Der Pfau von Phillia (Deutschland, das sind wir selber) ================================================================================ Kapitel 1: 01 - Blauweiß ------------------------ BLAUWEISS „bin mit karl schon aufm weg. freia und hoffi bleim zuhaus. tätsch du ion wegschicke? der soll unsre jungs ja net störe gell ;-) holsch mich gege neune am hbf ab?? ade, max ps: ich bring wein mit, brausch kei bier kalt zu stelle! bitte ned!!! lol :-)“ Diese Hieroglyphen schmückten Berlins Handydisplay mitten in Berlins Straßen, die von trauernden Hertha-Fans bevölkert wurden. Der erste Mai 2010, der Abstieg war besiegelt, es gab keinen Weg zurück und die Stadt verharrte ein paar Stunden lang in Traurigkeit, bis sie am nächsten Tag wieder zu ihrer üblichen schizophrenen Mischung aus Nichtstun und Geschäftigkeit zurückkehren würde. Die SMS war vor einigen Stunden abgeschickt worden. Baden hatte bei sich zuhause nur einen ganz kleinen Flughafen, im Gegensatz zu Berlin; Tegel war cool und er würde nicht zulassen, dass Albrecht Schönefeld so ausbaute, dass er geschlossen werden müsste. Er hatte schließlich schon Tempelhof verloren. Na, zurück zum Thema, Max würde also per Bahn kommen, hatte er ja auch angekündigt (wenn Paul das richtig verstanden hatte). Hertha stand neben Berlin. Noch war er ein Erwachsener, aber in der nächsten Saison würde er wieder ein Jugendlicher sein. Zweite Liga. Nach so vielen erfolgreichen Jahren erste Liga. Der Fußballklub wischte sich ein paar Tränchen aus den Augenwinkeln und hielt seinen Fußball fest in seinen Armen, als könne er ihm Trost spenden. „Gute Neuichkeiten, Hertha, dein kleener Freund kommt vorbei!“ Augenblicklich hellte sich das Gesicht des Klubs auf. „KSC?! Dit jibt's nich!“ Aber das gab es doch, wie Hertha es feststellen durfte, als Karl aus dem ICE hinausrannte und ihn noch auf dem Bahnsteig in eine feste Umarmung zog mit dem Ziel, nie wieder loszulassen. Baden folgte ihm und seufzte, und man konnte die beiden Fußballklubs nicht voneinander trennen, bis sie in einem von Berlins Häusern angekommen waren, ein kleines Häuschen in Spandau in einer gutbürgerlichen Nachbarschaft. Während sich die beiden Länder im Wohnzimmer niederließen und Berlin die PS3 mit dem neusten FIFA-Spiel anschaltete, verzogen sich die Klubs in eins der Kinderzimmer, und trotz ihrer Kuschelei und der allgemeinen Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung kamen sie dazu, ein paar Worte auszutauschen. „Diese scheiß Levakusena, was für Seggele!“ Man hielt sich mit Dialekt zurück, schließlich wollte man sich ja verstehen. Sprachbarrieren waren was schreckliches. Mit 'man' wird in diesem Text übrigens nur Hertha bezeichnet, denn obwohl Karl es ernsthaft versuchte, bewahrheitete sich Max' Werbeslogan – alles außer hochdeutsch. „Mhm. Ick bin doch eijnlich nich so... also... du weißt ja, was ich meine.“ Dann war wieder Redepause, denn man war mit anderem beschäftigt. Max verlangte anderswo, dass Paul die Lautstärke aufdrehen sollte (und die Zigarette ausmachen sollte - „Aber dit is' erst meine dritte heute!“ - „Awwah, nie, des isch deine dreihundertschde!“), und brach sein zweites Weinglas an, während Paul sein drittes Rotkehlchen köpfte. „Naja, wenigschdens sind wir jezed wieder zämme!“ Das entlockte Hertha ein Lächeln. „Freust dich schon, wa?“ Keine Antwort. Wieder wurde Paul gebeten, die Lautstärke aufzudrehen. Bis zum Maximum, was der Fernseher hergeben konnte. Man fuhr am nächsten Tag wieder ab. Am Bahnhof flossen viele, viele Tränen, bis Max seinen Fußballklub in den Zug ziehen konnte. Hertha rannte dem Zug nach, der KSC klebte an der Scheibe, und als man sich nicht mehr sehen konnte, ging das Geplärre wieder los. Aber das nächste Wiedersehen war nicht mehr weit entfernt, und die beiden waren sich sicher, dass sie gemeinsam aufsteigen würden. Kapitel 2: 02 - d'Wiesn ----------------------- Wie jedes Jahr fand man sich in einem zünftigen Bierzelt auf dem Oktoberfest ein. Im Hintergrund spielte eine Blaskapelle und das ganze Zelt roch lieblich nach Bier, Bier, Erbrochenem und Bier. Die drei Schäferhunde von Ludwig schliefen friedlich auf dem Boden unter dem langen Tisch, obwohl sie ständig als Fußablage benutzt wurden. Eine kleine bayrische Kellnerin hatte gerade allen 22 Anwesenden eine Maß gebracht. Für mehr pro Person musste jedes Land selbst aufkommen, schließlich war auch Bayern nicht das Schlaraffenland. „Proasd!“ erscholl Zenzies Stimme über den hintergründigen Lärm. Sie saß als Gastgeberin natürlich am Ende des Tisches, genauso wie Hans die Bundesländer beim alljährlichen Karneval begrüßen würde. Bayern grinste breit. Leider konnte ihre gute Laune sich nicht auf die anderen Länder übertragen. Zwar war auch Gilbert in Partylaune und Ludwig war zufrieden, wenn man ihm Bier gab, aber viele andere der Bundesländer waren nicht ganz so glücklich. Zum Beispiel in der sächsischen Ecke, von wo aus Sachsen Bayern einige angenervte Blicke zuwarf. Man hatte keine Lust, anwesend zu sein, wie Sachsens Nachbarn es im Gespräch untereinander bestätigten. Etwas davon entfernt saß der Mittelwesten zusammen, wo die riesigen Biergläser nur ein einziges Mal schief angeschaut worden waren und dann weg geschobenn worden waren, sehr zur Freude von Berlin, der sich einfach frecherweise neben Hessen gesetzt hatte, obwohl das nicht sein Platz war, und jetzt all den Alkohol trank, der von den weinliebenden Bundesländern verschmäht wurde. Stattdessen verteilte Baden Wein an alle Anwesenden (außer Württemberg, selbstverständlich, welcher deprimiert in einer Ecke saß und ausstrahlte, dass er alles wollte, nur nicht auf einem bayrischen Fest anwesend sein) und wenn Hessen nicht so ein Partymuffel gewesen wäre, hätte er wohl auch seinen Apfelwein herausgeholt. Zumindest wurde hier die Stimmung im Verlauf des Abends nur aufgrund des Alkoholverbrauchs noch besser, und als Nicole sich beschwerte, dass sie auch was davon haben wollte, wurde sie von Loreley zu Zenzie geschickt. Aber auch bei Bayern hatte das jüngste Bundesland kein Glück, denn obwohl sie ganz höflich gefragt wurde, warf man ihr nur einen liebevollen Blick zu und ignorierte sie danach völlig. Im Norden dagegen machte man sich um Bierkonsum so gar keine Sorgen. Roland versuchte, seinen zuverlässigen Bruder dazu zu überreden, doch auch einmal etwas zu trinken, und Hein gab erst nach dem dritten Versuch nach. Hamburg zog lächelnd ein wenig an Fritz' Klamotten herum, die mal wieder von ihr ausgesucht worden waren. Seine drei Fliegen saßen am Rand der halb leergetrunkenen Maß vor ihm, und er schwieg irritiert, während Schleswig-Holstein versuchte, ihm seine Kappe aufzuziehen – der sechszehnjährige Junge hatte sein Bier schon völlig ausgetrunken und sich ein zweites bestellt – und Anna vergeblich versuchte, ihn daran zu hindern. Als die Nacht hereinbrach, rief Ludwig zum Aufbruch auf. „Och nööööö!“ war laut von einem gewissen nordischen Land zu hören, das nicht mehr gehen wollte. Auch Zenzie stichelte den Chef ein wenig, dass er ja so eine Spaßbremse wäre. Hessen war erleichtert, denn Paul hatte angefangen, mit einem von Ludwigs Schäferhunden auf dem Boden herumzutoben und sich komplett zum Idioten zu machen. Der Zigarettenrauch hing schwer in der Luft, und als Nicole sich heimlich auch eine Kippe ansteckte, fiel das dank der Luft nicht allzu sehr auf. „Wir machen morgen einfach weiter!!“ ertönte Gilberts Stimme über den noch immer prävalenten Lärm hinüber, und von einer Hälfte erntete er Jubel, während die andere Hälfte ihm böse Blicke zuschickte. Danach schnappte er sich Brandenburg und zog ihn mit auf das Riesenrad auf dem Fest, sodass der Rest warten musste, ehe man zurückkehren konnte in das schöne Hotel. Die Mädchen gingen auf ihr Gemeinschaftszimmer – nur Hamburg teilte sich ein Zimmer mit den Brüdern aus Bremen – und Ludwig hatte große Probleme, die männlichen Bundesländer alle in ihre jeweiligen Zimmer zu verfrachten. Er hatte sich so einen schönen Plan ausgedacht, um Länder, die sich nicht leiden konnte, in ein Zimmer zu stecken, damit sie sich besser kennen lernten und ihm nicht mehr so viele Probleme machten in Zukunft. Leider wurde dieser Plan von den teils betrunkenen, teils nur angetrunkenen Ländern gründlich vereitelt. „Ich gehe nicht zu Hessen in ein Zimmer!!!“ teilte Thüringen dem entnervten Chef beispielsweise mit, und wenn nicht gleich etwas passierte, dann wusste Ludwig, dass er explodieren würde, wie er es so oft tun würde. Warum waren das nur alles solche Kinder... Er sprach ein Machtwort und verfrachtete die Länder unter Androhung der Streichung jeglicher Finanzen in die Räume, in die sie gehörten. Während es bei den Frauen noch recht ruhig zuging, abgesehen von einer kleinen Unpässlichkeit zwischen Saarland und Rheinland-Pfalz, flogen in den drei Räumen der Männer die Fetzen, und als man sich am nächsten Morgen früh um sieben Uhr abreisefertig machte, war kaum jemand ausgeschlafen, abgesehen von den zwei ehemaligen Hansestädten. Außerdem war kaum jemand überhaupt rechtzeitig in der Lobby, um das Taxi zum Münchner Flughafen zu nehmen. Erst um zehn Uhr waren alle Länder wieder verschwunden, und Ludwig blieb mit Zenzie im Eingang stehen, während sie der letzten Fuhre zuwinkte. „Bis nächstes Jahr!!“ rief sie mit bayrischem Akzent, und Ludwig vergrub sein Gesicht in seiner Hand. Das war eine Drohung. Eine einzige Drohung... Kapitel 3: 03 - Konfrontation ----------------------------- Nur die Staubballen fehlten noch, als sich die vier Bundesländer mitten in der Einöde von Mecklenburg-Vorpommern trafen. Als Schiedsrichter saß Ludwig in der Mitte des kleinen Kreises. Alle vier konnten sich gegenseitig in die Augen sehen, und nur die Schreie eines Aasgeiers über ihnen durchbrach die Stille. Ein klassischer High Noon. Die Frage war nur: wer würde zuerst schießen? Man beäugte sich misstrauisch. Kein Lüftchen regte sich. Ludwig hob die Hand. „Los.“ Synchron griffen alle vier in ihre Taschen und jeder von ihnen hob ein kleines Bild in die Höhe. Bayern hatte Neuschwanstein gewählt, es schien, als würde das Märchenschloss auf dem Polaroid geradezu strahlen. Sie war sich des Sieges schon sicher und lächelte überlegen. Auf Badens Fotografie fand sich die Pyramide seiner ehemaligen Residenzstadt. Ein morbides Grinsen zierte sein Gesicht. Wer könnte einem Wahrzeichen widerstehen, unter dem ein Toter begraben lag?! Hessens Züge waren ernst und ruhig, während er das Bild von Frankfurts Skyline zeigte. Damit konnte niemand konkurrieren, da war er sich sicher. Berlin zappelte unruhig, während er das Bild seines Fernsehturms in die Höhe hielt. Sein Alex!! Wer könnte der Schönheit von Alex widerstehen?!? Das wäre absolute Blasphemie!! Er würde die alle sowas von über den Tisch ziehen! Ludwig beäugte die vier Sehenswürdigkeiten eindringlich. Es ging hier schließlich um einen fundamental wichtigen Schatz, den der Gewinner erhalten würde, er musste richtig urteilen, oder eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes würde über sie alle hereinbrechen. Neuschwanstein, natürlich, das war das Symbol seines Landes, seiner Geschichte, im Ausland zelebrierte er in deutschen Themenparks und Expo-Ausstellungen dieses wunderschöne Schloss. Sein Blick glitt weiter zu der Pyramide Badens, hm, ein echter Underdog in diesem Wettbewerb, aber gar nicht mal so schlecht – es gab keine andere Stadt auf der ganzen Welt, in der ein Pyramide mitten auf dem Marktplatz stand – Deutschland war einzigartig. Frankfurts Skyline symbolisierte natürlich Deutschlands Wirtschaftskraft, auf die er so stolz war, und beim Berliner Fernsehturm dachte er an einen seiner Grundwerte – die Freiheit, alles zu sagen, was man wollte, egal, wie dumm es war, und eines konnte man Ludwig glauben: er hatte in seinem langen Leben schon viel an Dummheit ertragen müssen. Nachdenklich nickte er. Zenzie blieb weiterhin siegessicher stehen. Max sah Ludwig neugierig und ungeduldig an. Karol starrte desinteressiert ein Loch in die Luft. Paul steckte sich eine Zigarette an. „Ich habe eine Entscheidung gefällt.“ Unmerklich veränderten sich die Position des vier Länder. Zenzie blinzelte kurz. Max leckte sich über die Lippen. Karol ließ seinen Blick gütigerweise zu Ludwig gleiten. Paul fing an, zu grinsen. Ludwig wartete noch einen Moment und atmete angespannt Luft ein. Das würde diesen Ländern vermutlich nicht gefallen. „Ihr seid alle vier Gewinner.“ Sofort wurde der Protest laut. Baden packte Ludwig spontan am Kragen und Berlin begann mit einer Schimpftirade; Bayern ließ ihre Handknöchel knacken und Hessen atmete beim Versuch, sich zu beruhigen, scharf Luft ein. „Man kann all diese Dinge nicht miteinander vergleichen. Sie sind alle auf ihre eigene Art wichtig für mich. Ihr könnt nicht- Baden, könntest du aufhören- nein, Berlin, ich- Bayern, verdammt- Hessen, kannst du sie nicht, oh, du-“ Diese Kinder!! Föderalismus war das schlimmste, was ihm jemals passiert war, sein großer Bruder eingeschlossen. Ludwig versuchte, sich zusammenzureißen und ging ein paar Schritte zurück. Baden holte schon ein paar alte Revolver noch von der Märzrevolution heraus und übergab sie Hessen und Berlin – Bayern schwang ihren Frankenrechen. Und dann fing Ludwig an, zu rennen, und vier Bundesländer klebten ihm an den Fersen. So wie es aussah, würde wohl keiner von ihnen das von Ludwig versprochene Kilo Kartoffeln als Preis erhalten, oder alle vier würden es ihm aus seinen toten, kalten Fingern entreißen. Auch, als die fünf schnell wegrannten, bemerkte niemand von ihnen Mecklenburg-Vorpommern. Er war die ganz Zeit dabei gewesen, das hier war schließlich sein Land. Diese netten Leutchen hatten ja keine Ahnung. Sie waren hier im größten, schönsten, weitesten Denkmal ganz Deutschlands, das man sich nur vorstellen konnte. Schlösser, Pyramiden, Hochhäuser, Türme... das war ja alles schön und gut... Fritz pflückte eine kleine Blume und roch daran. Unberührte, vom Menschen ignorierte Natur... das war das Allerbeste. Kapitel 4: 04 - Der Gipfel -------------------------- Hamburgs ausgestreckte Hand wurde erst nach einigen Momenten registriert, und Berlin reichte ihr infolgedessen auch eine Zigarette, während er die eigene lässig zwischen zwei Fingern hielt. Sorgfältig steckte die Dame sich ihre Kippe an und blies den Rauch vorsichtig neben ihrem Oberbürgermeister in die Luft des kleinen Raums hinaus. Bremen und Berlin waren angereist zu der Stadt, die in der Mitte zwischen den beiden lag (obwohl Roland natürlich weniger weit hatte reisen müssen) auf Initiative von Hamburgs und Berlins Bürgermeistern. Zur Vollständigkeit hatte man dann noch den von Bremen eingeladen, aber nicht den von Bremerhaven, weswegen Hein jetzt vor dem Raum wartete und vermutlich aufmerksam ein Buch über Sparsamkeit las, das Berlin ihm mitgebracht hatte (er hatte schließlich keine Verwendung dafür). Die drei Oberbürgermeister besprachen gerade die letzten Details ihres Antrags. Jette versuchte, aufmerksam zuzuhören, aber sie musste verhindern, dass Berlin auch Roland eine Kippe anbot. Streng sah sie die beiden an. „Nein, Bremen. Punkt.“ murmelte sie, um die Politiker nicht zu stören mit diesen themenfremden Einwürfen. Roland machte den Ansatz, seine Augen zu verdrehen – sie war nicht seine Mutter, aber es machte keinen Sinn, Hamburg das zu sagen – und lehnte sich wieder zurück in den Stuhl, ohne von Paul eine Kippe erhalten zu haben. Hamburg blickte den armen Schlucker noch kurz streng an, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Politikern zu. Man musste schließlich immer gut dabei sein, wenn man Erfolg haben wollte. Ole fragte sie etwas und sie antwortete ihm flüsternd – Hamburg wurde abgelenkt. Als die drei Männer wieder unter sich waren, wanderte ihr Blick zu Bremen, der doch noch eine Kippe von Berlin zugesteckt bekommen hatte und ausstrahlte, absolut daran gewöhnt zu sein. Ihre Augen verengten sich bedrohlich. Berlin beugte sich nach vorne und fing an, in Zimmerlautstärke zu reden. Bremen stimmte sofort mit ein. Es ging um Currywürste, und darum, wie stolz Berlin darauf war, dass sie bei ihm erfunden worden waren. Das war in Jettes Meinung natürlich eine Lüge, Berlin schien niemals „Die Entdeckung der Currywurst“ gelesen zu haben. Aber sie traute ihm auch nicht zu, viel zu lesen, zumindest keine Mathemathikbücher, sonst wüsste er vielleicht, wie man seine Finanzen managte. Und jetzt versuchte er wohl wieder einmal, ihren kleinen Roland zu verderben. Drogen (wobei sie denen durchaus nicht abgeneigt war – aber als Erwachsene durfte sie das ja auch), Lügen die Currywurst betreffend, Konzentrationsschwäche bei ernsten Gesprächen... wenn das so weiterging... Hamburg lächelte. „Vielen Dank für das Gespräch.“ Man schüttelte sich die Hände. Berlin saß, scheinbar in Gedanken versunken, noch auf seinem Stuhl und Roland schien in Gedanken beim Tanzen zu sein, Hamburg kannte diesen Gesichtsausdruck. Die Politiker standen auf und Ole übergab das Dokument einem Helfer, ehe die drei verschwunden waren, man würde sich vermutlich noch zu einem offiziellen Abendessen treffen. Jette stand auf und strich ihr Kleid glatt. Sie versuchte, wieder zu lächeln als gute Gastgeberin und bot erst Paul und dann Roland ihre Hand als Hilfe zum Aufstehen an. Berlin ignorierte (wenn sie wüsste, dass er gerade in Gedanken mit Knut schmuste, würde sie diese Unhöflichkeit sicherlich goutieren!) sie und Roland hüpfte fast schon selbstständig auf. Hamburg seufzte. Ihr Ton war neutral und versucht freundlich. „Möchte noch jemand auf ein Bierchen dableiben?“ Für Roland natürlich ein alkoholfreies. Berlin schien bei dem Wort 'Bier' aufgewacht zu sein und fing an, zu grinsen, als sein Handy klingelte. Die höfliche Gastgeberin und ihr 'junger' Wunschziehsohn warteten geduldig. Als der liebe Gott die zeit gemacht hatte, hatte er schließlich genug gemacht. Es gab keinen Grund, zu hetzen. Hamburg lächelte. „Ja- Albi- ick- nee- weeßte, ick- also, nee--- ja, machs jut, wa!“ Er legte auf und blickte die anderen beiden Stadtstaaten an. Hamburg lächelte weiter, hatte aber misstrauisch eine Augenbraue hochgezogen und Roland blickte ein wenig besorgt zur Tür. „Nee, tschuldige, wa, ick muss zu Albi zurück, wir haben wohl noch was zu besprechen.“ Hamburg lächelte. „Geht irgendwie um irgendwelche Pflanzen oder so, keene Ahnung, hab's nich' so verstanden.“ Er zündete sich noch eine Zigarette an. Hamburg lächelte. Es ging hier um eine Verfassungsänderung und Berlin wollte weg wegen irgendwelchen Pflanzen? Sie lächelte. „Also, Hein und ich müssten eigentlich auch schon gehen...“ warf Roland ein. Hamburg lächelte. Sie geleitete ihre Gäste nach draußen, auf dem Marmorboden der Stufen machte sie klack, bis sie auf einem dünnen Holzboden angelangt waren. „Bis bald!!“ Lächelnd winkte Roland ihr zu. Hein folgte seinem großen Bruder und wandte den Blick von den anderen beiden Stadtstaaten dank jahrelanger Übung gekonnt ab. „Ja dann, wa... und nich' zu viel Jeld ausjeben auf deenen Shoppingtouren, wa?“ Berlin zwinkerte ihr zu. Hamburg lächelte nicht mehr. Im Gegenteil. Sie stampfte auf, was zur Folge hatte, dass das weiche Holz unter ihr effektvoll zersplitterte. Dann ging sie einen bedrohlichen Schritt auf Berlin zu. Ihre Stimme war leise und scharf wie ein Rasiermesser. „Ich kann mir das wenigstens leisten. Komm du erst einmal aus deinem Schuldentief heraus. Hör auf, Roland Flausen in den Kopf zu setzen. Und die Currywurst habe ICH erfunden!“ Berlin ging einen Schritt zurück. Hamburg folgte ihm. Klack. „Wenn du anfangen würdest, zu sparen, könntest du auch diesem Staat etwas Gutes tun. Ja, wenn du anfangen würdest, zu arbeiten, dann wäre das ganze wohl nicht so schlimm! Du bist unsere Hauptstadt, also fang' endlich mal an, dich zu verhalten, Kleiner!!“ Das ließ Berlin sich natürlich nicht gefallen, aber um die Situation zu entschärfen, kam sein Oberbürgermeister gerade noch rechtzeitig. Viele Meter trennten sie. Hamburg hatte die Arme vor ihrer Brust verkreuzt. „Olle Schreckschraube!!“ wurde ihr durch den Meereswind hindurch zugeworfen. Ihre rote Haare flatterten im Wind wie Blut. Wenige Stunden später hatte Berlin das wieder vergessen. Hamburg nicht. Sie freute sich schon auf das nächste Geschäftsmeeting mit Berlin... oh ja, sie würde ihn fertig machen. Hamburg lächelte. Kapitel 5: 05 - Ohne Sorgen --------------------------- Die Tür krachte ein, denn Gilbert Beilschmidt trat ein, und es gab nur zwei Arten, wie Gilbert Beilschmidt einen Raum betreten konnte: durch das Dach, durch das Fenster oder durch eine durchbrochene Tür, und dieses Mal hatte es die bedauernswerte Tür getroffen. Die Sonne blinzelte durch die großen Fenster vom Schloss Sanssouci hinein. Preußen hatte gerade seinen monatlichen Besuch des Grabes vom Alten Fritz absolviert und hatte sich zu einem Bummel durch das alte Schloss entschieden. Sein kleiner Vogel war draußen auf den Bäumen vor dem Schloss und flirtete mit hübschen jungen Vogeldamen, Gilbert hörte seinen Gesang bis in den pompösen Raum herein. Das Leben schenkte dem vom Schicksal gebeutelten Gilbert einen ruhigen, angenehmen Tag. … Denkste. In einem Lehnstuhl am Fenster saß eine Frau, die Gilbert auf eine seltsame Art und Weise bekannt vorkam. Er erkannte innerhalb weniger Augenblicken, dass es sich um ein Bundesland handeln musste, genauso wie er bei anderen Nationen immer sofort erkannte, dass es sich um Nationen handelte. Aber dieses Weib hier, blonde Haare, ein Zopf mit Schleife – als wäre sie ein Teil von ihm, aber so fremd. Gilbert hatte keine Lust mehr, länger darüber nachzudenken, und stampfte direkt auf die Frau zu. Bevor er sie berühren konnte, schien sie ihn zu ahnen und drehte ruckartig ihren gesamten Körper um. „Gilbert?“ Ein erstaunter Ausruf. Scheiße, war das etwa Albrecht? Das musste Albrecht sein. Es war nicht seine Stimme, es war nicht sein Geschlecht (Gilbert war sich eigentlich recht sicher, dass er immer ein Kerl gewesen war) und Albrecht würde vor allem niemals ein Hochzeitskleid tragen, wie es diese Frau hier tat. Aber etwas sagte ihm, dass es sich um Brandenburg handelte, denn man lebte nicht Jahrhunderte mit einem Land zusammen, ohne es zu erkennen, auch, wenn es lächerlich aussah. „Albrecht? Was bist du denn für 'ne Tunte?! Und dann siehste auch noch so scheiße aus! Ehrlich ma, das sind ja mindestens dreißig Farben in deiner Fresse! Wenn-“ Mit einem lauten Klatschen war Brandenburgs starke Faust in Gilberts Wange gelandet und er stolperte zurück. WAS?! Seit wann tat Brandenburg das?! Brandenburg hatte sich ewig nicht mehr gegen ihn aufgelehnt, gegen den majestätischen Preußen! Aber er- sie- es folgte Gilbert mit einem überlegenen Grinsen auf dem Gesicht. Er blickte nicht, was hier abging. „Endlich, mein Lieber... Albrecht hat sich zu lang alles von dir und diesem Schwein Paul gefallen lassen!“ Hä, war das etwa nicht Albrecht?! Gilbert stolperte irritiert noch einen Schritt zurück und hielt sich die blutende Nase, denn der Schlag seines Gegenübers hatte dort ein paar Schäden hinterlassen. „Und wer bist du?“ fragte er die Fremde, die elegant ihr Haar über die Schulter warf, auf dass es nicht mit Blut verschmiert werden würde. „Albiline!“ Sie war stolz und schön. Aber Gilbert war noch stolzer, und natürlich noch schöner, denn er war Gilbert. Er hob seine Hände. „Komm näher und ich wisch dir die Schminke aus dem Gesicht!“ Mit seinen Fäusten natürlich. Gilbert hatte nämlich kein Problem damit, Frauen zu schlagen, solange er gewann. Nur Feiglinge wollten nicht gegen Frauen kämpfen. Da waren Funken in der Luft. Wenn das so weitergehen würde, dann die Elektrizität ausreichen, um ganz Berlin mit Strom zu versorgen. Grüne, in ihrer herablassenden Art beinahe arrogant wirkende Augen trafen auf ein eindeutig hochmütiges, rotes Gegenpaar. Bevor es jedoch zu einer ernsthaften Prügelei kommen konnte, kletterte jemand über die Überreste einer einst majestätischen Tür, die bald ersetzt werden müsste. Paula zwirbelte an ihrem Haar herum und balancierte eine Zigarette auf ihren Lippen. „Was jeht'n hier ab, habta 'n Date?