu handeln.

Joru schrie empört auf, als das Licht des Teleports aufflammte, sein Vater ließ sich nicht beirren und handelte sofort, seine Speerspitze statt ihn aufzuschlitzen sofort tief in seine Brust rammend. Er spürte den Widerstand und als der Magier in jenem Moment nicht in dem gewohnten Licht, sondern umgeben von violetten, zuckenden Blitzen verschwand, hinterließ er eine Blutlache und sein Markenzeichen – den Schal aus der Kleidung von Rhik.
 

Mahrran erkannte selbst, dass sein Volk seine Übermacht wieder verloren hatte – die Entscheidung, auf den eigenen Notfallplan zurückzugreifen, kam letztendlich aber nicht von ihm; er hatte sich dieser seltsamen inneren Eingebung zu fügen.

Und so hob er inmitten der Kämpfenden seine Arme, zwei Zauber gleichzeitig ausführend; die Verfluchten kurzzeitig ihrer Mächte berauben und einen gleißend hellen Lichtzauber, um alle anderen zu blenden und sie kurzzeitig zum Stillstand zu bewegen.

Damit hatte er das Geschehen eingefroren und bis auf das Stöhnen der Geblendeten war es mit einem Mal beunruhigend still in der Schlucht. Ein kühler Wind, der von den Bergen kam fuhr durch sie hindurch und reinigte die Luft etwas von den grauenhaften Gerüchen des Kampfes, dabei den Sand, der nicht nass von Wasserzaubern oder von Blut war, aufwirbelnd.

„Nadeshda!“, rief der junge Mann nach seiner Schwester und seine Stimme hallte mehrmals nach, „Ein Angebot von uns an euch: Kämpfe gegen mich, wenn du gewinnst, dann seid ihr frei, wenn nicht, dann... wird es schlimmer enden, als es nun aussehen wird.“

Dann würde Iavenya aber auch ihr komplettes Volk opfern müssen, denn die für diesen Fall vorgesehene Übertreibung der magischen Fähigkeiten eines jeden einzelnen hätte nicht einmal Tamassy ausgehalten.
 

Letzterer hastete durch die Menge an erstarrten Magiern und verwirrten Menschen – die Mahrrans Worte natürlich nicht verstanden und daher keine Ahnung von dessen Angebot hatten. Er wollte zu Nadeshda, die noch inne hielt und zögerte, darüber nachdenkend, ob sie auf diese Aufforderung wirklich eingehen sollte, doch zu viele irritierte Leute, die nun, teilweise verletzt, einfach so herum standen, machten es ihm nicht leicht. Er zischte genervt, sie unsanft zur Seite und damit teilweise zu Boden stoßend.

„Soll ich für zehn Schritte etwa den Teleport einsetzen, bloß weil ihr von Sinnen seid oder nichts versteht?!“, fragte er empört, einer Frau den Ellbogen in die Seite rammend, damit sie ihn zu seiner Herrin ließ. Damit hatte er Erfahrung, das tat er immer, wenn es hieß, er müsse sich irgendwo anstellen; er hasste es, nicht ganz vorn zu sein.

Jene Frau, eine Magierin, zuckte zusammen und ließ ihn schließlich zu Nadeshda – genau im richtigen Moment, sie hatte gerade ihre Dematerialisierung ansetzen wollen und zuckte verblüfft zusammen, als sie ihn erkannte.

„Chigaru, hier bist du!“, er erkannte kurz einen Hauch von Freude in ihrem Blick und lächelte kurz, dann seufzte er jedoch.

„Ihr wisst, dass Euer Bruder unter dem Einfluss des Fluches steht... seine Macht wird Eure im Moment bei weitem übersteigen, er wird euch...“

Er wagte es nicht auszusprechen, sie verstand es selbst und seufzte.

„Nadeshda?!“, hallte Mahrrans Stimme abermals durch die Schlucht und die Menschen begannen verwirrt zu murmeln; darauf rief Kurapi etwas in ihrer Sprache, was sie scheinbar zum weiteren inne halten bewegte.

„Ich weiß, aber es ist wahrlich ein Angebot, was habe ich für eine Wahl?“, erwiderte die kleine Frau da schulterzuckend.

Es kam selten vor, dass Chigaru keine passende Antwort parat hatte und er hob verzweifelt die Brauen – natürlich gab es Dinge, die ihm auf der Zunge lagen.

Ignoriert seine Aufforderung, bringt Euch in Sicherheit! Ich wache über Euch...

Darauf hätte sie nicht gehört und er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben so, wie sich seine Geschwister fühlen mussten, wenn sie mit ihm zu reden versuchten.

Der Mann seufzte und Nadeshda lächelte matt. Sie war schmutzig, ihre Kleidung war teilweise zerrissen und ihr kleiner Körper voller kleinerer Blessuren; ihr war es auch schon einmal besser gegangen.

„Ich beneide Shiran um seine Sehensgabe im Augenblick.“, gestand er dann seufzend und schloss einen Moment die Augen. Sie seufzte... sie konnte sich denken, weshalb.

„Ich gebe mein bestes.“, versprach sie und er sah sie wieder an. Dann gluckste sie, das immer aufgeregter werdende Murmeln um sie herum ignorierend.

„Ich bin eine hässliche Frau, ich verstehe das, was in den letzten Monden gestehen ist, nicht im Ansatz – aber ich bin ja nicht dumm, das nicht. Shiran bekam es auch, also...“

Sie hüstelte und hoffte, dass er sie verstand – er tat es einen Moment später auch, bückte sich zu ihr und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen, dann wandte er sich auf der Stelle puterrot von ihr ab. Sie blinzelte verblüfft und er hüstelte, ihr den Rücken kehrend; einige der um sie herum stehenden Leute glucksten irritiert bei dem Anblick.

„Ich habe es normalerweise nicht so in solchen Dingen, aber ich danke Euch für... die Erlaubnis dazu.“

Nadeshda enthielt sich einer Antwort und umarmte ihn kurz von hinten, bitter lächelnd.

„Vielen Dank für alles, was du in der vergangenen Zeit für dein Volk getan hast, Chigaru Tamassy.“

Als er sich umdrehte, war sie verschwunden.
 

Mahrran grinste, als seine Schwester nun doch noch vor ihm erschien.

„Ich dachte schon, da fürchtest dich.“, begann er glucksend und die kleine Frau schnaubte verächtlich.

„Du denkst momentan überhaupt nicht, das ist ja unser Problem. Und du siehst abscheulich aus, wie oft ist deine Nase bitte gebrochen?“

Sie wusste instinktiv, dass er das Moconi zu verdanken hatte – das erinnerte sie dann auch etwas.

„Shiran oder Zerit!“, rief sie ohne genau zu wissen, wo die beiden Männer sich nun befanden, in die Menge, „Erklärt den Menschen, was los ist!“

Vielleicht war der Seher beleidigt, es war nach einem kurzem Moment schließlich Zerit, der seine Stimme etwas verunsichert über die Menge an Zuhörern erhob und in seiner tadellosen Menschensprache erklärte, was nun geschehen würde. Es überraschte Nadeshda wenig, als darauf Proteste aufkamen, ebenso wie Mahrran – oder Iavenya.

„Ihr Primitiven werdet uns nicht stören!“, fauchte er und hob eine Hand. Um sie herum leuchtete es kurz und seine Schwester schloss abgeneigt kurz die Augen, als ein paar Krieger aus dem Vogelstamm brüllend angerannt kamen... und als sie zu nah waren von der unsichtbaren Schutzhülle zurückgeworfen wurden.

„So, da wir dafür gesorgt hätten, wollen wir keine Zeit mehr verschwenden, nicht wahr?“, gluckste ihr Bruder da und sie spuckte ihm vor die Füße.

„Wir müssten das nicht, wenn du deine Seele wiederfinden würdest, du elender Schwächling, Familienschande!“

Mahrran lachte sie bloß aus – na schön, dann hatte es wohl keinen Sinn. Sie zischte und hob die Arme und um sie herum wurde es finster; es bei ihrem Zwilling mit Wassermagie zu versuchen wäre lächerlich gewesen.

Der Mann zeigte sich bloß amüsiert und verdrängte den schleichenden Zauber mit blankem Licht – Iavenya, wo immer sie gerade sein mochte, hatte sie durchschaut; mit dieser Anwendung hätte sie Mahrrans Seele früher oder später erreicht gehabt.

„Schwacher Einstieg.“, kommentierter er das und aus seinem Licht formten sich Blitze, die mit atemberaubender Geschwindigkeit auf sie zu treffen versuchten. Sie entkam mit einer Dematerialisierung, das erschrockene Keuchen der unfreiwilligen Zuschauer ignorierend, und tauchte hinter ihrem Bruder auf, sieselbe Attacke zurückgebend – für jeden Lichtzauber gab es ein schwarzes Pendant. Es überraschte sie jedoch nicht ernsthaft, dass auch er sich davor retten konnte. Ihre Erschöpfung ignorierend machte sie kehrt und rannte auf ihn zu, dann verschwand sie wieder in schwarzem Rauch und Mahrran fuhr irritiert zusammen.

Irritation war das, was sie erreichen wollte, also musste sie mit anderen Mitteln kämpfen, als er es selbst in seiner primitiven Denkweise tat. Sie erschien direkt hinter ihm und setzte auf etwas, auf das vermutlich niemand anderes an ihrer Stelle in diesem Moment gesetzt hätte – ihre körperliche Kraft.

Er schrie auf, als sie ihm ihr Knie in den Rücken rammte, sich dabei an seinen Schultern abstützend und der Schutzzauber brach zusammen; jedoch dachte niemand daran, sich einzumischen. Beinahe...

„Du Biest, bist du zu einem Menschenweib geworden oder was...?!“, keuchte Mahrran unterdessen empört und wäre vermutlich zusammengebrochen, hätte er nicht unter dem Fluch gestanden; so krümmte er sich bloß erbärmlich und schnappte rasselnd nach Luft – ach ja, da war ja noch etwas gewesen.

„Denkst du, ich hätte mir keine Gedanken darüber gemacht, wie ich mit dir manipuliertem Spielzeug umzugehen habe?“, konterte sie seufzend und strich sich durch ihr kurzes Haar. Das war schließlich das einzige, indem ihre Fähigkeiten nicht mit seinen übereinstimmten – oder ihnen, wie es im Moment nun einmal war, unterlagen.

Mahrran enthielt sich einer Antwort und warf einen einfachen Wasserzauber nach ihr, den sie jedoch gekonnt ablenkte – und sich wieder frontal auf ihn stürzte, ihn dieses Mal, noch immer geschwächt von ihrem zugegebenermaßen etwas heimtückischen Angriff auf seinen Rücken, zu Boden werfend. Sie fiel selbst etwas überrascht auf ihn – das war ihr recht. Sie ignorierte das verwirrte Murmeln aller anderen, als sie einfach liegen blieb, den Kopf jedoch hebend, um ihren Bruder anzusehen.

„Möchtest du wirklich nicht dagegen ankämpfen, Mahrran?“

Er hob ebenfalls den Kopf und sah ihr so direkt in ihr Gesicht – oder hätte es getan.

„Ich habe keine Interesse daran, mich weiter von dir untergraben zu lassen!“, fauchte er und sie starrte ihn mit geweiteten Augen an. Er nutzte den Moment der Irritation und versetzte ihr einen heftigen Schlag mittels seiner Lichtmagie, die sie von ihm und einige Fuß weit weg schleuderte. Nadeshda keuchte, schrie jedoch nicht, als sie hart auf dem Rücken landete und es mit einem Mal ihr Zwilling war, der sich über sie beugte.

„Beenden wir es schnell, aber nur, weil du meine Schwester bist.“, er grinste und sie sah verzweifelt zu ihm auf.

„Du bist ganz blind, Mahrran... woher weißt du mit solcher Sicherheit, was du gerade tust?“

Er lachte.

„Weil ich wusste, dass dieser Tag kommen würde... und ich vorbereitet war, Nadeshda. Deine Sorge rührt mich, aber ich komme wirklich zurecht, wahrlich.“

Er streckte eine Hand nach ihr aus und sie keuchte – dann wurde Mahrran plötzlich gewaltsam von ihr zurückgezerrt und sie selbst von der anderen Seite gepackt und wieder auf die Beine gestellt, dann selbst umklammert.

„Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich mit deinem Bruder vertragen.“, hörte sie eine bekannte Stimme neben ihrem Ohr und erschauderte – spätestens als sie sah, wer ihren Zwilling hielt, war es ihr klar. Sie keuchte.

„Novaya, Semliya, das ist nicht der richtige Moment, verschwindet!“

Sie sprach nach bestem Wissen und vermutlich war es nicht richtig, aber die sehr jungen Männer verstanden sie; sehen konnte sie allerdings bloß Semliyas Gesicht hinter Mahrran, der empört fluchte.

„Wir sorgen dafür, dass ihr wieder zur Vernunft kommt.“, flüsterte Novaya und legte ihr seinen Kopf auf die Schulter, sie mehr umarmend als irgendwie abhaltend.

Nebenbei bemerkte sie den Vater der Jungen, der dem Geschehen irritiert zusah; vermutlich dachte er sich irgendetwas dabei, ebenso wie alle anderen, die die Jungen kannten, denn niemand griff ein. Vielleicht auch aus Angst.

Mahrran fluchte und versuchte sich unterdessen aus Semliyas Umklammerung zu lösen.

„Hör zu und lasse dir helfen.“, meinte der junge Mann darauf nur ruhig, ihn ohne Probleme weiterhin festhaltend, „Ist dir klar, dass du gerade versuchst, die Frau zu töten, die du am meisten auf der Welt schätzen solltest?“

„Ihr wart immer zusammen, bereits vor eurer Geburt!“, warf Novaya ein und Mahrran hielt inne und zuckte bloß mit den Schultern.

„Sollte, hier geht es um wichtigeres!“

Er trat Semliya auf den Fuß, doch der hielt ihn tapfer weiter, umklammerte ihn nun jedoch etwas unsanfter und fauchte.

Nichts ist wichtiger als deine Zwillingsschwester, begreife das und befreie deinen Geist!“

„Sie wollte dir niemals etwas böses!“, ergänzte Novaya, dann murmelte er leiser, „Zumindest glaube ich das.“

Nadeshda nickte in seinen Armen.

„Aber sie unterdrückt mich mein ganzes Leben lang!“, fauchte Mahrran empört und trat weiter auf Semliyas Füße, weil dieser seine Arme an seinen Körper presste und ihn so vom Zaubern abhielt. Seine Schwester hob eine Braue. Er hätte sich dematerialisieren können... aber er tat es nicht. Er wollte es nicht... er war doch noch da. Sie keuchte... vielleicht war das die einzige Gelegenheit die sie hatte, um etwas klar zu stellen... auch wenn es ihr schwer fiel. Sie schnappte nach Luft.

„Mahrran!“, seine ungleichmäßig trüben Augen fixierten sie, als hätte er sie erkannt, „Ich habe dich lieb!“
 

Er hörte auf, Semliyas Füße zu quälen; er war ihm ziemlich dankbar dafür und ließ ihn wieder etwas lockerer. Um sie herum war es ganz leise geworden – sogar der Wind hielt inne. Er hörte Mahrrans Atem, der rasselnd kam und der junge Mann kam irritiert zu dem Schluss, dass er unglaubliche Schmerzen haben musste... dieser Fluch war wirklich seltsam.

Nadeshda sah bestürzt aus, Novaya hinter ihr ebenso.

„Bitte, erinnere dich an die Zeit, in der alles gut gewesen ist, als wir gemeinsam geherrscht haben, du und ich im Einklang! Es war immer gut, Mahrran, ich habe deine Meinung immer geschätzt!“

Ihr Bruder seufzte und ließ den Kopf etwas hängen.

„Du machst es mir schwer.“, brummte er dann in seiner eigenen Sprache, „Du machst mir Kopfschmerzen. Alle wollen etwas von mir und ich weiß nicht, wem ich glauben kann...“

„Ich bin deine Zwillingsschwester, Mahrran!“, klagte die junge Frau ihn an und er murmelte irgendetwas unglücklich vor sich hin.

Sie hatte ihn lieb... sie hatte ihn wirklich lieb. Die beiden Jungen aus dem Schlangenstamm hatten recht, sie mussten lernen, diese besondere Bindung, die ihre göttlichen Eltern ihnen mit in die Welt gegeben hatten, zu schätzen... sie musste ihren Bruder retten, zur Not auf Kosten des Volkes.

Vielleicht musste es dazu nicht kommen.

Semliya ließ zu, dass der Magier sich letztendlich mit sanfter Gewalt befreite, im selben Moment ließ Novaya auch von Nadeshda ab.

Zum ersten Mal seit einiger Zeit vernahm er wieder die leisen Stimmen der Götter in seinem Kopf und er fühlte sich schwach und dreckig.

Warum ließ er sich immer wieder so verblenden und vom rechten Weg abbringen, wo letzterer doch so deutlich war? Wenn er nun nachgab, dann machte ihn das unglaublich schwach... aber wenn er weiterhin nach dem Willen der Natter handelte, beging er einen Fehler.

Um sie herum brach eine Unruhe aus; die Kalenao begannen aus ihrer Versteinerung zu erwachen, doch es war nichts positives für sie dabei.

Einige fielen auf der Stelle aufgrund ihrer sich eingehandelten Verletzungen um und verstarben, andere brachen zusammen, krümmten sich und begannen zu schreien... schrien sich beinahe in den Wahnsinn. Ihr Leidensweg hatte begonnen... die Menschen standen nur irritiert da und fragten sich, wie sie handeln sollten – ihre Häuptlinge konnten ihnen nicht weiter helfen.

Mahrran erschauderte unter dem qualvollen Geschrei seines eigenen Volkes... er hatte den Fluch versehentlich brechen lassen. Das war das Ergebnis...

„Weil ich nicht für noch mehr Leid verantwortlich sein will!“, fauchte er dann und trat unglücklich auf seine Schwester zu, die ihn bitter lächelnd ansah.

Es gab vieles, was sie zu ihm hatte sagen wollen. Dass es gut war, dass ihr Volk auch diese Krise überstehen würde – dass sie neu anfangen würden. Und wahrscheinlich wollte er ihr auch noch etwas sagen... schließlich trat er auf sie zu.

Doch eine Tankana gab nicht auf, sie kämpfte in der größten Hoffnungslosigkeit bis zum bitteren Ende hin weiter.

Letztendlich konnte sich niemand mehr daran erinnern, gesehen zu haben, in welcher Geschwindigkeit Iavenya sich materialisiert hatte in ihrem gleißenden Licht – und letztendlich wusste auch niemand mehr, wessen Speer sie gestohlen hatte.

„Ich präsentiere, der dritte Plan, meine Lieben!“, fauchte die Frau mit einem Mal so hysterisch wie die leidenden Kalenao überall um sie herum und noch ehe jemand hätte reagieren können, durchbohrte die Waffe Mahrrans Rücken – und hätte die Natter mehr Kraft gehabt und ihr Halbbruder wäre Nadeshda näher gewesen, so hätte sie diese gleich mit durchbohrt, denn die Spitze stoppte Haarscharf vor ihrem Hals.
 

Noch ehe Mahrran – oder irgendjemand – reagieren konnte, hatte Semliya sich gefasst und in ebenso atemberaubender Geschwindigkeit wie die Frau zuvor diese an den Haaren gepackt, mitsamt des Speeres zurückgezogen und ihr diesen aus der Hand gerissen. Er hätte sie selbst aufgespießt, hätte Moconis Stimme ihn in jenem Augenblick aufgehalten.

„Lass es!“, der Häuptling war sichtbar verletzt neben Dherac aufgetaucht und keuchte entsetzt, „Sie ist schwanger, am Ende würden die Götter uns sonst etwas dafür antun!“

Semliya zischte, sah dies jedoch ein und schlug der apathisch lachenden Frau hart in ihr Genick, sodass sie ihr Bewusstsein vorerst verlor. Er ließ sie achtlos in den Schlamm fallen – neben Mahrran.
 

Nadeshda stürzte keuchend zu ihm – dieses Biest, gerade eben war doch alles gut gewesen!

„Sie musste sich einfach einmischen.“, kommentierte ihr Bruder dies auch, erstaunlich gelassen nach seiner heftig blutenden Wunde fassend, „Dumme Schlange.“

„Dumme Schlange, ja!“, stimmte seine Schwester ihm zu und versuchte mit ihren kleinen Händen, die Wunde zu verschließen. Mahrran gluckste.

„Mein Rücken hat auch ein Loch, du dämliches Mädchen.“

Er schien sie mit seinen weit geöffneten Augen anzusehen, obwohl er erblindet war und sie zitterte heftig, als sie in sein Gesicht sah und beobachten konnte, wie seine Haut von Augenblick zu Augenblick grauer wurde.

„Aber da liegst du doch drauf, wie soll ich da heran kommen?!“, fauchte sie ihn an, „Warte, äh... ich rufe Alaji. Moment... Shiran! Chigaru!“

Sie ignorierte alle Menschen und leidenden Kalenao um sie herum und beide Männer erschienen im nächsten Augenblick neben ihr... sichtlich ernüchtert.

„Einer von euch muss Alaji her holen, mein dummer Bruder, seht, er... ihr seht ja!“

Sie sah Chigaru in die Augen... Shirans wussten zu viel. Und sie wollte nicht wissen, was er sehen konnte in jenem Moment. Mahrran hustete, dann atmete er rasselnd, wandte sich aber noch ehe einer der beiden sich hätte auf den Weg machen können ebenso den beiden zu.

„Oh, spart euch die Mühe. Selbst wenn sie die Löcher stopfen kann, ich kann nicht mehr atmen... echt nicht.“

Das hörte man, die Geräusche, die er verursachte, während er nach Luft schnappte, würde seine Schwester wohl niemals vergessen.

„Vielleicht... kann Alaji dagegen auch etwas tun? Sie ist eine begabte Frau.“, wandte Chigaru vorsichtig ein. Mahrran schüttelte leicht den Kopf, ignorierend, dass er dabei sein Haar im Schlamm wälzte.

„Shiran, sag... es ihnen, das ist alles... unnötige Mühe.“

Der Seher zögerte kurz, dann räusperte er sich.

„Nun ja, auf einen Versuch könnte man es doch ankommen lassen... ich meine...“

„Alaji ist begabt!“, wandte Chigaru abermals ein und Shiran nickte, auch wenn der Verletzte die Geste nicht sehen konnte.

„Mach das nicht dramatischer als es ist, lass deinen Kratzer gefälligst heilen!“, fauchte Nadeshda ihn darauf empört an und Mahrran schnaubte, heftiger nach Luft schnappend.

„Lügt euch nicht selbst an, ihr... macht euch lächerlich!“, entgegen aller Vernunft setzte er sich mit letzter Kraft auf und die beiden anderen Magier knieten sich reflexartig zu ihm in den Matsch und stützten ihn.

„Hör mir jetzt lieber zu, Nadeshda, anstatt dir irgendwelche... Illusionen auszumalen.“, verlangte er und sein Ausdruck wurde ernst, „Ich habe damals... dafür gesorgt, dass sie sterben. Ich habe es... niemandem gesagt, es... tut mir leid, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten mit ihnen. Verzeihst du... mir das?!“

Shiran weitete die Augen und die junge Frau schnappte nach Luft. Ihre Augen fühlten sich nass an... oh Himmel, dabei konnte sie sich keine Schwäche erlauben.

„Sie haben uns gequält, ich hätte es nicht getan, aber als sie tot waren, war ich glücklich – natürlich verzeihe ich dir das, Mahrran!“

Er nickte schwach und hustete abermals; das Blut, das er dabei spuckte, traf seine Schwester auf dem Oberkörper, doch sie ignorierte es.

„Gut, Himmel sei Dank. Grüße Mabalyscachen von mir... und gib ihr verdammt nochmal endlich die Zeremonie, die sie verdient! Und... Himmel, Kili, was machen wir... mit meiner armen hübschen Kili?!“

Er wirkte einen Moment lang verzweifelt, bis Shiran sich einmischte.

„Ihr Stamm hat sie wieder, alle kümmern sich gut um sie, du musst nicht um sie fürchten.“

Das schien ihn zu beruhigen und er lächelte matt zwischen seinen schweren Atemzügen, langsam verblutend.

„Da gehört sie... auch hin. Tut mir leid, dass ich so viel... Kummer gemacht habe... ach!“, er gluckste, „Wenn einem auffällt, dass man keine Zeit mehr hat, dann... gibt es so viele Dinge, die noch gesagt... werden müssen! Nadeshda... weinst du?“

„... nein.“

„Na Himmel sei Dank.“

Sie fragte sich, woher er selbst im Angesicht des Todes noch die Intuition nahm, mit seiner schwachen, zitternden Hand ihr Gesicht zu finden und ihr die Tränen von den Wangen zu wischen. Shiran wandte den Blick ab. Chigaru seufzte schwer.

Mahrran ließ von ihrer Wange ab, legte seine Hand stattdessen hinter ihren Kopf und zog sie etwas näher zu sich. Seine letzten Worte flüsterte er ihr zu.

„Ich bleibe bei dir, Nadeshda, so lange du lebst.“, er lächelte, „Aber jetzt lasse ich los.“

Es begann zu regnen.
 


 

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Yai, viele Tote! XD

Ich lade das Kapitel am 31.12.11 hoch, wenn ich Glück habe, ist es dann am 01.01.12 on, ich fände das toll. ♥

Abschied

„Es fällt mir schwer, zu euch zu sprechen in diesem Moment. Ich sehe euch nicht, ich sehe nicht eure Gesichter und ich sehe nicht euer Leid... der Regen macht das Entzünden des großen Feuers unmöglich. Und ich glaube... ich bin froh darum. Das, was am vergangenen Tag in jener Schlucht geschehen ist, übersteigt vermutlich die Vorstellungskraft all jener, die nicht dabei waren und ich sage an dieser Stelle jeder Frau und jedem Kind, auf die dies zutrifft, dass sie den Göttern dafür danken sollten. Die vereinigten Stämme haben nicht siegen können, dennoch sind sie ab diesem Moment an frei. Wir haben viel dafür geben müssen, zu viel... wir haben alle viele Männer und auch einige Frauen verloren. Und nicht zuletzt – das tut mir natürlich besonders weh – unseren Häuptling Kewera, der den Kojotenstamm viele Mondzyklen lang gut geführt hat. Von nun an wird alles anders sein, zumindest vorerst... nach Rücksprache mit gewisser Person kamen wir zu dem Ergebnis, dass keiner der drei Stämme noch in der Lage ist, alleine zu existieren – daher haben wir uns dazu entschlossen, die nächsten Monde gemeinsam zu verbringen – bis unser aller Söhne zu Männern geworden sind und wir der Tradition wieder folgen können. Denn war es nicht die ewige Trennung voneinander, die uns seit jeher vor dem Desaster bewahrt hat, das wir nun mit den Kalenao durchmachen mussten? Ich denke schon... es wird eine harte Zeit sein, aber ich glaube... wir werden sie überstehen können und ich hoffe, dass wir mit neuer Stärke, neuer Kraft und vor allen Dingen viel Vernunft daraus hervorgehen. Ich danke euch.“

Die gewaltige Menge an Zuhörern, die Kurapi gehabt hatte, unterstrichen seine Worte, als sie ihm ihre Anerkennung für seine Rede zeigten; der Schlangenstamm klatschte auf eigenartige Weise in die Hände, der Kojotenstamm pfiff und der Vogelstamm johlte. Der junge Häuptling seufzte unhörbar und versuchte sich ein Bild von dem zu machen, was er da vor sich hatte... es gelang ihm nicht, es war eine stockfinstere Nacht, in der sie nun zurückgekehrt waren... oder zumindest die, die übrig waren.