“ Albiline blickte ihre Kollegin wütend an. Ein Date mit Gilbert – das war das Letzte, was sie wollte. Eher würde sie sich mit Steinen an den Füßen in einen ihrer Seen schmeißen, ehe sie sich mit diesem Vollidioten einließe. Und was Paula anging, so hatte sie auch noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen. Sie konnte sich nur nicht entscheiden, welches der anwesenden Länder zuerst ein ernsthaftes Gespräch mit ihr haben würde, ein sehr ernsthaftes Gespräch. Aber auch das wurde ihr verwehrt, denn dieser der Sonnenseite zugewandte Raum des Schlosses schien zum Versammlungsort der gesamten Nation zu werden. Auch Gilbert, der Paula angestarrt hatte, als wäre sie ein zehnäugiges Monster aus einer anderen Dimension, ließ den Blick zu dem neusten Neuankömmling schweifen und war erschüttert. Das ging hier also ab. Ludwiga kletterte gekonnt über die Überreste der Tür und packte Paula sogleich am Arm, damit sie sich weder Gilbert noch Albiline nähern konnte. Ludwiga, die hatte Gilbert schon einmal erlebt. Es war irgendein missglückter Zauberspruch gewesen... und er hatte sich tagelang um dieses ernste Mädchen kümmern müssen, brr. Privatdetektiv Beilschmidt zählte Eins und Eins zusammen. Alle waren sie zu Frauen geworden, nur er nicht. Ein richtiger Hahn im Gockel!! Ein breites, sehr breites Grinsen zierte sein Gesicht. Wenn er schon nicht die Welt erobern konnte, dann zumindest die Bundesländer! Ohne nachzudenken, schlang er einen Arm um Brandenburgs Taille und konnte sich kurz darauf über eine Beule und eine vor Wut schnaubende und kaum erkennbar rot angelaufene Albiline freuen. Ludwiga hatte schon mit solchen Verwicklungen gerechnet und seufzte. Irgendjemand hatte allen Bundesländern und ihm auf der letzten Versammlung etwas in ihre Getränke getan, denn am Morgen danach waren sie alle in vertauschten Geschlechtern aufgewacht. Unangenehm, aber nicht zu ändern. Er- Verzeihung, sie- musste sie jetzt alle einsammeln und ihnen das Gegenmittel geben, damit auch sie als Gesamtdeutschland wieder in sein richtiges Geschlecht zurückkehren konnte. Den Norden hatte sie schon fast durch, nur Mecklenburg-Vorpommern fehlte noch, und sie konnte sie partout nicht auftreiben. Dafür hatte sie hier in Potsdam gleich zwei Fliegen mit einer Klatsche geschlagen! Unauffällig ließ er eine kleine Pille in Paulas Mund verschwinden – denn Paula dachte an ihren Fernsehturm und war geistig kurz abwesend – und näherte sich dann wie ein Guerillakämpfer Brandenburg und ihrem Preußen. Nur keinen falschen Schritt. Sie wollte sicherlich nicht zurückkehren, wenn er die Selbstsicherheit, die Albiline aussandte, nicht falsch deutete. Glücklicherweise war sie damit beschäftigt, Gilbert, der absoluten Schwachsinn von sich gab, mit bösen Blicken zu bestrafen, und man konnte geradezu riechen, wie ihre Wut stieg. Es ging schnell und schmerzlos. Ludwiga hatte Albiline zu Boden gerungen und ihr die Pille in den Mund gesteckt. Ein paar Meter hinter ihr hustete Paula und Paul drückte seine Zigarette aus. Verwirrt und desorientiert blickte er sich um. Draußen piepste Gilberts Vogel erfreut und dieser grinste verstehend. Er und Ludwiga, die sich auf einen anstrengenden Tag im Süden vorbereitete – sie sah schon in Gedanken vor sich, wie Maximiliane Lulu an den Haaren ziehen würde und ein starker, riesiger, stämmiger Zenz mit seinem Frankenrechen vor ihm stehen würde und Deutschland den Eintritt nach Bayern verbieten würde – warfen sich tiefgehende Blicke zu; Gilbert warf ihm vor, die weiblichen Bundesländer wieder zurückzuverwandeln und Ludwiga warf Gilbert vor, ein Idiot zu sein, und damit wurden die beiden stehengelassen. Albrecht stand anstelle von Albiline auf und blickte irritiert von Ludwiga zu Gilbert zu Paul. Dann zuckte er mit den Schultern und begleitete Paul nach draußen. Er hatte eh noch ein wichtiges Gespräch mit ihm zu führen, die Gegend nördlich von Pankow war etwas verwildert, sie mussten darüber sprechen, und hoffentlich würde Paul einlenken und sich ein wenig darum kümmern. Wenn nicht, dann würde das Albrecht nicht wundern. Er hatte schon lange aufgehört, zu hoffen... aber eine leise weibliche Stimme in ihm wartete nur auf den Tag, an dem sie wieder ans Tageslicht würde treten können und gewissen Leuten in den Arsch würde treten können. Ein ruhiger, angenehmer Tag ging weiter, und die Frühlingssonne schickte ihre Strahlen auf die parlierenden Brandenburg und Berlin und das Grab von Friedrich dem Großen. Kapitel 6: 06 - Albrecht und seine Freunde ------------------------------------------ Man schob in Brandenburgs Verstand den Besprechungstisch zurecht. Es ging um eine recht heikle Situation. Die Sehnerven meldeten, dass Berlin drauf und dran war, zu versuchen, Brandenburg mit sich mit zu ziehen, damit sie gemeinsam an den Wannsee gehen konnten. Man war sich allerdings einig, dass man nicht zum Wannsee gehen wollte, denn so schön er auch war, hatte man dieses Buch hier noch zu Ende zu lesen, und man wollte nicht warten. Was also tun? Albrecht setzte sich als Erster und eröffnete die Besprechung. Kleine elektrische Impulse huschten umher und brachte seinen Mitbewohnern und ihm etwas zu trinken. Die Lampe auf dem Tisch illuminierte den gesamten roséfarbenen, runden Raum. Ihm gegenüber saß sein böser Zwillingsbruder Albert und die Schwester der beiden, Albiline, hatte ihre Ellenbogen zwischen den beiden Herren aufgestützt und blickte stolz zwischen ihnen umher. Albrecht räusperte sich. „Das Problem ist-“ Er wurde sofort von einer fast fauchenden Albiline unterbrochen. „Wir wissen, was das Problem ist, Dummkopf! Paul will uns schon wieder zu etwas überreden, was wir nicht wollen, und diesmal werden wir nicht nachgeben, diesmal werden ihm klipp und klar sagen, dass er nicht alles mit uns machen kann!“ Albrecht seufzte. „Nein, das können wir nicht tun, Albiline. Wir sind doch-“ „Ist doch egal!! Wir wollen jetzt dieses Buch fertig lesen, Punkt! Weißt du überhaupt, worum es geht? Es geht um Gewässer! Meinst du nicht, dass das höchst interessant ist?“ „Natürlich ist es das, Albiline. Bitte beruhige dich.“ „Ich bin ruhig.“ „Sehr gut. Was meinst du denn dazu, Albert?“ Der böse Zwillingsbruder sah gelangweilt auf. „Hm?“ fragte er nach und lächelte dann müde. „Ich bin dafür, dass wir ihm jeden Knochen einzeln brechen und seine Organe über dem Fußboden verteilen.“ Albrecht und Albiline blickten ihn kurz an, dann vertieften sie sich wieder in ihr Gespräch. Albert packte einen Impuls und verschlang ihn mit Haut und Haaren. „Wir haben zwei Möglichkeiten, uns zu entscheiden.“ sagte Albrecht. Er hatte das alles ganz logisch nachvollzogen. „Erstens: Wir sagen Nein.“ Schon wieder ergriff Albiline das Wort. „Und dabei bleibt es auch! Nein ist die einzige Option!“ Eigentlich war es höchst sinnlos, mit diesen beiden zu diskutieren. Ehrlich gesagt hatte es noch nie irgendetwas gebracht. Sie waren beide unvernünftig und ihre Meinungen waren eigentlich ziemlich unbrauchbar. Nur manchmal hörte Albrecht auf die Meinung einer der beiden. Sie waren zu stur, um erfolgreich ein Gespräch führen zu können. Aber er musste es versuchen. Er hatte schließlich noch Zeit. Einer der Impulse, die es erfolgreich an Albert vorbei geschafft hatte, teilte Albrecht mit, dass Paul noch drei Meter entfernt war. Zeit genug. „Prinzipiell stimme ich dir zu, Albiline, wir können uns nicht alles von ihm gefallen lassen. Aber du kennst Paul. Es ist sinnlos,--“ Sie hatte sich nach vorne gelehnt und Albrecht eine Ohrfeige gegeben. „Das ist es nicht!! Wir müssen nur anfangen, uns gegen ihn aufzulehnen, und dann werden wir eines Tages den Sieg davontragen!!“ „Wir könnten seine Gedärme davontragen.“ schlug Albert vor. Er wurde ignoriert. Albert war es gewöhnt, ignoriert zu werden. Es war nicht leicht, der böse Zwillingsbruder von jemandem zu sein, der so vernünftig war wie Albrecht. Schade. Er wäre lieber der böse Zwillingsbruder von Thüringen, der wurde bestimmt nicht so intensiv ignoriert wie Albert. Albrecht dachte über Albilines Vorschlag nach. Das war gar nicht schlecht. Er musste nur anfangen. Andererseits hatte er schon oft einfach Nein gesagt oder es mit Aktionen ausgedrückt, und es hatte niemals Früchte davongetragen. Er hatte über die Jahrhunderte resigniert, und vermutlich würde eine Explosion vonnöten sein, um ihn dazu zu bringen, es noch ein einziges Mal zu versuchen. Albrecht seufzte laut auf, Albiline setzte sich wieder auf ihren Stuhl und Albert nahm einen Schluck Gehirnflüssigkeit. „Wie gesagt. Zwei Möglichkeiten. Wir sagen Nein, lesen weiter und bekommen in Zukunft Probleme mit Paul, außerdem würden wir ihn enttäuschen...“ Im Hintergrund konnte das Gezeter von Albiline gehört werden, dass ihnen sowas vollkommen egal sein sollte, aber Albrecht fing einfach an, lauter zu sprechen. „... oder wir sagen Ja, verbringen einen Tag am Wannsee und können das Buch erst später fertig lesen. Lasst uns abstimmen. Wer für Nein ist, hebt bitte jetzt die Hand.“ Albilines Hand war in die Höhe geschossen wie eine Rakete und sie blickte Albrecht bedrohlich an. Er notierte eine „Eins“ auf den Notizblock vor sich. „Gut. Wer für Ja ist, hebt bitte jetzt die Hand.“ Er selbst hob seine Hand und blinzelte zu Albert, der angefangen hatte, auf den Boden zu treten. Wenn er so weitermachte, würde Brandenburg bald Kopfschmerzen haben. Also notierte er auf die andere Seite auch eine „Eins“. Gleichstand. Patt. Wie so oft. „Albert, bitte entscheide dich. Paul müsste inzwischen nur noch zwei Meter entfernt sein. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Albert musterte seine beiden Kollegen. Albrecht sah ihn ernst und etwas frustriert an. Albiline hob drohend eine Faust. Sie wollte sich endlich gegen ihren Paul auflehnen. Gegen Paul natürlich, nicht gegen „ihren“ Paul, wie lächerlich, haha, ha. Albert wollte weder Ja noch Nein sagen. Er wollte mit Bernie, dem bösen Zwillingsbruder von Thüringen, einen Hund essen. Während der Hund noch am Leben war. Er lächelte entrückt. „Wollen wir nicht einen Hund essen?“ Albiline verzog angewidert das Gesicht. Albrecht seufzte. „Überlass' das mal Thüringen, mit so etwas beschäftigen wir uns nicht. Bitte entscheide dich.“ Albert wollte sich aber nicht entscheiden! Er stampfte noch einmal mit dem Fuß auf. Albiline kannte ihren Bruder und flüsterte ihm zu, während Albrecht von einem Impuls abgelenkt war, dass ein Nein dazu führen würde, dass Paul weinen würde. Das gefiel Albert, weinende Menschen machten Spaß. „Ich bin für Nein.“ sagte er dann. Albrecht hob eine Augenbraue, schrieb auf seinen Notizblock aber eine „Zwei“. Diesen Zettel übergab er einem Impuls, der ihn an den Rest des Körpers transportieren würde. Als Paul bei Brandenburg angekommen war, nachdem er ihm schon vor vier Metern zugerufen hatte, dass sie gemeinsam an den Wannsee gehen würde, wurde ihm ein entschiedenes Nein entgegengeschmettert. Paul drehte irritiert den Kopf und fragte Albrecht ein weiteres Mal. Albiline hatte sich schon aus dem Versammlungszimmer in ihren Raum zurückgezogen, wo sie an ihrem Racheplan gegen Gilbert weiterarbeitete, und Albert war irgendwohin gelaufen, Albrecht wusste nicht, wohin, und er wollte es auch gar nicht wissen. Als die neue Frage ankam, war Albrecht allein im Raum, und er übergab dem Botenimpuls sofort eine bejahende Antwort. Paul strahlte. Er und Brandenburg breiteten ein paar Stunden später ihre Badetücher am Strand vom Wannsee aus. Albiline zeterte fürchterlich herum, Albrecht versuchte, sie zu beruhigen, und Albert schwebte in einem Traum von Massenmord, Brandschatzerei und Blut. Alles wie immer in Brandenburg. Kapitel 7: 07 - Acht -------------------- Es war eine mond- und sternenlose Nacht, aber um das Fehlen dieser Elemente wieder wett zu machen, hatte sich die Natur gedacht, dass sie es mit viel zu viel Wind wieder aufwiegen würde, und die jahrhundertealten Pappeln bogen sich gefährlich nahe an den Boden. Acht Bundesländer, oder zumindest Teile davon, huschten durch die finstere Nacht und suchten Schutz vor dem Wind, vor allem suchten sie aber Schutz vor sich selbst. Denn die Dunkelheit ließ die Dunkelheit in ihren Herzen wachsen, und diese Monster, das hatten sie sich alle geschworen, sollten niemals wieder das Tageslicht erblicken, geschweige denn das Mondlicht. Graue Wolken zogen sich zusammen und addierten zum Wind einen schweren Schauer, und Albrecht war der Erste, der zusammenbrach. Besorgt blieb Paul stehen, und untypisch nervös sah er sich um. Als Brandenburg wieder aufstand, zog er sich die Schuhe aus. „Hey Albi...“ Berlin blickte seinen alten Genossen unruhig an. „Komm, lass ma weiterlaufen, die anderen sind schon zu weit entfernt.“ „Gib mir Paolo oder ich schneide ihn dir aus deinen Rippen heraus.“ Paul wich zurück. Er konnte nichts sehen und drehte sich hastig um, um zu den anderen aufzuschließen. Albert folgte ihm. Er folgte ihm langsam und bedächtig. In ihm drin klopfte Albiline verzweifelt, um nach draußen zu gelangen, aber es war zu finster, als dass sie eine Chance hätte. Albrecht hatte sich resigniert in eine Ecke gesetzt und hoffte, dass die Nacht baldigst vorübergehen würde. Albert hatte Zeit. Er zog ein Messer aus seiner Manteltasche, aber niemand bemerkte es, denn noch immer fiel kein einziger Lichtstrahl auf die Länder. Paul hatte aufgeschlossen und war den anderen vorangelaufen. Manchmal konnte Brandenburg einem echt Angst machen. Er blickte die beiden Länder neben sich an und versuchte, ihre Gesichtszüge auszumachen. Ah, es handelte sich um Helgoland und Baden. Die beiden schienen sehr angespannt zu sein, und vor allem das gelockte Mädchen neben Berlin blickte fast schon verzweifelt zum Himmel auf, in der Hoffnung auf ein wenig Licht. Aber sie musste nicht lang auf Licht warten. Auch Baden griff in seine Manteltasche und auch er beförderte einen scharfkantigen Gegenstand zum Töten nach draußen, aber im Gegensatz zu Alberts Messer leuchtete Maxims Brennstab im Dunkeln grün auf. Es war kein gesundes, natürliches Grün, sondern ein krankes Grün, als würde die Waffe leiden, als würde, als könnte sie Schmerzen empfinden. „Wo ist Luca?“ Hilflos blickte sich Maxim um. Um ihn herum hatten sich inzwischen alle verwandelt, mit Ausnahme von Berlin. Anne zückte eine beunruhigend scharf aussehende Nagelfeile, Zenzta rammte ihren Frankenrechen in den Boden, Frieder setzte sich eine Brille auf die Nase, die das schwache Licht von Maxims Brennstab reflektierte, und Bernie fing an, laut zu kichern. Paul floh in die Sicherheit seines Verstandes zurück, und als Paolo in die Wirklichkeit trat, zog er sich die Kapuze auf. Von hinten kam Albert, der Württemberg mit sich zog. Kein einziger der Anwesenden befand sich noch im Reich der Vernunft. „So sieht man sich also wieder.“ Frieder blickte alle dunklen Bundesländer an, aber wie auch sein Bruder wurde er rigoros ignoriert und knurrte wütend. Eines nicht allzu fernen Tages würde er sie alle unterjochen. Bis dahin würde er sich damit zufrieden geben, Anne zu befummeln, die das sofort geschehen ließ und Mecklenburg-Vorpommern entzückt näher rückte. Während die beiden, passend wie die Faust auf's Auge mit ihren Vorlieben, mit sich beschäftigt waren, versammelten sich die restlichen sechs Bundesländer in einem Kreis. Luca ließ sich faul, wie er war, auf den nassen Boden sinken und hatte sofort einen anhänglichen Maxim an seiner Seite, der anfing zu fauchen, als Zenzta sich näher als einen Meter näherte. Alberts rechte Hand lag locker auf Paolos Schulter, und das Leuchten von Maxims Brennstab wurde von einem Feuerzeug unterstützt, welches eine Zigarette aufflammen ließ. Nur Bernie saß allein und verlassen in der Mitte des Kreises und lächelte die restlichen Länder freundlich und irritierend schief an. Man konnte beginnen. „So sieht man sich also wieder.“ Es war Zenzta, die sprach. Man beachtete sie. Paolo antwortete seiner Nemesis mit einem lauten Lachen, das den Boden unter ihm noch erschütterte, und Albert lächelte hocherfreut. „Diesmal wirst du sterben, Schlampe. Berlin, lass mal 'ne Kippe rüberwachsen.“ Auch als dunkle Version war Schwaben geizig. „Ungern, Luca.“ „Auf ihn, Maxim.“ Auf den Befehl hin sprang Baden auf und während seine durchnässten Haare im Wind flatterten, stürzte er sich auf Berlin wie ein wildes Tier. Paolo jedoch würde sich nicht von seinen geliebten Zigaretten trennen. Nach einem Kampf, der mit allen Mitteln ausgetragen wurde und der ein Grinsen von Albert mit sich zog, kehrte Maxim ruhig und mit eingezogenem Kopf zu Schwaben zurück. Er hatte keine Zigarette erobern können. Stattdessen blutete er aus verschiedenen Wunden, die seinen ganzen Körper übersäten, und Paolo rieb sich den linken Arm, an dem ein Schnitt bis zum Knochen durchgedrungen war und noch immer ein Restleuchten verblieb. Streng und missvergnügt blickte Schwaben Baden an, der daraufhin anfing, zu weinen, und unterwürfig um Vergebung bettelte. Bernie wandte bei so viel hundeähnlichem Verhalten entrückt den Kopf in Richtung von Maxim und krabbelte sabbernd auf ihn zu. Niemand kümmerte sich darum. Albert lachte wieder, als er Paolos Blut betrachtete, das auf seinen Unterarm gespritzt war. Zenzta überkreuzte arrogant die Arme vor ihrer Brust. „Ihr Wichser, lasst mich in Ruhe. Ich hab' noch eine Rechnung mit diesem scheiß Arschloch von Papst offen, und niemand weiß, wie lang diese gottverdammte Nacht noch dauert.“ Träge und wütend blickte Schwaben sie an. Er brauchte 'ne Kippe. „Du verlässt diesen Regen nicht lebend.“ „Und was willst du tun, dein Schoßhündchen auf mich hetzen?! Ich mach mir vor Angst in die Hose!“ Maxim war gerade damit beschäftigt, an Lucas Bein zu hängen. Bernie war damit beschäftigt, Maxim weiterhin begierig anzusehen, aber das kümmerte diesen nicht. Alles war egal außer sein Württemberg. Albert lachte sich halb tot. Das war wundervoll. Besser konnte es gar nicht kommen. Hoffentlich würde er noch viel mehr Blut und Gedärme sehen. Wenn nicht, dann konnte er ja nachhelfen mit seinem kleinen Neuruppin in seiner Hand. Paolo rieb fluchend seinen Arm und warf erboste Blicke hin zum Süden Deutschlands. Aber seine schlechte Laune blieb nicht lang bestehen, denn Albert flüsterte ihm etwas ins Ohr, was ihn schief grinsen ließ, und von hinten näherte er sich Zenzta. Leider war Paolo zu laut – oder er war einfach zu dumm, um sich erfolgreich anzuschleichen – und ein wütender Rechenhieb fuhr ihm mitten durch's Gesicht, sodass sich seine Haut abschälte und er die Hände aufjaulend auf sein Gesicht schlug. Das Jaulen weckte Bernies Aufmerksamkeit und er ließ von Baden ab, um sich Berlin zu nähern, und sein Sabbern wurde noch intensiver. Zenzta war abgelenkt, Luca sah seine Chance und er schickte sein Schoßhündchen, wie spöttisch von der Bayerin erwähnt, auf eben diese Bayerin los, und Maxim war froh, sein Malheur von eben wieder gut machen zu können. Albert näherte sich mit Neuruppin dem Kampf. Das war sehr schön. Er freute sich, grinste breit und hob sein Messer, denn er wollte auch bei diesem Spaß mitmachen. Paolo versuchte, Bernie abzuwehren, und war erfolgreich, aber danach wurde auch er in den kleinen Kampf zwischen Bayern, Baden und Brandenburg verwickelt. Stunden später ging die Sonne auf und schickte ihre hellen Strahlen auf das weite Feld. Acht Bundesländer lagen erschöpft und verletzt auf vom Regen durchnässten Boden. Anna war die erste, die die Augen aufschlug, und mit einem kleinen panischen Schrei zog sie ihre Kleidung wieder an und rannte fort. Fritz rieb sich irritiert die Schläfen und wankte in Richtung Straße davon. Albrecht schlüpfte in seine Schuhe und half Paul mit dem Versprechen, sich um seinen Arm zu kümmern, auf die Beine. Auch Lukas stand auf, schien alles vergessen zu haben und machte sich auf den Weg zur Straße, um per Anhalter nach Hause zu kommen. Maximilian ekelte sich vor sich selbst und versuchte, sich mit dem zurückgebliebenen Regen auf dem Rasen zu säubern, ehe er ebenfalls hastig davonrannte. Zenzie sagte einige Ave Marias für ihre Gotteslästerungen auf. Bernd wunderte sich über all das Blut auf dem Boden. Kapitel 8: 08 - Gewinnen und Verlieren -------------------------------------- Jegliche Fehler im Französischen schiebe ich einzig und allein darauf, dass Max nicht perfekt französisch spricht. Jawoll. Ich bin ja nur im Französisch-LK. Hahaha. Haha. … Traurig, das. - „Général Bonaparte!“ Der untersetzte Mann mit den schwarzen Locken drehte sich um. Er stand im Kommandozelt mit seinem Schwager Murat und man beriet gerade, was man nach dem Sieg in der Schlacht von Ulm gegen Österreich zu tun gedachte. Zwei Männer mit längeren blonden Haaren und den Uniformen von Befehlshabern kamen hineingehastet. „Quoi?“ fragte Napoleon die beiden. Ein unsicherer Blick wurde ausgetauscht, dann räusperte sich der lange, schlaksige der beiden. Napoleon fragte sich, ob er nicht Monsieur Bonnefois rufen sollte, schließlich schien es hier um Länderdinge zu gehen. Aber Baden und Württemberg waren freiwillig zu ihm gekommen, scheinbar hatten sie etwas mit ihm persönlich zu bereden, und Napoleon wollte es sich nicht mit seinen beiden deutschen Allierten verscherzen. Er richtete sich auf. „M-merci beaucoup pour, eh, gagner cette bataille.“ „De rien.“ erwiderte Napoleon mit einem leicht amüsierten Nicken. „Nous, nous avons nous, eh, demander ce qu'il serait possible de, eh, d'aller à Bayern pour la... pour la... Lukas, was heißt 'befreien' auf franzeesisch?“ „Frag mir nitt...“ „Pour la... pour la... pour l'aider. Oui? Ca, ca serait possible?“ Erneut nickte Napoleon amüsiert mit dem Kopf. Das hatte er eh schon vorgehabt. Gerade eben, vor einigen wenigen Minuten, hatten er und Murat das Thema angeschnitten, wie sie am besten nach München gelangten. „Bien sur.“ Die beiden Länder vor ihm strahlten. Baden verbeugte sich tief, und als Württemberg weiterhin strahlte, statt sich zu verbeugen, stieß er ihn mit einem Ellbogen an, sodass auch Württemberg sich hastig verbeugte. Als die beiden Länder zu zweit aus dem Zelt hinausliefen, seufzte Max auf. „Oh Mann, mei Franzeesisch war echt dabbich... da tu ich echt noch mehr dran arbeite müsse...“ (1) Lukas lächelte nur. „Immer noch besser als des von mir.“ Das brachte Max zum Schmunzeln. „Isch ja au nich viel dabei, gell?“ Beide fingen an, zu lachen. Der Stress der vorangegangenen Stunden, der Schmerz von einigen gefallenen Kindern, war vorüber, sie waren befreit und froh, die Schlacht gewonnen zu haben. Endlich setzte jemand ein Gegengewicht gegen Preußens und Österreichs Übermächte, und die beiden waren sicher, dass sie Bonaparte auf dem Sieg helfen würden. Aber jetzt mussten sie erst Zenzie aus den Griffeln der Österreicher befreien, und dafür kehrten sie zurück zu ihren jeweiligen Bataillonen, um die Moral der Truppen wieder zu steigern für den langen Marsch nach München. - Die Österreicher waren schon längst geflohen, und als Baden und Württemberg auf ihren Rössern in die Stadt einritten, direkt hinter Frankreich, jubelten die bayrischen Bewohner. Zenzie wartete auf dem Marienplatz – damals einfach noch schnöde Marktplatz genannt – auf ihre Befreier und schwang breit grinsend ihren Frankenrechen. Mit einem fröhlichen „Mei, endlich seids da! “ begrüßte sie ihre Bündnispartner; jetzt konnte sie endlich aufrecht zu dem Bündnis stehen, das sie mit Frankreich schon vor Monaten geschlossen hatte. Bonnefois küsste ihre Hand; Zenzie war nicht amüsiert und zog ihre Hand fort, aber wenig konnte ihre gute Laune trüben. Abends saß man zu dritt in einem Wirtshaus, und die Lautstärke der Feiernden machte es fast unmöglich, normale Gespräche zu führen. Es war das erste und einzige Mal, dass Baden ein Bier von Bayern trank, und nach diesem Abend beschloss er, dieses Teufelsgebräu nie wieder anzufassen und bei seinem Wein zu bleiben. „Was duadsn jetzad?“ (2) wollte Zenzie wissen. Württemberg sprach leise, und Baden neben ihm war aufgeregt und rutschte auf seinem Stuhl herum. „Bonapartes Plan isch faschd unschlagbar. Mir dabbe nach Austerlitz und dann-“ „Dann tumer einen einnen Bund kriegge!“ (3) fiel ihm Baden ins Wort. „An aogan Bund?“ wiederholte Zenzie ungläubig. Baden und Württemberg nickten, beide begeistert davon. „Mer werde aus dem bleede Heiligen Reemischen Reich daitscher Nation ausdrede kenne! Awa mer kriege kai Verfassung!“ (4) „Nee.“ Schwaben schüttelte negierend den Kopf. „Mir wella koi Verfassung zemma, gell?“ Baden schüttelte ebenfalls seinen Kopf. „Kai Verfassung zämme, nee!“ (5) Bayern nickte, sie stimmte zu; so glücklich sie auch war, der Besetzung von den blöden Ösis entkommen zu sein, eine gemeinsame Verfassung mit diesen zwei, na sagen wir's mal freundlich, Idioten war echt nicht nötig. „A na. Koa gmeinsame Verfassung ned.“ wiederholte sie die Worte ihrer beiden Kollegen, und der Kellner brachte noch einmal eine Runde Paulaner auf's Haus. - Ein Jahr später, im Juli des Jahres 1806, traf man sich wieder. Gerade war die Rheinbundakte unterzeichnet worden; Bayern und Württemberg waren zu Königreichen erhoben worden, Baden war nun immerhin ein Großherzogtum, aber gerade für Maximilian gab es keinen Grund zur Klage. Die ständigen Wiederholungen im Vertrag von der Souveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten machten ihn sehr glücklich. Nachdem die Vertreter der anderen Rheinbundmitglieder abgereist waren, blieben Baden, Württemberg und Bayern noch etwas länger und saßen zu dritt am Ufer einer Rheinaue. Zenzie hatte ihr Dirndl hochgehoben, sodass ihre Knöchel sichtbar waren, und die beiden Männer hatten ihre Hosen hochgeschlagen, sodass alle drei die Füße im Wasser baumeln lassen konnten. Die Sonne ging unter, und man beriet sich über den soeben abgeschlossenen Vertrag. Baden und Württemberg waren absolut begeistert und konnten gar nicht aufhören, von der ganzen Chose zu schwärmen. Bayern war etwas flau im Magen. Was, wenn Bonaparte sich irrte, oder noch schlimmer, was, wenn er verlieren sollte? Dann wäre der Protektor ihres kleinen Bundes hinüber, und der Rest der deutschen Länder würden ihnen drei nicht gerade mit Wohlwollen entgegentreten nach diesem Verrat. „Aich 'n Schliggle, aldes Mädle?“ (6) Max bot Zenzie seine Flasche an, die schon einmal die Runde gemacht hatte. Mit einem Schulterzucken nahm sie an und sah vor ihrem sehnsüchtigen inneren Auge ein zünftiges Weißbier. „Gugg nitt so traurig.“ bot Schwaben ihr noch als Trost an, aber Zenzie wunk ab. - Die Leuten wollten nicht mehr. Zenzie wusste, dass es so weit war. Sie trat aus dem Bund aus. Sie hatte keine Angst vor Frankreich und seiner Grande Armée. Aber sie fürchtete, Baden und Württemberg ins Gesicht sehen zu müssen. - „Was tusch du?!“ Die Völkerschlacht bei Leipzig war im vollen Gange. Noch war der Kampf nicht verloren, noch schien ein wenig Hoffnung am Horizont. Baden zog seine Waffe aus einem leblosen preußischen Körper und blickte entsetzt hinüber zu Württemberg. Sie konnten beide spüren, wie große Teile der schwäbischen Truppen zu den Allierten überliefen. Das halb angetrocknete Blut auf Max' Wangen wurde von Tränenspuren verschmiert. „Ich heb g'denkt, mer ziehn des zämme durch!!“ (7) schrie er über den Schlachtenlärm. Württemberg wandte das Gesicht ab. „Mhm.“ Er zuckte mit den Schultern und wehrte einen Österreicher ab. „Isch heb dir verdraud!!