Der Regen prasselte kalt und unbarmherzig auf ihn herab und zehrte an seiner eigentlich bloß schwer zu entfernenden Bemalung und ein für die Jahreszeit unangemessen kühler Wind fuhr durch das Lager, als sich alle auf den Weg in ihre Hütten und Zelte machten. Er würde das nun auch tun... er musste sich hinlegen. Er wusste, dass er nicht würde schlafen können... zu viele Dinge waren in seinem Kopf. Sein Vater... verstorben. Und so viele seiner Männer und Frauen waren es auch... es war schrecklich gewesen

Aber nun war es vorbei. Er hatte mit Moconi gesprochen – und das war verdammt schwierig gewesen – nach einem Tag der Ruhe würden sie ein großes Fest vorbereiten. Sie würden alle Toten ehren und den Frieden mit den Kalenao besiegeln.

Die Kaleao... auch sie waren da, in schäbigen Zelten, aber sie hatten seiner Rede nicht gelauscht. Einmal davon abgesehen, dass sie ihn nicht verstanden gehabt hätten, ging es ihnen im Allgemeinen zu schlecht, um sich auch nur zu bewegen; am laufenden Band wurden neue Tote aus ihren Reihen aus dem Lager gebracht. Es war eine schlimme Situation für wirklich alle Beteiligten.

„Danke, dass du das übernommen hast.“

Er fuhr herum, als er seine Hütte beinahe erreicht hatte. Er erkannte bloß eine Silhouette, aber die Stimme hatte ihm bereits verraten, dass es sich bei dem Mann um den Häuptling des Vogelstammes handelte. Er seufzte bloß ermattet.

„Darüber hatten wir gesprochen, also, keine Sache.“

Karem, wie er hieß, schwieg zunächst, erst nach einer Weile antwortete er.

„Du hast trotz deines Verlustes gesprochen, das war tapfer. Ich... habe eben erfahren, dass eine meiner Töchter tot ist – nicht wegen der Schlacht, sondern schon etwas zuvor. Was ich damit sagen will, ich spüre gerade dasselbe wie du und ich habe geschwiegen.“

Kurapi schüttelte den Kopf, ignorierend, dass er ohnehin vermutlich nicht gesehen wurde.

„Aber das hat doch andere Gründe, Moconi hat es doch angesprochen... dein Stamm kam so spät hinzu, es wäre nicht gut gewesen, wenn ausgerechnet du dich an alle gewandt hättest. Moconi ist verletzt und sein Gehör setzt ständig aus, von ihm kann das niemand verlangen... und Nadeshda hat wohl genug mit sich selbst und ihrem Volk zu tun.“
 

Das hatte sie. Mithilfe der Menschen, die die Kalenao kurz zuvor noch bis auf ihr Blut bekämpft hatten, hatte sie ihr Volk am späten Abend noch zu dem großen Lager gebracht und bei dem kurzfristigen Erbauen der schäbigen Zelte in stockfinsterer, verregneter Nacht tatkräftig mitgeholfen. Sie bestanden nur aus Resten und Abfall von den Bauten der Menschen und es reichte lange nicht für alle, aber sie konnte sich auch kaum auf die kurzfristige Organisation von weiteren Zelten kümmern, sie war hauptsächlich damit beschäftigt, den Totensegen zu sprechen, immer und immer wieder und für die ganzen Untertanen, die nun, bewacht von ein paar Jungen aus den menschlichen Stämmen, tot in der Schlucht ruhten, hatte sie das noch gar nicht getan. Soweit sie das nun verstanden hatte, würde man am nächsten Tag alle im Lager verstorbenen ebenfalls in die Schlucht schaffen und dann würde Mefasa, eine Frau aus den Schlangenstamm, die scheinbar aber auch Magierin war, das Dornenfeuer entfachen – es waren zu viele Opfer, als dass auch nur eine einzige Partei ihre individuelle Totenzeremonie bei ihren Verstorbenen hätte durchführen können. Bloß Mahrran würde die bei den Kalenao übliche bekommen... er war ihr Herr gewesen.

Nadeshda folgte ohne weiter darüber nachzudenken einem der Heiler ihres Dorfes zu einem weiteren Toten. Die Heiler... sie hatten sich nach Aufhebung des Fluches sofort selbst behandelt und waren deshalb auf den Beinen, Alaji hatte ihr jedoch anvertraut, dass die Anwendung nicht ewig halten würde und viele von ihnen trotzdem innerhalb der nächsten Tage sterben würden. Auch darüber konnte sie nicht nachdenken, zu eingespannt war sie von der Situation; sie registrierte inzwischen nicht einmal mehr, wenn sie den Toten, den sie für die Reise in die nächste Welt segnete, gekannt hatte.

Sie fühlte nichts... umso erschrockener war sie, als sie plötzlich von Shiran aus der Situation gerissen wurde. Er hatte sie einfach an der Schulter gepackt und festgehalten, als sie zum nächsten Zelt hatte eilen wollen, und ließ sie nun auch nicht mehr los. Sie keuchte entsetzt.

„Was soll das, Seher? Habe ich keine klaren Anweisungen gegeben?! Die Männer, denen es gut geht, sollen sich um die Zelte kümmern! Ich muss mich um die Leute kümmern, ich muss dahin...“

Sie wand sich in seinem Griff und zeigte in eine Richtung, in der sie selbst nichts erkennen konnte. Ihre Instinkte lenkten sie, sehen konnte sie in der stockfinsteren Nacht schließlich trotz ihrer sehr guten Augen auch nichts.

„Du musst überhaupt nichts, Nadeshda!“, er klang ungewöhnlich streng und befehlsgewohnt, „Merkst du denn nicht, dass du am Ende bist? Nein... du versteckst dich noch vor den ganzen Eindrücken, ist mir klar... ach, das darfst du nicht.“

Sie zuckte zusammen, als er sie überraschend in die Arme schloss.

„Du wirst auch bald zusammenbrechen, wenn du dich nicht hinlegst, dann nützt du niemandem mehr. Segne die Toten, wenn die Sonne aufgeht, sie werden dir nicht wegrennen... keine Sorge, ich habe bereits mit Calyri gesprochen, Mahrran bekommt seine Bestattung, wie du dir das wünschst, Moconi hat mich leider nicht gehört.“

Die Frau schnaubte und begann, sich in seiner Umarmung gegen ihn zu wehren, blieb jedoch erfolglos. Sie war so schwach...

„Ich kann mein Volk aber nicht einfach im Stich lassen, ich muss die Letzte sein, die sich in ihr Lager legt, Shiran!“, sie keuchte, „Und sprich nicht einfach so von... Mahrrans Bestattung.“

Aus ihrem Arbeitseifer gerissen erinnerte sie sich mit einem Mal schmerzhaft an den Tod ihres Zwillingsbruders und es schnürte ihr einen Moment lang die Luft zum atmen ab.

Sie hörte den Mann leise seufzen. Es wunderte sie, denn es war kein wirklich lautes Geräusch, das Rufen der Verletzten und Heiler und der prasselnde Regen hätten es an sich überdecken müssen, aber irgendwie nahm sie es wahr. Er sprach nichts mehr... stattdessen hob er sie auf seine Arme und trug sie fort.

Sie war zu perplex zum protestieren... und zu müde.
 

Erst als er sie in ihrer leeren Hütte auf ihrem Lager absetzte, erwachte sie aus ihrer Starre. Sie schnappte empört nach Luft.

„Was bei allen Göttern sollte das?! Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?“

„Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?“, fragte er sie zurück und klang unfreiwillig genervt... und müde. Sie wusste nicht, was es darauf zu erwidern galt... sie hörte seine Schritte und wie er etwas aufhob – plötzlich hockte er neben ihr und hielt ihr etwas unter die Nase.

„Finsternis schafft Licht.“, stellte er fest, „Entzünde die Lampe.“

Ohne darüber nachzudenken, tat sie wie ihr geheißen und feuerte mit einem einfachen Wink instinktiv in die richtige Richtung einen kleinen schwarzen Blitz, der die Talglampe entzündete. Shiran stellte sie darauf neben das Lager und setzte sich auf selbiges, der kleinen Frau schließlich den Blick zuwendend.

„So. Jetzt fehlt bloß noch Nocasi… Alaji hat sie im übrigen zu Kili gebracht, dort ist sie gut aufgehoben.“

Nadeshda starrte ihn einen Moment lang bloß an. Erst, als er den Blick senkte, konnte sie ihren etwas verlegen von ihm abwenden.

„Du bist doch selbst vollkommen am Ende.“, stellte sie schließlich fest. Der Mann erwiderte darauf nichts. Nach einer Weile seufzte er schließlich abermals und sah sie wieder an.

„Niemand wird dir Vorwürfe machen. Leg dich hin und versuche, etwas zu schlafen!“
 

Es war nicht so, dass ihr nicht nach schlafen gewesen wäre. Je länger sie so dasaß, desto mehr spürte sie die Schmerzen in jedem Körperteil... und die in ihrer Seele. Ihr war mulmig zumute.

„Unter einer Bedingung.“, erwiderte sie schließlich brüchiger, als sie es sich erhofft hatte, „Versuche du es auch. Dir kann es doch nicht besser gehen als mir.“

Sie ließ sich langsam auf ihr weiches, ihrem Körper wohltuendes Lager sinken und schloss die Augen.

„Komm zu mir...“

Sie wusste nicht, ob er ihr folgen würde, aber er tat es schließlich – vermutlich, nachdem er sich darüber versichert hatte, dass auch er damit niemanden säuerlich stimmte. Draußen wurde es leiser... vielleicht endete es ja endlich. Sie öffnete die Augen wieder und drehte sich auf die Seite, ebenso wie er es tat und sie ansah. Sie musterte ihn.

Auch seine Haut war mit Blessuren übersät... Er hatte es nicht einmal geschafft, sich umzuziehen, stellte sie fest... er trug noch immer die menschliche Hose und nichts am Oberleib als seine verwischte Bemalung. Sie hatte sich bisher auch weder umziehen, noch waschen können... und sie waren beide bis auf die Knochen nass. Es schien belanglos zu sein.

Ihr fiel etwas noch viel belangloseres auf und sie hob ermüdet eine Hand und strich durch sein Haar.

„Schön.“, stellte sie ehrlich fest, „Es ist lang geworden... im Gegensatz zu meinem.“

Er lächelte leicht.

„Du solltest die Zeit, in der dein Haar so pflegeleicht ist, genießen. Ich würde dir ja an dieser Stelle ein Kompliment machen, aber da Tamassy mir was das betrifft zuvor gekommen ist, belassen wir es dabei. Ich hasse den Kerl...“

Er brummte und sie seufzte. Sie hasste ihn nicht... sie mochte ihn sehr gern. Er war ein interessanter Mann, sie war ihm ewig dankbar und sie konnte nicht leugnen, dass sie ihn durchaus anziehend fand... letztendlich würde sie jedoch Shiran an ihrer Seite haben wollen. Er war der Vater ihrer Tochter und ein Seher – Grund genug, ihn zu ihrer Unterstützung zu heiraten.

Er seufzte laut und blickte errötend auf die Felle vor sich.

„Ich sehe deine Gedanken... das ist ehrlich gesagt fast schon ein wenig verletzend.“

Sie hob ihre Brauen. Verletzend? Sie setzte sich auf und er tat es ihr gleich – allerdings verfolgte sie kein anders Ziel, als sich ihres Schmucks und ihres nassen Kleides zu entledigen. Er kannte sie ohnehin besser nackt als alle anderen... so tat er es ihr nach kurzem Zögern auch gleich und legte sich zu ihr unter das gute Fell.

„Verletzend?“, ging sie schließlich leise auf seine Worte ein, „Ich dachte, du wolltest bloß die Macht. Ich... bin nicht dumm, ich weiß genau, als was du mich immer gesehen hast. Die unfähige, kaltherzige kleine Ziege, die nichts anderes als einen qualvollen Tod verdient... aber die man benutzen kann. Ist es nicht so?“

Sie lächelte bitter. Er erwiderte nichts.

„Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, warum du so seltsam geworden bist. Vielleicht, weil du als Seher einfach zu viel weißt... vielleicht hat es auch etwas mit der Geschichte um deinen Bruder zu tun – die ich übrigens nicht kenne. Aber versuche dich einmal in meine Lage zu versetzen... du hast mich benutzt wie eine Sklavin und trotzdem bin ich bereit, dir einen Teil meiner Macht anzuvertrauen und deine Tochter aufzuziehen... ich denke, noch mehr solltest du nicht von mir verlangen.“

Sie schloss die Augen, versuchte aber nicht ernsthaft, einzuschlafen. Shiran rutschte etwas näher zu ihr.