“ (8) - Auch für Baden kam die Zeit der Resignation. Nach Bayern schlossen er, Württemberg und die anderen Rheinbundstaaten einen Vertrag mit Österreich ab und ließen das unterlegene Frankreich im Stich. An dem Abend, an dem er den Vertrag gegen Frankreich unterschrieb, betrank sich Max soweit, dass er am nächsten Morgen bewusstlos aus dem Rhein gefischt werden musste. - Erst viele, viele Jahre später trafen sich Baden, Bayern und Württemberg wieder zu dritt in Persona. Der deutsch-französische Krieg von 1870 stand kurz bevor. Dieses Mal würde man nicht auf der Seite von Napoleon kämpfen. Diesmal würde man an der Seite Preußens stehen. Die drei diskutierten, schwadronierten, redeten, aber sie wussten schon im Voraus, dass sie zu Deutschland gehören wollten. Am Ende brachte ihnen ein Kellner einen schwäbischen Wein. Zenzie kostete und ließ das Getränk danach stehen. Maximilian, der die ganze Zeit schon nicht ein einziges Wort mit Lukas ausgetauscht hatte, probierte erst gar nicht. Lukas starrte nur trübselig an die Wand. Gesamtdeutschland hatte viel gewonnen, aber Süddeutschland hatte noch mehr verloren. --- (1) - Oh Mann, mein Französisch war echt schlecht... dadran muss ich echt noch mehr arbeiten. (2) - Was tut ihr jetzt? (3) - Bonapartes Plan ist fast unschlagbar. Wir gehen nach Austerlitz und dann - dann kriegen wir einen eigenen Bund. (4) - Wir werden aus dem blöden Heiligen Römischen Reich deutscher Nation austreten können! Aber wir kriegen keine Verfassung! (5) - Nein. Wir wollen keine Verfassung zusammen, stimmt's? - Keine Verfassung zusammen, nein! (6) - Auch einen Schluck, altes Mädchen? (7) - Was tust du? Ich habe gedacht, wir ziehen das zusammen durch! (8) - Ich habe dir vertraut! Kapitel 9: 09 - Zuhause ----------------------- Es war kalt, kalt, so kalt, so furchtbar kalt. Gilbert war ganz allein in einem dunklen Raum auf einem kleinen Holzstuhl. Er wusste nicht, wie er hier hingekommen war; er erinnerte sich nur noch, wie er in einer Bar gesessen hatte, Bier getrunken hatte und irgendwann hier aufgewacht war. In einer Ecke konnte man ein stetiges Tropfen hören, und kleine Ratten huschten quiekend über den Boden. Was sollte der Scheiß hier?! Gilbert versuchte, sich zu befreien, aber die Fesseln waren eng und schnitten tief in seine Handgelenke. Eine alte, rostige Tür öffnete sich mit einem Knarren. Gilberts Kopf schwang herum, jedoch konnte er nicht viel sehen, bis die mysteriöse Person eine kleine Glühbirne an der Decke einschaltete. „Ey du Arsch, lass mich gefälligst hier raus!!“ warf er dem eben eingetretenen Menschen zu. Er konnte diesen Menschen nicht wirklich identifizieren. Es war jedenfalls Brandenburg, daran bestand kein Zweifel. Mal meinte Gilbert, den ihm bekannten Albrecht erkennen zu können, mal wirkte die Person eher wie die süße weibliche Brandenburg in einem Brautkleid, und mal verdunkelte sich der Ausdruck auf Brandenburgs Gesicht auf eine ganz groteske Art und Weise. Dieses Spiel ging noch ein paar Momente weiter, bis Gilbert vollständig verwirrt war und eines der drei Gesichter die Oberhand gewann. Zu Gilberts Pech handelte es sich dabei um Albert, aber das wusste er noch nicht – weder, dass es sich um Albert handelte, noch dass es sein Pech war. Vor dem winzigen Fenster hoch in der Decke konnte man einen Sturmwind erahnen. Albert nahm ein Messer heraus und kratzte damit, den Rücken Gilbert zugewandt, ein paar Symbole in die Holzwand. „Brandenburg, was soll der Scheiß?!“ wollte Gilbert wissen. Langsam, wie in Zeitlupe, drehte Albert sich um. Er lächelte. Gilbert lächelte. Beide lächelten nicht freundlich. „Kommt dir dieser Ort nicht bekannt vor?“ Träge wie ein altes, schwer ablösbares Kaugummi näherte sich Albert Gilbert. Hektisch sah Preußen sich um, schüttelte aber dann ebenso hektisch den Kopf. „Lass mich einfach gehen, Arschloch!“ befahl er, aber Albert befolgte keine Befehle, sondern blieb lieber direkt vor Gilbert stehen. Sein Messer Neuruppin streichelte zärtlich Gilberts Wange; Gilbert schnappte mit den Zähnen danach und durch die plötzliche Bewegung zierte ein langer Schnitt seine helle Wange und das Blut tröpfelte auf die weiße Haut, als wäre es eine heilige Zeremonie. „Erinnerst du dich an Carl, Gilbo?“ Preußen zuckte mit den Schultern. Carl, Hans, Heini – er hatte in seinem langen Leben schon zu viele Menschen gesehen, als dass er sich an sie würde erinnern können. Albert schien das zu ahnen. „Carl Großmann.“ Er lachte leise auf und auf Gilberts Unterarmen breitete sich eine Gänsehaut aus. Das Tropfen aus der Ecke schien immer schneller und rythmischer zu werden. Etwas klingelte in Gilberts Verstand, naja, zumindest dem Ding in seinem Kopf, was er großzügigerweise „Verstand“ nannte. Carl Großmann. Der Serienmörder aus Neuruppin, der nach Berlin emigriert war und seine Kinder getötet hatte, sodass Gilbert himself sich auf seine Spur begeben hatte. Aber das war schon lange her. Warum sprach Brandenburg davon? Überhaupt, was war denn mit Brandenburg los? Warum verwandelte sich ausgerechnet immer Brandenburg in diese Monster – erst eine zickige Tussi und jetzt dieser komische Messerfetischist? Sollte der sich doch ein Zimmer nehmen mit seinem Messer ey. Er zuckte mit den Schultern; dem Feind bloß keine Angriffsfläche bieten, nicht spüren lassen, dass ihn die Erwähnung des Mörders an die schreckliche Zeit damals erinnerte. „Wer soll'n das sein? Kenn' ich nicht.“ „Ich glaube, du weißt genau, von wem ich rede.“ Wieder streichelte das Messer Gilberts Wange, diesmal die andere, und diesmal hatte Gilbert dazugelernt. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, erneut zuzuschnappen, denn egal wie, er musste sich wehren. Und so zierten seine beiden Wangen tiefe, blutende Schnitte. „Halt doch deine Fresse, Spasti!“ Albert seufzte. Sein Kopf zuckte zur Seite und einen Moment später war da Albiline statt Albert. Unruhig sah sie sich um, dann fiel ihr Blick auf Gilbert. „Fuck, Gilbert, du musst hier raus! Er ist auf dein Blut aus, der Mistkerl!“ Sie kniete sich nieder und fummelte hektisch an seinen Fesseln herum. Gilbert wunderte sich. Hasste die brandenburgische Schnepfe ihn nicht? Warum half sie ihm denn jetzt? Gilbert war nicht so gut in Empathie, und das war eine Untertreibung, daher fragte er einfach. „Was hilfst du mir denn, Schätzchen?“ Sie stöhnte höchst genervt auf und ihr Kopf fuhr mit einem lauten Fauchen auf. „Nenn mich nicht 'Schätzchen'!! Ich bin die einzige, die dich verletzen darf, Albert hat da-“ Aber es war eine schlechte Idee, mit Gilbert zu reden, denn Albert hatte die Kontrolle über den Körper zurückerlangt und stolperte erst einmal zurück, ehe er wieder Neuruppin in seiner Hand spüren konnte. Dann lachte er. „Zurück zum Thema, Gilbert. Carl war mein Protegé. Du hast ihn damals gefunden. Das war nicht sehr nett von dir.“ Neuruppin glänzte im Schein des kleinen Feuerzeugs, das Brandenburg in seiner freien Hand hielt und gerade angemacht hatte, dann wieder ausmachte, wieder anmachte und dieses Spiel immer wieder wiederholte. Gilbert spuckte Brandenburg an, als er wieder näherkam. Albert ignorierte das vollkommen. „Und was willste jetzt mit mir machen, hm? Aufschlitzen und verbrennen?! Lächerlich, Kleiner! Trau dich nur, hopp, komm!!“ Albert schmunzelte vergnügt. „Das ist doch Unsinn, Gilbert.“ sagte er. Sein Messer befand sich wieder gefährlich nah an Gilberts Körper. Die Fesseln waren etwas gelöst dank Albilines Hilfe, und Gilbert war endlich fähig, seine Hände zu befreien und Albert eine Faust mitten in das Gesicht zu rammen. Er grinste breit. „Endlich hältst du deine Fresse!“ rief er Albert wenige Milimeter von seinen Wangen entfernt zu. Er holte zu einem erneuten Schlag aus, wurde aber von Neuruppin aufgehalten, das sich tief in seine Haut grub und ein Stückchen Fleisch mit hinausbrach, als Albert – noch immer die Ruhe selbst – es wieder hinauszog. Er hatte sogar angefangen, ein wenig zu summen. Es war ein sehr unangenehmes, grässlich verzerrt klingendes Lied. Gilbert hob die unverletzte Hand und konnte wieder einen Treffer landen; die beiden fielen unsanft zu Boden, Albert befand sich unter Gilbert und aus der Nase von Brandenburg spritzte etwas Blut, als Gilberts harte Faust sie traf. Das schien den Wahnsinnigen nur noch mehr zu amüsieren. Er rammte Neuruppin in Gilberts Schulter, woraufhin dieser ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen zu hören ließ, aber gar nicht daran dachte, aufzuhören, sondern immer weiter auf Albert einschlug. Bis Albert nicht mehr summte, sondern leise pfiff. Das Tropfen aus der Ecke hörte urplötzlich auf. Etwas schlappte über den Boden in ihre Richtung. Seinem Instinkt folgend sprang Gilbert auf und auch Albert stand schwerfällig wieder auf. Die schwache Glühbirne hatte angefangen zu flackern, aber ihr Schein war noch stetig genug, um rote Haare und eine kleine, kränkelnde Topfpflanze zu erhellen. Scheiße. Nicht Bernie. Nicht Bernie, das Monster. Das war das Tropfen. Kein Wasser. Sondern Speichel. Und auch jetzt zog dieses Wesen, mehr Tier denn Mensch, eine Sabberspur hinter sich her. Aber Gilbert Beilschmidt war niemand, der Angst hatte vor so einem kleinen, mutierten Viech. Er trat nach Bernie. Bernie schien das nichts auszumachen. Albert näherte sich Gilbert von hinten an und zog zwei süße kleine Puschelöhrchen aus seinen Hosentaschen, die er Gilbert auf den Kopf setzte. Bernies Augen fingen an zu leuchten. Albert entfernte sich vorsichtig wieder und berührte die Spitze von Neuruppin sanft mit seinem Zeigefinger. Eine dickflüssige Blutspur sickerte vom Finger über seine Hand und mit aufblitzenden Augen blickte er die rote Flüssigkeit an, als hätte er Öl gefunden. Das machte Spaß. Das könnte er den ganzen Tag machen. Die Tür wurde aufgerissen und helles Licht fiel hinein in den kleinen Raum. Die donnernde Stimme von Ludwig erstickte alle anderen Geräusche. „SCHLUSS, SOFORT!!“ brüllte er und hatte damit die Aufmerksamkeit aller anwesenden Personen sicher. Bernie winselte leise, aber das hörte man nicht sehr gut, denn er hatte seine Zähne im saftigen Fleisch von Gilberts Arm vergraben und versuchte, ein bisschen Muskel daraus herauszuziehen. Mjam. Lecker Muskel. Er blieb allerdings erfolglos. Albert ging mit offenen Armen auf Deutschland zu und umarmte ihn. Neuruppin grub sich tief in Ludwigs rechtes Schulterblatt. „Wie schön, dich zu sehen! Bist du hier, um mit deinem Bruder zu sterben? Rührend. Rührend, nicht wahr, Bernie?!“ Bernie gab ein undeutliches Geräusch von sich und wurde von Gilbert geschlagen, hielt aber weiter am Arm fest. „Scheiße, Westen!!“ Gilbert bemerkte gar nicht mehr, dass Bernie ihn für einen Hund hielt und versuchte, ihn aufzufressen, sondern er bemerkte nur noch das Blut, das aus Ludwigs Schulter spritzte. Aber Deutschland hatte schon Schlimmeres durchgemacht. Viel, viel Schlimmeres. Er nahm Alberts Arm und verdrehte ihn, bis der Knochen ein lautes Knacken von sich gab. Bernie winselte wieder und hielt sich reflexartig die Ohren zu – die Chance für Gilbert, ihm richtig auf die Fresse zu geben und ihn von sich loszerren zu können. Er sprang auf zu Albert und Ludwig und packte das verfluchte Messer. Hinter Deutschland tauchten alle anderen Bundesländer und Teile von Bundesländern auf. Alle waren gekommen. Man hatte Preußen zu retten. Selbst Süddeutschland war vollständig erschienen, selbst das kleine Saarland, selbst Thüringen, selbst Hessen. Alle waren da. Ludwigs Blick war streng. „Brandenburg, du musst lernen, dich zusammenzureißen.“ Brandenburgs Lächeln war noch immer schief. Er hatte zwar Neuruppin verloren, aber mit einer einzigen Bewegung kniete er sich nach unten und ließ das alte, morsche Holz mit dem Feuerzeug in seiner gesunden Hand anbrennen. Sofort ging die Hütte in Flammen auf, Albert versteckte sich im Verstand von Brandenburg und zum Vorschein kam Albiline. Sie verzog ihr Gesicht und blickte Gilbert schuldbewusst an, aber der bemerkte das gar nicht, denn er und Ludwig waren damit beschäftigt, Thüringen hochzuheben, der das Bewusstsein verloren hatte und ihn aus dem Flammeninferno hinauszuschaffen. Wenige Meter außerhalb der Hütte brach man zusammen. Albiline saß ein paar Meter von Gilbert entfernt, dessen Wangen gerade von seinem jüngeren Bruder desinfiziert wurden. Sie nuschelte etwas Unverständliches, was sich verdächtig nach einer Entschuldigung anhörte. Gilbert blickte kurz zu ihr hinüber, und sie floh, sodass endlich Albrecht wieder die Kontrolle über seinen Körper zurückerlangen konnte. Er hielt sich den Kopf, als hätte er Kopfweh. Bernd tätschelte das Blatt auf seinem Kopf, das angefangen hatte, traurig zu welken. „Ey, Blödi.“ Albrecht schaute auf zu Gilbert, der ein wenig grinste. „Lass den Spinner nie mehr raus.“ „Ich versuche es...“ „Ok, dann ist gut!“ Gilbert wandte sich ab und ging mit Ludwig und den restlichen Bundesländern in Richtung Sonnenaufgang hinfort. Nur Hessen und Berlin warfen Brandenburg und Thüringen noch einen kurzen Blick zu, aber auch sie wurden schnell vom aufkommenden gleißenden Sonnenlicht verschluckt. Albrecht sah Bernd an. „Tschuldige, dass er dich da mitreingezogen hat...“ Bernd erwiderte den Blick böse, wunk dann aber ab. Er stand auf und wankte davon. Alles tat ihm weh. Albrecht blieb allein sitzen. Hier war er nicht zuhause. Hier war Albert zuhause. Albilines Zuhause war mit seinem jüngeren Bruder fortgegangen. Aber Albrecht, Albrecht wollte nach Hause. Kapitel 10: 10 - Love is in the Air ----------------------------------- Ich hoffe, dafür tötet mich niemand... ich bin noch nicht bereit, zu sterben, Leute. Bitte haltet euch zurück. D: ----- „Es geht nicht.“ Ein Schlag mitten in sein Gesicht. Die Zeit hörte auf, fortzuschreiten und ein dichter Schleier legte sich über Berlins gesamtes Gesicht. Die Zigarette in seinem Mund brannte immer und immer weiter, aber er bemerkte sie nicht einmal mehr. Ein leises, verzweifeltes Lachen entwich seinen Lippen. „Wie, dit jeht nich'? Verarschste mir, Albi?“ Mit zusammengepressten Lippen schüttelte Albrecht den Kopf. Die beiden saßen an einem See, mit einem kleinen Zelt hinter ihnen und zwei Pferden – von Niedersachsen ausgeliehen – die ruhig auf die unendlich weite Seenlandschafts Brandenburgs hinwegblickten mit tiefbraunen, dunklen Augen. Brandenburg schüttelte mit dem Kopf und wandte den Kopf von Berlin ab. „Wir müssen damit aufhören. Es ist nicht gesund. Nicht normal. Wir beide können nicht wieder... zusammen... es wäre falsch.“ Paul nahm einen tiefen Zug von der Zigarette, dann schmiss er sie in das Grau der sie umgebenden Steine auf dem Uferstrand. Albrecht redete, er redete immer weiter, und Paul wünschte, er würde einfach aufhören mit diesen schrecklichen Worten. „Ich wünschte, ich wüsste, wie ich dich verlassen kann...“ - Das Meer erstreckte sich geradezu endlos unter ihnen, und der frische Wind ließ grünlich-weiße Haare flattern, dass sie Bremerhaven in der Nase kitzelten. Bremen hatte die Arme weit ausgestreckt und atmete die salzige Meeresluft tief in seine Lungen ein, während sein jüngerer, aber weitaus größerer Bruder hinter ihm stand. Ihre Klamotten wurden vom Wind aufgebauscht und es sah aus, als wären die beiden miteinander verschmolzen. Der Hut von Roland blieb fest auf seinem Kopf sitzen wie eine Krone, so als wäre er der König der Welt. Die Brüder lächelten selig. - Die Musik in ihren Köpfen verebbte, und als Niedersachsen Nordrhein-Westfalen in den Armen hielt, schien auch noch der Mond vor dem Fenster der Suite zu singen. Mit leuchtenden Augen blickten sich die beiden an, und Hans nahm seinen Hut ab, um Georg noch tiefer in die Augen blicken zu können. Sanft strich Georg mit dem Daumen über Hans' rechte Wange und wischte dabei feine Rußpartikel von der durch all die Arbeit untertage rau gewordenen Haut ab. Keiner der beiden lächelte, aber Hans' Mundwinkel kräuselten sich leicht nach oben. Das Licht ging aus, die Vorhänge fielen und samtweiche, rote Kissen warteten darauf, in Unordnung gebracht zu werden. - Die Maschine neben ihnen war kurz davor, abzuheben. Die Motoren des Privatjets röhrten und erstickten alles, aber die beiden Personen auf dem Flugplatz ließen sich davon nicht stören. Gerade eben noch hatte Württemberg gedacht, dass Baden für immer verschwinden würde, dass er sich endgültig von ihm abspalten würde, wie er es immer vorausgesagt hatte, dass er einfach so verschwunden sein würde. Und jetzt lief der Blonde auf ihn zu; es sah fast so aus, als würde er weinen, und warf sich ihm in die Arme. „Ich mag nicht auf dich verzichten!“ schluchzte er ihm direkt in das Ohr und Lukas wusste nicht so Recht, was er tun sollte, außer, Max unsicher, aber tröstend über den Rücken zu streichen. „Und das werd ich auch nicht tun!“ Die Stimme war fast von Emotionen verschluckt, aber durch die Nähe war sie klar hörbar. - Ein nervöser Blick zeigte sich auf seinem Gesicht, während Schleswig-Holstein auf der Bühne hinüber zu Mecklenburg-Vorpommern schaute. Der Raum war riesig, und vor allem: der Raum war voll, mindestens tausend Leute schienen vor der Bühne Platz gefunden zu haben; das warme Licht tauchte alle in eine weihnachtliche Stimmung, und nervös spielte Otto mit den Schlagzeugsticks in seiner Hand herum. Er konnte kein Schlagzeug spielen. Aber er musste Fritz beeindrucken! Der sah gerade nicht aus, als könne er von irgendjemandem beeindruckt werden. Die drei Fliegen summten fröhlich um seinen Kopf herum und brachten ihn andauernd aus dem Takt bei seinem Versuch, ein Weihnachtslied zu singen. „Wie war das... eins, zwei, eins, zwei...“ wiederholte er für sich selbst, war aber nicht fähig, diese komplizierten Gedanken in die Tat umzusetzen, und summte etwas Undefinierbares in das Mikrofon hinein. - Mit großen Augen klebte Thüringen an den Schaufenstern der Geschäfte, die die High Society der Stadt einkleideten. Gucci, Chanel, Louis Vitton... und dann noch diese Klamotten, die sie alle anzubieten hatten...! Das war fast noch besser als Briefmarken zu sammeln! Hinter ihm führte eine Dame mit großer Sonnenbrille einen Chihuahua spazieren, aber Bernd bemerkte den Hund gar nicht. Im Gegensatz dazu bemerkte er sehr wohl, wie sich im Glas des Fensters eine Gestalt spiegelte, die er nur allzu gut kannte. Hessen strich sich über die Haare und warf Bernd so etwas ähnliches wie ein Lächeln zu. Auch Bernd fing an, ein wenig zu lächeln, nur so wenig, dass das Blatt auf seinem Kopf ein wenig in die Luft flog vor Freude – würde er strahlen, wäre das Blatt schon nicht mehr in Reichweite. --- „CUT, CUT, CUT!“ Gilbert Beilschmidt, berühmter preußischer Regisseur, fasste sich an den Kopf. So ging das einfach nicht. Diese Schauspieler waren allesamt Dilettanten! Wie sollte er jemals diese Kurzfilmreihe fertigstellen, wenn sie sich anstellten, als wollten sie diese Szenen in Wirklichkeit gar nicht drehen?! Das war nicht auszuhalten für einen künstlerisch veranlagten Menschen wie Preußen. Er hatte Ungarn doch diesen Film versprochen, schließlich wollte er, dass sie aufhörte, ihn jeden Sonntag besuchen zu kommen und ihm vorzuschwärmen, wie „uuuunglaublich süß“ und „voll goldig“ seine Untergebenen in schwulen Schwuchtelbeziehungen doch wären. Da war der Deal, dass sie zuhause bleiben würde, wenn sie dieses Material erhalten würde; er musste das hier fertig kriegen. Aber selbst mit der besten Vorlage konnte bei diesen Schauspielern nichts Gescheites rauskommen. Natürlich hatte Gilbert all diese herzzereißenden Szenen selbst geschrieben, gar keine Frage; eventuell hatte er sich ein wenig inspirieren lassen. Paul war der Erste, der auf ihn zugestapft kam und sich auf dem Weg zu Preußen eine weitere Zigarette ansteckte. „Mir reicht's, Gilbo, ick hab mein Bestes jejeben, spiel dir dein Berlin doch selber, wa.“ Damit und mit einem lässigen Winken verschwand er aus dem Gebäude mit den verschiedenen Sets, die um Gilbert herum aufgebaut waren. Als Baden dies beobachten durfte, ließ er augenblicklich von Württemberg ab und rannte Berlin nach in die frische, schwabenfreie Luft, wo er erst einmal in den nächstgelegenen Brunnen sprang, um etwaige Schwabenbazillen von sich schrubben zu können. Der Rest blickte perplex hinterher, und nach und nach verschwanden alle Darsteller, obwohl Gilbert versuchte, sie zum Bleiben zu animieren („He, nein, bleib doch.... boah ey nee, ich hab keine Lust mehr, bring mir 'n Bier mit, wenn du schon gehst, Brandenburg!“), bis auf Fritz, der weiterhin versuchte, zu Singen, obwohl niemand ihm zuhörte. Als auch Gilbert verschwunden war, um bei Ungarn vorbeizuschauen („Aber nicht, um mich zu entschuldigen!!“ wie er Fritz noch extra mitgeteilt hatte, dem das vollständig egal war) war er ganz allein und flötete leise in sein Mikrofon. ----- Cheerio an diejenigen, die jeden Film erkannt haben, von denen Gilbert sich, äh, inspirieren hat lassen :Db In Order of Appearance: Brokeback Mountain Titanic Moulin Rouge Bodyguard Tatsächlich... Liebe (lol was macht es in dieser Aufzählung?!) Pretty Woman Kapitel 11: 11 - Blauweiß II ---------------------------- Es gab beim Fußball drei Regeln: erstens, das Runde musste ins Eckige; zweitens, das Spiel dauerte neunzig Minuten; und drittens, wenn es einen Gewinner gab, gab es auch einen Verlierer. Die Regeln waren simpel und verständlich, und wenn man sich an sie hielt, stand einem spannungsgeladenen, aufregenden Spiel eigentlich nichts mehr im Wege. Die erste Regel erklärte sich von allein: gelangte der Ball in ein Tor, so wurde für die Mannschaft des Torschützen ein Punkt gezählt. Auch die zweite war relativ simpel zu verstehen: zwei Mal fünfundvierzig Minuten Spieldauer. Was die dritte Regel anging: wenn eine Mannschaft mehr Tore erzielte als die andere, so hatte sie automatisch gewonnen und die andere verloren, und wenn es zu einem Unentschieden kam, dann hatten beide Mannschaften weder gewonnen noch verloren, das hieß, es gab weder Gewinner noch Verlierer. Es war der letzte Spieltag in der zweiten Bundesliga, und es war auch das letzte Spiel der zweiten Bundesliga, denn es war Montag Abend. Der große Bildschirm im Wildparkstadion in Karlsruhe verkündete die Ergebnisse der anderen Mannschaften an diesem schicksalhaften Tag. Die Spiele waren vorüber, auch der KSC und sein Gast Hertha BSC hatten ihr Match beendet. In einer Fankurve standen Baden und Berlin, beide in blauweißen Klamotten, und synchron feuerten sie beide Mannschaften an. Allein dieser Umstand zeigte: Das war kein normales Spiel gewesen. Die Regeln hatte man außer Kraft gesetzt. Erstens: das Runde hatte nicht ins Eckige gehört. Das Spiel hatte Null zu Null geendet, und zwar nicht, weil eins der beiden Teams so schlecht gewesen wäre, sondern, weil man keine Tore hatte schießen wollen. Zweitens: es hatte keine neunzig Minuten gedauert, sondern dreiundneunzig, mit Verlängerung. Drittens: es gab an diesem Abend zwei Gewinner und keinen Verlierer. Beide Mannschaften standen an der Spitze der Tabelle mit der gleichen Anzahl an Punkten; nur die Anzahl der Siege und die Anzahl der geschossenen Tore unterschieden die beiden, aber es war unwichtig, wer auf Platz 1 und wer auf Platz 2 lag, zumindest für die beiden. Eine dritte Mannschaft war durch ihren Sieg am Vortag auf gleicher Höhe mit den beiden, aber durch das Unentschieden erhielten sie beide einen Punkt hinzu – und konnten beide sicher in die Bundesliga aufsteigen. Als der Schiedsrichter zum Spielende gepfiffen hatte – als klar geworden war, dass beide Mannschaften aufsteigen würde – da war das Stadion explodiert, und noch immer war es nicht zur Ruhe gekommen. Es war gerammelt voll mit einheimischen und mitgereisten Fans, die nicht mehr zu unterscheiden waren. Pures Glück spiegelte sich auf ihren Gesichtern wider, die Art von purem Glück, die in den nächsten Stunden nicht einmal durch den Tod der eigenen Mutter ankratzbar sein würde. Die beiden Mannschaften verabschiedeten sich ausgelassen, und nachdem sie in den Kabinen verschwunden waren, rannten Fans auf den Stadionrasen und umarmten sich, dankten sich, riefen sich Glückwünsche zu. Paul lief voran auf dem Weg hinunter in die kleinen Umkleideräume, wo sich auch Karl und Hertha befinden würden. Er war schon so oft in diesem Stadion gewesen, dass Maximilian ihm nicht zeigen musste, in welche Richtung er zu laufen hatte. Da war nicht einmal eine Kippe in seinem Mund, denn sie würde beim Jubeln stören. Die Tür der Umkleidekabinen öffnete sich und nachdem die beiden Bundesländer ihren Spielern beglückwünscht hatten, hielten sie die Augen offen nach den beiden Teams. Aber sie waren nicht bei den Spielern, sie waren nicht in den Duschen, sie waren nirgends zu finden. Ein etwas besorgter Blick wurde ausgetauscht, und man entschloss, doch lieber mit den Spielern zu feiern statt sich um die beiden Teenager Gedanken zu machen. Stunden später wankten Max und Paul vollkommen dicht durch die Straßen Karlsruhes und hatten mächtig viel Spaß. Sie wussten nicht, dass die beiden Klubs, die sie gesucht hatten, die ganze Zeit auf dem weichen Spielrasen des Stadions gelegen hatten. Die Sterne waren gut zu sehen in der Dunkelheit, die die Wildnis um das Stadion umgab, und sie erhellten den Platz gemeinsam mit den Flutscheinwerfern, die man angelassen hatte. Aber außer Karl und seinem besten Freund, seinem Gefährten, seinem Partner, seinem Geliebten war niemand mehr da. Sie taten nichts außer die Sterne anzusehen, ohne die Sterne zu sehen und ohne zu reden. Sie sahen sich in der Bundesliga, gemeinsam gegen den Rest, und sie sahen sich auf der Bergspitze des Erfolgs, und jeder der beiden sah, wie sie sich in der nächsten Saison in die Arme fallen würden, ungeachtet der Ergebnisse, ungeachtet aller äußeren Umstände. Denn sie waren wie das Meer und der Wind. Blau und weiß, blaues Meer, weiße Wolken, nicht voneinander zu trennen. Hertha blickte Karl in die Augen, blau traf auf blau, und sie mussten nicht miteinander reden. Nicht die beiden, denn für die beiden war Reden überflüssig, und auch Regeln waren überflüssig. Es gab nur drei Regeln, die der KSC und Hertha sich schweigend schworen, immer zu beachten: erstens, der Ball war rund und wird es immer bleiben; zweitens, sie wussten, wo des Schiris Auto stand; drittens, solange sie existierten, solange sie auch nur einen einzigen Fan in ihren Stadien hatten, würden sie immer zusammen gehören. Kapitel 12: 12 - Es geht nicht ------------------------------ Wehe, du liest dieses Kapitel, Hoggi, falls du zufällig hierüber stolpern solltest. >:| Ehrlich. Geh wieder weg. BITTE. GEH EINFACH. ICH MEIN DAS ERNST. GEH WEG UND KUSCHEL MIT DEINEN KANINCHEN ODER SO... Alle anderen: Ich bin auch nur ein Fangirl, okay? |D" - „Es geht nicht.“ Ein Schlag mitten in sein Gesicht. Die Zeit hörte auf, fortzuschreiten und ein dichter Schleier legte sich über Berlins gesamtes Gesicht. Die Zigarette in seinem Mund brannte immer und immer weiter, aber er bemerkte sie nicht einmal mehr. Ein leises, verzweifeltes Lachen entwich seinen Lippen. „Wie, dit jeht nich'? Verarschste mir, Albi?“ Mit zusammengepressten Lippen schüttelte Albrecht den Kopf. Er saß hinter seinem eher mickrigen Schreibtisch, der unter der Last unzähliger Dokumente fast zusammenbrach, sich nach unten bog und allgemein nicht mehr sehr stabil wirkte. Die Stapel waren nach Pauls Eintreten in Brandenburgs kleines Arbeitszimmer zur Seite gerückt worden, damit er seinen Freund anblicken konnte, während er hinter dem Tisch saß. Albrecht beugte sich nach vorne und nahm Paul die Zigarette aus dem halb geöffneten Mund, ehe sie auf den Tisch fallen oder, noch schlimmer, Paul verbrennen konnte, und drückte sie in seinem eigenen Aschenbecher aus. „Aber dit jeht nich', Albi! Meine Leute waren einverstanden!“ Langsam, als müsse er sich erst einen Weg graben durch zähflüssigen Pudding nickte Albrecht. Er wusste, dass Berlin das wollte. Aber er... Paul hatte nicht auch nur ein einziges Mal an seine eigenen Gefühle gedacht. Wie immer. Im Prinzip wollte er das ja. Er wollte Berlin heiraten. Er wollte wieder mit der Weltstadt zusammenleben, so wie er es immer getan hatte. Es war einsam ohne einen lauten, nervtötenden und gleichzeitig so unglaublich liebenswerten Paul an seiner Seite, der in den Zimmern umherkrakeelte und überall Aschespuren hinterließ. Er wollte... er wollte nichts anderes als Paul, Berlin, seine Metropole, seine Liebe. Aber es war unmöglich, er musste sich dem Volk beugen, und das Volk hatte sich gegen die Fusion entschieden - „Hochzeit“, wie der Plan von Anfang an von Paul und Albrecht genannt worden war, seit damals, als Paul ihm tatsächlich einen Ring angeboten hatte mit den Worten „Magste mir heiraten?“ und Albrecht ihn nur ungläubig angeblickt hatte – und wenn es eins gab, das Brandenburg während der Wende gelernt hatte, dann, dass das Volk wusste, was am Besten für ihn war und was er zu wollen hatte. Nur im Gegensatz zur Wende wollte er nicht auf Berlin verzichten. Er hatte auf ein Gesamtdeutschland gewartet, mit dem unbändig viel Freude verursachenden Gedanken im Hinterkopf, sich mit Paul vereinigen zu können. Und nun das. Er war und blieb Brandenburg. Er hatte niemals Paul gesagt, was er für ihn fühlte, dass der junge Mann alles war, was er haben wollte, und wie sehr ihn jedes flapsige Wort von Paul verletzte, das ihre Beziehung – diese Freundschaft, die so viel mehr sein sollte – nicht ernst nahm. Und seinen Leuten ging es genauso. Auch sie wollten es Berlin nicht mitteilen, nicht den Berlinern mitteilen, dass sie sie mehr liebten, als sie es tagtäglich zugaben. Deswegen war es eigentlich von Anfang an klar gewesen. Es schmerzte trotzdem. Genau wie der Ausdruck in Pauls endlosen blauen Augen. „Muss ich dir auch noch verlieren?“ fragte er Albrecht, und Albrecht wollte nichts weiteres, als aufzuspringen, zu seinem langjährigen Gefährten zu rennen und ihn in die Arme zu schließen und ihm zu sagen, dass alles gut sei und dass alles nur ein böser Scherz gewesen sei und dass sie ab heute nur noch als Berlin-Brandenburg bekannt sein würden. Aber es ging nicht. Weder Brandenburg noch sein Volk konnten es tun. Sie hatten keine Zukunft zusammen, und dieser Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. Er stand von seinem Tisch auf und drehte Berlin den Rücken zu. Vor dem Fenster erstreckte sich eine endlos wirkende Landschaft. Der erste Schnee des Jahres war gerade gefallen und überzog die Landschaft mit einer dünnen, weißen Schicht aus Traumgedanken. Den Kopf hielt er an die Brust gesenkt und schloss die Augen. Ein Kopfschmerz kroch in ihm hinauf. „Es tut mir Leid.“ murmelte er eher zu sich selbst als zu Paul und er vermutete, dass Berlin ihn nicht hören konnte. Da lag er falsch. Ohne, dass er wusste, wie ihm geschah, war die deutsche Hauptstadt aufgestanden und hatte von hinten die Arme um Brandenburgs Brust geschlungen. Er hielt ihn eng an sich gepresst, als würde er ihn nie wieder loslassen wollen. Und das war tatsächlich das Ziel von Berlin. Wenn er diesen Raum verließ, dann nur mit Brandenburg an seiner Seite – am besten in einem tollen Brautkleid, aber man konnte ja nicht zu viel erwarten. Albrecht wagte nicht, den Kopf nach Berlin umzudrehen. Er kniff die Augen zusammen. Es ging nicht. Es ging nicht. Es war einfach nicht möglich. Er riss sich los und drehte sich um, bemerkte nicht, dass seine Wangen gerötet waren, vor Gefühlen, Scham, und ja, er hasste es, dies zuzugeben, aber die kleine Berührung von Berlin hatte ihn auch erregt. Er konnte dem Bundesland nicht in die Augen schauen. „Es ist unmöglich. Es ist falsch, das weißt du, Paul. Fühlt es sich denn für dich natürlich an?!“ Das verzweifelte Nicken von Paul konnte Albrecht nur erahnen, denn er hatte das Gesicht in seinen Handflächen vergraben. „Weeßte, wie ejal mir dit is? Ick will nur dir, Albi, nur dir!!“ Albrecht konnte sein Herz laut in seiner Brust hämmern hören. Das sollte nicht so laufen. Das sollte gar nicht so laufen. Berlin sollte ihm nicht... nicht diese Dinge... das sollte er nicht... das konnte Albrecht nicht... „Ick will dir aber nich' haben!“ Unwillkürlich war er in Dialekt zurückverfallen. Das war die einzige Reaktion, die ihm einfiel, und wie es schien, hatte er mitten in die Zielscheibe getroffen. Pauls Augen weiteten sich wie die Augen eines Rehs im Scheinwerferlicht, und einen Moment lang hatte Albrecht den Eindruck, als würde er wie dieses Wildtier fliehen wollen. Aber Paul war kein Beutetier, Paul war selbst ein Raubtier. Mit einem Sprung war er wieder direkt vor Albrecht und schmiegte sich an ihn, dass Albrecht den vertrauten Geruch tief einatmen konnte. „Dit is' mir sowas von ejal. Albi. Ick will nur dir alleine.“ Er vergrub das Gesicht in Albrechts Halsbeuge und eine Gänsehaut überzog den gesamten Körper des Brandenburgers. So nah waren sie sich schon lange nicht mehr gekommen. Seit hundert Jahren nicht mehr. Er reagierte wie automatisch und schlang die Arme um Berlins Rücken, während er glasig in die Ferne starrte und weiterhin stur versuchte, Berlin nicht anzusehen. Nur wenige Augenblicke... nur ein wenig genießen, was er jetzt ewig nicht mehr haben würde. Ein Dominostein führte zu dem anderen und bald waren die Dokumentstapel auf Albrechts Tisch zerwühlt und teilweise auch befleckt. Unter dem Tisch, an seinen Tischbein anlehnend, saß Paul und rauchte überraschenderweise eine Kippe. Albrecht war dösig und lehnte neben ihm. Berlins Arm war um seinen Freund geschlungen, und es gab kaum einen Zentimeter Haut der beiden, die nicht aneinander klebten von Schweiß und Zuneigung. Berlin blies Rauchringe hinaus. Albrecht blickte ihn mit halb geschlossenen Augen an. Worte waren überflüssig. Das einzige, was zählte, war das langsam erwachende und absolut zufriedene Lächeln auf Brandenburgs Gesicht, als er die Augen schloss und an Berlin gelehnt das erste Mal seit Langem schlafen konnte, ohne schreiend aufzuwachen. Kapitel 13: 13 - Rot wie Blut, Schwarz wie Ebenholz --------------------------------------------------- Untertitel: Ohne Dich ist alles doof - Der See war rot. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck blickte Albert über ihn hinweg. Neuruppin lag vor ihm und berührte anschmiegsam seine Handinnenfläche. In der leichten Herbstbrise wiegten sich die hohen Pappeln am Uferrand, und die Sonne ging unter. Ihre Strahlen wirkten wie Blut und wäre der See nicht schon rot, dann hätten sie ihn so gefärbt. Leichenteile trieben in die Richtung von Albert. Die Uferpflanzen waren verfault und ließen ihre Köpfe in das Wasser hinein hängen. Sie hatten nicht mehr lang zu leben. Die ganze Welt hatte nicht mehr lang zu leben. Nachdem zuerst in Amerika eine mysteriöse Epidemie ausgebrochen war, die dann auch auf den Rest der Welt übergegriffen hatte, gab es kaum noch normale Menschen – die meisten waren mutiert und zu tödlichen, hirntoten Monstern verkommen. Man war sich als Überlebender nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt noch andere Menschen gab. Alle Nationen waren tot, denn es gab keine Nationen mehr, keine Länder. Es war wichtiger, zu überleben, als sich um nationale Fragen Gedanken zu machen. Den Nationen selbst war ein menschliches Leben gegönnt worden – viele, nein, die Meisten hatten dieses Recht schon verwirkt, sie waren den Menschenfressern zum Opfer gefallen. Auch in den ehemaligen Grenzen Deutschlands, heute nurmehr eine weite Landschaft aus Bergen, Blut, Seen, Gedärmen und Flüssen, war kaum noch eine ehemalige Region am Leben, und wenn, dann war sie verrückt geworden, denn wie sonst sollte man mit dem Wahnsinn dieser Welt zurechtkommen? Eigentlich sollte es Albert gefallen. Das war doch das, was er sich immer gewünscht hatte. Tod, Verderben, Panik, Trauer, Schmerz, Wut, Krankheit, Hunger, Katastrophe, Angst; Blut, Gedärme, Fleisch. Es sollte sein Paradies sein. Er konnte ohne Fesseln jeden töten – Zombies, weil es Zombies waren, und normale Menschen, weil sich in dieser Welt niemand mehr auf niemanden verlassen konnte. Albrecht war schon lange tot. Er hatte den Anblick von seinen zerfleischten Kindern nicht ausgehalten, hatte sich zurückgezogen und war irgendwann abgestorben, ohne jemals wieder das Licht der Welt erblickt haben zu dürfen. Albiline kämpfte noch um ihr Überleben, aber sie verlor diesen Kampf, und Albert hatte sie schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Er kontrollierte diesen Körper, und auch wenn er nicht mehr so unverwundbar war wie zu Zeiten des Bundesländerdaseins, so war er stark, geschmeidig und blutrünstig. Da war nur die Frage, warum es ihm keinen Spaß machte. Er stocherte demotiviert in einem Fuß herum, der vor ihm auf dem Boden lag. Alles war rot, Himmel, See, Gras, Bäume, diese von ihm heißgeliebte Farbe verzehrte und verschluckte alles. Es war einsam. Der verrückte Albert, der grausamst töten wollte, der schon unzählige Menschen in den Tod gerissen hatte und ihre Überreste über die Städte verstreut hatte, er fühlte sich alleingelassen. Albrecht war tot und Albiline rührte sich nicht mehr. Und Paolo war nicht auffindbar. Paul hatte er das letzte Mal gesehen, als Berlin gemeinsam mit den anderen Stadtstaaten kurz nach Ausbruch der Epidemie auf die See hinaus geflüchtet war. Das hatte ihn und Albrecht und Albiline damals sehr, sehr traurig gemacht. Sie hatten alle drei gedacht, dass sie das gemeinsam mit Berlin durchstehen würden. Aber Berlin hatte sie im Stich gelassen. „Ey Albo, alte Pocke!“ Neuruppin ergreifend drehte Albert sich schneller als gewöhnlich um und von seinem See fort. Wenige Meter entfernt konnte er zwischen zwei Pappeln Paolo erkennen, mit seinem charakteristischen Joint zwischen den Lippen hängen und die Kapuze tief in sein Gesicht gezogen. Auf dem Pulli konnte man dunkelrote Flecken erahnen. Einen Moment lang verzerrte sich Alberts Gesichtsausdruck, dann näherte er sich Paolo, bis die beiden nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. Er strafte seinen langjährigen Gefährten mit einem dunklen Blick und einem Knurren, und es war wirklich selten, dass Albert so aggressiv war. Normalerweise schlitzte er Menschen mit einem grausigen Lächeln auf den Lippen und als die Ruhe selbst auf. „Warum warste so lang nich da?“ fragte er Paolo bedrohlich. Der zuckte nur mit den Schultern. „Der Paul hat mich nicht rausgelassen. Aber jetzt sind die Fisch-Heinis alle tot.“ Er lachte laut auf und nahm einen tiefen Zug. „Und da hab ick mir jedacht, 'Paolo', hab ick mir jedacht, 'suchste doch mal nach Albo, wa?' Und jetzt bin ick hier.“ Albert konnte Berlin nur noch durch verschwommene Augen ansehen, und er wusste nicht, warum das so war. Ob er wohl krank war? Es war jedenfalls ausgeschlossen, dass ihm Tränen in die Augen stiegen, denn Albert wusste, dass er selbst nicht weinen konnte. Er schloss Paolo in seine Arme und strich zärtlich mit Neuruppin über den dicken Pullover, der Paolo vor der Außenwelt schützte. „Du Arsch...“ murmelte er seinem Freund ins Ohr und hielt ihn fest an sich gepresst. „Weeßte, wie lustig es ohne dir war? Und jetzt biste wieder da, och nee...“ Paolo nahm den fast ausgebrannten Joint aus seinem Mund und schmiss ihn in die Landschaft. Dann legte auch er die Hände um Brandenburg, um seinen Nacken, direkt auf die emfindliche Stelle, die seinem Albo immer ein leises Stöhnen entlockte, wenn er mit den Fingerspitzen darüber strich. Dessen Griff um Neuruppin verfestigte sich und er blickte Paolo in das Auge, das nicht von seiner Kapuze verdeckt war. Sanft strich er mit Neuruppin über Berlins Wange, sodass ein dünner Schnitt sichtbar wurde, aus dem etwas Blut austrat. Dann leckte er über diese Verletzung, um des anderen Blut in sich aufnehmen zu können, und hielt ihn dabei mit der freiden Hand weiterhin fest umschlossen. Paolos Hände wanderten in die Richtung von Alberts Po, und als er gefunden hatte, was er suchte, ließ er sie auf den Backen liegen. „Du notjeiler Bock.“ murmelte Albert und strich noch einmal mit seinem Messer über Paolos Wange, dass sich ein zweiter, den ersten überkreuzender Schnitt darauf zeigte. Berlin grinste sehr debil und fuhr mit den Händen unter Alberts loses Shirt, wo er warme Haut ertastete. Ein arrogantes Lächeln zeigte sich auf Alberts Gesicht, und er ließ Neuruppin achtlos fallen, ehe er die Hände an Paolos Wangen legte – heißes Blut auf seinen Handflächen spüren konnte – und ihn in einen leidenschaftlichen Kuss zog. Spröde Lippen trafen auf die weichen von Paolo, und keiner der beiden dunklen Seelen wollte die Vorherrschaft dem anderen überlassen. Es war kaum zärtlich; man biss, zog und saugte, bis aus beiden Mündern eine dünne Blutspur floss. Über Alberts Hals folgte seine Blutspur, den Gesetzen der Gravitation folgend, seinem Oberkörper, zeichnete eine dünne rote Linie auf seiner Haut, bis sie in Alberts Bauchnabel zum Erliegen kam. Die beiden sahen sich an, und dann warf Paolo seinen Freund auf den Boden, zwischen die toten roten Blätter, zwischen graue Augen, die hier vergessen worden waren. Grob riss er ihm das Hemd vom Leibe, sodass nur Alberts Ketten und Paolos Körper ihn vor dem Wind schützten. Hastig versuchte Albert, Paolo den Pullover vom Körper zu streifen, aber seine Hände fingen an, vor Erregung zu zittern, und erst, als Paolo Brandenburgs Hände ergriff, sie von sich fortzog und selbst das Oberteil auszog, konnte er einen Blick erhaschen auf die vernarbte Stelle, an der einst Paolos Auge gewesen war. Ungewöhnlich sanft legte er die Lippen auf diese Haut, die unfähig war, Berührungen zu spüren Albert krallte sich an Paolo fest; seine Fingernägel gruben sich tief in sein Fleisch und hinterließen rote Striemen an seinem Rücken. Paolo jaulte leise auf und folgte der Blutspur, die eben von Alberts Mund hinunter geflossen war mit seinen Lippen und schneidend scharfen Zähnen, bis er an seinem Bauchnabel angelangt war. Die Berührung an dieser Stelle entlockte Albert ein uncharakteristisch weiches Stöhnen, und seine Hände vergruben sich tief in den braunen Haaren, ehe eine Hand nach unten wanderte und hastig nach Neuruppin suchte. Als Albert sein Messer gefunden hatte, schnitt er damit in genau der richtigen Tiefe in Paolos Oberarm, nicht so tief, dass es schrecklich schmerzte, aber tief genug, dass das Blut in Schwällen austrat und es schmerzen musste. Paolo grinste. Der Berliner war Ficken allgemein echt nicht abgeneigt, und das war eine Untertreibung, aber gerade, wenn es sich um Albert handelte... er war verrückt nach dem Geruch, dem Geschmack des anderen, dem Gefühl der rauen Haut unter seinen Fingern. Nach dem Messer, das sich unwillkürlich in seine helle Haut graben würde. Er war schon nach dem Austausch dieser wenigen Berührungen unglaublich erregt, und er versuchte erfolglos, seine Hose zu öffnen. Mit halb geschlossenen Augen, sich geborgend fühlend unter seinem Geliebten, beobachtete Albert diese Handlung, er sah seine Chance gekommen. Mit flinken, brutalen Fingern riss er den Saum auf und zog Paolo zu sich hinunter, bis er auf ihm lag und die beiden inzwischen aufgehitzten Körper aufeinandergepresst wurden. Neuruppin lag zwischen ihnen, und es schnitt sich in beide Körper hinein, dass sich ihr beider Blut vermengte. Das Verlangen wuchs und zwischen Alberts Lenden machte es sich in Form einer göttlichen, schrecklich quälenden Hitze bekannt. Er zog Paolo erneut in einen tiefen Kuss, drückte ihn dabei mit einer Hand in seinem Haaransatz an sich und versuchte mit der anderen Hand, seine eigene Hose zu öffnen. Im Gegensatz zu Berlin war er selbstständig dazu fähig. Er spürte Paolos Erregung gegen seine eigene, und als sich die Münder der beiden voneinander lösten, noch durch einen hauchzarten Speichelfaden verbunden, wisperte er „Paolo. Jetzt. Ick will dir. Sofort.“ gegen die warmen Lippen seines Geliebten. Das ließ sich Paolo nicht zwei Mal sagen. Seine Hände mit den stumpfen Fingernägeln glitten über die Haut Alberts, bis er an dem Gürtel von ihm angekommen war und ihn schwer abgelenkt von dem Atem, der über seine Haut strich, löste und die Hose von Brandenburg hinunterzog. Neugierig strichen seine Hände über die Wölbung unter der Unterwäsche Alberts, aber der grub seine Nägel tief in Paolos Unterarme. „Mach schon!“ zischte er aggressiv und als er die Nägel nach unten zog, perlten ein paar wenige Tropfen Blut aus Paolos Fleisch, die auf Alberts Oberkörper fielen und eine Gänsehaut verursachten. Paolo, mit einem lechzenden Grinsen auf den Lippen, tat genau das, was man ihm befohl, zog auch Alberts Unterwäsche hinfort und befreite sich selbst von der absolut störenden Unterhose. Alberts Blick war verengt, sein Atem ging gepresst und schwer, und als er Neuruppin erneut hob, um einen Schnitt quer über Paolos Bauch zu verursachen, der Blut auf seinen eigenen Bauch hinabregnen ließ, immer mehr Blut, zitterte diese Hand heftig. Alberts Stöhnen und Keuchen... das war zu geil, das konnte Paolo nicht länger ertragen. Er knetete die Oberschenkel von Albert, bis dieser sich aus der Berührung befreite und sich auf den Bauch rollte. „Los, Paolo, du Wichser!“ knurrte er Berlin wütend an, und Paolo, der daran gewöhnt war, dass Albert nicht sanft war – der vor einem sanften Albert sogar ziemliche Angst hätte – packte die Backen seines Freundes. Er ließ zuerst einen Finger in seine Öffnung gleiten, dann einen zweiten, und das leise, zurückhaltende Wimmern des Massenmörders ignorierte er dabei. Dies dauerte nur wenige Augenblicke, denn länger konnte Paolo es beim besten Willen nicht aushalten, und als sein Glied den Weg in Alberts enges Loch fand, stöhnte er befreit und erregt auf. Die beiden waren trotz der viel zu langen Trennung noch immer auf sich eingespielt und fanden sehr schnell ihren Rhythmus, ihr Tempo, das immer und immer schneller wurde. Albert fluchte laut und dreckig, beschimpfte Paolo mit Worten, die er ansonsten niemals benutzen würde, und Paolo hatte sein Auge geschlossen, mit einer Hand als Stütze auf dem Boden und mit der anderen an Alberts pulsierender Erregung. Sie keuchten, stöhnten, rieben sich aneinander auf, verschmolzen, waren eins, fühlten sich vollständig, bis Paolo mit einem Aufkeuchen in Albert kam, nahezu zeitgleich mit Brandenburg. Der Boden unter ihm wurde befleckt, und sie verweilten noch einen Moment in dieser Stellung, ehe Berlin seinen Pullover packte und ihn sich wieder überzog – ohne auch die Kapuze wieder anzuziehen. Er wollte, dass Albert sah, was er damals angerichtet hatte. Alber sah. Und Albert lächelte. Nebeneinander blieben sie sitzen. Albert hatte Neuruppin wieder ergriffen. Paolos Arm lag um Alberts Schulter. Dieser hatte den Kopf an den Braunhaarigen angelehnt und starrte ins Nichts. Aber er sah viel. Er sah die beiden. Er sah vor allem Paolo. Wie sie gemeinsam das erste Mal erschienen waren: ein junger Brandenburg, der das letzte Mal von einem kleinen Berlin geärgert wurde, griff zu einem Messer und schlitzte einer Magd die Kehle auf. Ein kleiner Berlin hatte es beobachtet, und Paolo war geboren worden, und Paolo hatte sich anhänglich an Alberts Bein gehängt, und er hatte sofort gewusst, dass er diese kleine Zecke mochte. Später, als sie gemeinsam auf dem Schlachtfeld lagen und da dieser Hurensohn gewesen war, der Paolo ätzende Säure ins Gesicht gespritzt hatte... das schmerzerfüllte Aufheulen würde Albert nie vergessen, genausowenig wie seine unendliche Angst um Paolo und das Gefühl von Neuruppin, das sich damals in die weiche, aufgeplatzte Haut um das Auge herum gegraben hatte und ein klares, hellblaues Auge aus seiner Tasche gefördert worden war – das Auge war danach im Griff von Neuruppin gelandet, sodass Paolo immer bei Albert sein konnte. Wie er nach der Wiedervereinigung Paul so lang gequält hatte, bis Paolo aus ihm herausgebrochen war, und wie sie gemeinsam viel, viel Spaß gehabt hatten, auf diese mannigfaltigen Arten, die die beiden kannten. Paolos Kopf fiel nach vorne und er blickte neugierig die Verletzungen an seinem Körper an, als wäre es ein fremder Körper, als konnte er keine Schmerzen fühlen – und er fühlte keine Schmerzen, er war wie betäubt, er saß neben Albert. Das war genug. Sie blieben eine ganze Weile so liegen, bis Albert ein leises Geräusch im Hintergrund hören konnte und die Augen aufriss. Der See blubberte, als wäre er kochend heißes Wasser, aber niemand hatte den Herd angelassen. Urplötzlich schien das Wasser aufzubrechen und Massen an Zombies sprangen nicht elegant, aber schnell und tödlich daraus hervor. Ein kurzer Blick wurde ausgetauscht, dann standen auch Berlin und Brandenburg auf. So ein Glück, dass sie sich zumindest angezogen hatten. Auf Brandenburgs Lippen spielte ein dezentes Lächeln, und Berlin leckte sich über die Lippen, während er eine Beretta aus seiner Pullitasche hinauszog. Das hatte ein leises, kaum hörbares Schnauben von Alberts Seite zur Folge, das von Paolo nur mit einem leisen Kichern kommentiert wurde, und dann waren die Viecher da, direkt bei ihnen, und versuchten, sie aufzufressen. Die beiden waren höchst erfreut. Am Ende rammte Albert den Fuß auf den dünnen Kopf eines Zombies, dass dieser Kopf unter seinen Stiefeln zerplatzte und eine gräulich angelaufene Masse über dem ansonsten lückenlos rot gefärbten Boden verspritzt wurde. Albert wandte den Kopf zu Paolo, der gerade seine Waffe nachlud und einem Zombie den Ellenbogen grob in die Fresse schlug, sodass dieser nach hinten taumelte, über einen am Boden liegenden Zombie fiel und sich beim Aufkommen das Genick brach. Inzwischen war die Nacht hineingebrochen und hatte die Welt in ein dunkelblaues Zwielicht getaucht, sodass Violett das Farbschema dominierte. Paolo grinste breit, Albert lächelte ihn an. Und dann fing die Welt an, nur noch in Zeitlupe abzulaufen. Eines der Monster hatte sich erhoben und bevor eines der beiden Ex-Länder etwas dagegen tun hatte können, hatte es die spitzen, raubtierhaften Zähne in Berlins Schulter gebohrt, dass das Blut spritzte. Berlin schrie auf, was die anderen Monster anlockte, und als Albert die wenigen Schritte bis zu seinem Gefährten gewankt war, hing Paolos Darm leblos am Boden, während ein paar Zombies sich daran mästeten. Das Herz von Berlin war in der Hand von einem kleinen Mädchen, das hungrig anfing, es aufzufressen. Brandenburg rammte das Messer in alle Monster, bis sie nicht mehr lebten, und betrachtete die Überreste von Paolo, die verstreut über dem Boden lagen. Neuruppin wurde vorsichtig neben das verbleibende Auge gelegt, als solle es darauf aufpassen. Denn Albert konnte nicht mehr auf Paolo aufpassen. Er fühlte nichts, absolut nichts. Albert war nicht mehr auf dieser Welt. Er wandte das Gesicht dem See zu und steuerte zielstrebig darauf zu. Sein Gang war wankend und unstetig, und es schien, als würde er jede Minute umfallen. Als er das Ufer erreicht hatte, ging er einfach weiter, und er wartete, dass das Wasser ihn verschlingen würde, mit Haut und Haaren, so wie Paolo verschlungen worden war. Als die Morgensonne ihre ersten trägen Strahlen über Deutschland schickte, waren sie tot, die letzten Menschen dieser Welt – die selbst schon lange nur noch mit Menschen zu vergleichen gewesen waren, weil sie genauso wie andere Menschen geliebt hatten. Kapitel 14: 14 - Diarium ------------------------ Gilbert lief durch das große Haus, in dem alle Bundesländer seit einer Woche übernachteten. Sie waren aus, essen oder so, und er konnte sich schon denken, dass viele von ihnen seinem kleinen Bruder in den Ohren lagen, weil sie „dieses Essen“ bestimmt NICHT haben wollten. So ein Glück, dass Gilbert versunken war in 4chan und nicht bemerkt hatte, wie schnell die Zeit vergangen war und dass Ludwig die Länder mit sich hinaus genommen hatte... und jetzt hatte er die Gelegenheit seines Lebens. Die Gelegenheit, die Tagebücher der Bundesländer zu lesen. Die ganzen Dinge, die dort drin stehen würden, könnte er sicherlich zum Nachteil der anderen benutzen. Ein dreckiges Kichern entwich seinen Lippen, wenn er daran dachte, was für große Augen sie machen würden... Er fing im Gemeinschaftszimmer von Brandenburg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern an. Begeistert rieb Gilbert sich die Hände und schlich auf Brandenburgs Nachttisch hin. Alles war aufgeräumt, während Berlins Klamotten im ganzen Zimmer verstreut herum lagen und Mecklenburg-Vorpommern so schien, als würde er gar nicht existieren. In der obersten Schublade fand Gilbert das dünne graue Buch, ließ sich auf Albrechts Bett fallen und schlug es neugierig auf. Mein sehr verehrtes Tagebuch. 