„Ich war der Überzeugung, du seist für den Tod deiner Eltern verantwortlich – und nicht Mahrran. Ich fand das widerlich, weil ich eure Undankbarkeit nicht verstehen konnte. Wir Seher sind nicht allwissend, bei weitem nicht, an Gefühlen scheitern wir gewohnheitsmäßig. In unserer Gabe... wie auch im Leben.“

Er schloss seine Augen ebenfalls.

„Ich habe eurer Familie niemals verziehen, in allerlei Dingen, allem voran die von dir bereits angesprochene Geschichte um Sanan. Er trägt das Todesmal, denn Vater starb vor seiner Geburt... ich nahm deinen Eltern dieses Urteil sehr übel. Ich wollte die Macht, um alles besser zu machen... inzwischen frage ich mich, ob ich das überhaupt kann.“

Sie ließ seine Frage unbeantwortet. Draußen wurde es allmählich still und Nadeshda fragte sich, wo ihre Mitbewohner nun blieben... vorerst war es egal. Es war ihr eigentlich sogar ganz recht, dachte sie sich, als sie näher zu dem Mann rutschte und sich vorsichtig an ihn lehnte. Es wunderte sie nicht, dass er sie sofort in seine Arme schloss... auch das war Absicht gewesen.

Es war schwierig, die Distanz, die ihr ganzes Leben zwischen dem Seher und ihr bestanden hatte, zu überwinden... aber in jenem Moment brauchte sie jemanden, der bei ihr war und der wusste, weshalb, auch ohne dass sie sprach.

Denn so viel sie auch über ihre Gedanken und Vergangenes lamentierte, so wenig verschwand die Wirklichkeit außerhalb der Hütte. So wenig wurde Mahrran wieder lebendig. Ihre Augen brannten...

„Ich bin traurig, Shiran.“
 

Der nächste Tag verlief ruhig. Man brachte weitere Verstorbene zur Schlucht – und brachte Mahrran zurück. Viele waren irritiert, dass man auch Kewera keine separate Bestattung zukommen ließ, aber sein Sohn Kurapi sprach sich mit sehr deutlichen Worten dagegen aus; sein Vater hatte sich laut ihm sein ganzes Leben lang bloß als ganz normalen Jäger gesehen und ihm ein solches Privileg zukommen zu lassen, hätte seinen Geist eher erzürnt, als geehrt. Viele Mitglieder des Kojotenstammes vermochten dies zu bestätigen. Am Abend würde man sich verabschieden... und am kommenden Tag das Leben feiern. Noch war es jedoch nicht so weit, und im auf für die meisten mittlerweile unvorstellbare Größe gewachsenen Lager ging man ruhig nötigen Arbeiten nach. In verlegener Demut nahmen die Kalenao die Hilfe beim Aufbau richtiger Zelte an, während der Rat über das Schicksal der Frau entschied, die man als Natter bezeichnete. Wie auch einst Kajira war sie im Vorratszelt gefesselt und wartete auf ihre Strafe... Nadeshda hatte sie den Menschen überlassen.

Es war ein bedeckter Vormittag und Sundri saß schließlich vor der Hütte, die sie sich mit ihrer kleinen Gruppe teilte, und dachte über all diese Dinge nach. Sie hatte auch gekämpft... und ihr Arm, in Bandagen gewickelt und mit einer seltsamen Salbe bestrichen, war verletzt. Genau genommen konnte sie kaum glauben, dass ihr ernsthaft nicht mehr geschehen war... sie war eine schlechte Magierin, eigentlich war sie die ganze Zeit mehr ausgewichen, als dass sie sinnvoll gewesen wäre.

„Denk nicht zu viel über belanglose Dinge nach.“

Sie sah auf, als ihr Mann Zerit sich neben sie setzte und sie ansah. Er war schüchtern, er sah selten jemandem so direkt in sein Gesicht... auch ihr nicht. Sie lächelte ihn leicht an.

Bis auf eine Platzwunde am Kopf, die ebenfalls versorgt war, und einige Schürfwunden und Blutergüsse war auch er gut davon gekommen.

„Ich kann das alles gar nicht glauben.“, gestand sie so schließlich und senkte lächelnd den Blick, „Jetzt ist es vorbei. Was glaubst du, wie lange werden alle so zusammen leben?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Ich hoffe, nicht zu lange, bei so vielen Menschen fühle ich mich unwohl...“, er zögerte kurz, „Der Kojotenstamm ist der Stamm, bei dem ich aufgewachsen bin.“

Sie sah ihn wieder an. Er wirkte wehmütig... sie kannte seine Geschichte nicht. Und sie hatte nie gewagt, danach zu fragen. Vielleicht war es an der Zeit.

„Warum bist du nicht dort geblieben?“

Er wandte sich von ihr ab und starrte stattdessen in den bedeckten Himmel. Einen Moment lang fragte sich die junge Frau, ob es doch zu früh dafür gewesen war – dann antwortete er ihr.

„Das haben die damals auch nicht verstanden, glaube ich. Höchstens Tejet und Glawis...“, er seufzte leise, „Es waren die mächtigsten Männer des Dorfes, die meine Mutter gesucht und nach langer Zeit schließlich gefunden und für ihren Verrat getötet haben. Ich hätte als Baby sterben müssen, ich habe meinen Vater nicht mehr erlebt... nun, ich trug, als sie uns fanden, jedenfalls kein Todesmal, denn Mutter floh bereits vor meiner Geburt. Diese Männer... sie waren sehr höflich zu mir. Ich habe sie gehasst, für das, was sie mit Mama gemacht hatten, und sie sagten, sie wüssten das und das wäre in Ordnung. Und dann erzählten sie mir von Großvater... und boten mir an, mich zu ihm zu bringen.“

Sundri legte ihren Kopf schief, als er kurz schwieg.

„Nun gut, dann wusstest du von einem Verwandten, aber weshalb hast du alle Leute, mit denen du dein ganzes Leben zu tun hattest, so bereitwillig zurückgelassen?“

Er lächelte bitter.

„Ja... wie gesagt, das verstanden sie auch nicht und das nehmen sie mir bis heute übel. Weißt du, im Kojotenstamm lebst du unter sehr strengen Regeln, wenn du kein Mensch bist. Ich durfte nicht zaubern... und glaube mir, wenn du niemals die Gelegenheit dazu hast, auch nur einen winzigen Zauber einzusetzen, dann macht dich das fast verrückt. Die Versuchung ist so groß... nur eine kleine Handbewegung, und das Lagerfeuer brennt. Nur als Beispiel... wir durften auch niemals unsere eigene Sprache sprechen... das Ergebnis hörst du heute.“

Er sah sie an und wirkte etwas bekümmert. Tatsächlich sprach er die Himmelssprache in einem eigenartigen, menschlich klingenden Akzent... sie rückte etwas näher zu ihm und lehnte sich an ihn.

„Aber was für mich am schlimmsten war...“, gestand der dann kleinlaut, „Ich wuchs langsam zu einem Mann heran und man verbot mir, jemals eine Hand an ein Mädchen zu legen. Ich meine... ich bin nicht gesellig, aber die Aussicht darauf, niemals eine Familie zu haben, hat mir sehr missfallen. Das... ist jetzt besser.“

Er legte einen Arm um sie und lächelte sie an. Sie erwiderte es gerührt und küsste ihn auf die Wange.

„Im Kojotenstamm war ich ein nichts... im Dorf war ich zwar ein Außenseiter, aber wenigstens frei. Für mich hat es sich gelohnt.“
 

„Ist Moconi hier? Ich wollte mich... nach seinen Ohren erkundigen.“

Calyri schrumpfte etwas zusammen, als sie Kurapi, der plötzlich Häuptling vom Stamm am Horizont war, so gegenüber stand. Er war zwar eher klein, aber auf seine ganz eigene Art eine imposante Erscheinung – er strahlte dasselbe aus, was auch seinen Vater ausgemacht hatte. Und er musterte sie mit zu schmalen Schlitzen verengten blauen Augen, in seiner rechten ein Speer.

„Moconi ist eben mit ein paar Männern mitgegangen, er wollte bei irgendetwas helfen, es ging glaube ich um Brennmaterial, oder so.“

Brennmaterial benötigten sie ziemlich viel; nur durch die Feuermagier würde es überhaupt möglich sein, all diese Toten zu verbrennen, denn ein natürliches Feuer, das so mächtig war, würden sie unmöglich entfachen können. Kurapi nickte brummend und die junge Frau wurde das Gefühl, dass er sie ziemlich abfällig musterte, einfach nicht los. Sie lächelte verlegen.

„Stimmt etwas nicht?“

Noch ehe er antworten konnte, tauchte hinter ihm Moconi auf und Calyri musste sich ihrerseits eingestehen, ziemlich froh zu sein, dass sie nun nicht mehr mit dem seltsamen Häuptling des Kojotenstammes alleine war. Kili hatte sich eben dazu aufgemacht, Tirafasa zu suchen, weil sie auf ihr Baby aufgepasst hatte. Sie hatte das Ablenkung genannt, denn obwohl sie sich jede zu deutliche Gefühlsregung verkniff, hatte sie die Todesnachricht von dem Herrn der Kalenao schwer getroffen.

„Er ist es gewesen, der mich damals entführt hatte.“, hatte sie am Morgen zu ihr gesagt, „Aber er war immer gut zu mir. Er hat mich gut behandelt... und er war so glücklich, als er von meiner Schwangerschaft erfahren hat. Irgendwie hatte ich gehofft, alles würde gut werden... und ich würde einen Kompromiss zwischen ihm und dem Stamm finden. Damit hat es sich wohl... ich... vermisse ihn.“

Obgleich es Calyri schwer fiel, sich vorzustellen, sich in einen Magier zu verlieben, so konnte sie die Gefühle ihrer Schwägerin durchaus nachvollziehen und hatte sich geschworen, sich gut um sie und ihr kleines himmelsblütiges Baby zu kümmern. Moconi wollte das auch... er liebte seine kleine Schwester sehr. Seine Frau hoffte bloß, dass sein Gehör wieder in Ordnung kam; zwischendurch funktionierte es wieder einwandfrei, manchmal war es dann aber ohne Vorwarnung wieder komplett fort.

„Da steckst du!“, sprach er in jenem Moment Kurapi an, dessen Gesichtszüge sich sichtbar entspannten, als er sich zu dem anderen Mann umdrehte. Dieser schenkte seiner Frau ein kurzes Lächeln, dann wandte er sich an seinen Freund aus dem anderen Stamm.

„Wir brauchen dich da hinten, es... gibt viel zu tun. Tut mir leid, dass wir dich so beanspruchen.“

Kurapi schüttelte den Kopf.

„Ach, nein, das ist...“

Moconi unterbrach ihn, indem er ihm mit den Händen zum schweigen anhielt.

„Lauter bitte.“, bat er dann und sein Gegenüber kratzte sich irritiert am Kopf. Calyri senkte mitleidig den Blick.

„Was ich sagen wollte...“, begann der Jüngere da lauter, „Es ist gut, viel zu tun zu haben. Dann denkt man weniger!“

Das hatte Moconi nun verstanden und er nickte ihm matt lächelnd zu. Er wirkte seltsam... sein ganzes Gesicht war voller Schorf, weil ein Wasserzauber ihn direkt getroffen hatte – er konnte sich glücklich schätzen, dass seine Augen nicht verletzt worden waren. Vermutlich hatte er sie geschlossen gehabt, denn selbst auf seinen Lidern war etwas Schorf...

„Gut, wenn du das so siehst... dann komm bitte mit. Lass mich nicht mit Karem, diesem absoluten Spinner, allein...“
 

Mabalysca blinzelte. Sie war erschöpft, dennoch spürte sie instinktiv, dass sie lange geschlafen haben musste. Sie befand sich in einer Hütte... aber nicht in der, die sie mit ihrer Schwester seit ihrer Ankunft im Lager der vereinigten Stämme bewohnte.

„Ah, du bist wach... wie geht es dir? Ich war echt besorgt.“

Sie drehte langsam den Kopf etwas nach rechts. Neben ihrem Lager saß Kajira, der sie liebevoll, aber traurig anlächelte. Er sah erschöpft aus... die Fellkleidung, die er trug, war kurz und entblößte seine über und über mit Blutergüssen übersäten Arme und Beine. Sein Haar fiel offen über seine Schultern... er sah so hübsch aus.

Ohne es verhindern zu können, schlich sich ein verliebter Ausdruck in ihr Gesicht und ihre Hand griff unter ihrer Felldecke heraus nach der ihres Verlobten. Daran, dass sie sauber war, erkannte sie, dass er sie wohl gewaschen hatte.

„Ich bin etwas erschöpft... und mein Kopf tut weh. Aber ich glaube, es ist alles in Ordnung.“, sie ließ ihren Blick durch die ansonsten leere Hütte schweifen, „Ist das die Hütte von den Leuten, bei denen lebst?“

Er gluckste leise.