12.03.2010 Heute war wieder ein furchtbarer Tag in Ludwigs Heim. Es ist sehr schön hier. Wenn nur Gilbert nicht wäre... und Berlins Anwesenheit zerrt auch an meinen Nerven. Ich hoffe nur, dass niemand geweckt wird von diesen Nervensägen, ich kann fühlen, dass meine weibliche Seite sich mal wieder an einen der beiden ranschmeißen will. Ohje, ich hoffe, das lesen die beiden nicht, sie würden mich ewig wegen meiner „weiblichen Seite“ aufziehen... Sehr seltsam, wenn du mich fragst. Was sollte man schon an Berlin und Preußen finden... Ja was wohl!! Dass er ein personifizierter junger Gott war, vielleicht? War das Brandenburg nie in den Sinn gekommen?! Gilbert schnaubte entrüstet auf, las aber weiter. … also wenn du mich fragst, die beiden sind einfach nur schrecklich. Ständig gehen sie jedem auf die Nerven. Weißt du, was Berlin sich heute geleistet hat? Er hat- An diesem Punkt hörte er auf zu lesen und ließ das Buch achtlos liegen. Das war richtig lame. Gilbert rollte über das Bett auf die andere Seite, um Berlins Tagebuch ergreifen zu können. Ey Keule! 9.3.10 Alles ok mit mir, wa! Ist nix besonderes los hier. Die eine komische Kleine hat irgendwie gemeint, dass mein Shirt hübsch aussieht. Nett wa? Und da hatte ich voll das eine Shirt an mit den Hühnchen, du weißt, was ich meine, lol. Also dieses Shirt... dit war ja etwas teurer aber egal ich meine weiß ja niemand dass dit so teuer war. ROFL der Karol würd sich voll ins Hemd machen wenn er wüsste wie viel dit gekostet hat. Dafür ist's aber auch voll hübsch! Ick meene, allein die Farbe, diese geile Rot. Dit ist genau wie dit Rot in Spandau. Kennste dit? Als wir in Spandau waren hab ichs dir ja gezeigt wa? Also- Gilbert hatte nun wirklich keine Lust, ewig zu lesen, wie Paul ewig über sein Zuhause redete. Aber gut, andere Länder, andere Bücher, dachte er und machte sich auf den Weg nach draußen. Zufälligerweise fiel ihm dabei ein Buch auf den Kopf, und nachdem er sich fluchend den Hinterkopf gerieben hatte, blickte er das Cover an. Es war blau wie die See und in simplen Druckbuchstaben stand dort „Fritz“ geschrieben. Fritz... Fritz... Ah! Richtig! Mecklenburg-Vorpommern, der Verpeilte! Gilberts Finger schlugen das Buch auf. März Es ist schön. Alle anderen sind nett zu mir. Aber es ist ein wenig warm. Hm... ich hoffe, der Ernte geht es gut. Fritz Na, wenigstens mal einer, der sich kurz halten konnte! Gilbert schmiss das Buch irgendwo in eine Ecke und stampfte weiter in das Zimmer von den Frauen. Ludwig hatte die Wände rosa tapeziert, in einem plötzlichen Anfall von Frauenverständnis, worüber Gilbert nur die Augen rollen konnte. Frauen waren wie alle anderen Menschen nur dazu da, ihn anzuhimmeln und den Boden unter seinen Füßen zu küssen, er machte da keinen Unterschied. Hamburgs Federbett war weich und schnell ergriff Gilbert ihr Tagebuch, auf dem in geschwungenen Lettern „Diary“ geschrieben stand. Dear Diary, Freitag, 12.03.2010, 20:12 K. schrieb mir einen Brief. Es geht um die Quartalsabrechnung für den Kiez. Er beschwerte sich darüber, dass sie nicht sauber gewesen wäre. Sobald ich zurück bin, muss ich mir das ansehen, und falls K. Recht behält, müssen wir diesen Schurken einen Besuch abstatten. Es kann nicht sein, dass sie mir all diese Steuereinnahmen vorenthalten. Sollten sie nicht normal einlenken, dann werde ich mit T. sprechen, du weißt, der verlässlichste Zuhälter von allen im Kiez. Ich werde nicht sagen, er sei ein guter Mensch, aber man kann ihm vertrauen. Zumindest seit dieser Angelegenheit mit Annabelle und Mirko... oh, ich weiß noch, wie K. fast explodiert ist, nachdem ich auf der Türschwelle stand... Ansonsten laufen die Geschäfte gut. Positive Bilanz. Weltwirtschaftskrise – schön und gut, wir schlagen uns trotzdem durch. Dem Hafen geht’s aber nicht so gut. Ich wünschte, ich wüsste- Bah, Hafen, Fische! Langweilig!! Komische Nordlichter, die immer nur über so einen langweiligen Kram reden konnten!! Als nächstes war das Tagebuch von Rheinland-Pfalz dran. Liebstes Tagebuch 23.2.10 Heute waren wir im Garten draußen! Ich freu mich schon auf die Kirschen im Sommer ♥ Wenn- Kleinmädchenkram! Brutal schleuderte Gilbert das Buch von sich und blickte sich nach neuen Opfern um. Man konnte wohl auf jeden Fall erwarten, dass das Saarland ihn nicht mit einem erwachseneren Eintrag überraschen würde, aber Gilbert versuchte es dennoch, denn er kannte das Mädchen kaum. Das Cover war in einem hellen Roséton gehalten und den Betrachter blickte eine süße kleine Blume an. Hallo liebe Fleur!! 10.3.10 Heute war ein schöner Tag. Ich hatte viel Spaß. Papá hat mir eine Postkarte geschickt! Guck, das ist sie. Schön, nicht wahr? Ich mag Papá. Aber hier bei Vater ist es auch schön. Die anderen Länder sind nett. Ich mag die anderen Länder! Nur Preußen ist ein bisschen komisch. Ich glaube, er hat mich gesehen, wie ich geraucht habe. :( Das wäre blöd. Das soll Vater nicht hören, gell? Tschüssiiiiii Nici Ein Grinsen schlich sich auf Gilberts Lippen. So, die Kleine rauchte also? Und Ludwig sollte das nicht hören? Sehr interessant, da hatte er wohl etwas gegen das Mädchen in der Hand... ein etwas wahnsinnig wirkendes Kichern entwich seinen Lippen, während er das nächste Buch in die Hand nahm. Es gehörte Bayern. Grüß Gott 10.3.10 Diese ganzen Deppen hier regen mich schon wieder auf. Vor allem dieser Saupreiß und seine süße kleine Hauptstadt! Wenn ich nicht hier sein müsste, wär' ich schon längst weg. Und das Bier ist pervers schlecht. Ich freue mich schon darauf, wenn die Dapperten wieder zu mir kommen und in den Genuss von ECHTEM- Blöde Zicke. Gilbert streckte dem Tagebuch die Zunge raus, schmiss es brutal gegen die Tür und krallte sich das letzte Buch des Zimmers, das Tagebuch von Helgoland. Achja, richtig, dieses Rasseweib, die einzige aus Westens Truppe, die nett anzusehen war. Er hat mir einen Blick geschenkt. Aus diesen herrlichen blauen Augen, und er sah dabei aus wie ein Engel, wie ein Engel und wie ein Gott. Er hat mich angesehen, als wäre ich seine Königin. Ich wünschte, er könnte mich besuchen. Ludwig...- An der Seite konnte man ein verziertes Bild eines seltsamen Turmes erkennen. Diese unheimliche kleine Stalkerin... er musste ein ernsthaftes Wörtchen mit seinem Bruder reden. Gilbert wusste genau, dass Stalker gefährlich waren, er hatte, wenn er unfreiwillig in Moskau gewesen war, immer mitansehen dürfen, wie Russland vor Weißrussland geflohen war (und er hatte immer lauthals gelacht dabei). Er wollte nicht, dass sein Bruder sich auch so wegen einem Mädchen, pah, in die Hose machte wie Russland. Damit war das Zimmer durch. Gilbert warf noch einen letzten Blick auf alles, dann marschierte er mit eingebildeten Fanfaren hinaus und machte sich auf in das Zimmer von Baden, Württemberg und Hessen. Als er eintrat, wurde er geradezu von einem Glänzen in Empfang genommen, so ordentlich war es. Mit großen Augen blickte er alles an. Die Schränke waren sauber aufgeräumt, kein Krümelchen Staub lag irgendwo herum. Auf dem Nachttisch in der Mitte lag ein Taschenrechner. Zielstrebig steuerte Gilbert das Bett an der Wand an. Ein dickes weißes Buch lag greifbar auf dem Nachttisch. Gilbert schlug es auf. Hallöle 3.3.2010 Heute war ich in der Kehrwoche dran! Ich bin froh, dass alle in meinem Haus so sauber sind. Ansonsten wäre das wirklich schrecklich. Obwohl, Hohenzollern hat vor Kurzem ein wenig gemeckert. Aber er ist ja nicht einmal ein eigenes Land, er ist nur Sekretär, er sollte lieber seine Etage sauber machen. Baden davor war tiptop wie immer. Ich habe mich nur gefragt, wieso am Ende seines Turnus ein totes Stinktier auf meiner Türschwelle lag. Hat er das übersehen? Darüber muss ich mit ihm reden. Man sollte tote Stinktiere nicht übersehen, geschweige denn nicht überriechen. Es war sicher nur ein Versehen. Die Abrechnung für- Boah, schon wieder komische Finanzsachen nach dieser Sache mit Hamburg?! Schrecklich!! Gilbert stand wieder auf und ging zum Bett auf der anderen Seite. Erst, als er das Tagebuch unter dem Kopfkissen gefunden hatte, wusste er, wem das Bett gehörte, denn alle drei waren tadellos gemacht gewesen. Von so einer Sauberkeit genervt schmiss sich Gilbert in das Bett und durchwühlte die Laken, während er das Buch aufschlug und anfing, zu lesen. Es war nur ein einziger Eintrag, aber der erstreckte sich scheinbar von der ersten bis zur letzten Seite, und es war auch kein Datum zu sehen. Gilbert runzelte misstrauisch die Stirn. Mon chère Petit Moi Ich fange mit etwas an, was unverrückbar fest steht: Württemberg ist scheiße. Heute, gestern und morgen. Er ist scheiße, weil- Oh Gott, Nein. Auf diese ewige Schimpftirade hatte er echt keinen Bock. Er blätterte ein wenig vor. -der merkt's ja nicht einmal, wenn man ihm ein totes Stinktier vor die Tür legt! Das Ding hat gestunken wie der Randsteinschlotzer selbst! So ein Dödel! Und als- Und damit hatte der Kerl ein so dickes Buch vollgeschrieben? Unheimlich. Kopfschüttelnd trabte Gilbert hinüber zu Hessen Bett. Ach, der interessierte sich doch auch so für Geld... na super. Missmutig, aber höchst motiviert, im Privatleben anderer Leute zu schnüffeln, klappte er das dünne, pechschwarze Büchlein auf. Mein Leben, Teil 4832a 1032010 Ich habe Bernd gesehen. Das ließ sich nicht vermeiden, denn wir sind seit einigen Jahren wieder eine Nation. Glücklicherweise schrob ich in eben diesem Moment eine kleine Abhandlung über die momentane Lage des Euros, deswegen konnte niemand sehen, dass meine linke Hand gezittert hat. Ich bin erwachsen. Ich sollte das in den Griff bekommen. Wenn... Gespannt las Gilbert weiter. Das war wohl doch nicht so ein Langweiler, wie er erst gedacht hatte! Er sprach gar nicht über Finanzen, sondern nur über seine verkappte, zerstörte Beziehung zu Thüringen. Buhuu, Gilbert hatte ja solches Mitleid mit ihm... nicht. Er amüsierte sich köstlich, da war kein Platz für Mitleid. Als der Tagebucheintrag mit einer geschwungenen, eleganten Unterschrift endete, legte er das Buch zufrieden zurück. Dann stolzierte er, nachdem er noch ein paar Klamotten aus den Schränken gezogen und über dem Boden verteilt hatte – wenn die Typen so auf Aufräumen standen, dann sollten sie sich bei ihm bedanken! - aus dem Zimmer direkt in das gegenüberliegende zu Bremen, Bremerhaven und Schleswig-Holstein. Die Wand war blau gestrichen, und das Zimmer sah genauso aus, wie man es von drei relativ jungen, teils ungestümen Jungs erwarten konnte. Gilbert gefiel es ausnehmend gut, um einiges besser als das Spießerzimmer von eben. Er setzte sich sogleich auf einen Bettrand und griff nach einem knallroten dünnen Heft. Tagebuch! Bin mir nicht sicher (Datum später nachtragen) Hier hängt ein Schwertfisch an der Wand!!! Supercool, gefällt mir voll! Und die Wände sind alle rot, ich mag Rot total gerne!- Oh lieber Gott, mach, dass dieser Schund aufhört. Das Tagebuch von Bremerhaven sah genauso aus wie das von Bremen; etwas neugieriger schlug Gilbert es auf und fing an, die ersten Zeilen zu lesen. Tagebuch (Datum nachtragen!) Roland meint, dass im Wohnzimmer ein Schwertfisch hängt. Ich habe ihn mir angesehen. Er ist... interessant... Ich wurde von Berlin begrüßt. Er hat mir eine Zigarette vor die Füße geworfen. Ich glaube nicht, dass Berlin ein allzu freundlicher Mensch ist, aber ich will ihn nicht verurteilen. Einen Moment, Bremen meint gerade, dass die Wände toll aussähen, ich muss- Laaaangweiliges Leben! Ein weiteres Buch, das unsanft gegen die Holztür geschleudet wurde. Blieb in diesem Zimmer nur noch das knallgelbe Notizbuch von Schleswig-Holstein. Es war das einzige Buch, bei dem vorne drauf ein Smiley geklebt worden war. Hey! 11/3/10 Wir haben schon viel Spaß alle zusammen hier! Bremen hat mir einen Schwertfisch gezeigt, boah, der war riesig, ich sag's dir, das war unglaublich!!- Dieser. Verdammte. Schwertfisch!! Sobald Gilbert mit seiner heiligen Mission fertig war, würde er das dumme Teil endlich abhängen, damit niemand mehr davon schwärmen konnte. Grummelnd legte er das Buch zur Seite und schlenderte gemütlich in den nächsten Raum. Er hatte sicherlich noch massig Zeit. Es war der vorletzte Raum, bewohnt von Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen. Zuerst blickte Gilbert sich neugierig um. Der Raum erschien geradezu... normal. Es war nicht chaotisch wie bei Berlin, aber auch nicht so pedantisch ordentlich wie bei Baden-Württemberg und Hessen. Hier könnte man sich glatt wohlfühlen. Zuerst war Niedersachsens Wälzer dran. Gilbert musste einige Zeit blättern, bis er den Eintrag von gestern gefunden hatte. Guten Tag, 12.3.10 Brilliant geht es gut. Er ist im Gestüt einen Kilometer von hier und ich besuche ihn jeden Morgen eine Stunde lang. Ansonsten kümmert sich meine Sekretärin um ihn, während ich mich hier mit Diplomatie herumschlagen muss. Sobald wir morgen nach dem Essen zurückkehren, werde ich einen Ausritt wagen. Ob Brilliant die Gegend gefallen wird? Sein Fell- Okay, okay, der Pferdeflüsterer war hier am Werk gewesen, und Gilbert gähnte. Vielleicht hatte Nordrhein-Westfalen etwas interessanteres über sein Leben zu berichten. Sein Buch war abgegriffen, und als Gilbert es aufschlug, konnte er die Handschrift kaum lesen. Außerdem war sie an vielen Stellen schwarz verschmiert. Hey ho! 11 3 10 Alles läuft klasse hier! Wir /////////// und dann werden wir morgen Wandern! G/////er ge////////// aber nicht in echt! W////- Das war sinnlos. Er konnte das nicht lesen. Der Kerl sollte erst einmal lernen, leserlich und nicht in so einer krakeligen Kleinkinderschrift zu schreiben, bevor Gilbert erfolgreich in seinem Privatleben wühlen konnte. Schwer seufzend und etwas frustriert machte er sich an Thüringens Buch. Es war tiefschwarz und weckte im Betrachter Assoziationen mit etwas sehr Bösem. Mein miserables Leben, Teil 6722 10.3.10 Ich habe Karol gesehen. Dieser verdammte kleine... er kann froh sein, dass er gerade vertieft war in irgendein so ein Schriftstück von ihm, ansonsten... er kann echt froh sein, belassen wir es dabei! ARGH! Er ist so undankbar!! Seit wir wiedervereinigt sind, hat er nicht einmal gesagt, dass er gerne mein Nachbar ist und dass er mir dankbar ist oder so!! Dabei gebe ich mir doch so Mühe, ein guter Nachbar zu sein... ich habe mir immer Mühe gegeben... aber niemand versteht das... warum nur?! Warum muss ausgerechnet ich so ein schreckliches Leben führen? Ich wünschte nur, jemand würde mich davon befreien. Am besten befreie ich mich selbst davon. Aber das geht nicht, ich habe auch noch Verantwortung, ich muss mich- Blablabla, so ein kleiner Emo. Was für eine Kotze, das hing Gilbert zum Halse heraus. Er riss ein paar Seiten hinaus, zerknüllte sie und versuchte, in den Papierkorb zu treffen. Leider war er nicht erfolgreich und ging daher aus dem Zimmer hinaus, direkt in das Zimmer von Sachsen, Sachen und Anhalt hinein. Zwei der Betten waren zusammengeschoben, und ein kleines Grinsen schlich sich auf Gilberts Lippen. Gerade, als er Sachsens Buch in die Hand genommen hatte und anfangen wollte, hineinzuspicken, hörte er Geräusche von der Haustür. Blitzschnell schob er sich das Buch in die Hosentasche und verschwand zurück in seinen Keller. Man merkte schnell, dass Gilbert nicht brav an seinem Laptop gesessen hatte, aber das war den meisten Bundesländern egal, und die, denen es nicht egal war, waren an so etwas gewöhnt und seufzten nur schweigend auf. Schließlich hatte Ludwig sie alle in ein nobles Restaurant eingeladen, in dem allerlei Kartoffelspezialitäten serviert wurden, und bei allen Differenzen hatten sich die Bundesländer darauf einigen können, dass Kartoffeln super waren und glücklich machten. Kapitel 15: 15 - Rund und unberechenbar --------------------------------------- Man hatte es sich in Zenzies Zimmer gemütlich gemacht, denn sie stellte bei dem Auftaktspiel der deutschen Mannschaft die meisten Spieler zur Verfügung. Nicht jeder war gekommen. Viele Bundesländer interessierten sich ganz einfach nicht für Fußball; andere waren beleidigt, dass ihre Spieler nicht in den Kader gekommen waren und blieben daher in ihren Räumen. Bremen und Bremerhaven waren die letzten, die eintraten. Die beiden hatten jeweils ein Sixpack mitgebracht, wobei zumindest der letztere diesem Alkoholkonsum eher skeptisch ins Auge blickte. Auf dem langen, blauweiß karierten Sofa quetschten sich fünf der anderen Anwesenden. Zenzie saß als Gastgeberin in der Mitte und hatte den besten Blick auf den riesigen Flachbildschirm vor ihnen, wo sich gerade Decker und Netzer schon vor dem Spiel einen Schlagabtausch lieferten. An ihren Seiten saßen Hamburg und Niedersachsen, die zwar beide in der Aufstellung heute Abend keine Spieler hatten, aber allgemein auf Fußball standen und daher trotzdem gekommen waren, um einen möglichen Sieg der deutschen Mannschaft zu feiern. Als die Bremer Brüder eintraten, wandte Jette den Kopf um und grinste schief. „Viel Glück mit Özil und Mertesacker, Roland!“ wünschte sie ihm. Natürlich war sie sich sicher, dass zumindest einer ihrer vier Spieler, die von Löw aufgestellt worden waren, im Laufe des Spiels ausgewechselt werden würde – und die Leistungen von Bremens jämmerlichen zwei Witzfiguren in den Schatten stellen würde. Ludwig und Gilbert waren natürlich beide persönlich vor Ort in Südafrika anwesend. Am Rand neben Hamburg saß Württemberg, der mit dem nachgerückten Khedira einen Mittelfeldspieler gegen die Australier ins Rennen schickte. Neben der anderen Lehne saß Berlin, dem ein Aschenbecher hingestellt worden war und der trotzdem auf den edlen Teppichboden aschte. Sein Friedrich, da war er überzeugt, würde als Verteidiger den Kasten sauber halten. Vor Berlin saß Nordrhein-Westfalen, wohl der größte Fußball der ganzen Nation, und hatte sich unzählige Deutschlandfahnen um den Körper gewickelt, viele kleine deutschlandfarbige Gimmicks umgehängt, sich das Gesicht Schwarz-Rot-Gold bemalt und sah allgemein aus wie ein typischer Fußballfan zur WM-Zeit. In der rechten Hand hielt er eine Vuvuzela, aber Bayern hatte ihn schon darauf hingewiesen, dass er nicht einmal daran denken sollte, in diese hineinzutröten. Sein Torwart würde ganz sicher nicht einen einzigen Ball ins Netz lassen, und sein Herz klopfte jetzt schon, wenn er daran dachte, wie Poldi mit dem runden Leder nach vorne stürmen würde und alle australianischen (oder wie auch immer das Adjektiv von Australien war, es kümmerte ihn nicht) Verteidiger einfach elegant umdribbeln würde. Hinter Württemberg lehnte sich Baden an das Sofa an und beobachtete das Geschehen auf dem Fernseher. Er war mitgekommen, weil er jeden einzelnen Fehler des Stuttgarter Spielers gnadenlos ausschlachten wollte. Außerdem musste er natürlich jede Minute darauf hinweisen, dass jegliche gute Leistungen der Spieler heute einzig und allein dem Training von Löw und dessen Assistenten Flick, beide gebürtige Badener, verdanken zu waren. Aber niemand hörte ihm zu. Bremen, der einen Stürmer und einen Verteidiger in der Mannschaft hatte, ließ sich mit seinem kleinen Bruder und den zwölf Flaschen Bier neben Hans nieder. Sofort griffen einige Hände nach dem Alkohol, und innerhalb von wenigen Momenten, in denen ein Flaschenöffner herumgereicht wurde, hatte jeder eine offene Flasche Weizenbier in der Hand. Zenzie war höchst zufrieden, was das Ganze anging. Mit sagenhaften fünf Spielern bewies der Bayern München mal wieder, dass sie einfach die besten Fußballspieler im ganzen Land hatte. Zwar war die Gesellschaft jetzt schon nervig (von Pauls Rauchen bekam sie Kopfweh, neben ihr regte sich Maximilian mal wieder auf und die Bezeichnung „Schwabenseggel“ fiel so einige Male, Hans' Vuvuzela trug nichts zur Beruhigung bei und Hamburg stank nach Fisch) aber sie würden die Australier weghauen. Und es gab genug Bier für alle. „Shht!“ machte Georg, als Decker und Netzer zu dem Spiel hinüberschalteten. Baden musste noch seinen Satz zuende bringen („... steigt dein blöder VfB hundertpro ab!“) und wandte dann auch den Blick nach vorn. Jeder ließ den Blick in die Runde gleiten, und für einen kurzen Moment, als sie alle mit ihren Bierflaschen anstießen und im Hintergrund die deutsche Nationalhymne erklang, fühlten sie sich tief miteinander verbunden, und jeder Grund, zu streiten, würde für die nächsten neunzig Minuten verschwunden sein. Kapitel 16: 16 - Allons enfants de la Patrie -------------------------------------------- Mit glänzendem, anmutigem Haar schritt Francis durch den Bundestag. Hinter ihm huschte ein nur wenig kleineres Mädchen her. Seine Plateauschuhe machten bei jedem Schritt einmal leise „Klack“, und das Licht, das hineinfiel, ließ seine gesamte Gestalt glänzen. Am anderen Ende der Halle stand Ludwig mit zwei seiner Gebiete, und er hatte Baden wie auch Saarland jeweils eine Hand auf die Schulter gelegt. Ein deutsch-französischer Gipfel stand kurz bevor, und zur Unterstützung hatte sich Ludwig die einzigen beiden besorgt, die einigermaßen fließend französisch sprachen, einfach als eine Geste der Nettigkeit. Nun... ehrlich gesagt hatte er vor, Francis zu einer wichtigen Transaktion zu überreden – das französische Militär stand kurz davor, sich zu entscheiden, wer der Zulieferer für die nächsten Jahre werden würde, und Heckler & Koch bemühte sich um das lukrative Geschäft – irgendwo in einem Hinterzimmerchen, ganz heimlich und nur unter ihnen, und da wollte er ihn milde stimmen. Etwa einen Meter vor ihnen blieb Francis mit Anhang stehen. Er lächelte auf seine typische französische Art. Baden war kurz davor, ihm um den Hals zu fallen, wurde aber durch die Hand auf seiner Schulter zurückgehalten, und Saarland lächelte ihren Vater fröhlich an. „Guten Tag, Francis.“ Ludwig warf einen Blick auf seine beiden Begleiter, aber Maximilian war zu sehr damit beschäftigt, Francis anzuschmachten, als dass er ihn bemerken würde. Nicole hingegen erinnerte sich an den Plan, den Ludwig zuvor mit den beiden besprochen hatte, und sie knickste artig und begrüßte Francis sowie die junge, hübsche Elsass, die hinter ihm stand, mit einem akzentbeschwerten aber dennoch höchst liebreizenden „Bienvenue!“ Francis grinste breit und musterte die drei Deutschen ohne ein weiteres Wort. Zunächst beugte er sich zu dem Mädchen hinab, das eben gesprochen hatte, fuhr ihr durch das blonde Haar und flüsterte einige obszöne Wörter ins Ohr, die Elsass dezent erröten ließen. Dann, ohne Ludwig einen Blick zuzuwerfen, beobachtete er einen Moment lang Maximilian, der inzwischen ruhig dastand und dem man das verliebte Seufzen geradezu in den Augen ansehen konnte. Der Franzose lächelte in sich hinein – schon sehr lustig, wie sich jahrhundertealtes Misstrauen durch das Auftauchen von Bonaparte so rapide und extrem geändert hatte – und strich ihm sanft über die Wange, was ein entrücktes Seufzen an die Oberfläche zerrte. Ludwig hüstelte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich Unterstützung mitzubringen. Er versuchte, Augenkontakt zu Francis aufzubauen. „Können wir anfangen?“ Sein Ton war einen Tick ruppiger als er es beabsichtigt hatte, aber das schien den Franzosen dazu zu bringen, aufzuhorchen, und ihm forschend in das Gesicht zu blicken. Dann fing er an, zu lächeln, und deutete ein anmutiges Nicken an. „Lass uns unter vier Augen reden.“ Charment zwinkerte er. Ludwigs Miene blieb unbewegt. „L'Alsace soll ein bisschen die weite Welt kennenlernen. Lass sie doch mit le Bade und la Sarre ein wenig herumtollen. Die Stadt kennenlernen, dein Land kennenlernen, oui?“ Ludwig runzelte kurz die Stirn, dann nickte er. Er war schon längst zu einer Nation geworden, die versuchte, alles durch Bereden und Kompromisse zu erreichen und nicht mehr durch Waffengewalt, und nachdem Francis Elsass noch einen verschwörerischen Blick zugeworfen hatte, verschwanden die beiden Nationen hinter riesigen Mahagonitürflügeln und ließen ihre drei Regionen zu dritt zurück. Einen Moment lang stand man da wie bestellt und nicht abgeholt, ehe Nicole ihrer Schwester ein breites, glückliches Lächeln zuwarf. Im Gegensatz zu ihrem Vater liebte sie die Ältere sehr, und Elsass returnierte die Geste, während Maximilian sie bemerkt hatte – nun, als das Objekt seiner Liebe verschwunden war – und ihr glücklich um den Hals gefallen war und sofort anfing, in seinem der französischen Grenze am nächsten gelegenen Dialekt zu reden, was elsässisch schon recht nahe kam. Sie tätschelte ihm mit einiger Zuneigung den Rücken und hoffte, möglichst schnell wieder losgelassen zu werden. Es dauerte nicht lang, bis die drei draußen bei strahlendem Sonnenschein in einem kleinen deutschen Café saßen. Saarland hatte einen großen Eisbecher bestellt, Elsass betrachtete misstrauisch ein Crêpe (auf deutsche Art, selbstverständlicherweise) und Max schlürfte laut einen Milkshake. Alle drei sahen zufrieden mit sich und der Welt aus, und zwischen ihnen herrschte eine harmonische Stille, bis diese von Nicole unterbrochen wurde, die in ihrem gebrochenen Französisch redete, um Elsass miteinzubeziehen. „Was hast du in letzter Zeit gemacht, große Schwester?“ Maximilian, der nicht zurückstehen wollte, hängte sofort ein „Genau, was hast du in letzter Zeit gemacht?“ hinten dran, das in seinem besten Französisch ausgesprochen wurde, und er blickte Saarland mit einem überlegenen Blick an. Elsass lächelte. Nici war ihre süße kleine Schwester, ein Zuckerstückchen für jemanden, der in Francis' Haus lebte bei erwachsenen, intrigierenden Frauen, und sie wünschte sich, dass die Kleine damals bei ihnen in Frankreich geblieben wäre. Sie wäre solch eine angenehme Bereicherung gewesen für alle und hätte Unschuld sowie ihre ganz eigene Art von Pepp hineingebracht... aber nein... Und was Max anging, er war schon immer ihr Nachbar gewesen und so eine Art bester Freund, zumindest behauptete er das ständig, denn er schien ansonsten nicht wirklich viele Freunde zu haben. Aber sie freute sich immer an den ersten Samstag jedes Monats, an dem sie sich besuchten und gemeinsam neue Rezepte ausprobierten. Nicht umsonst waren die beiden in ihren Nationen die Regionen mit der höchsten Dichte an Sterneköchen – von irgendjemand mussten diese Köche ja ihr Talent haben, und dass das alles den beiden Ländern zu verdanken war, da waren sie sich einig. Also lächelte sie. „Nichts besonderes. Das übliche. Ich-“ Max fiel ihr ins Wort. Sein Französisch war wirklich besser geworden, seit er vor einigen hundert Jahren angefangen hatte, es zu lernen. Beeindruckend. Er hatte nur dreihundert Jahre gebraucht, um das Niveau eines siebenjährigen Kindes zu erreichen! „Ist alles in Ordnung in Frankreich? Wegen der Wirtschaftskrise! Ich würde euch sehr gerne helfen, weißt du, aber meine blöde andere Hälfte will kein Geld lo-“ Auch ihm wurde ins Wort gefallen, dieses Mal von Nicole. Sie lächelte zuckersüß, aber ihre Augen blitzten. „Hör doch auf, immer davon zu reden, von deinem super Württemberg und deinem Geld und alles. Jetzt ist Elsass einmal in Deutschland, da sollten wir doch-“ Max lächelte ein wenig väterlich, während er antwortete und ihren Satz abschnitt. „He, von so einem Miniverschnitt von Bundesland lasse ich mir nich-“ „Besser Miniverschnitt als gar kein Bundesland!