„Du warst doch schon hier.“

Ja, das war wahr. Hier hatten sie Unrecht getan... der Mann, die Frau und das Mädchen, die den Magierjungen nach langem hin und her und vielen Diskussionen bei sich aufgenommen hatten, nachdem Karem fortgegangen war, hatten sich nichts dabei gedacht, dass sie sich hier wie Mann und Frau das Lager geteilt hatten. Seit ihrer Ankunft mehrmals... an sich war es ihnen verboten, sie waren noch nicht verheiratet. Aber sie hatten sich so vermisst! Sie hatten so lange gewartet... sie hatten nicht mehr anders gekonnt.

Sie hatten beide keinerlei Erfahrungen in diesem Gebiet, aber es fühlte sich so unglaublich angenehm an, ihren rechtmäßigen Mann so dicht bei sich zu spüren und zu wissen, dass sie einander hatten, dass sie zusammen gehörten und dass auf diesem Wege vielleicht irgendwann neues Leben entstünde. Am besten so schnell wie möglich, alles in ihr verzehrte sich nach einem eigenen Baby, das sie mit Kajira hatte...

Er streichelte ihre Hand. Sein Blick, den er deprimiert ins Nichts richtete, riss sie aus ihren Gedanken.

„Was hast du, mein Liebster?“

„Hm?“, er sah sie wieder an, schien jedoch erst einen Moment überlegen zu müssen, „Ah... nun ja. Ich habe gestern... Rato... na ja. Rato war mein Bruder, Mabalysca, mein eigener Bruder, ich hatte ihn eigentlich sehr gern und jetzt ist er tot... ich meine, was hätte ich tun sollen? Er hatte seinen Verstand verloren, er hat dich töten wollen... aber wer sagt mir, dass er den Fluch nicht eigentlich überlebt gehabt hätte? Vielleicht hätte ich anders handeln müssen, es hat doch sicherlich noch eine andere Möglichkeit gegeben! Ich... ich... wie konnte ich das nur tun, Mabalysca?! Ich könnte weinen, den ganzen Tag lang, ich... ich komme damit nicht klar!“

Er ließ ihre Hand los und raufte sich verzweifelt die Haare. Seine Verlobte setzte sich vorsichtig auf. Ach ja... da war ja etwas gewesen. Sie senkte ihren Blick schuldbewusst.

„Oh nein.“, murmelte sie, „Und das nur, weil ich nicht richtig auf mich acht geben konnte. Und so jemand wie ich schimpft sich Tankana...“

Bei der Erwähnung ihres Nachnamens fiel ihm etwas ein – oh Himmel, da gab es ja noch etwas. Er konnte doch nicht erwarten, dass sie ihn nun tröstete... er seufzte einmal tief und nahm dieses Mal ihre beiden Hände in seine, verlegen den Blick gesenkt haltend. War das eine unangenehme Situation...

„Wo du von deiner Familie sprichst, da gibt es noch etwas, Mabalyscachen...“, begann er kleinlaut; immerhin lenkte ihn das einen Moment lang von seinen eigenen Schuldgefühlen ab, „Dein Bruder, Mahrran, er... hat tatsächlich seine Besinnung wieder gefunden!“

Er schielte sie an und sah ihr Lächeln. Ach verdammt...

„Nun ja, die Natter... hat das nicht geduldet. Ich meine, was... ich damit sagen will ist...“, er zwang sich, seiner Verlobten in ihr hübsches Gesicht zu sehen, „Mahrran ist gestern gestorben, Mabalysca. Tut mir ganz schrecklich leid, und ich jammere hier herum...“

Genau genommen hatte er gestern auch einige Brüder und Schwestern verloren, aber die meisten hatte er nicht ernsthaft gut gekannt. Seine Familie war selbst jetzt noch riesig...

Die junge Frau starrte ihn einen Moment stumm an. Dann senkte sie den Blick auf ihre Felldecke.

„Oh.“, kam dann leise, „Mahrran ist wirklich tot? Ich... habe damit gerechnet. Irgendwie. Aber... es zu glauben, fällt mir schwer... ich hätte gerne noch einmal mit ihm gesprochen. Ist er hier?“

Kajira nickte betrübt.

„Ja, in... irgendeinem Zelt, er erhält heute Nachmittag seine Bestattung, danach werden alle anderen verbrannt.“

Sie atmete einmal schwer.

„Verstehe. Dann... werde ich nachher noch einmal zu ihm gehen.“

Sie begann zu weinen.
 

Nadeshda verkniff es sich. Wenn sie Shirans Worten Glauben schenken konnte, dann hatte sich die Anzahl ihrer Untertanen am vergangenen Tag und der Nacht halbiert... das war zwar absehbar gewesen, aber es war dennoch schockierend und traf sie tiefer, als sie es für möglich gehalten hätte. Inzwischen war sie gewaschen und umgezogen... und fühlte sich zumindest körperlich etwas besser. Rayada hatte damit begonnen, Mahrran herzurichten, aber sie hatte sie fortgeschickt... sie wollte das selbst tun. Soweit es ihr möglich war... bei dem Schwierigsten, dem Anlegen von guter Kleidung, hatte Shiran ihr geholfen, dafür war sie zu schwach gewesen. Gute Kleidung war in diesem Fall nach den Ansichten der Menschen; hier gab es nur Fellklamotten und sie konnte sich glücklich schätzen, dass Sanan etwas von sich hatte opfern können. Was sie nun noch tat, waren nur noch Kleinigkeiten... Schmuck anlegen, sein Haar richten. Eigentlich war sie soweit fertig, sie musste nur noch auf die Nachricht warten, dass die wenigen kräftigen Männer, die es in ihrem Volk noch gab, den traditionellen Scheiterhaufen fertiggestellt hatten. Sie würde den Körper ihres Bruders allen vier Elementen übergeben, wie es seit vielen Generationen üblich war.

Ihr Blick blieb an seinem Gesicht hängen, das so wirkte, als schliefe er friedlich. Sie hatte nie bemerkt, zu was für einem hübschen Mann er mit den Jahren geworden war... ziemlich klein und schmächtig zwar, aber hübsch.

Sie lächelte leicht und strich ihm kurz durch sein erkaltetes Antlitz.

„Was geschehen ist, ist so schade.“, flüsterte sie leise, „Wir beiden haben doch zusammengehört. Es wäre gut geworden... unser Leben in diesem neuen Land. Ich habe... die Natter den Menschen übergeben. Ich bin zu schwach, um über sie zu entscheiden... aber ich hoffe, sie bestrafen sie auf eine solch grauenhafte Art, wie sie mich bestraft hat. Ich liebe dich, Mahrran...“

Sie lächelte matt, spürte aber dennoch, dass ihr abermals die Tränen in die Augen stiegen. Dabei wollte sie doch nicht schwach sein...

Wir gehören zusammen, für immer, und ich habe dir gesagt, dass ich immer bei dir bleibe, Nadeshda.

Sie vergaß ihre Tränen und fuhr zusammen, den Leichnam ihres Bruders mit geweiteten Augen anstarrend.

Ich war ein Götterkind... das weißt du doch. Sonst hätte ich dir doch nicht versprechen können, immer bei dir zu sein...

Stimmen in ihrem Kopf. Die junge Frau erschauderte und schloss ihre Augen... sie war ein Kind des Wassermondes – Mahrran gehörte nun wieder dorthin. Er würde wirklich immer bei ihr bleiben. So lange sie lebte... und noch viel länger.

„Aber in dieser Welt fehlst du trotzdem, mein Bruder...“, stellte sie leise fest und streichelte über sein Haar.

Das ist unser Schicksal. Ich liebe dich auch.

Sie lächelte bitter und zuckte schließlich leicht zusammen, als sich der Eingang des Zeltes öffnete. Auch Mabalysca wollte sich verabschieden.
 

Die Zeremonie bestand aus vier Teilen – der Tote wurde jedem der vier Monde übergeben. Der erste Teil, die Übergabe an den Feuermond, war dabei der Aufwendigste, denn es war die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Chigaru war es, der ihn in diesem Fall letztendlich anzündete... es gab nicht all zu viele, die Abschied nahmen. Alle Kalenao, die nicht zu geschwächt oder verletzt waren, wohnten der Zeremonie bei, aber das waren kaum zwei dutzend. Außer ihnen gab es bloß noch Moconi, seine Schwester Kili, Karem und Kurapi und in einiger Entfernung Dheracs Zwillinge, die dabei waren – die Menschen hatten nichts mit Mahrran zu tun gehabt und wollten auch nichts mit ihm zu tun haben, die Anwesenheit der Häuptlinge war eine reine Sache des Respekts, den sie den Kalenao wohl oder übel erweisen mussten, denn es war auch in ihrem Interesse, Konflikten in der Zukunft aus dem Wege zu gehen. Bei der still, aber bitterlichen weinenden Kili verhielt es sich etwas anders, denn sie trug Mahrrans Kind unter dem Herzen und würde es vermutlich bald gebären. Sie hatte auf seltsame Weise an dem Mann gehangen, auch wenn sie ihn immer wieder zu hintergehen versucht hatte, um ihrem eigenen Stamm irgendwie zu helfen... ihr Bruder hielt sie im Arm und sprach leise mit ihr, während Nadeshda und Mabalysca starr den Flammen zusahen. Damit war es vorbei... das Feuer würde noch eine Weile brauchen, bis es herunter gebrannt war. Die Asche würde dann alles sein, was von dem einstigen männlichen Oberhaupt der Kalenao übrig war... sie würde dann den übrigen Monden übergeben werden. Das würde laut Shiran aber erst am nächsten Morgen der Fall sein – währenddessen mussten sie sich wohl oder übel entfernen, denn Mefasa würde in der Schlucht noch ein viel größeres Feuer entfachen – und wenn das erst einmal erloschen war, würde niemals wieder ein Mensch oder ein Magier diesen Pass benutzen dürfen, denn dann war es ein heiliger Ort, der alle kommenden Generationen davor warnen sollte, in Machtgier und Unnachgiebigkeit zu versinken, wie es mit ihren Vorfahren geschehen war.
 

Mefasa hieß eigentlich Venca und sie war tatsächlich eine sehr begabte Feuermagierin. Allerlei Menschen und Kalenao, soweit es ihnen möglich war, hatten sich letztendlich zu beiden Seiten der Schlucht zusammengefunden, um den für immer verlorenen Seelen die letzte Ehre zu erweisen, als die rothaarige Frau an der Stelle, an der sie auch schon am Tag zuvor auf Moconis Geheiß hin das Dornenfeuer hatte entfachen sollen, die Arme hob und alles brennbare mitsamt der sorgfältig aufgereihten Körper in Flammen aufgehen ließ. Auch wenn andere Feuermagier ihr in der kommenden Nacht würden helfen müssen, um das gewaltige Inferno lange genug am Leben zu erhalten, so war es ihr Feuer... ihr Zauber. Und sie wendete ihn mit einem wehmütigen Stolz an.
 

Letztendlich brannte es die ganze Nacht und den halben Tag darauf. Außer den entsprechenden Kalenao wohnte dem Ganzen natürlich niemand so lange bei... es gab noch immer viel zu tun. Um das Leben, das die, die die Feier vorbereiteten, noch hatten, zu ehren, würde man ein großes Fest feiern – und um von den grauenhaften Erinnerungen abzulenken. Sie brauchten Freude...

„Ich danke dir für deine Hilfe.“

Das Gras, durch das sie schritten, war an jenem, klaren Morgen wie immer zur Zeit der Dämmerung noch nass. Die Röte, die die aufgehende Sonne hinter den Bergen verursachte, tauchte den östlichen Himmel in einen schummrigen Farbton und die wenigen Wolken, die bewegungslos daran zu hängen schienen, leuchteten auf eigenartige, friedliche Weise, während im Westen noch die Nacht herrschte.

In einem Behälter, von dem sie nicht sagen konnte, woraus er bestand, trug Nadeshda die Asche. Es war ein seltsames Gefühl... diese Gewissheit, dass das, was sie nun in den Händen hielt, wirklich alles war, was von ihrem Zwillingsbruder noch übrig war. Von der Person, die sie länger gekannt hatte, als sie lebte... viel länger. Der Junge, der sie in ihrer Kindheit manchmal einfach aufgehoben und irgendwohin getragen hatte, weil sie selbst nicht hatte gehen können. Der viel zu junge Mann, der gezwungen gewesen war, sich das Lager mit ihr zu teilen wie mit einer Frau. Der Mann, der sich zu leicht hatte reinlegen lassen... der an ihr gezweifelt hatte, der eine Menschenfrau geliebt hatte und der in Wahrheit doch so viel weiser und stärker gewesen war, als sie ihr ganzes Leben lang geglaubt hatte. Das... war am Ende alles, was von ihm übrig war.

Shiran, der sie auf dem Weg in Richtung Gebirge – den Weg, den sie in letzter Zeit viel zu oft gegangen waren – begleitete, sah ihre Gedanken.

„Du musst damit abschließen. Heute muss dieser Teil deines Lebens enden.“

Sie nickte. Nun war alles anders... sie war, wenn auch mit der Unterstützung des Sehers, das alleinige Oberhaupt von nur noch halb so vielen Kalenao wie noch einen Mond zuvor. Sie würden noch so lange bei den Menschen bleiben, bis sie sich erholt hatten... dann würden sie gehen, vermutlich lange, bevor sich auch die vereinigten Stämme wieder voneinander trennten. Sie waren anders, sie gehörten nicht dazu. Sie würden sich einen besonders ergiebigen Teil des Landes suchen und dort ein neues Dorf bauen... nur die Männer würden dem Wild nachziehen, wenn es denn sein musste – sie waren keine Nomaden. Aber bis dahin würde noch etwas Zeit vergehen.

Als die brennende Schlucht in Sichtweite kam, hielt ihr Begleiter sie an.

„Ab hier schaffe ich es, uns ins Dorf zu teleportieren – und wieder zurück.“

Abermals nickte sie und gab sich schließlich dem leicht violetten Licht hin, das sie in ihre alte Heimat brachte.
 

Sie mussten aus zweierlei Gründen zurück in das Land zwischen Gebirge und Meer. Einerseits konnte Mahrran nur hier dem Wassermond übergeben werden, andererseits musste auch jemandem den wenigen im Dorf verbliebenen – vor allen Dingen Alten, Kranken und Babys – Bescheid sagen, dass sie sich unverzüglich in ihre neue Heimat zu begeben hatten. Sie sollten den kleinen Pass nehmen... für die geringe Anzahl an Leuten würde auch der ausreichen.

Im Ort war es still. Shiran hatte sie direkt an den leeren Strand gebracht, außerhalb des Armenviertels dorthin, wo die winzigen Fischerboote lagen. Der Sonnenaufgang war auf abstruse Weise atemberaubend schön... einen Moment lang starrten die beiden Magier bloß nach Osten. Dann räusperte Shiran sich.

„Das ist ein guter Platz, dachte ich... hier kannst du ihn allen drei verbliebenen Monden übergeben.“

Da war etwas dran. Sie nickte und bemühte sich, ihre Gedanken zu verschließen, als sie sich in ausreichender Entfernung zur Brandung hinkniete, das Gefäß neben sich abstellte und mit den blanken Händen ein kleines Loch grub, in das sie schließlich eine Hand voll der Asche streute und darauf unverzüglich wieder mit Sand bedeckte.

„Ich übergebe dich dem Erdmond.“, sagte sie deutlich, erhob sich mitsamt dem Gefäß und der restlichen Asche wieder, nahm abermals eine Hand voll heraus und hielt diese mit ausgestrecktem Arm vor sich. Da es an diesem Morgen ungewöhnlich windstill war, musste dem Ganzen an dieser Stelle etwas nachgeholfen werden.

„Shiran?“

Der Mann nickte und mit einer Handbewegung seinerseits fegte eine Windböe alles von der kleinen Hand.

„Ich übergebe dich dem Windmond.“

Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und trat mitsamt dem Behälter ohne zu zögern starr der Tradition folgend in das noch kalte, aber ruhige Meer. Eine Gänsehaut überkam sie und ihre Füße gruben sich mit jedem Schritt unangenehm in den nassen Untergrund, aber sie hielt erst inne, als bereits der Saum ihres kurzen Kleides die Wasseroberfläche berührte.

Sie warf einen letzten Blick in das kleine Gefäß und ihren gräulich scheinenden Inhalt.

„Das war es dann also.“, sie drehte das Behältnis um und schüttete die Asche ins Meer, „Ich übergebe dich dem Wassermond und damit theoretisch der nächsten Welt – ich weiß, dass du längst an deinem Geburtsmond hängen geblieben bist.“

Sie erschauderte und sah zu, wie die Asche versank... und zuckte zusammen, als sie von hinten umarmt wurde.
 

Die Tatsache, dass die große Gemeinschaft es zwar erst langsam, aber letztendlich tatsächlich schaffte, auf gewisse Weise in Feierlaune zu kommen, fanden alle gleichermaßen erstaunlich, wie auch erfreulich. Man hatte das Zentrum des Lagers aufwendig etwas vergrößert und mit den letzten brennbaren Materialien ein großes Feuer entfacht – nur wegen des Lichtes, große Feuer brachten unangenehme Erinnerungen mit sich. Letztendlich saßen sie aber zusammen, verletzt und gezeichnet und feierten das Leben, das sie noch hatten. Es war ein symbolisches Fest.

Chigaru stand irgendwo. Sein Blick lag auf dem Feuer, alle anderen um ihn herum ignorierend – auf abstruse Weise hatte er das Gefühl, dass er nun seine Ruhe hatte, obwohl es in jenem Moment alles andere als ruhig um ihn herum war.

„Ich habe bereits nach dir gesucht...“

Als er herumfuhr, stand er der rothaarigen Feuermagierin gegenüber, die ihn etwas verlegen anlächelte. Er erwiderte ihr Lächeln, tatsächlich etwas erfreut, sie wieder zu sehen – sie hatten sich unter etwas seltsamen Umständen kennen gelernt.

„Ach ja? Wie komme ich zu der Ehre?“, wollte er von ihr wissen und sie senkte errötend den Blick.

„Nun... ich wollte deinen Namen wissen. Mein Name ist Venca Cokori... aber man nennt mich seit über zehn Sommern Mefasa – das ist mir inzwischen auch lieber. Sag mir, wer bist du?“

„Chigaru Tamassy.“, entgegnete er, „Meine Freunde nennen mich auch Chigaru Tamassy – Spaß bei Seite.“

Sie schaute ihn kurz etwas verstört an, dann musste sie glucksen.

„Du... hast denselben absolut dämlichen Humor wie mein verstorbener Mann...“

„War das ein Kompliment?“
 

Sanan schrie kurz erschrocken auf, als ohne Vorwarnung plötzlich zu beiden Seiten ein Zwilling neben ihm saß und einen Arm um seine Schulter legte – sie hatten sich von hinten herangeschlichen und glucksten nun amüsiert über die Reaktion ihres ewigen einzigen Freundes, der nun empört zwischen den beiden her sah.

„Aber sonst ist alles klar?!“, schnaubte er, „Himmel, mein Herz...“

„Dein Herz ist ein ganz schön gutes Stichwort, mein Lieber!“, begann Semliya erstaunlich guter Laune; sein Zwilling stimmte mit ein.

„Wir haben dich gesehen!“, flötete er und Sanan hob bloß seine Brauen – er ahnte tatsächlich, worauf sie anspielten, hoffte aus irgendeinem ihm selbst nicht bekannten Grund jedoch, er mochte sich irren; aus irgendwelchen Gründen hatten die beiden Spinner aber auch die Eigenschaft, alles, was sie nichts anging, zu wissen...

„Ich sehe euch auch.“, schnaubte er so scheinbar unwissend und die Jüngeren taten etwas, was ansonsten selten vorkam – sie lachten.

„Oh, du weißt doch ganz genau, was wir meinen, nicht?“, gackerte Semliya bester Laune und sein Bruder musste erst nach Luft schnappen, ehe er weiter sprechen konnte.

„Komm schon, das ist doch etwas nettes... wurde schließlich auch Zeit, dass du mal eine Frau findest!“

Sanans Gesicht nahm eine beinahe ungesund wirkende rote Farbe an. Er räusperte sich. Irgendwie hatten die beiden das Talent, gleichermaßen wie erwachsene Krieger und wie alte Weiber zu wirken...

„Frau finden ist ein bisschen viel gesagt, wir kennen uns doch erst ein paar Tage...“, brummte er verlegen und Novaya grinste ihn breit an.

„Ach, stell dich mal nicht so an. Sie ist doch ganz niedlich... ihr seht gut zusammen aus.“

„Du solltest bald mit ihr schlafen.“, stellte Semliya sachlich fest, „Damit neues Leben entsteht. Das wäre eine gute Sache.“

Sanan hustete entsetzt und die Zwillinge grinsten noch breiter. Irgendwie war ihre Anteilnahme ja rührend, aber dennoch...

„Überlasst das mal mir, mir fällt es schwer mit einer Frau zu schlafen, ich meine... na ja. Ich habe es schon einmal erwähnt, wisst ihr noch?“

Ja, er hatte tatsächlich mit den beiden Spinnern darüber gesprochen, dass er ziemliche Schwierigkeiten damit hatte, in die nötige Erregung zu finden, nachdem sie vor etwas längerer Zeit mal darüber Anstoß genommen hatten, dass er in seinem Alter noch nie eine Frau im Lager gehabt hatte.

Semliya lehnte seinen Kopf gegen seine Schulter.

„Ach.“, kam dann, „Du musst nur ruhig bleiben. Die mag dich, die gibt dir Zeit...“

Novaya tat es seinem Bruder gleich und lächelte.

„Dann klappt das ganz von alleine. Versprochen.“

„Wie heißt sie eigentlich? Wir haben sie gefragt, aber sie verstand uns ja leider nicht.“, wollte Semliya seinerseits da wieder wissen und Sanan seufzte ergeben. Er gab es ja zu... eigentlich hätte er sie wirklich gern in seinem Lager gehabt.

„Sie heißt Rayada...“

„Schöner Name.“, stellte Novaya versonnen fest, „Weißt du, vielleicht heiraten wir demnächst auch. Also, so richtig und nicht Mefasa, die uns nicht mehr zu schätzen weiß.“

Sanan war dankbar, dass sie das Thema nun umlenkten und ging gern darauf ein, seine Arme hebend und seinerseits jeweils einem der Brüder einen um die Schulter legend.

„Ach so? Wen denn dann?“

Semliya antwortete lächelnd.

„Komische junge Frauen aus dem noch komischeren Vogelstamm.“

„Vaters Idee, er hat sie gefunden.“, fügte sein Zwilling an, „Mutter ist dagegen, sie findet die beiden potthässlich.“

„Dabei gibt es gar keine hässlichen Frauen. Frau und hässlich, das widerspricht sich.“

„Und sie sehen aus wie Zwillinge!“

„Sind es aber nicht, die eine ist ein Jahr älter als die andere.“

„Was vollkommen gleich ist, sie wirken bezaubernd.“

„Du redest wie Ranisin.“

„Ranisin ist auch bezaubernd. Jedenfalls beschäftigen wir uns jetzt mit ihnen... vielleicht sind sie so nett, wie sie erscheinen.“

„Und mögen uns auch – dann bitten wir sie an unser Lager.“

„Das wäre gut.“

Sanan gluckste irritiert von dem Redeschwall, zwischen den beiden hersehend. Sie lächelten beide ein ehrliches, glückliches Lächeln – es schien wieder gut zu sein.

„Na ja, dann hoffen wir, dass ihr die beiden Damen von euch überzeugen könnt – könnt ihr sicher.“

„Und dass du bald viele Babys mit Rayada machst.“
 

„Die scheinen sich ja zu mögen.“

Kurapi beobachtete die Zwillinge mit Sanan, während er neben Moconi, dessen Gehör gerade einen guten Moment hatte, stand. Beide trugen, ebenso wie Karem, ihren Häuptlingsschmuck, hatten aber jede Bemalung wohlbedacht fort gelassen. Der Häuptling des Schlangenstammes nickte.

„Stimmt – die freuen sich wohl auch, dass sie sich noch haben. Kann ich ihnen nicht verdenken.“

Er ließ seinen Blick über die Meute an Feiernden schweifen und blieb an Nadeshda und Alaji hängen, die beide gleichermaßen ihre Babys stillten und sich angeregt über etwas zu unterhalten schienen.

„Sie geben sich gegenseitig Kraft... alle tun das.“, stellte er dann versonnen fest und beobachtete das Geschehen um ihn herum weiter. Unweit entfernt stand Karem und unterhielt sich mit Teco; dabei wirkte er erstaunlich verlegen und sein Gegenüber etwas irritiert. Dann schwiegen sie, bis der Jüngere schließlich mit den Schultern zuckte, etwas sagte und sich dann an den Kopf fasste. Karem grinste, erwiderte etwas – und umarmte ihn dann seltsamer Weise. Moconi hob eine Braue.

„Die Freude hält sich ja kaum in Grenzen, meine Güte.“
 

Das war nicht bei allen der Fall. In der Vorratshütte war es kühl, dunkel und still. Shiran erkannte bloß Iavenyas Silhouette, als er sie betrat... sie saß am Boden, ihre Hände hinter ihrem Rücken an einen Pfeiler gefesselt. Als sie ihn bemerkte, kicherte sie.

„Oh, ich bekomme Besuch.“, stellte sie fest.

Er hielt zunächst schweigend inne, dann kniete er sich vor sie und strich ihr zärtlich durch ihr schwarzes Haar.

„Ich kann dich befreien... ich kann dir die Freiheit schenken, Iavenya. Das würde ich ohne zu zögern tun... sie verstehen dich nicht. Ich verstehe dich, Iavenya.“

Sie schmiegte sich etwas gegen seine Hand, leise seufzend.

„Ich weiß. Nein, ich... nehme mein Schicksal an. Ich habe gekämpft, Shiran, und ich habe verloren. Ich freue mich bloß, dass du dich letztendlich... für die richtige Seite entschieden hast.“

Er lächelte bitter, seine Hand aus ihren Haar nehmend und stattdessen über ihre Wangen streichelnd. Es war schwierig...

„Sie werden warten, bis dein Kind geboren wird... in dem Moment, in dem sie das Baby von dir trennen, werden sie dich töten. Auf der Stelle.“, er hielt inne, „Du hast recht, ich habe mich für Nadeshda entschieden, denn ich verstehe auch sie und ich habe sie... sehr gern. Aber soll ich das zulassen? Kann ich das zulassen?“

Sie lachte leise, den Kopf etwas drehend und seine Hand küssend.