“ Alles wurde einen Moment lang still. Nur das Röhren von Autos, das Zwitschern einiger kränklicher Vögel und das Geplappere der anderen Menschen, die an kleinen runden Tischen saßen, störte die Stille. „Ach, halt doch deine Labb, blöde Brunnselpflunz!“ Mit vor der Brust überkreuzten Armen blickte Baden Saarland mit einem Todesblick an. Saarland erwiderte jenen Blick ebenbürtig. Elsass fing an, vollkommen losgelöst zu lachen, und die angespannte Situation löste sich in Nichts auf, denn das Lachen der älteren Frau ließ beide Regionen ebenfalls ein wenig lächeln. Am Ende ging alles gut aus für die deutsch-französischen Beziehungen. Francis unterschrieb den Belieferungsvertrag von Heckler&Koch, Ludwig war höchst zufrieden. Elsass kehrte an der Seite ihres Chefs glücklich und mit leichtem Herzen nach Frankreich zurück, und Saarland und Baden reichten sich die Hände, bevor sie mit der untergehenden Sonne im Rücken nach Hause zurückkehrten. Kapitel 17: 17 - Willkommen Sonnenschein ---------------------------------------- Zwar war das klinisch reine Blau des Swimming Pools des mallorquinischen Vier Sterne-Hotels nicht zu vergleichen mit dem Ozean, der fünfzehn Minuten Weg entfernt lag, aber der Vorteil des Hotels lag darin, dass man einfach nur die Treppen hinunter laufen musste und schon am weiten Schwimmbad angekommen war, das von der warmen spanischen Sonne beschienen wurde. Sommer. Zuhause in Deutschland waren es an jedem Ort mindestens sechzig Grad Celsius im Schatten, und die Bundesländer hatten sich zu einem einwöchigen Sommerurlaub im inoffiziellen siebzehnten Bundesland verabredet. Mallorca, das junge, hübsche bilinguale Mädchen kümmerte sich fleißig darum, ihre Gäste mit allem zu versorgen, was diese wünschten, aber wenn man Gäste hatte wie die Bundesländer war es unmöglich, für Harmonie und Ordnung zu sorgen, ein Leid, das Ludwig allzu gut kannte, dessen Bruder jetzt schon mit einigen anderen mehr oder minder freiwilligen Ländern verschwunden war, denn „es war Party angesagt“ und „er ließ sich das gottverdammte Feiern nicht verbieten“ und er wollte „Disco pogen“ in den angesagtesten Clubs Mallorcas. Um Zwölf Uhr mittags. Manchmal machte Deutschland sich große Sorgen um seinen älteren Bruder. Aber nicht zu viel – denn seine Hauptsorgen lagen im Moment bei den Bundesländern, die wie erwartet nicht unbedingt harmonisch aufeinander reagierten, trotz der angenehmen Temperatur und dem kühlen Wasser, das zur Erfrischung und zum Planschen und vor allem zum Entspannen einlud. Gerade war er an den Pool gekommen und hatte sich auf seine Liege gesetzt, auf der schon seit acht Uhr in der Früh sein schwarzrotgoldenes Handtuch lag, als ihn ein großer Schwall Wasser traf und er aus dem Augenwinkel erkennen konnte, wie Bremen kichernd weglief und ein etwas überforderter Bremerhaven ihm folgte. Perfekt. Nun war auch sein Handtuch durchnässt. Mit einem Gesichtsausdruck, der verriet, wie unzufrieden er mit der Situation war, stand Deutschland auf. Eines der Bundesländer würde ihm sicherlich ein Handtuch ausleihen, damit er sich ordentlich wieder abtrockenen konnte und einen entspannten Nachmittag auf seiner Liege genießen konnte. Zuerst sah er sich nach den nördlichen Bundesländern um, aber alle – mit Ausnahme von Bremen und Bremerhaven, denn ersterer war in Richtung Hotel gerannt und letzterer war ihm gefolgt – befanden sich im Pool und schienen die Sonne zu genießen, die sich oftmals nicht über den Weißwurstäquator hinweg zu trauen schien in Deutschland. Ludwig wollte die fünf – Schleswig-Holstein in einem blau gepunkteten Schwimmreifen, Helgoland und Hamburg auf Zeit vom einen zum anderen Beckenrand schwimmend, Mecklenburg-Vorpommern am Rand treibend und Niedersachsen auf einer dünnen Luftmatratze dösend – nicht stören, und so sah er sich weiter um. Rheinland-Pfalz, Bayern und Saarland hatten ihre Liegen zusammengerückt und waren in ein Gespräch verwickelt; Ludwig schnappte das Wort „Tampon“ auf und wusste, dass er die Frauen ganz sicherlich nicht bei solch einem Gespräch stören würde, denn wenn man Nicoles Blick bedachte, schien das Thema recht, nunja, „weiblich“ zu sein. Als Ludwigs Blick auf Hessen fiel, ging er hoffnungsvoll auf ihn zu. Er stand gerade gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen an einem kleinen Tisch und sie aßen gemeinsam eine Currywurst Rot-Weiß, verwickelt in eine seriöse Diskussion über Geschäfte. Ludwig seufzte innerlich auf; er wollte sie nicht stören, während sie über Finanzen sprachen, denn es war immer wichtig, Finanzen zu besprechen, auch im Urlaub, und er selbst profitierte nur davon, wenn Nordrhein-Westfalen irgendwann zurückkehrte in den Kreis der Bundesländer, die mehr in den Bund einzahlten als aus ihm herausbekamen. Nach einer Drehung um Hundertachtzig Grad fielen Sachsen und Thüringen in Ludwigs Gesichtsfeld, die ebenfalls an einem Tisch standen, aber ohne etwas zu essen und stattdessen mit einem kühlen Milkshake in beider Hände. Bernd sah wütend zu Hessen hinüber und Sachsen redete leise auf ihn ein, aber auch diese beiden konnte Ludwig nicht nach ihren Handtüchern fragen, denn sie hatten sie sich beide um die Körper geschlungen, und das schien auch notwendig zu sein, wenn man bedachte, dass sie beide von der Haarspitze bis zu den Fußsohlen nass waren, vermutlich waren sie gerade aus dem Pool herausgeklettert. Dann verblieb Ludwig nur noch eine Möglichkeit, und er hätte sich gewünscht, diese nicht ergreifen zu müssen. Unwillig drehte er den Kopf in die einzige Richtung, von der er sich bisher noch ferngehalten hatte, aus der schon den ganzen Morgen über zu hören war, wer sich dort befand. Natürlich, Ludwig war gewohnt daran, dass Baden – gelinde gesagt – nie erfreut darüber zu sein schien, in der Nähe Württembergs zu sein, aber er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, denn die beiden waren fleißig und lieferten ihm hervorragende Ergebnisse. Außerdem befanden sich dort auch noch Berlin und Brandenburg, die eigentlich immer ganz gut miteinander zurecht kamen... zumindest waren sie leiser und nicht ganz so enervierend. Im Moment herrschte allerdings ein gewisser Verteilungskonflikt: vier Personen, aber nur drei Handtücher. Das Problem bestand darin, dass Baden sich auf gar keinen Fall ein Handtuch mit Württemberg teilen wollte – ohne Handtuch auf der Liege gab es hier allerdings auch keine Liege. Daher hatte sich Maximilian zu Berlin gesetzt und die beiden waren etwa um das Zehnfache lauter als sie es für sich allein gewesen wären. Zwei leere Bierflaschen am Rand glitzerten im Sonnenschein, während Ludwig sich äußerst vorsichtig, als würde er sich in ein Raubtiergehege begeben, dem ungleichen Quartett näherte. Brandenburg beobachtete misstrauisch, wie Baden und Berlin mit jeder verstreichenden Sekunde immer unerträglicher wurden, und als Paul einen Arm um seine Schultern schlang und etwas von „... und dann gründen wir Berlin-Baden-Brandenburg!“ brabbelte, versuchte er, sich der Berührung zu entwinden und klammerte sich schutzsuchend an sein Handtuch mit dem roten Adler, als könnte der Vogel ihm helfen, den Expansionsbestrebungen der anderen beiden entkommen zu können. Als Albrecht sah, dass Ludwig auf die vier zukam, erlaubte er sich ein erleichtertes Seufzen. „Entschuldigt...“ Deutschland versuchte, zumindest eines der wertvollen, umkämpften Handtücher wenigstens für einen Moment erlangen zu können, aber gerade hatte er ein Wort gesagt, da war Württemberg ihm ins Wort gefallen, der die Sonnenbrille von der Nase genommen hatte und sich aufgesetzt hatte. „Mäxle, lasst doch den Brandenburg in Ruh', der-“ „Labb halte, Ochse!“ „Ganz genau! Klappe, Schwabe!“ Im Gegensatz zu Maximilian grinste Paul breit, während er seinem Freund zustimmte. Aber man hatte die Aufmerksamkeit der beiden von Albrecht weggezogen, der eine Flasche Sonnenmilch in die Hand nahm und sich zum dritten Mal in einer Stunde eincrémte. Er hatte keine besonders große Lust darauf, am Ende dieses Urlaub als Hummer nach Hause zurück zu kehren. „-will auch nur ein wenig die Sonne genießen und-“ Lukas ließ sich nicht davon beirren, unterbrochen zu werden, und das wäre auch schlecht, denn dann würde er wohl gar nichts mehr sagen können. „Ist doch eh alles deine Schuld!“ Baden holte kurz Luft, ehe er weiterredete. „Ja, wenn du mir nicht immer alles wegnehmen würdest-“ „-es ist ja auch so schon schwer genug im Osten, da müsst ihr nicht-“ „-dann müsste ich nicht zu Berlin-“ „-noch mehr drauf schlagen, bumm, bumm-“ „-obwohl, doch, das würd ich trotzdem machen, weil Berlin um einiges-“ „-bumm, als wären die nicht schon tief genug am Boden-“ „-cooler ist als du es jemals sein wirst-“ „-und das bisschen Sonne sollte er doch genießen-“ „-und kannst du mal endlich deine Klappe halten?!“ Kurz war Ruhe. Berlin hatte sich während dem Gespräch schon wieder fröhlich Brandenburg zugewandt und hatte angefangen, zu versuchen, ihn von der Liege hinab zu schubsen. „Würde mir jemand ein Handtuch leihen?“ Deutschland klang verzweifelt. Vier Augenpaare ruhten einen Moment auf ihm. Dann öffnete Paul, der sich grundsätzlich immer angesprochen fühlte, den Mund. „Warum das denn? Bist doch gar nicht nass.“ Erstaunt sah Ludwig an sich hinunter, und seine Bundeshauptstadt hatte Recht. Er war von der warmen spanischen Sonne vollkommen getrocknet worden während seiner Suche nach einem Handtuch. Jeder andere hätte wohl ironisch gelächelt; Ludwig drehte sich um und versuchte wieder, den Urlaub zu genießen. Kapitel 18: 18 - Es wächst zusammen, was nicht zusammen gehört I ---------------------------------------------------------------- Der bald entstehende Südweststaat saß sich gegenüber. Beide waren nur noch ein Schatten ihrer selbst. Wie an allen Regionen hatte der Krieg auch an ihnen gezehrt. Zuerst hatte man sie während der von allen Republiken, Freistaaten und ähnlichem verfluchten Gleichschaltungspolitik unter dem Führer ihrer Macht beraubt, und dann waren sie mit ihren Kindern an der Front gestanden und hatten zusehen müssen, wie das Reich auseinanderfiel und ihre Kinder in Massen starben, ob an gegnerischen Waffen, Unterkühlung oder einem grausamen Hungertod, auch noch weit, weit hinter der Front, im Herzen der Länder. Vielen Ländern ging es jetzt wieder etwas besser. Sie waren geradezu wiedergeboren, erstarkt, größer und mächtiger, als sie es zuvor gewesen waren, auch wenn sie an den Folgen von zwei Weltkriegen laborierten und es wohl noch eine halbe Ewigkeit dauern würde, bis sie sich erholt haben würden. Im Gegensatz zu Baden und Württemberg. Beide waren von den Alliierten zerrissen worden und man sah es ihnen deutlich an – sie hatten keine Möglichkeit gehabt, sich vom Krieg zu erholen. Eingefallene Wangen, tiefe Augenringe, die sich in beider Gesichter gruben und zerfledderte Kleidung, ein Anblick, der bei den beiden ordnungsliebenden Regionen ansonsten sehr selten war. Sie waren dürr, und gerade Baden, der auch sonst noch nie besonders gut genährt gewirkt hatte, war skelettartig. (Das sollte sich rapide ändern. Es würde nur wenige Jahrzehnte brauchen, bis die beiden sich vollständig erholt haben würden, und noch mehr als das. Ihre Lebensgeister würden frisch sein, ihre Energie den Energien anderer Bundesländer weit vorwegrennen und die beiden zu einem der reichsten und erfolgreichsten Bundesländer machen.) Sie befanden sich im Jahr 1951, und es war eine unangenehme Zeit für die beiden, die zusammen und doch getrennt waren. Aufgeteilt in die drei Teile Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern hatte man sie beide in der Mitte zerschnitten. Aber zur Zeit zeigte sich am Horizont ein kleiner Streifen Hoffnung: die Allierten wünschten, dass die drei Länder sich zu einem Südweststaat zusammenfassten. Baden und Württemberg fürchteten, zu sterben. Zwar favorisierte Baden eine Wiederherstellung der separaten Länder Baden und Württemberg, aber alles war besser, als von der Bildfläche zu verschwinden. Vor dem großen Fenster fiel Schnee, ungewöhnlich früh dieses Jahr. Es würde eine harte Ernte werden, noch ein Grund, sich Sorgen zu machen. Württemberg war daran gewöhnt, Hunger zu leiden. Sein Land war von Anfang an nie sehr ertragreich gewesen, weder was Landwirtschaft anging, noch was Bodenschätze anging, und wenn er wüsste, dass sich das zu seiner großen Trumpfkarte entwickeln würde, wäre er wohl dankbar – im Moment war nur hungrig. Die beiden waren in tiefschwarzen Anzügen gekleidet, aus unterschiedlichen Gründen. Was Baden anging, so war der heutige Tag für ihn ein Trauertag. Es war der Tag der Abstimmung, die sein und Württembergs Schicksal entscheiden würde, und überall zeichnete sich ab, dass er verlieren würde, dass er sich in den neuen Südweststaat würde eingliedern müssen. Es war nicht gerecht. Man hatte ihn und Württemberg in vier Wahlbereiche – Nordbaden, Südbaden, Nordwürttemberg und Südwürttemberg – gegliedert; aufgrund geschickter Verteilung der Wahlkreise würde auch die Region Nordbaden für das neue Bundesland stimmen, und die Schwaben sowieso, sodass am Ende drei der Wahlkreise für Baden-Württemberg sein würden und nur Südbaden dagegen. Und obwohl ihm dieses Ergebnis jetzt schon so klar war, war das noch kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Er war ein Kämpfer, er nahm Niederlagen nicht einfach so hin, ohne sich zu wehren. Maximilian hatte schon anderes durchgemacht – aber niemals etwas so schlimmes, wie die Unabhängigkeit als Republik zu verlieren und als lächerlicher Teil eines Bundeslandes wieder auf zu erstehen. Sein Blick wanderte unstet über Württemberg. Draußen zwitscherten ein paar wenige Vögel. Lukas hatte alles versucht, war in den letzten Wochen sogar selbst mit Maier auf Wahlkampf gegangen um zu versuchen, die Württemberger und vor allem die Badener davon zu überzeugen, dass der Südweststaat der einzig richtige Weg war. Es gab viele Gründe, die seiner Ansicht nach für diesen neuen Staat sprachen: erstens war es vernünftig. Gemeinsam waren sie stärker, und obwohl Baden manchmal ein wenig exzentrisch war, so war er verlässlich und Württemberg wusste, dass er genauso talentiert wie er war, wenn es um Technologie ging – gemeinsam würden sie Deutschland überrollen können mit Automobilen und ähnlichen handwerklich anspruchsvollen gefertigten Dingen. Und zweitens wünschte er sich das. Er war schon so lange allein gewesen, mit der Bayerin an seiner östlichen Seite, die zu nichts zu gebrauchen war. Gerade von jemandem wie Maximilian, in dem er einen unvergleichlichen, weltgewandten Lebemann sah, versprach er sich ein vielleicht nicht immer ganz harmonisches, aber alles in allem sehr glückliches und entspanntes Zusammenleben. Er mochte ihn, der ihn in eben diesem Moment aus bösen Augen anfunkelte, und er fragte sich, warum er das tat. (Das würde Württemberg sich in seinem Leben noch sehr viel öfter fragen, aber davon ahnte er in diesem Moment noch nichts – es würde auch nichts an seinem Entschluss ändern, eine Fusion der beiden anzustreben.) Baden und Württemberg fielen auf in dem Regierungsgebäude in Stuttgart, das zurzeit den Bezirk Württemberg-Baden verwaltete. Alle Beamten trugen graue oder weiß-grau-gestreifte Anzüge mit schwarzen oder weißen Krawatten. Badens Krawatte war in einem stolzen rot-gelben Muster gehalten, Württembergs Krawatte strahlte in einem wunderschönen Gold, das signalisierte, dass er nicht vorhatte, auf seine eigenen Landesfarben zu beharren und bereit war, die von Baden zumindest teilweise zu akzeptieren. Die Zeit verstrich. Ein paar Mal hatte Lukas sich an Small Talk versucht, war aber an einem eiskalten Max abgeperlt. Es war der Tag der Abstimmung. Bald würden die Ergebnisse eintreffen. Max wollte kein Teil eines anderen Bundeslandes werden, allein der Gedanke erfüllte ihn mit Grauen, und gerade mit Württemberg... wenn es wenigstens eine schöne Frau wäre oder jemand Perfektes wie Frankreich, aber nein, es musste ausgerechnet der alte Langweiler Württemberg sein, der zwar gut war, um Geschäfte mit ihm abzuschließen, aber sonst ein unsympathischer, engstirniger Protestant war. Und wenn sie sich zu einem Land vereinigen würden müssen... hastig verscheuchte Maximilian die Bilder von seinem Inneren Auge und stand auf. Ein Staatsdiener trat ein. Es war später Abend. „Herr Baden, Herr Württemberg...“ Er versuchte sich an einem Lächeln, aber keines der beiden Länder erwiderte es, beide waren zu angespannt. „Es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie bald Baden-Württemberg sein werden.“ Baden wurde bleich und auf Württembergs Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen. Maximilian stand auf, hielt sich mit einer Hand den Bauch und rannte ohne ein Wort der Entschuldigung aus dem Zimmer. Etwas verwundert blickte man ihm hinterher, und dann stand Lukas irritiert auf, nur, um den Badener direkt vor der großen Holztür hockend, die Beine angewinkelt und den Kopf im teuren Anzug verborgen, aufzufinden. Schweigend setzte er sich neben ihn. Maximilians ganzer Körper schüttelte sich vor Schluchzen, oder war es gar Weinen, Lukas konnte es nicht sagen. Das einzige, was er tun konnte, war, eine Hand auf die Schulter des anderen zu legen, die prompt abgeschüttelt wurde. Er versuchte, etwas zu sagen, aber Maximilian sah ihn nicht an und zwischen seinem Schluchzen presste er ein paar unfertige, hysterische Satzstücke heraus, die zu keiner Beruhigung der Lage beitragen konnten. Seine Welt war zerbrochen, und er konnte sich nicht dagegen wehren. - Gäbe es einen Wettbewerb für peinlich berührte Stillen, so wäre die Atmosphäre in dem kleinen Raum ein Favorit der Wettbüros auf den Sieg, mit einer Quote von 200 zu 1. Es war ein typisch spärlich möbliertes Nachkriegszimmer, obgleich der Aufschwung in der Luft lag. (Noch war nichts zu ahnen von dem Reichtum, der das Bundesland in den nächsten Jahrzehnten ereilen würde.) Es gab eine gelblich angelaufene Lampe, von der Decke hängend und das Zimmer nicht wirklich gründlich ausleuchtend; ein dünner, weißer wackeliger Schreibtisch markierte den Raummittelpunkt; zwei zum Tisch passende Stühle standen sich gegenüber, und zwei Personen standen weit voneinander entfernt und sahen sich nicht in die Augen. Auf dem Tisch lag das Dokument zur Gründung des neuen Südweststaats Baden-Württemberg mit allen erforderlichen Unterschriften verziert. Fünf Monate nach der Abstimmung war es soweit. Es war beschlossene Sache: Baden und Württemberg büßten die Selbstständigkeit, die sie vor dem Zweiten Weltkrieg und der Gleichschaltung besessen hatten, ein und würden ein einziges Bundesland bilden, mit einem Parlament und gemeinsamer Vertretung im jungen Bundesrat. Der große Unterschied für die beiden Landesteile lag darin, dass Württemberg über mehr Menschen verfügte und mit der Landeshauptstadt die Macht im neuen Bundesland in der Hand hielt, und dieses Machtgefälle missfiel gerade einem selbstbewussten Wesen wie Baden. Aber es war zu spät, es war beschlossen, es konnte nichts mehr geändert werden – ein neues Bundesland – gegen den Willen der Einwohner der ehemaligen Republik Baden, gegen den Willen des gesamten Landesteils. Wenn man eine Fusion zweier Länder mit einer Hochzeit verglich, so handelte es sich bei dieser Fusion um eine von den Eltern arrangierte Hochzeit, nicht aus Liebe, im Gegenteil, trotz Abneigung. Unter diesen Voraussetzungen konnte die „Hochzeitsnacht“, zu deren Zwecke die beiden Landesteile allein im Raum zurückgelassen worden waren, nicht wirklich zur Freude aller ablaufen. Besonders Maximilian hatte sich in seiner Abwehrhaltung verkrampft und starrte die Hände Lukas' fast schon angsterfüllt an. „Ich tu' dir nichts.“ Es war ein harmloses, liebevolles Lächeln auf den Lippen des Schwabens. „Aber es muss sein. Es ist eine Verbindung, Mäxle.“ Und wenn Verbindungen dieser Art eingegangen wurden, dann mussten die Länder geradezu in Übereinstimmung damit handeln, es blieb ihnen keine andere Wahl. Ein wütendes Knurren erfolgte als einzige Antwort. Max würde seinen Körper, der schon so viel gelitten hatte für seine Freiheit, nicht damit beschmutzen, den Schwaben zu berühren, der ihn durch hinterlistige Tricksereien in diese Union gelockt hatte. Es widerte ihn an, und gleichzeitig sehnte sich jede Zelle seines Körpers danach, sich mit Lukas zu vereinigen. Sie waren eins, und er auf einer kranken Ebene wollte er dem Rechnung tragen. „Du weißt das auch. Du spürst das auch.“ Zähneknirschend musste Max, nur für sich selbst, zugeben, dass der andere Recht hatte. Er konnte sich nicht wehren, es war sein neues Dasein als Teil einer Einheit, das ihm das Verlangen nach Nähe und Zweisamkeit aufzwang, und er hasste es. „Aber lass dir Zeit.“ Württemberg lehnte sich an die Lehne eines der weißen Stühle und ließ den Blick auf Maximilian liegen. Er war dieser Fusion gegenüber positiv eingestellt. Er mochte den aufmüpfigen, smarten, katholischen, ja geradzu ausschweifenden Revoluzzer: die beiden waren Gegenteile voneinander und sich gleichzeitig so ähnlich, dass Lukas wusste, dass ihre gemeinsame Zukunft golden scheinen würde. Sie hatten dieselben Stärken, und wenn sie zusammen auftraten, würde ihnen niemand das Wasser reichen können. Für ihn war diese Fusion eine Vernunftehe, zu der sich hoffentlich irgendwann die Liebe gesellen würde. Ja, er hoffte wirklich, dass sich dies zum Guten wenden würde: während dem Kampf um den Südweststaat hatte er bemerkt, dass er für sein Mäxle doch mehr empfand als eine distanzierte Geschäftsbeziehung von normalen Nachbarn. Auf rein persönlicher Ebene, unter der Illusion, sein Dasein als Bundeslandteil vollkommen beiseite lassen zu können – was Nonsens war, denn das gehörte untrennbar zu seinem gesamten Wesen – wünschte er sich eine zärtliche, kleinbürgerliche, ja geradezu spießige, aber glückliche Beziehung mit niemand anderem als Maximilian, und er erlag der naiven Hoffnung, dass diese gewalttätige Vereinigung gegen Badens Willen ein erster Schritt in diese Richtung war. Die Zeit verstrich, aber keiner der Anwesenden merkte, wie spät es wurde. Kein Fenster war in den Raum eingelassen, und so konnte man auch nicht abschätzen, wie hoch die Sonne am Himmel stand. Die Glühbirne in der Lampe fing allerdings an zu flacken, und mit einem Mal stand Max hinter Lukas, hatte die Arme um seinen Bauch geschlungen und atmete unter größter Anstrengung, sich zu beruhigen, ein und aus. Er ertrug es nicht mehr, der Konflikt zwischen dem Wunsch, Lukas fernzubleiben und der Sehnsucht nach ihm schien ihn zu zerreißen, und trotz größtem Widerstand hatte er schlussendlich aufgegeben, und er vermutete, dass er sich bald dafür hassen würde. (Das würde er nicht, denn je mehr Zeit verstreichen würde, desto mehr würde er sich selbst eingestehen, dass Lukas ihn glücklich machte, durch seine Nähe, das wortlose Ertragen jeglicher Anfeindungen, seine Loyalität und sein allgegenwärtiges Lächeln.) Noch sträubte er sich dagegen, Württemberg als etwas anderes zu sehen als einen Usurpator, der ihm seine Souveränität gestohlen hatte und versuchte, ihn auszunutzen, auf allen möglichen Ebenen. Und dennoch, dennoch... er wollte ihn, er wollte niemand anderen, und er hasste sich, er hasste die Welt, er hasste Lukas, der unter seinen Fingerspitzen warum und angenehm war und seine Haut und sein Herz prickeln ließ. Lukas lächelte und ließ seine Hände über die von Maximilian gleiten, ehe er die beiden Paare ineinander verflocht. Der schnell gehende, heiße Atem des Badeners an der Stelle direkt unter seinem Ohrläppchen ließ ihn von Kopf bis Fuß erschaudern, und dann ließ er seinen Partner los, drehte sich noch immer innerhalb der Umarmung um und drückte Max an sich, dem stille Tränen über die Wangen liefen. „Ein einziges Mal, nur, weil wir eins sein müssen. Danach nie wieder.“ (Auch hier lag Maximilian falsch. Das würde nicht das erste und einzige Mal der beiden bleiben, beileibe nicht. Aber es würde das einzige Mal bleiben, dass die beiden sich nicht freiwillig darauf einließen.) Lukas nickte gegen den Hals, an den er seinen Kopf gepresst hielt. Ihm war es egal, was sein Mäxle sagte. Er glaubte ihm nicht, und er wollte ihm nicht glauben, aber Maximilian war nicht der einzige, den es nach dieser Vereinigung verlangte, und Lukas würde alles bejahen, solange er dafür kriegen würde, was er wollte. Ein kurzer Moment verstrich, in dem den beiden klar wurde, worauf sie sich einließen, und dann begannen zwei Paar Hände, die beiden Körper gegenseitig die Klamotten vom Leibe zu reißen, als wären sie von einem Fieber befallen. Erhitzte Haut traf auf ihren Gegenpart, und Leidenschaft vernebelte beider Verstand, bis sie beide nicht mehr die Herren über den Rest ihrer Vernunft waren. Rastlos wanderten Hände über teils sensible, teils raue Haut, untermalt von einem immere schnelleren Hintergrund aus Stöhnen und Keuchen. Obwohl der Frühling noch recht kühl war, schien der Raum von einer subtropischen Hitze erfüllt zu sein. Das Warten zeigte seinen Effekt: alles lief hastig, ungeduldig, und fast schon animalisch ab, und die Klamotten lagen längst vergessen auf dem Boden. Maximilians nackte Oberschenkel gruben sich in die Tischplatte, während er nach oben in den mal verschwindenden, mal hell aufblitzenden Schein der Lampe starrte und nach Luft schnappte. Lukas' Hände lagen von hinten auf des anderen Hüften und nur mit deren Hilfe konnte er sich selbst fest und in der Realität halten. Max verdrehte den Kopf, bis er Lukas ansehen konnte, und mit einer Hand berührte er seine Wange. „Guck mich an, wenn du mich vögelst, Schwabe!“ zischte er atemlos. Die Röte auf Württembergs Gesicht, hervorgerufen durch Anstrengung und Erregung, vertiefte sich ob der Scham, die er bei dem unzüchtigen Wort empfand – das Schwabenländle der 50er Jahre war alles andere als sexuell freizügig – und erst, als Badens Befehl Folge geleistet wurde und er einen Blick aus dunkelblauen Augen, gemeinsam mit dem Wissen um Aufmerksamkeit, die auf ihm lag, erhaschte, ließ er sich vollends fallen und nahm die Vereinigung mit einem lauten Keuchen in Kauf. Ein weiterer Moment verstrich, in dem sich beide bewusst wurden, was sie soeben getan hatten. Badens Tränen fingen wieder an, zu fließen. „Ich hasse dich...“ murmelte er, während Württemberg sich zur Seite drehte und sich auf den klaprrigen Stuhl sinken ließ. Er brummte eine undeutliche Antwort vor sich hin. Die beiden starrten eine Weile vor sich hin, bis Maximilian, dessen Knie bisher zu schwach gewesen waren, um früher zu fliehen, ein paar staksende Schritte in Richtung seiner Klamotten tat, aber von einer Hand, die sein Handgelenk umfasste, aufgehalten wurde. Ohne Lukas anzusehen, denn er wollte ihn nicht in seine eigene Wirklichkeit eintreten lassen, versuchte er erfolglos, sich zu befreien. Der andere hatte sich inzwischen wieder erhoben; mit um einiges stabileren Knien, und seine linke Hand legte sich zärtlich an Max' Wange, um die getrockneten Tränenspuren zu verwischen. Eine Gänsehaut breitete sich auf Maximilians Körper aus. Stille legte sich über und um die beiden wie ein samtener Umhang und erstickte jedes weitere Wort und jede weitere Tat. Kapitel 19: 19 - Es wächst zusammen, was nicht zusammen gehört II ----------------------------------------------------------------- Er blieb länger in der Wahlkabine als die meisten anderen Wähler, und als Baden wieder hinaus trat, hing ein schiefes Lächeln auf seinen Lippen. Kurz sah er sich um, entdeckte ein paar Vertreter des „Heimatverbunds Badnerland“ und winkte ihnen siegessicher zu, dann machte er sich auf den Weg vom Karlsruher Rathaus hin zur Pyramide, wo Württemberg mit Händen in den Hosentaschen wartete. Die Luft flirrte vor lauter Hitze, und selbst für Karlsruhe, eine der wärmsten Städte Deutschlands, war es ungewöhnlich schwül und heiß. Nur die dunklen Wolken am Horizont kündigten ein schweres Gewitter an, und deswegen waren die meisten Leute, wenn sie nicht zur Abstimmung gegangen waren, sicher zuhause in ihren Häusern. Noch immer mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen grüßte Max den anderen; sein Gruß wurde erwidert und sie liefen schweigend nebeneinander durch den ruhigen Schlossgarten, der fast wie ausgestorben erschien. In der Ferne hörte man einen Hund bellen und sein Frauchen hell lachen. Ja, viele Leute waren bei der Wahl – nach zwanzig Jahren, als die damalige Abstimmung für verfassungswidrig erklärt worden war, fand endlich die lang ersehnte neue Abstimmung statt über die Loslösung Badens von Württemberg. Diesmal würde die Wahl völlig korrekt ablaufen. Aber in zwanzig Jahren hatte sich viel verändert. Diesmal war Maximilian sich tatsächlich sicher, dass es haushoch dazu kommen würde, dass sie zusammen blieben, er konnte den Wunsch in seinen Kindern brennen fühlen. Unter einer großen Eiche im Schutz des kleinen Wäldchens mit Blick auf die Rückseite des glänzenden Schlosses blieben sie stehen, und über ihnen sang ein Amselpärchen. Maximilian lehnte leger an den großen Stamm, und Lukas blieb vor ihm stehen, mit knirschender Erde unter seinen Schuhsohlen. Die Wolken zogen sich zusammen, und ein paar Tropfen gelangten durch den Wipfel der Eiche zu ihnen hinunter. „Na...“ „Na was?!“ Schon war der Friede beendet, schon war in Max' Stimme ein aggressiver Unterton zu hören. „Na, was du gewählt hast.“ Wie immer war Lukas' Stimme friedlich und beruhigend, und wie immer zeigte dies den gegenteiligen Effekt bei Maximilian. „Das geht dich nichts an!“ wurde ihm recht böse geantwortet. Die Blicke der beiden trafen sich. Lukas lächelte. Max' Augen lächelten. Als Württemberg wieder sprach, war sein Lächeln erstorben und sein Ton ernst. Der Regen fing an, spürbar zu werden auf der Haut der beiden, denn keiner hatte sich besonders warm oder schützend angezogen. „Wir bleiben zusammen, nicht wahr.“ Es war keine Frage, und dennoch; wenn man Lukas kannte, dann wusste man, dass eine subtile Sorge in seinen Worten mitschwang. Wäre er sich seiner Sache vollkommen sicher, hätte seine Stimme ihren üblichen leicht tänzelnden Klang. Irgendwo würde Maximilian ihm gerne widersprechen, aber dann nickte er. Das Wasser lief durch seine Strähnen seinen Hals hinunter. „Wir verlassen dich nicht. Sie lieben Baden-Württemberg.“ Sein Tonfall war bitter. „Und du? Was ist mit dir?“ Der Tanz war in seine Stimme zurückgekehrt. Max zuckte mit den Schultern. Er wandte sich ab, betrachtete die Rinde des alten Baumes, und dann lag eine Hand auf der Schulter, mit der eben die Konversation zu einem Halt gebracht hatte. Lukas atmete ruhig. „Versteh' schon. Ich find's gut, dass wir zusammen bleiben. Ich liebe Baden-Württemberg, Mäxle.“ Max versuchte, den Augenkontakt zu vermeiden, aber Lukas hatte seinen Kopf nach vorne gelegt und wagte es, zu zwinkern. „Baden-Württemberg?“ fragte Baden heiser nach. „Nicht...?“ Sofort schüttelte Württemberg den Kopf, sodass seine Haare Badens Wange kitzelten. „Doch. Auch. Dich. Mich. Uns, zusammen. Du verstehst das.“ Die Hand schlang sich um Max' Hals, spielte mit seinen Haaren und zog ihn näher, bis die beiden Wange an Wange vor dem Baum standen. Die andere Hand suchte sich einen Weg durch die dünnen Schicht von Badens Kleidung, bis sie an seiner freigelegten Haut angekommen war und sanft über die Brust des anderen strich. „Was-?!“ „Shh...“ Maximilian wurde rot, aber wie durch ein Wunder blieb er auch tatsächlich still und ließ Lukas gewähren, ließ ihn seine Haut erkunden, und er hörte, wie der andere dabei wohlige Geräusche von sich gab. „Seit damals... haben wir uns nicht einmal berührt...“ Ein ersticktes Grummeln von badischer Seite folgte, aber der Schwabe redete schon weiter. „Aus gutem Grund. Du willst dich nicht daran erinnern, hm? War es so schrecklich? Ich hatte doch keine Wahl-“ „Hältst du endlich mal deine Labb?!“ Max' Hand hatte sich über Lukas' Mund gelegt, und dann näherte er sich ihm mit dem eigenen Mund, und im letzten Moment zog er seine Hand weg, sodass sich ihre Lippen zaghaft berührten. Man konnte fühlen, wie beider Atem schneller ging, aber niemand sich traute, die letzte Entfernung zu überbrücken. „Lukas. Ich werde niemals – niemals, verstehst du das? – sagen, dass ich dich liebe. Dafür bist du mir zu wichtig. Ich weiß sehr wohl, dass du keine Wahl hattest, und du solltest mich kennen, ich bin nicht ungerecht!! Und ich- ich-“ Das Lächeln erschien, das Maximilian immer um den Verstand brachte, ob aus Wut, Zuneigung oder Hass wusste er selbst nicht zu sagen. „Du musst es nicht sagen. Ich verstehe dich.“ Und dann sagte er das, was alles war, was Max jemals von ihm hatte hören wollen. „Ich brauche dich.“ Und er zweifelte keine Sekunde an der Wahrheit dieser Aussage. Zuneigung, Liebe, Abhängigkeit, wie auch immer man es nennen wollte, überschwemmte Maximilians Herz zu diesem spießigen, pedantischen, machthungrigen, dämlichen Vollidioten, und er vergrub das Gesicht in Lukas' Haar, das er sonst immer nur spöttisch als „köterblond“ bezeichnete. Seine Hände zitterten in der nassen Regenluft, aber er war dennoch fähig, die Knöpfe von Lukas' Hemd nacheinander zu öffnen und, als er diese Aufgabe heldenhaft gemeistert hatte, eben diese zitternden Hände an des anderen Rücken zu schmiegen. „Sag das noch einmal.“ Die Worte kamen nur schwerfällig aus seiner Kehle. „Ich brauche dich, Mäxle. Ich brauche dich, ich brauche dich. Ich brauche dich.“ Ein entzücktes, geradezu verliebtes Seufzen entwich seinen Lippen, und er drückte seinen Partner eng an sich, der im Gegenzug Max das Hemd vom Körper streifte, einen Schritt in Richtung des Baumstamms tat und Maximilian infolgedessen mit nacktem Rücken gegen den Stamm presste. „Nochmal.“ Seine Stimme war leiser geworden, sehr leise, aber es gab keinen Zweifel, dass Lukas ihn würde hören können. „Ich brauche dich. Ich-“ Auch Lukas war leiser geworden. „-brauche-“ Seine Stimme war rauer geworden. „-dich.“ Geradezu atemlos. Die Hände des Schwaben fanden ihren Weg hinab zu Maximilians Hosenbund. Der Regen, der inzwischen Ausmaße eines Platzregens eingenommen hatte und beide schon völlig durchnässt hatte, blies die schwüle Luft hinweg und ließ eine kühlere Luft ihren Platz einnehmen. Aber das machte den beiden Personen nichts aus; obwohl sie bald beide von ihren Hosen befreit waren, wärmte sie die Hitze in ihrem Inneren, hervorgerufen durch die körperliche Nähe, genauso, wie eben diese körperliche Nähe zur Wärme von außen beitrug. Würde auch nur ein Fünkchen Verstand noch in Max' Kopf aufglimmen, so würde er wohl den Einwurf vorlegen, dass die Eiche, unter der schon der Stadtgründer geritten war, wohl kein so passender Ort war, um mitten am Tag mit Württemberg Sex zu haben. Aber sein Verstand war unter den Berührungen von Lukas hinweggeschmolzen, und was Lukas anging, der noch ein wenig klarer bei Sinnen war, so verabschiedete sich dessen Vernunft, als sein Mäxle die Worte „Ich habe- gegen- meine Unabhängigkeit- gestimmt...“ gegen seinen Mund hauchte, bevor zwei spröde Lippenpaare sich miteinander verbanden. Alles war anders. Diesmal hasste Maximilian sich nicht selbst, und Lukas wusste das, und das ließ zu, dass er Glück empfand. Diesmal geschah alles freiwillig; zärtliche Berührungen und Küsse wurden ausgetauscht, und es war nicht die Kälte oder die Nässe, die die beiden erschaudern ließ. Gerade letzteres ließ sie aneinander kleben, und Max' Lippen fanden immer wieder den Weg zu Lukas' Muttermal, um jedes Mal einen schmetterlingsartigen Kuss darauf zu setzen. Diesmal behielt Württemberg Baden von Anfang an im Blick, und niemand brach diesen Blickkontakt, der alles übermittelte von der Beziehung der beiden: den Hass, die Indifferenz, das forcierte Zusammenleben, den gemeinsamen Erfolg und die verzweifelte, naive Liebe. Diesmal war es kein abgeschlossener Raum; die frische Luft biss die sensible, freigelegte Haut, aber das war nicht von Bedeutung. Diesmal wurde Max nicht an einen alten Tisch gedrückt, sondern berührte die fast schon weiche Rinde. Aber wieder flossen Tränen – keine Tränen aus Widerwillen, sondern Tränen, die aus purem Glück bestanden. Als Baden-Württemberg als Einheit ihren Höhepunkt erreichten, befanden sich Lukas' Hände an der Erregung seines – Geliebten, und es war ein flatterndes Seufzen, das synchron beiden Mündern entfuhr. Sie blieben ineinander geschlungen auf dem weichen Waldboden liegen, aber nicht allzu lang, denn weder Württemberg noch Baden waren faul, und sie hatten beide noch einiges an Arbeit zu erledigen. Außerdem wollten sie nicht allzu lang in dieser verletzlichen Position in der Öffentlichkeit verbleiben, aus verschiedenen Gründen: der gut erzogene, prüde Württemberg wollte nicht halbnackt mit einem anderen Mann gesehen werden, und Baden, dem als Frankophiler so etwas weniger ausmachte, wollte weiterhin selbst glauben und andere glauben lassen, dass er Schwaben hasste – trotz dem heutigen Umfrageergebnis (am Ende des Tages würden sich 82% der Badener für Baden-Württemberg aussprechen) und dieser zweiten, unendlich liebevollen Vereinigung. Der Regen hörte auf, und sanft wispernd wiegte sich die alte Eiche über das Bundesland unter ihr. - Die Grenzen waren schon längst verschwommen. Seit 1970, als klar geworden war, dass Baden bei Württemberg bleiben wollte, und der in den nächsten Jahren erfolgenden Wahlkreisreform, die die ehemaligen Ländergrenzen nicht mehr im aktuellen Länderbild erkennen ließ, waren die beiden vollständig zu einer Einheit geworden – zumindest auf dem Papier. In den Köpfen der Menschen waren die Grenzen noch vorhanden. Sie hatten viel gemeinsam durchgemacht über die Jahre – und heute war es ihr fünfzigjähriges Jubiläum, sozusagen ihre Goldene Hochzeit. Aber im Gegensatz zu normalen Menschen feierten die beiden dieses Jubiläum nicht sehr... ausgenommen die regen Feierlichkeiten vor allem im östlichen Landesteil Baden-Württembergs, während in Baden sogar Protestveranstaltungen stattfanden. Nach außen hatte sich nicht viel verändert. Die Tür schlug zu, und Lukas trat ein. Das ganze Haus in einem kleinen Dörfle weit draußen auf dem Lande duftete nach Speisen für Gourmetzungen. Baden würde es nie zugeben, aber heute war ein besonderer Tag, und es war nur gerecht, dass Maximilian ausnahmsweise kochte, und wenn er kochte, dann war das Essen, das sie verzehrten, auch immer gut, eine schöne Abwechslung, denn seiner Meinung nach konnte Württemberg nicht kochen (das entsprach natürlich nicht der Wahrheit, er konnte sehr wohl kochen und Baden liebte Maultaschen und Spätzle). Extra für diesen Tag hatte er die besten Zutaten besorgt, und während er in der Küche stand mit Haaren, die oftmals gefährlich nahe dran waren, in das Essen zu fallen, verkniff er sich sogar, wie sonst immer beim Kochen, das Badnerlied zu pfeifen. Daher war das Haus still, als Lukas eintrat und durch den dünnen Flur in Richtung Küche ging, natürlich nicht, ohne sich vorher die Schuhe säuberlich abzustreifen. Auf dem edlen Teppich konnte kein Körnchen Staub entdeckt werden, selbst, wenn man mit einem Elektronenrastermikroskop auf die Suche gehen sollte. Der Teppich war allerdings auch das einzige, was auf den hier herrschenden Reichtum hinwies. Die Couch im Wohnzimmer war vierzig Jahre alt, die Lampe fünfunddreißig Jahre alt, die Regale zwanzig Jahre alt, die Bücher vom Flohmarkt und das Haus selbst aus dem Mittelalter, nur ein wenig renoviert. Aber alles war auf Hochglanz poliert, und man würde nicht glauben, dass dieses Haus sehr wenig Geld verschlang – auch, wenn oftmals irgendetwas einfach aufhörte, zu funktionieren. Aber das war nicht schlimm, denn es wurde meist in Windeseile repariert. Die Küche glänzte wie aus dem Ei gepellt – sah man einmal davon ab, dass Maximilian, vollkommen in seinem Element, überall Utensilien verstreut hatte. Lukas klopfte, obgleich er schon eingetreten war, ein blonder Haarschopf flog herum und der Schwabe wurde misstrauisch gemustert. Als Max' Blick auf den Strauß roter Rosen fiel, der in Württembergs Händen lag, wandte er sich wutschnaubend wieder der Suppe zu, die fröhlich vor sich hin blubberte. „Geh ins Esszimmer. Es gibt Flädlisuppe als Vorspeise, Rehrücken und Bibbeliskäse als-“ „Warum denn so viel? Ist doch gar nicht Sonntag.“ Der Schwabe wurde nicht mit einem Blick gesegnet. „Ist doch egal, Mensch. Freu dich doch, dass du nicht kochen musst und mich dafür schuften lässt.“ Aber beide lächelten. Der Strauß Rosen verblieb auf dem Küchentisch, während Lukas den Esstisch deckte mit dem treuen Geschirr, teils aus den fünfziger Jahren, teils aus den sechziger Jahren, teils aus den siebziger Jahren, teils neuer – regelmäßig landeten in diesem Haushalt Teller an den Wänden, die von Baden geschmissen wurden. Die Nachbarn machten sich schon seit Jahrzehnten Sorgen um dieses schwule Pärchen, das sich immer so laut stritt und jeden Tag so wirkte, als würde es auseinandergehen. Mit dem großen Topf in beiden Händen ging Max, als die Suppe fertig war, nach draußen und warf den vergessenen Rosen auf dem Tisch einen überheblichen Blick zu. Typisch. Rosen. Als wäre ihm nichts besseres eingefallen. Unkreativer Seggel. Ohne Tischgebet setzte man sich, und die alten Schüsselchen wurden mit Brühe und hineingeschnittenen Pfannkuchenstreifen gefüllt. Ein edler Jahrgang Wein stand auf dem Tisch. „Alles Gute zum Hochzeitstag.“ Maximilian verschluckte sich und sah Lukas aus wütenden Augen an. „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du endlich deine Labb halten sollst?!“ Die erste Erwiderung war ein breites Lächeln, das Max nach all den Jahren noch immer wütend und glücklich machte, und er vermutete, dass sich das auch niemals ändern würde. Die zweite Erwiderung waren leise Worte. „So oft du willst.“ Darauf wurde nichts geantwortet. Die Nachbarn erfreuten sich der seltenen, harmonischen Stille. Nach dem lang andauernden, relativ ruhigen Abendessen begab man sich in die Zimmer, denn es gab zwei Schlafzimmer in ihrem gemeinsamen Haus, wie Baden niemals müde wurde, es allen Leuten zu erzählen, die nicht schnell genug weglaufen konnten. Aber es war kalt, und die Heizung blieb ausgeschaltet, um Kosten zu sparen; und man fand sich bald in einem einzigen Bett wieder, es war nicht wichtig, wer zu wem gekommen war, mit zerwühlten Laken, zerwühlten Haaren und als Abbild der Landkarte von Baden-Württemberg eng aneinander geschmiegt. Württemberg lächelte, während er einschlief. Er hielt in den Armen, was er brauchte, und alles andere konnte und wollte er entbehren, solange Baden ihn nicht allein ließ – sollte er das tun wollen, würde er ihn daran hindern, mit allen möglichen Mitteln. Aber Baden würde niemals mehr fliehen wollen. Für Lukas war ein Leben ohne Maximilian unmöglich geworden. Baden blieb länger wach und dachte über sein Leben nach und darüber, was schief gelaufen war, dass er nun bei Württemberg wohnte. Erst, als er das vertraute regelmäßige Atmen hörte und wusste, dass der andere ihn nicht mehr sehen konnte, erlaubte er sich selbst, zu lächeln. In diesen dunklen, stillen Stunden war ihm immer klar, dass er nicht auf die Nähe des anderen verzichten wollte. Ein Leben ohne Lukas war sinnlos geworden. Gegenseitige Abhängigkeit hielt sie fest in ihrem Griff, aber keiner der beiden würde diese teuren und prachtvollen Fesseln jemals wieder abstreifen wollen. Kapitel 20: 20 - Aufrecht ------------------------- Ganz Deutschland befand sich in den Fängen einer mörderischen Hitze, die alle in die Knie zwang, ob groß, ob klein. Nur eine laue Sommerbrise wehte durch das Land, und wo sie auch immer ankam, wurde sie mit Freude begrüßt und mit offenen Armen Willkommen geheißen. Wirbelnd trug der Lufthauch alles mit sich, was er auf seinem Weg durch das Land bemerkte, alle Emotionen, ob Glück, Liebe, Sehnsucht, Verrat, Hass oder Zufriedenheit, und je weiter sie kam, desto mehr Gefühle nahm sie auf. Vom Norden kommend umflatterte die Brise, als sie zum ersten Mal deutschen Boden überflog, den Kopf von Mecklenburg-Vorpommern, der in einer kleinen Nussschale mitten auf einem riesigen See vor sich hin schwelgte. Das Wasser um ihn herum plätscherte beruhigend, und er bewegte sich drei volle Stunden lang nicht, bis man denken mochte, er wäre tot. Die Augen geschlossen, der Mund zu einem leisen Lächeln verzogen und die Fingerspitzen die Oberfläche des Wassers durchdringend war er ein Bild wie von Caspar David Friedrich gemalt, aus purer Harmonie und völlig mit sich und seiner kleinen, aber feinen Welt im Reinen. Könnte die Sommerbrise ihn sehen, würde sie wohl seufzen und sich zu ihm gesellen, neidisch auf so viel Einklang mit den einfachen Genüssen des Lebens, mit Blättergeraschel, Möwengeflatter und dem einschläfernden Geplätschere von klarem, blauem Wasser. Die Brise flatterte luftig leicht weiter in Richtung Süden, wo zwei Bundesländer gemeinsam am Ufer des Wannsees lagen. Brandenburg, der gerade vom Schwimmen zurückgekehrt war, ließ die pralle Sonne seinen nassen Rücken trocknen und hatte die Augen geschlossen, während Berlin ihn mit einem leichten Lächeln auf den Lippen beobachtete und im Schatten einer Weide lag. Sah er Albrecht an, verwischten alle möglichen Emotionen in seinem Inneren, und Paul konnte nicht den Finger darauf legen, wie er es nennen sollte, was er für den anderen fühlte. Er wusste nur, dass er ihm die wichtigste Person auf Erden war, und dass er für ihn durch die Hölle und wieder zurück gehen würde, wenn das Albrecht ein wenig Glück schenken würde. Brandenburg, mit entspannt geschlossenen Augen, blinzelte kurz und sah unfokussiert in die Ferne, wo er mit der warmen Sommersonne auf dem Rücken und der tänzelnden Brise auf seiner Nasenspitze seine Mutter sah, flankiert von seinem kleinen Bruder und Preußen, und die drei verblassten unter der allzu hellen, allzu lebendigen Sonne. Erschöpft schloss er die Augen wieder, aber als er sie wieder öffnete, sah er Berlin, und er sah Berlin lächeln, und er fühlte sich nicht mehr ganz so verbraucht und nutzlos. Solange Paul an seiner Seite blieb, würde sein Herz schlagen, er würde sich nicht zu Bette legen und einfach entschwinden wie so viele Nationen vor ihm. Solange Pauls Herzschlag blieb, würde der Albrechts nicht vergehen. Ein Blatt des großen Baumes, gepflückt von der Brise, fiel raschelnd auf Berlins Kopf und wurde sofort wieder abgeschüttelt, ganz im Gegensatz zu dem Blatt auf Thüringens Kopf, der mitsamt Thüringens Körper gerade auf einem alten Baumstumpf mitten im Thüringer Wald saß und von einer Sommerbrise umweht wurde. Irritiert schüttelte er das Haupt, ohne, dass sein Blatt den Gesetzen der Gravitation gehorchte. Warum sollte es auch... es war sein Ein und Alles. Ohne sein Blatt, ohne sein Grünes Herz, ohne den Wald würde Thüringen nicht überleben können. Die Sonne blinzelte durch die Wipfel und der Geruch von Harz webte ein feines Netz, sodass die Sommerbrise kaum einen Durchlass fand. Daher verblieb sie noch einen Moment an Bernds Seite. Die wispernden Blätter, das knackende Unterholz, das leise Fiepen winziger Mäuse, es war wie die wunderschönste Musik der Welt in Bernds Ohren, dessen angespannte Seele die Chance nutzte, sich von allem zu erholen. Es war still, und es war laut, und die alten Bäume wiegten sich sanft über ihn wie eine Mutter, und wie im Schoße einer Mutter fühlte er sich geborgen in ihren Armen. Die Welt erschien ein wenig ruhiger, ein wenig schöner, ein wenig fragiler – und obwohl der Windhauch entfleuchte, blieb Bernd nicht allein, bei ihm waren alle Geschöpfe des Waldes und die Seele des Waldes, die ihn liebevoll umschloss. Noch immer prallte die Hitze auf Deutschland, und der Windhauch wurde stärker, je näher er der Südgrenze der Nation kam. Ein schwarzhaariger junger Mann saß auf einer modern wirkenden Terrasse und hatte ein alt, teuer und vor allem gelesen wirkendes Buch vor sich auf einem Designertisch liegen. Der Wind ließ die Blätter rascheln und blätterte um, von der ersten bis zur letzten Seite, aber Hessen sah sich das Werk nur mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen an und berührte den organischen Ledereinband liebevoll. Einzelne vorbeihuschende Wörter flogen über seine Augen, Wörter, die sich schon vor langer Zeit eingebrannt hatten in seinen Verstand und deren Zusammenhang er sofort erkannte. In seinem Kopf erwachten Prinzessinnen, gute und böse Feen, Ritter, Drachen, Hexen und Einhörner zum Leben, aber davon konnte die Brise nichts wissen, denn sie wanderte, inzwischen zu einem ausgewachsenen Wind herangewachsen, weiter nach Süden, bis an den hintersten Winkel des Landes, an den See Konstanz. Die Alpen hielten die Brise auf und ließen sie eine Weile in umherwirbeln, wo sie Wasser aufnahm und es auf ein Boot spritzte. Nackte Füße, die über die Reling baumelten, wurden nass, aber das war bei diesen Temperaturen mehr als angenehm, und Baden wandte sich um zu Württemberg, der hinter ihm saß und eine Tageszeitung raschelnd durch die Hände gleiten ließ. Bevor der andere ihn sehen konnte, lächelte Maximilian schief und wandte das Gesicht wieder zurück, um einen Blick zu erhaschen auf die glitzernden Wellen unter seinen Zehenspitzen. Dieser Wochenendausflug war schon seit vielen Jahren geplant und bisher lief alles perfekt nach Plan, nichts ging schief. Maximilian hing gedanklich zwischen einer Hass gebärenden Vergangenheit und ihrer liebevollen Gegenwart, und als er erneut einen Blick über seinen Rücken wagte und einen Blick aus dunkelblauen Augen, die sanft über den Zeitungsrand lugten, traf, überwog die Gegenwart, und die Zukunft, die sich in beider Augen widerspiegelte. Nachdem die Brise durch zwei blonde Haarschöpfe gewirbelt war und sie beide durcheinandergebracht hatte (sodass Max' Haargummi in das Wasser gefallen war, er natürlich sofort hinterhergesprungen war und auch Lukas noch im See gelandet war, sodass der ganze perfekte Ausflug ein unperfektes Ende nahm) peitschte sie einige Wolken über den Rhein, bis ihre Begleiter anfingen, zu regnen und die Brise nur noch ein Sturmwind unter vielen war. Der Regen fiel auf den Rücken eines Mädchens, das keuchend durch nasse Schlammlöcher rannte und deren Rocksaum nass wurde. Sie hielt ihren Löwen fest an sich gepresst, der schwach mauzte und die Augen fest geschlossen hielt, und sie flüsterte ihm leise Worte des Trostes zu. Bald würden sie zuhause sein, bald würde er trocken sein, bald würde es ihm wieder gut gehen, und das leise Miauen, das immer weniger kläglich, ja fast schon hoffnungsvoll klang, ließ Saarland keinen scharfen Tropfen Regen auf ihrer sensiblen Haut spüren, ließ sie nicht das schneidende Seitenstechen verspüren, sondern ließ sie mit flatterndem Haar den Weg entlang fliegen. Die Brise begleitete Nicole, bis sie zuhause angekommen war, und schlug die Tür hinter ihr zu, und als der Regen aufhörte, zu fallen, verebbte die laue Sommerbrise, die auf ihrer Reise gesehen hatte, was allen anderen Menschen verschlossen bleibt. Kapitel 21: 21 - Rotweiß ------------------------ Offiziell wurde es als Freundschaftsspiel bezeichnet zu Benefizzwecken. Aber als Freundschaftsspiel konnte es nicht bezeichnet werden, denn da herrschte keine Freundschaft. Ein viel treffenderer Name wäre „Ich kann deinen Freund nicht leiden“-Spiel, aber so wurden Fußballmatches im Allgemeinen nicht bezeichnet. Zumindest verfehlte das Spiel seinen Zweck nicht: das Stadion war gerappelt voll und ausverkauft. Die Kapitäne von Hertha BSC und dem VfB Stuttgart reichten sich die Hände, und dann begann die Schlacht der weltoffenen Hauptstadt gegen die Trutzburg des Schwabenländles. Auch die beteiligten Bundesländer waren anwesend, aber in höchst unterschiedlicher Form: Baden und Berlin, dick mit Fanartikeln behängt, jubelten auf der Fantribüne, denn es machte laut Max so mehr Spaß und Paul hatte eh kein Geld für teure Logenplätze. Brandenburg und Württemberg hingegen sahen sich das Spiel aus der überheblichen Perspektive von Logenplätzen aus an, mit einem teuren Büffet an ihrer Seite. Bis zur 45. Minute geschah nicht viel, aber dann traf der VfB in der letzten Minute der Nachspielzeit und die Herthaner kamen eindeutig ins Schwimmen. In der Halbzeitpause hasteten Paul, Max und Karl – ebenfalls als Zuschauer anwesend – hinunter in die Umkleidekabine, und die Anwesenheit von seinem Freund ließ Hertha geradezu vor Freude und Motivation glänzen. Der VfB währenddessen, oder, wie seine wenigen Freunde ihn nannten, „Stuckel“, hatte sich beeilt, hinauf in die mit rotweißen Fahnen drapierte Loge zu gelangen. Er strahlte stolz, und Lukas sah ihn ebenso stolz an, als er eintrat. „Das kann aber noch besser werden, Kleiner!