„Du kannst das nicht nur zulassen, du musst das sogar. Ich habe keine Zukunft, keinen Platz mehr auf der Welt; Nadeshda würde mich nie wieder aufnehmen. Natürlich nicht, würde ich an ihrer Stelle auch nicht. Und die Menschen wollen mich schon zwei Mal nicht. Das weißt du doch... du hängst an mir, wie schmeichelhaft.“, er schwieg kurz und sie lächelte versonnen, „Sie haben es nie gemerkt. Keiner, nicht ein einziger hat uns bemerkt, niemals hat jemand ernsthaft einen Bezug zwischen uns beiden herstellen können. Wir waren wirklich diskreter als ich dachte.“

Das waren sie ernsthaft gewesen; es wäre aber auch nicht gut gewesen, wenn irgendjemand bemerkt gehabt hätte, dass zwischen einer einfachen Dorffrau mit zu scharfer Zunge und dem Seher irgendetwas gewesen war. Er fragte sich, was wohl geschehen wäre, wenn es damals anders gekommen wäre...

„Vermutlich werden wir bereits gegangen sein, bevor das Baby geboren wird... und selbst wenn nicht werde ich wohl nicht mehr in seine Nähe kommen.“

Er streichelte weiter über ihre Wangen und sie gluckste.

„Du musst wirklich ein gutes Herz haben. Selbst wenn die gegebenen Umstände es nicht verhindern würden... würdest du es der armen Nadeshda wirklich antun, ihr ein Kind von mir unterzuschieben? Ich meine, sie wird zwar seine Tante sein, aber ich glaube nicht, dass sie so viel Sympathie für es aufbringen können wird...“, sie seufzte leise, „Stelle bloß sicher, dass für unser Kind gut gesorgt ist... ich meine... ich habe Angst, dass sie nicht gut zu ihm sein könnten.“

Ihre Stimme zitterte... sie fürchtete sich. Nicht vor dem Tod, nicht vor denen, die sie hier gefangen hielten und in absehbarer Zeit richten würden... sie fürchtete einfach nur als Mutter um ihr Baby. Shiran konnte sie beruhigen.

„Es wird... bei Kinashi unterkommen. Eine Frau mit vielen Kindern, sie wird sich nicht unbedingt darüber freuen, aber sie wird sich um den Kleinen kümmern. Und wenn er aus dem Gröbsten heraus ist, wird er, soweit ich das sehen kann, von einem ihrer Söhne bestens umsorgt... er wird klar kommen. Er hat eine sehr starke Seele, das... kannst du doch auch spüren, oder?“

Er bemerkte, dass sie nickte. Ehe sie wieder sprach, atmete sie einmal tief ein.

„Eine Sache noch.“, kam dann, „Was... was ist mit Irlak geschehen? Ich habe das Gefühl, irgendetwas ist da... anders gelaufen.“

Shiran nickte nun seinerseits.

„Nun... er wurde in dem Moment, in dem er Teleport eingesetzt hat, getötet... er hat den Teleport nicht beenden können, sein Körper ist nun... irgendwo. Hoffen wir nur für seine Seele, dass sie sich noch rechtzeitig hat befreien können.“

Er erschauderte. Der Gedanke machte ihn unruhig... außerdem war es in dieser dummen Hütte wirklich frisch. Arme Iavenya – tapfere Iavenya. Gekämpft und gefallen, es war erstaunlich, wie einfach sie damit zurecht zu kommen schien... und wenn der Mann seinen Göttern glauben schenken konnte, dann entsprach jedes ihrer Worte der Wahrheit.

Sie riss ihn aus seinen Gedanken, als sie überraschend das Thema wechselte.

„Ich bereue nichts, aber ich habe Mitleid mit euch allen. Erst jetzt... es kommt etwas spät, ich glaube, diese Erfahrung hat meine Seele gebraucht. Nun... du solltest zu Nadeshda. Aber bevor zu gehst, tu mir noch einen letzten Gefallen...“

Obwohl es finster war, trafen sich ihre Blicke.

„Küss mich... ein letztes Mal.“
 

Sie feierten, bis die Sonne wieder aufging, erst dann legten sie sich schlafen. Sie beseitigten die Spuren dieses Festes, das ab diesem Tag an jedes Jahr im Feuermond in jedem Stamm gefeiert werden sollte, auch dann, wenn sie sich wieder voneinander verabschiedet hatten. Sie konnten nicht zusammenbleiben, zumindest nicht dauerhaft. Dennoch verband sie das Land, in dem sie lebten, die Erde unter ihren Füßen für alle Zeiten – und ließ sie für immer ein Ganzes bleiben.
 

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Yai - das Ende! ^^ Der Epilog folgt bald. <3

Bei diesem Kapitel hab ich ein paar Tränchen vergossen, muss ich gestehen, vor allen Dingen wegen Mahrran. Aber hey, der Typ kommt ja leibhaftig wieder, von daher... KdW2-Reloaded kommt sicher auch irgendwann. ^^

Epilog

Die Höhle war von einigen guten Talglampen hell erleuchtet.

Shiran räusperte sich, sich unverhohlen fasziniert umsehend.

„Ich hoffe, man hält mir zugute, dass ich das noch nie getan habe und dass das in meinem Volke auch nicht üblich ist – was ich nicht unbedingt gut finde, das ist eine sinnvolle Sache, meiner Meinung nach.“

„Wir tun das auch eher selten.“, antwortete ihm Kurapi schulterzuckend, während er mit der von ihm bevorzugten roten Farbe die Dinge auf der Wand festhielt, die er persönlich für besonders wichtig hielt. Er zeigte sich geschickt darin, Geschehen zu malen, nicht jedoch, deutlich zu zeigen, wen er da zeichnete.

Karem seinerseits äußerte sein künstlerisches Talent umgekehrt, Handlungen deutlich zu machen fiel ihm schwer, dafür erkannte man jede einzelne, von ihm in seiner eigenen, schwarzen Farbe gemalte, Person genau. Er schien auch ohne, dass seine Bilder ohne Hintergrundwissen viel Aussagekraft besaßen, damit zufrieden zu sein und grinste stolz vor sich hin.

„So gut wie ich bist du sicher.“, brummte Moconi seinerseits etwas missgelaunt darüber, dass man bei ihm weder erkannte, was dort gezeigt wurde, noch wen man dort sehen konnte. Shiran gluckste kurz, zu seinem eigenen kleinen Behälter mit Farbe sehend, den er in den Händen trug. Nun gut, er war der Vertreter der Kalenao und wenn man jenen schon eine Chance gab, auch ihre Version der Geschichte zu verewigen, dann wollte er sie auch nutzen.

Er suchte sich einen freien Flecken zwischen Karem und Kurapi, in der Hoffnung, sich von beiden etwas abschauen zu können – und hüstelte, als sein Blick an einer Figur seines ewigen Rivalen hängen blieb.

„Nun, ich nehme diese doch sehr schmeichelhafte Darstellung meiner selbst einfach als Kompliment.“

Der Häuptling des Vogelstammes – der diesen Posten im übrigen so schnell wie möglich wieder los werden wollte – schnaubte bloß.

„Hätte ich deine Zähne so schief gemalt, wie sie wirklich sind, hätte das die ganze Atmosphäre zerstört! Jetzt hast du ein vorbildliches Gebiss.“

Das hatte er tatsächlich – war ja wunderbar, jetzt würden seine Nachfahren ihn alle für einen wunderschönen Mann halten! Er grinste motiviert sein wahres Grinsen und begann ahnungslos vor sich hin zu malen.

Moconi seinerseits seufzte etwas ermüdet von seinem nicht vorhandenen Talent und wandte sich von seinem Teil der Höhlenwand ab, um kurz zu pausieren und währenddessen ältere Werke, allesamt von Mitgliedern seines Stammes geschaffen, anzusehen.

„Welches Bild ist das neueste?“, fragte er in die Runde und Karem drehte sich kurz zu ihm um und deutete auf eine Zeichnung nur unweit von ihm entfernt.

„Schau es dir genau an.“, riet er ihm grinsend und widmete sich wieder seiner Arbeit, „Es ist von Saltec.“

Darauf legte Moconi seine Stirn bloß missmutig in Falten, kam dem Rat jedoch nach. Was er dann erkannte, verblüffte ihn über alle Maße.

„Das... das zeigt mich, oder? Als Häuptling.“

Als er sich umdrehen wollte, bemerkte er, dass Karem neben ihn getreten war. Er grinste, die letzte Zeichnung Saltecs ebenfalls noch einmal eingehend musternd.

„Es war der größte Wunsch deines Vaters, dass du aus deiner Lustlosigkeit herausfindest und deine wahren Talente entdeckst... und zu einem größeren Häuptling wirst, als er es selbst war. In der Hoffnung darauf hat er das damals gemalt.“

Er nickte auf seltsame Weise zufrieden und Moconi starrte ihn mit geöffnetem Mund an – Moment, irgendetwas war hier falsch.

„Das klingt ja, als hättest du von Anfang an gewusst, dass ich Häuptling werde und nicht du!“

Karem wandte den Blick von der Wand ab und ihm zu. Er lächelte noch immer.

„Richtig, das habe ich. Dein Vater war, wie du dich sicher erinnerst, bereits vor seiner letzten Jagd krank und hat mit seinem Tod gerechnet... da hat er sich mit mir noch einmal darüber unterhalten. Er hat sich darum gesorgt, dass er es selbst nicht mehr schaffen konnte, dich zu dem zu machen, zu dem du seiner Meinung nach bestimmt warst... da hat er mich darum gebeten, dass ich das für ihn übernehme. Das war ein geheimes Versprechen, das ich Saltec gegeben habe, nicht einmal Ardoma wusste davon.“, er gluckste, „Wie dein Vater damals schon zu mir gesagt hat, man bekommt deinen sturen Kopf nur mit Gewalt zur Einsicht, also habe ich auch ziemlich viel Gewalt angewendet... immerhin hat es etwas gebracht. Er ist ein vorbildlicher Häuptling, nicht wahr?“

Kurapi, der noch immer eifrig zeichnete, nickte lächelnd.

„Selbstverständlich!“

„Ich bin sein größter Bewunderer.“, meinte Shiran seinerseits, während er die Kunst neu definierte; dabei schien er Karem trotz seiner ironischen Stimmlage nicht ernsthaft widersprechen zu wollen.

Moconi ging nicht darauf ein, sondern schnappte entsetzt nach Luft.

„Dann... dann wolltest du eigentlich nie Häuptling sein?!“

Er starrte Karem empört nach, als der sich wieder an die Arbeit machte, ihn einfach stehen lassend.

„Nein, ehrlich gesagt habe ich nie auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, dass es toll sein könnte, Saltecs Erbe anzutreten – ich bin absolut kein Anführer. Aber ich halte mein Wort... bis zuletzt.“, antwortete er, ihm wieder den Rücken kehrend.
 

Moconi starrte ihn perplex an. Dann wanderte sein Blick zu Shiran und zu Kurapi. Sie alle waren eifrig und bemüht, ihre ganz persönliche Sicht der Geschichte zu verewigen. Drei Sichten sollten reichen... er entschloss sich dazu, etwas anderes zu malen, als er wieder vor sein angefangenes Bild trat.

Saltec war ein absolut seltsamer, aber guter Mann gewesen. Er hatte es geschafft, seinen Sohn so lange Zeit nach seinem Tod noch einmal bis in die Tiefe seiner Seele zu erschüttern... einerseits, weil er ihm letztendlich viel mehr Leid zugefügt hatte, als er ursprünglich angenommen hatte, andererseits, weil er auf eine beinahe magische Art und Weise dafür gesorgt hatte, dass aus seiner Missgeburt von Sohn eine Person wurde, auf die er im Tod stolz sein konnte. Er war selbst schuld, dass sein Vater zu solchen Maßnahmen gezwungen gewesen war, kam ihm, während er zeichnete, also nahm er es ihm nicht übel – und zollte Karem für sein Durchhaltevermögen heimlich einen ziemlichen Respekt, ebenso wie Saltec.

In Gedenken an seine Seele tat er es ihm gleich und malte nicht das, was geschehen war, sondern das, was geschehen sollte... er malte vier Stämme, genug Wild für alle und ein gutes Land, auf dessen Erde seine Nachfahren auch in zehntausend Jahren noch ein gutes Leben führen können sollten.
 

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An dieser Stelle verabschiede ich mich also, das war es dann. ^^ Danke an Linni und in der ersten Hälfte Hina, meine lieben einzigen Kommentatoren... XD 376 Kommentare hätten es, für die Statistik, werden können, damit liegt KdE leider ein ganzes Stück hinter KdW2 (nach heutigem Stand 987 XD).

Und ein weiteres Danke schon wieder an Linni, die tapfer das alles gebetat hat. ^^

Kinder des Windes werde ich allerdings nicht mehr hier hochladen. Also dann. ^^



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Von:  Decken-Diebin
2010-11-26T21:44:33+00:00 26.11.2010 22:44
Oh, ich freu mich jedes Mal über Teco und Alaji, und jetzt haben sie Lieeeeebe gemacht! *___* <3 Das ist irgendwie schön und ihre Art und ihr Verhalten waren so passend zu ihnen!^^
Oh, ich seh grad Linnis Zitat mit der langen Nacht... das war wirklich amüsant xDDD Und wo er Recht hat, hat er Recht... xDDD
Nadeshdas Erkenntnis hat aber auch lange gebraucht, aber dann war sie ja richtig schön wütend XD Aber ich frag mich btw, wie Shiran das so genau planen konnte, dass sie dadurch schwanger wird? @__@
Jaah, mochte, und ein Mitleidsherz für Chejat! .__. <3
Von:  Linchan
2010-11-26T20:02:30+00:00 26.11.2010 21:02
Da hab ichs doch gerade noch mal re-gebetat und hab trotzdme schon wieder vergessen was alles drin war XDDD

ach ja: Teco und Alaji haben Sex, yay */////////* ich finde die Szene toll <3 sie ist dezent aber jeder kapiert was abgeht, so solls sein <333 sie lieben sich so óo

und, hahaha, die szene danachw ar hammer xDD der arme Zerit xD
>„Vergiss es, Frauen gerne, Männer auch, aber KEINE Tiere, mein Guter.“
da hab ich mich echt weggeshcmissen xDDD lol, und als sie gesgat hat dann nimm dir nen Kerl wird er auch noch rot xDD *schiebt ihn zu Moconi, Tinash und Ranisin* <3! XD Los Jungs, gangbang! XD

und AAAH ach ja genau, Chejat q________q omg. Ich habs zweimal gelesen und jedes mal geheult .___. das war so hart und so dramatisch! Er tat mir so leid ._____. er war mutig und herz .____.

Und, ach ja, die Shiran-diss-Szene hat aber alles wieder gut gemacht xDD ich meine, LOL xDD Mahrran ist evil o,o der arme... xDDD oder die arme Lafila, hahaha xDD also die szene war echt witzig xDDD genau das richtige um aufzuhören depri zu sein XDDD

> „Lafila.“, sprach er bedächtig, „Das wird eine sehr, sehr... sehr lange Nacht, fürchte ich.“
XDDDDDDDDD ja... hust xD

Und Nadi checkt es endlich mal, hahaha xDD und ist nicht begeistert XDDD das ende war auch ieder so rulig xDDD oooh war sie sauer xDDD und Shiran hat keinen guten tag, lol, alle dissen ihn xDDD *herzt ihn und schenkt ihm Fischbrühe* <33

und aaw... darf ich noch mal Alaji und Teco herzen? óo die sind so süß <3
> Wobei sicherlich kein Raubtier so oft das Bedürfnis hatte, sich zu paaren, wie der junge Mann es hatte, aber verdenken konnte sie es ihm nicht... sie musste bei dem Gedanken daran leicht schmunzeln, während sie die Augen schloss, als er ihr Gesicht mit Küssen überdeckte.
XDDDDDDDDDDD Teco der Schwerenöter xDDD hahaha xDDD er ist toll <33
Von:  Decken-Diebin
2010-11-12T18:26:33+00:00 12.11.2010 19:26
Ich kann wieder nur rumkreisen, oh, ich meine, Teco und Alaji! *___* Der Kamm, der Kuss, zu süß <3
Dass Kili jetzt irgendwie Mahrrans Frau ist, find ich ja auch sehr lustig... erfährt man mal so nebenbei, ist ja nicht weiter schlimmm... xD
Tinashs Äußerung fand ich auch toll, diese Andeutungen allgemein, er geht ihm gerne zu Hand, Moconi richtet unauffällig seine Klamotten zurecht... ich meine, oh Gott >//< XDDD
Schönes Kapitel, auch der nicht-loof♥-Inhalt. Das mit dem Tausch durchaus war cool, aber ich glaub ich wäre als Mensch auch misstrauisch gewesen, bei solch merkwürdigen Kreaturen xDD
Mag! <33
Von:  Linchan
2010-11-01T17:31:30+00:00 01.11.2010 18:31
puh, erstmal wieder gucken as hier abging xDDD Kili herzt... fragend xDD Kann es sei, dass irgendwo recht weit oben ein Absatz fehlt? oô Mein Fehler, Asche auf mein Haupt .__.' Weil es erst um Kili geht und plötzlich um Sanan, und die sind doch garnicht in derselben Szene xD

Und aaaah, Tinash! xD Kanns sein dass de rjetzt zum ersten mal mehr vorkommt? XDDD Und er geht Moconi ja gerne zur Hand, buahaha xD

und ja, dann wurde nochmal im Nachhinein beleuchtet was Zrit eigentlich erzählt hat xD und er ist DOCH gay XDD
> „Doch das ist nicht weiter von Belang. Nennt mich, wie ihr wollt.“
Gib mir Tiernamen! >o< XDDDD *lacht* Die Sache mit dem Tausch fand ich ziemlich pfiffig von Nadi, ich mein... wären die Menschen jetzt dumm genug gewesen und drauf eingegangen, wäre da sja einfach gewordne xD aber dann wäre die story schon zu ende XDDD Zerit rult o.o Ich bin ja btw sehr auf diesen anderen Stamm gespannt, der irgendwo lebt, von dem Mefasa und auch Sanan irgendwie kommen und so... xD

Und, und, und, Teco *____* omg das war so süß... mit dem Kamm und dann küsst er sie *///////////* ich maaaag ihn und Alaji so .___.

Und ach, Shiran, der lebt auch noch xDD ich mag Shiran, er ist so cool <3
> Sein Gegenüber errötete darauf etwas. Seine Frau? Na wunderbar.
XDDDD ja, das wurd emal eben über ihren Kopf hinweg entschiedne, arme Kili XDD und uh, also, das was ich an Shiran so cool finde ich, dass ich echt keine ahnung habe was er jetzt eigentlich im endeffekt vorhat oô' ich meine, wozu will er von Kili wissen ob sich was zwischen Mahrran und Nadi verändert, also, irgendwie hat der doch irgendwas vor von dem Mahrran offenbar auch nichts weiß, mit dme er so prächtig kooperiert xDD buahaha xD

und die Zwillinge XD ich mag die zwillinge, die sind so gestört und pervers und frühreif und lol xDD buahahaha xDDDD Sanan ist lieb <3 bin ja gespannt welche Rolle der nochmal spielt^^ dass er etwas anders ist merkt man ja und Shiran scheint da ja auch irgendwas zu wissen xD aber oh nein, Chejat und Kajira habens jetzt schwer úu
Von:  Decken-Diebin
2010-10-21T22:33:15+00:00 22.10.2010 00:33
So, ich habe geschafft zu lesen <3
Nadi tut mir irgendwie leid wegen ihren Knien... warum hat sie das eigentlich? Oder kam's schon vor und ich hab's vergessen? @.@ Jedenfalls fand ich dazu auch den Flashback am Strand mit Shiran toll *_*
Mahrran und Kili sind... interessant. Merkwürdiges Pärchen, ich muss schon sagen, allein vom Äußerlichen her xD Aber so ist das wohl, wenn man nicht miteinander kommunizieren kann... okay, nicht sooo gut. xD
Teco und Alaji waren Zucker wie immer xD Ich meine, sie haben gekuschelt und so. Okay, er war irritiert von ihrem dünnen Haar, aber er schien es nicht grausam zu finden... xD
Ich trauer jetzt schon mal un Nadis und Shirans Baby, auch wenn ich weiß, dass es gaaanz bestimmt irgendwie überlebt .o. <3
Von:  Linchan
2010-10-21T20:14:02+00:00 21.10.2010 22:14
erstmal wieder gucken was hier war xD

Mabalysca ist so süß .___. sie ist arm! óo Und Nadi hats auch schwer mit ihrne Knien o__o ich meine, aaaw... opfer óo

Ich mag Alaji und Teco, sie sind herzig >////< *mal wieder erwähnen musste* ^o^ aber eeewww, sie sssen Käfer XDDDD aber sie... kuscheln óo süüüß .////.

ah ja, und Zerit xD er hats nicht leicht xD Moconi war ziemlich poser da, wie cool xD
> „Die Bestien bringen uns eine Botschaft und denken, es wäre der erste Schritt, um uns in ihre Gewalt zu bringen. Ich sage, uns interessiert kein einziges Wort, das dir auf der Zunge liegt, und wenn du es wagst, Fremder, gegen meinen Willen, den Willen Moconis, dennoch zu sprechen, dann schneide ich dir selbige eigenhändig ab und esse sie vor deinen Augen auf.“
LOL xD wie evil >/////<
> „Sprich mit mir. Aber allein, folge mir.“
uuuh xDDD

und Shiran und Mahrran, die sich so evil gegen die arme Nadi verschwören xD irgendwie sind sie beide sehr cool o.o aber, aber, Shiran will sein Kleines nicht q_____q *jammer* aaaw .____. Ich mochte diese kleinen Flashbacks zwischendurch *___* ich meine, die warne toll und haben mal nen anderen einblick geschaffen <3

Kajira und Chejat sind arm .___. ich meine.... aaw óo und Zerit hat die jetzt nichtmal gesehen, oder sehen dürfen, aaw óo

uund.. Mahrran und Kili <3 ich hab sie lieb, sie sind toll <3 er liebt sie so, haha xD sein Püppchen XDDD und jetzt wird kili bald fett weil sie so viel zu essen kriegt XDDD haha xD ich mochte die szene zwischen denen <33
Von:  Decken-Diebin
2010-10-06T16:11:42+00:00 06.10.2010 18:11
Ich find Alaji und Teco immer noch herzzerreißend süß *____* Und oha, er ist ja drei Jahre jünger als sie... aber egal, man sieht's eh nicht xD
Nadi war auch putzig.... du machen Menschen gut wenn krank? xD Süß <3 Was hatte sie eigentlich mit ihren Knien, kam da was vor, was ich vergessen habe? Das 'krank im Bauch' war ja nun eindeutig xD
Kili hat's überraschend gut, ich muss schon sagen óo Da geht's Kajira und eh, ich hab den Namen vergessen, scheiße xD, wesentlich schlechter...
Ach, genau, Moconi und Calyri... Moconi ist doch blöd, wenn er es will und sie es will, hat er das Recht, sie zur Frau zu nehmen, das wirkt nicht überheblich, selbst nicht als Häuptling >o<
So, ich freu mich aufs nächste Mal <3
Von:  Linchan
2010-10-02T19:53:17+00:00 02.10.2010 21:53
Ich weiß gar nicht mehr was hier vorkam xD *erstmal wieder gucken* <33!

aaaw, Kili! <3 Ich maaag sie und Mahrran, sie sind süß ó////ò ich meine, aaw... verglichen mit den Kalenao bei dne Menschen geht es ihr als Gefangener wirklich sehr gut, hahah xD und Mahrran herzt sie ja so an xD

Und aaw, Teco und Alaji <3 sie sind auch so herzig! Es gibt eigentlich viele herzige Pairings in KdE o,o ich les egerne mit Pairings >////<

Und Moconi und Calyri haben es da etwas schwer, haha xD bzw Moconi macht es schwerer als es sein könnte, dieser Depp xD Naja er hat ja noch Tinash, haha xD wobei, damals gab es dne noch gar nicht, ich denke... aaaw <3 kapi 9, das ist irgendwie so lange her óo
> „Wenn Teco wirklich nicht wieder kommt... dann weißt du, was geschieht. Dann weißt du, wessen Frau du wirst... wer um deine Hand bitten wird...“
Die Tatsache, dass er ihre Hand während er sprach zärtlich in seine nahm, ließ kaum Zweifel an der Auslegung seiner Worte.
aaaww... das war voll süß ./////. sie können so herzen... irgendwie kann ich aber auch beide Ansichtspunkte nachvollziehen, ich meine, er kann eben nicht alles einfach nehmen was ihm gefällt, nur weil er der Häptling ist óo Baby kann gute Dialoge schrieben, gefällt Mami <3

und Nadi ist so arm xD da smit ihrne Beinen ist echt übel... und ich mag es so wenn sie versucht die Menschensprache zu sprechen xDDD das ist einfach so geil xDD und ijaahh, sie ist... krank im bauch. Hüstel. xDDD

und Alaji udn Teco sind immer noch süß xD wie er labetrt und labert und sie versteht ihn nicht... und dann da smit dme Alter! xD das war so herz! xD
> „Ich will dich wirklich nicht beleidigen, aber malen kannst du echt nicht. Oder nennst du das etwa Kunst? Zeichnungen von Tieren sind Kunst. Zeichnungen von Menschen sind Kunst. Aber bitte, Striche? Du scheinst wirklich unbegabt zu sein oder einfach nicht besonders einfallsreich.“
xDDDDDDDDD *lacht* omg xD
Ach ja und da kam ja noch diese Szene wo Alaji so psycho war o.o Dein Stamm verbrennt im Dornenfeuer, na, da bin ich ja auch gespannt was das eigentlich mal wird... o.o klingt spannend >/////< ich mag dieses psycho-gelaber <333

Und die Zwillinge freuen sich weil sie sadistisch sein können xD der arme Chejat xD ach mann, er ist auch arm .____. und, aaw óo jetzt kommt Zerit ^o^ *freu* Zerit it irgendwie cool... er ist soh poser >////< naja noch isser ja nicht da, haha xDDD

Und aaahhh q_____q meine Schuld?! HERZ??!! *nöl* *Keksis schenk*
Von:  Gharren
2010-09-29T19:54:06+00:00 29.09.2010 21:54
Finde ich echt super gut =D
Werd mal ein bissel weiterlesen, wenn ich Zeit dafür finde.
Land der unbegrenzten Grausamkeiten, lol. Du lässt wohl gern Leute sterben, oder^^?
Von:  Decken-Diebin
2010-09-16T19:51:39+00:00 16.09.2010 21:51
<3 Oh, ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll... Linni hat schon alles gesagt...
Auf jeden Fall mochte ich das Kapitel. Die Pärchen sind alle so süß, auch wenn sie vielleicht nur angedeutet sind und so, aber Herz! <3
Ja, ich weiß nicht, was zu sagen, außer Herz. Alaji war tatsächlich Poser, und Nadi soll jetzt ein Kind bekommen? o___o Wow XD
Na ja, auf jeden Fall freu ich mich auf's nächste Kapitel *___*


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