“ Stuckel wandte den Kopf und ließ den Blick von Lukas zu Albrecht und Energie Cottbus – Cott – schweifen. Letzterer hatte gerade eine vor Fett triefende Pommes in ein Glas Mayonnaise getunkt und lächelte etwas debil, aber herzlich. Stuckel lächelte ebenso, allerdings eher arrogant. Er hatte sich diese enervierende Freundschaft aufzwingen lassen, aber so schlimm war es gar nicht. Inzwischen war ihm der seltsame Ossi sogar in einer komischen Weise ans Herz gewachsen, so wie einem Grafen die dummen Bauern in der Umgebung ans Herz wuchsen. Cott beobachtete alle Vorgänge glasklar. Es konnte nur von Vorteil sein, mit einem Klub befreundet zu sein, der so reich und erfolgreich war; zumal sie beide den gemeinsamen Feind in Gestalt des blauweißen Traumpärchens des deutschen Fußballs teilten. Die nächste Pommes erhielt einen roten Überzug. Wenn er sich für diese Freundschaft dümmer stellen musste als er war, weil er VfB daran stand, sich überlegen zu fühlen, dann würde er das tun. Alles, Hauptsache, er hatte jemanden an seiner Seite und musste nicht allein kämpfen... Entspannt ließ sich Stuckel in einen der gemütlichen Ledersessel gleiten, und Cott eilte mit einer Schale Pommes Rot-Weiß an die Lehne, an die Seite des Schwabens. „Auch eine Runde Pommes?“ fragte er mit flirrender Stimme. Ein höchst herablassendes, aber auch liebesvolles Lächeln war die Antwort, und mit einem süffisanten „Ich habe noch eine zweite Halbzeit zu gewinnen.“ nahm er mit gespreiztem kleinen Finger einen einzigen Kartoffelstreifen mit roten und weißen Flecken. Cotts Augen waren groß und er tätschelte Stuckels Kopf, der sich etwas unwillig zur Seite lehnte und Lukas ansah. „Ist Karl auch da? Sieht er, wie ich seinen Schatz in den Boden ramme?“ Lukas zuckte mit den Schultern und blickte zu Albrecht, woraufhin dieser mit einer etwas tonlosen Stimme „Baden ist jedenfalls bei Berlin, sie stehen gemeinsam in der Fankurve.“ antwortete. Ein leises Lachen von Stuckels Seite. „Ja, du spielst echt klasse!!“ jubelte Cott geradezu. Er wollte Hertha leiden sehen, er wollte, dass er dafür bezahlte, dass er sich von ihm abgewandt hatte und stattdessen mit diesem blöden Süddeutschen herumhing. Verfluchter Karl. Was hatte der schon, was Cott nicht hatte? … Pah! Aber Hertha war in Karl verknallt, und es war ja nicht so schlecht, nun mit dem wahrlich erfolgreichen Stuckel befreundet zu sein. Irgendwie mochte er ihn – auf eine verwirrende Art und Weise. Er hätte nach 1990 nie damit gerechnet, sich mit einem Wessi anzufreunden. Aber dann war Stuckel einfach plötzlich in Cottbus aufgetaucht und hatte ihn auf eine Portion Pommes Rot-Weiß eingeladen. Ein paar Monate später hatten sie gegeneinander gespielt, und ein zartes Band der Freundschaft hatte sich aufgebaut, das überraschenderweise bis heute Bestehen hatte. „Geh wieder runter, Schätzele.“ Württemberg tätschelte seinen ganzen Fußballstolz, ehe er ihm auf die Beine half. Bevor Stuckel wieder zurückkehrte zu seinem Teeam, gab er Cott einen Klaps auf die Schulter und schenkte ihm ein seltenes scheues Lächeln. „Viel Erfolg.“ murmelte der Brandenburger ebenso halb eingeschüchtert, ehe der VfB wieder verschwunden war. Kurz nach der Pause fiel ein Tor für Hertha – das blauweiße Meer der Fankurve explodierte; auf der Loge waren die Gesichter lang. „Gegen so einen Zweitligisten?!“ Lukas schien fast panisch zu werden. Albrecht wandte einen leicht angesäuerten Blick zu ihm, erwiderte allerdings nichts – er wollte keine Schwierigkeiten. Cott allerdings, etwas temperamentvoller als sein Bundesland, sah Lukas beleidigt an und flüsterte etwas zu sich selbst, was allerdings ebenfalls verborgen blieb. Das Spiel endete Eins zu Eins – für Hertha ein Sieg, für Stuckel eine Niederlage. Für Hertha ein Sieg, und daher auch für Karl ein Sieg; die beiden machten zusammen mit ihren Bundesländern Berlin unsicher, bevor die beiden Länder vollkommen dicht in einer Bar hängen blieben und die Klubs wie verliebte Schulmädchen kichernd in einem Park verschwanden. Für Stuckel eine Niederlage, und daher auch für Cott eine Niederlage; Stuttgart reiste sofort nach dieser Enttäuschung ab und erlaubte seinem Freund nur ein einziges Mal, ihn zu umarmen. Sie verabschiedeten sich mit einem liebevollen Händedruck, und eine letzte Pommes Rot-Weiß wurde geteilt, bevor der Privatflieger abhob und Cottbus wieder ganz allein war. Kapitel 22: 22 - Familie ------------------------ Endlich war das Haus zur Ruhe gekommen. Es war eine dunkle Zeit für alle Deutschen, eine Zeit, die noch jahrzehntelang heftige Nachwirkungen haben würde. Aber auch in dieser finsteren Zeit leuchtete manchmal ein kleines Licht, so wie die Kerze leuchtete, die Albrecht Licht zum Lesen spendete. Nach dem ermüdenden, schmerzhaften Tag saß er allein in einem Ledersessel im großen Gemeinschaftsraum des Hauses, in dem alle Länder gezwungen worden waren zu wohnen. Aber er war nicht so allein, wie er hoffte. Wie aus dem Nichts erklang eine helle, junge Stimme und riss den Ostdeutschen aus seiner angenehm entspannenden Lektüre. „Was machst du da??“ Albrecht versuchte, sein Zusammenzucken zu kaschieren, als er betont langsam aufblickte. Ein etwa zwölfjähriger, hellhaariger Junge stand vor ihm und sah ihn aus grünen Augen starr an, die Gilberts Augen erschreckend ähnlich sahen. „Ich lese. Ein Buch.“ Seine Stimme war kühl, er fühlte sich etwas flau im Magen und aus irgendeinem Grund konnte er diesen Jungen nicht leiden. „Was für ein Buch?? Ich glaube, es ist ein dummes Buch!!“ Er kam näher und rückte Albrecht auf die Pelle; Brandenburg versuchte, mehr Abstand zu gewinnen, und versank im Sessel, aber es half nicht viel, genauso wenig wie der Versuch, sich hinter seinem Buch zu verstecken und abweisende Worte zu murmeln. „Du siehst dumm aus!!“ Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass dieser Junge Hohenzollern hieß und in Südwestdeutschland lebte, und dass er unglaublich auf seine Nerven fiel. Bevor Albrecht jedoch etwas zu seiner Verteidigung sagen konnte, näherten sich hastige, eilige Schritte und Baden öffnete schwungvoll in vollem Lauf die Tür, mit einem dünnmaschigen Netz in den Händen, und warf sich auf den schmächtigen Jungen. Als die beiden Männer das Netz ansahen, war es leer. „Verdammt!“ fluchte Maximilian. Er wandte den Kopf mit leeren Händen zu Albrecht. „Man muss ihn überraschen. Ansonsten verschwindet er einfach.“ Irritiert nickte Albrecht. Na... türlich, ein Land, das einfach so verschwand. Maximilians Blick, der auf Albrecht lag, wurde streng. „Er hat sicher genervt. Aber hast du ihn geschlagen?“ Albrechts Gesicht wurde noch irritierter. Warum sollte er ein Kind schlagen? Er hatte immer versucht, den Kindern in seiner Obhut keine Gewalt anzutun, wie sehr sie ihn auch gequält hatten. Entrüstet erklang ein gedämpftes „Natürlich nicht...“ Einen Moment lang lag ein misstrauischer, geradezu wissender Ausdruck auf Max' Gesicht, dann stand er mit dem Netz fest in seinen Händen wieder auf. „Na gut. Ich muss ihn dann jetzt weiter jagen.“ Das Buch war weiterhin sehr interessant, und erst, als die Kerze erlosch, stand Albrecht auf, um sich auf den Weg in sein Bett zu machen. Nur noch in wenigen Zimmern brannte Licht, daher fiel es umso mehr auf, als von unter einem Türspalt greller Schein und laute Stimmen drangen. Albrecht musste nicht einmal das Ohr an die Tür halten, um zu verstehen, was die Leute sagten. „Mutter, sag Vater, dass er mich loslassen soll!!“ Hohenzollerns Stimme war tränenerstickt, aber das schien Baden nicht zu beeindrucken – Albrecht dagegen umso mehr, dessen Herz wild gegen seine Brust pochte. „Hör auf, das zu sagen, Eitel. Wir sind nicht deine Eltern, und ich bin erst Recht nicht deine Mutter.“ „Na wohl, Mutter!! Guck dir meine Augen an!! Das sind deine Augen, Mutter!!“ Ein Seufzen. „Ist ja auch egal, kleiner Zwerg. Du musst endlich schlafen. Außerdem hast du uns heute ganz schön durch das Haus gescheucht.“ Auch Lukas sprach. „Wir haben dich drei Stunden lang gesucht, Spätzle.“ „Lass mich los, Vater!!“ „Hör auf, dich zu wehren, Zwerg. Du hast deine Strafe verdient...“ Als Eitel anfing, zu weinen, schien Albrechts Kopf zu zerspringen und er öffnete zitternd die Tür. „Was-“ fing er an, kam aber nicht weit. Drei Augenpaare fuhren auf, und Albrecht erkannte Hohenzollern fast nicht mehr, dessen Augen ein strahlendes Blau aufwiesen und groß und rund waren. Tränen glitzerten auf den Wangen des Kindes, aber sein Gesicht war zu einem Lachen verzerrt – Max' und Lukas' Finger fanden sich auf Eitels Bauch, seinen Zehen und unter seinen Achseln, und der Junge krümmte sich vor Lachen, während er gekitzelt wurde. Württemberg sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Ja, Brandenburg?“ Seine Stimme war abweisend. Noch immer zitterte Albrechts Hand, die die Türklinke fest umklammert hielt. „Äh-“ setzte er an, aber wieder kam er nicht weit. Eitel hatte die Ablenkung genutzt und war aus dem Griff seines Vaters entkommen, und nun hing er an Albrechts Rockzipfel und zog ängstlich daran. „Ich will noch nicht ins Bett, Mami!!“ jammerte er Albrecht an, der ziemlich verwirrt war darüber, dass man ihn 'Mami' genannt hatte – genauso verwirrt, wie er darüber war, dass Eitels Augen wieder genau wie die von Preußen aussahen. „Äh-“ Wieder kam er nicht weit, denn Baden war aufgesprungen und hatte schnellstmöglich Eitels Hand ergriffen; der Junge fing wieder an, zu weinen. Albrecht war völlig perplex. Die Augen waren wieder blau und rehartig. „Hör auf zu plärren, Zwerg. Du musst ins Bett, sonst wird der Tag morgen die Hölle.“ Er zog ihn mit sich zurück zu dem mit rosa Bettlaken verzierten Bett, auf dem Lukas noch wartete; niemand beachtete die Tränen, die unaufhörlich über Eitels Wangen flossen. „Spätzle... wenn du jetzt nicht schläfst, dann kannst du morgen nicht mehr so leicht auftauchen und verschwinden, wie es dir passt. Das willst du nicht, oder?“ Er fuhr dem Jungen zärtlich durch die hellen Haare, die, wie Albrecht auffielen, im Schein des Lichtes einen blonden Stich zu haben schienen, den sie vorher nicht gehabt hatten. Eitel hörte auf zu weinen und vergrub das Gesicht an Badens Brust, der ihn nur seufzend tätschelte und Württemberg dankbar ansah. „Wenn du willst, kann Vater bei dir bleiben, bis du eingeschlafen bist.“ Entrüstet fuhr Eitels Kopf auf. „Der?! Nein, Mutter, das will ich nicht!! Nicht der!!“ Maximilian rollte mit den Augen. „Komm, Zwerg, so schlimm ist er nicht. Er hat dich doch lieb.“ Albrecht hatte das undefinierbare Gefühl, dass solche Worte in wenigen Jahren von Baden nicht mehr zu hören sein würden. „Hör auf zu heulen, du bist doch ein starker, deutscher Junge.“ Dünne Hände hielten sich an Badens Hemd fest. Albrecht hatte das Gefühl, nicht am richtigen Ort zu sein, aber dennoch schienen seine Beine sich von ganz allein zu bewegen, bis er nahe genug bei Hohenzollern war, um ihn anblicken zu können, mit einem irritierenden Gefühl aus Hass und Zuneigung. Eitels Augen funkelten türkisfarben. „Hohenzollern.“ begann Brandenburg, und wieder lagen drei Augenpaare aufmerksam auf ihm. „Du machst Probleme. Wie immer. Wenn du damit aufhören würdest, würde dich auch jemand lieben. Wärst du nur nicht geboren!!“ Ein kurzer, ruhiger Moment, dann begann Eitel, in einer Art zu schluchzen, die allen Erwachsenen das Herz in der Brust zermalmte. „Brandenburg. Labb zu.“ Maximilian hatte die Augen verengt, sein Blick war böse und die Stimme zitterte vor Abscheu. „Verschwinde.“ Selbst Lukas, der sonst immer relativ umgänglich war, hatte eine eiskalte Stimme, und Albrecht stolperte zurück. Was hatte er da gerade gesagt...? Er kannte dieses Kind doch gar nicht! Es hatte es nicht verdient, dass er ihm so etwas an den Kopf warf! Und dennoch... zwei Paar Hände strichen beruhigend über Eitels Kopf, während die Augen des Jungen schillernd wieder in Himmelblau übergingen und ihn ansahen, drehte sich ihm der Magen um vor Abneigung. „Aber-“ „Verschwinde. Sofort.“ Albrechts Füße trugen ihn aus diesem schrecklichen Zimmer hinaus, bevor er es bewusst bemerkt hatte, und er setzte sich, geschockt von sich selbst, gegenüber an die Wand des Ganges. Albrecht blieb dort, bis er eingeschlafen war, zitternd und von Abscheu sich selbst und diesem Kind gegenüber erfüllt, aber keiner der beiden 'Eltern' Eitels trat hinaus, um ihn zur Rede zu stellen. Das einzige, was zu hören war, war ein leises Lied aus dem Zimmer, das irgendwann Eitel sowie Albrecht in den Schlaf lullte. Kapitel 23: 23 - Hohenzollern ----------------------------- Die Straßen waren schmutzig und an der Pferdekutsche zogen Eindrücke der Armut im Lande entlang, das Land war gerade noch dabei, sich vom Dreißigjährigen Krieg zu erholen, aber der klein wirkende Junge im Inneren schlief mit geschlossenen Lidern und mit dem Kopf auf dem Schoß eines etwa fünfzehnjährigen Jungen, der mit zusammengebissenen Zähnen und trübem Blick nach draußen blickte. Sie waren schon tagelang unterwegs, aber bald würden sie ihr Ziel erreichen, und es war nur natürlich, dass der kleine Hohenzollern erschöpft und müde war. Nicht nur gab es viele Kämpfe in und um sein Gebiet (an denen, das musste Württemberg zugeben, er selbst nicht ganz unschuldig war); er lebte auch völlig über seine Verhältnisse und verprasste sein Geld, wo es nur ging. Württemberg selbst hustete, und als er in seine Hand blickte, war da Gott sei Dank kein Blut mehr, wie es die letzten Jahre über immer gewesen war... dieser schreckliche Krieg war endlich vorübergegangen, und nun konnte man ein neues Leben anfangen. Die Kutsche hielt im Glanz der blutroten Abendsonne an, und er weckte das Kind, das verschlafen umherschaute und seinen Blick erst fokussierte, als es den Stein mit dem eingeritzten Namen „Berlin“ erblickte, vor dem sie stehengeblieben waren. Sofort war der kleine Eitel hellwach und schaute seinen Begleiter mit schimmernden dunkelblauen Augen an. „Wir sind da!!“ teilte er ihm mit, und mit einem müden Lächeln nickte Württemberg und stieg, dicht gefolgt von Hohenzollern, aus. Sie wurden vom Kutscher in eine Richtung geschickt, und ehe Württemberg sich überhaupt in Bewegung setzen konnte, war Eitel schon am anderen Ende des Wegs und warf ihm einen ungeduldigen Blick zu, der nur zu sagen schien, dass er sich gefälligst beeilen sollte. Ein kurzes Seufzen des Schwaben, und als er an der Stelle angekommen war, an der Eitel auf ihn wartete, sah er, wie Brandenburg mit einem schnell voranpreschenden Berlin näher kam. Erneut ein Seufzen, dann lächelte er. Albrecht sah genauso am Ende aus wie er selbst, und obwohl er über so viel mehr Land und eine Familie verfügte, wirkte er um einiges unzufriedener mit der Gesamtsituation als Württemberg, der nicht einmal eine Lebenspartnerin sein Eigen nennen konnte, geschweige denn ein Kind, obwohl er sich beides verzweifelt wünschte. Die beiden reichten sich die Hände und begrüßten sich höflich; Albrecht sah Eitel höchst nervös an und die Residenzstadt hatte einen enorm neugierigen Blick auf Hohenzollern gelegt; Eitel wiederum sah Paul von unten an und zeigte nicht ein Körnchen Respekt für den Größeren. „So.“ Württemberg räusperte sich, und wieder musste er ungewollt husten. „Dann. Es ist eure Familie. Ich warte auf Hohenzollern. In einer Wirtschaft.“ Er streckte Albrecht die ausgestreckte Had hin, der ihn nur irritiert ansah. Sofort krähte Eitel ein amüsiertes „Er will Geld, Mami!!“ los, und Pauls Blick wurde noch irritierter. Brandenburg schüttelte verwirrt den Kopf, aber die Hand blieb ausgestreckt vor seiner Nase hängen, als wäre es das Normalste der Welt, und vermutlich war er ein schlechter Gastgeber, wenn er Lukas kein Geld geben würde... also kramte er in seinen Taschen herum und legte ihm eine kleine Münze in die Hand, mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck. Der Jugendliche lächelte, behielt das Geldstück fest in der Hand und gab Eitel einen kurzen Klaps auf den Hinterkopf, während dem er ihm ein „Troll sie nicht zu sehr...“ zuflüsterte und dann verschwand und, wie er es versprochen hatte, die kleine Familie alleine ließ. Sobald Württemberg außer Hörweite war, wandte Albrecht sich zu Eitel und behielt den säuerlichen Gesichtsausdruck bei, während er in seinem besten autoritären Tonfall mit einem „Deine Mami-“ begann, aber von einem gespannten Paul unterbrochen wurde, der seine Aufregung nicht länger verbergen konnte. Auch der Jugendliche war schwer von den vergangenen Jahren geprägt, aber auch er war auf dem Weg zur Besserung, und seine Stimme war mitten im Stimmbruch, als er redete. „Du bist echt Hohenzollern?“ Eitels Augen wurden grün und schmal, und er antwortete nicht, sondern besah sich Berlin genau. Dann schüttelte er den Kopf, als wäre er enttäuscht. Albrecht hatte das dringende Bedürfnis, ihn zu strangulieren. Berlin war verwirrt, aber das ließ er sich nicht anmerken. Albi hatte nicht viel über den Besuch sagen wollen; das einzige, was er wusste, war, dass er irgendwie mit ihm verwandt war. Albrecht hatte dazu nicht viel gemurmelt, nur, dass Preußen beteiligt war. Berlin hatte beschlossen, ein großer Bruder zu sein. Er war noch nie ein großer Bruder gewesen, und das schien ihm ziemlich toll zu sein. Er wollte ein guter großer Bruder sein. Als großer Bruder würde er dem Kleinen so viel beibringen können, er würde ihm beibringen, den Fehler nicht zu begehen, den er damals in seiner Kindheit gemacht hatte, damals, als er noch so jung und unerfahren war. Es war objektiv gesehen ein Fehler, in der Vergangenheit zu reden, aber Paul wollte unbedingt erwachsen sein. Nur stellte Eitel ihn vor ein Problem: er war kein normaler kleiner Bruder, der zum großen Vorbild aufblickte und alles tat, was man ihm sagte. Stattdessen zupfte er an Berlins Klamotten herum und war im nächsten Moment hinter ihm. „Hässlich und arm!!“ war sein Kommentar zu Paul. Erschrocken drehte er sich um und blickte in stechend grüne Augen, die genauso aussahen wie die von Brandenburg. „Hässlich und arm?!“ wiederholte er Eitels Worte, und der Junge nickte überzeugt. „Genau, das bist du!! Du kommst um Meeeeilen-“ Dabei breitete er seine Arme so weit aus, wie er konnte. „-nicht an die Städte zuhause dran!! Ist ja klar, wenn du bei solchen Deppen hier aufgewachsen bist!!“ Brandenburg packte das Kind unerwartet fest am Kragen, dass Berlin ihn perplex ansah. So grob hatte er weder ihn noch Cölln jemals behandelt, und in der Stimme des Brandenburgers lag, so tief verborgen, dass Paul es fast nicht hören konnte, kalter Hass. „Du hast dich nicht im Geringsten verändert, Landplage.“ zischte er und Berlin lief es kalt den Rücken hinunter... wenn Brandenburg IHN jemals so angesprochen hätte... Eitels Ausdruck veränderte sich, er schien plötzlich emotional heftig involviert zu sein und schüttelte heftig den Kopf. „Geh weg, geh weg, geh weg!!“ schrie er und versuchte zappelnd, sich zu befreien. Einen Moment lang ließ Brandenburg ihn los, und sofort war er einige Meter entfernt und sah den jungen Erwachsenen mit geröteten Augen an. „Ich hasse dich so sehr, Mami!!“ „Ich bin nicht deine Mami, ich bin ein Mann!“ Paul sah Albrecht besorgt an und stellte sich zwischen ihn und das Kind. „Mensch, was willste denn von dem Kind, der kleine Troll macht doch nur Scherze... ist doch nur ein Kind...“ versuchte er, zu beruhigen, und tatsächlich, es schien zu funktionieren. Albrecht fasste sich an die Stirn und drehte sich weg, während er irgendetwas zu sich selbst sagte. Pauls sorgenvoller Ausdruck verschwand langsam, und er näherte sich Eitel, dessen Augen kurz verschwammen und einen bläulichen Stich annahmen. Der Kleine fing an, auf eine Art und Weise zu grinsen, die der von Preußen unglaublich ähnlich sah. Er schien sich wieder beruhigt zu haben. „Spielen wir Fangen, Berlin??“ fragte er fast unschuldig und Paul nickte sofort. Mit kleinen Kindern Fangen spielen, das beschäftigte sie immer, und Albrecht würde etwas Zeit für sich gebrauchen können. Er warf über den Rücken zu seinem Erziehungsberechtigten den Kommentar hin, dass er jetzt ein bisschen Zeit allein mit Eitel verbringen wollte, jedoch konnte er nicht sehen, ob Albrecht bestätigend nickte, denn Hohenzollern hatte ihn schon an den Handgelenken gepackt und mit sich fortgezogen, in Richtung des Stadtkerns, während Brandenburg allein auf dem Hügel etwas abseits stehen blieb. - Es war erst späte Nacht, als Paul mit dem Kleinen an der Hand zurückkehrte in das Haus, in dem er, Albrecht und manchmal auch Preußen lebten. Er war vollkommen verdreckt, erschöpft und fertig, während Eitel neben ihm aussah wie aus dem Ei gepellt. Kein Wunder: während Berlin durch schmutzige, zerstörte Gassen hatte schlüpfen müssen auf der Suche nach Eitel, war dieser immer wieder an verschiedenen Stellen aufgetaucht und hatte seinen selbsternannten großen Bruder zu sich hergewunken, ehe er kichernd verschwand, kurz bevor Berlin ihn zu fassen gekriegt hatte. Kurz, es war höchst erschöpfend und fast schon terrorisierend gewesen. Für den Bruchteil einer Sekunde machte Paul sich Sorgen, ob er und Cölln Albi nicht durch ähnliches geschickt hatten, aber das verdrängte er sofort wieder. Von draußen konnte man sehen, wie innerhalb des Hauses Lichter brannten und ein paar der Bediensteten als Silhouetten hastig umherhuschten. Berlin schlug die Tür auf. Eine einzige Nacht würde Eitel übernachten, dann würde er nach Hause zurückkehren müssen, denn man brauchte ihn dort. „Albi?“ rief Paul, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Der Flur war dunkel. Eitel kicherte los wie ein Wahnsinniger und handelte sich dadurch einen weiteren irritierten Blick von Berlin ein. Dieses Kind, so befand er fachmännisch, war sehr seltsam. Aus der Ferne war eine gedämpfte Stimme zu hören. Vermutlich aus dem Salon. Oh Nein, nicht der Salon... der Salon war ewig unbenutzt, verstaubt und mit Tierkot übersät, warum sollte Albrecht ausgerechnet in diesem Raum Selbstgespräche führen, oder mit einem Bediensteten des Haushaltes reden? Jedenfalls sollte Paul Bescheid geben, dass der kleine Gast wieder da war, sonst würde vielleicht dieser unsympathische Schwabe morgen ausrasten, wenn Albrecht ihm sagen würde, dass er Eitel verloren hatte. Und Albrecht würde sich nicht einmal gegen so einen fünfzehnjährigen, abgemagerten Schleimbeutel wehren können, da war Paul sich sicher. Er lief die kurzen Gänge entlang, und Eitel tauchte in regelmäßigen Abständen an seiner Seite, hinter ihm oder auch vor ihm auf und zog entweder seltsame Grimassen, oder er lief auf den Händen, aber Paul versuchte, sich nicht beirren zu lassen auf seinem Weg, obwohl er einmal stehen blieb und Applaus klatschte, als Eitel ein akobratisches Kunststück vorgeführt hatte. Dann erinnerte er sich jedoch, und nach wenigen Minuten waren sie vor der sonst spinnwebüberzogenen Tür zum Salon angelangt – die Spinnweben lagen auf dem Boden. Es war still. Paul öffnete vorsichtig den Türknauf. Gilbert blickte auf. Albrecht hatte ihm den Rücken zugewandt und stand am Fenster, daher hatte er auch nicht bemerkt, wie die beiden jungen Länder eingetreten waren. Nur Gilbert sah seine beiden Verwandten – Berlin, sein Juwel, seine herrliche Residenzstadt, und der kleine Eitel, sein Sohn, das vermutete Gilbert zumindest, irgendwie war er jedenfalls mit ihm verwandt – und nachdem er vom Kaminsims hinuntergesprungen war, mit eindrucksvoll flatterndem, zerrissenem Umhang, ging er einige eilige Schritte auf die beiden Jungen zu. Eitel seinerseits erschien direkt vor Preußen, der davon völlig unbeeindruckt schien und ihn sofort in die Luft riss, wo Eitel nur laut „Papaaaa!!“ schrie und Albrecht sich schockiert umsah. Dann verkroch er sich wieder am Fenster, als wolle er verschwinden, als wolle er von dieser schrecklichen Familienszene so schnell wie möglich fliehen. Paul betrachtete ihn kurz, dann wandte sich seine Aufmerksamkeit unweigerlich Preußen und Eitel zu. Sie spielten Vogel: Gilbert wirbelte Hohenzollern im Kreis durch die Luft und schmiss ihn ein paar Mal in die Luft, und noch während Eitel flog, war er plötzlich wieder in Preußens Armen, und er zog an den Federn von Gilberts Hut, die ihm der Ältere nur zu gern überließ. Berlin blinzelte ein paar Mal. Dann wandte er sich ab und ging an Albrechts Seite, und starrte mit ihm gemeinsam in den Nachthimmel hinaus, während hinter ihnen glockenhelles Lachen durch die Luft schall, und er hielt sich die Ohren zu. - In den Raum mit den kahlen Wänden drang nur wenig Licht, und dasjenige, das tatsächlich hineindrang, war staubig und unterkühlt. An dem dünnen Tisch saßen vier Menschen und ein einziges Glas, gefüllt mit einem stark alkoholischen Getränk, von dem Preußen gerade einen Schluck nahm. Er ließ seinen Blick über alle anderen Anwesenden gleiten. Preußen war so mächtig wie selten zuvor. Die Revolution von 1848 war gescheitert, alle, die sich aufgelehnt hatten, waren in den Boden geschmettert worden. Der inzwischen etwa zwölfjährige Hohenzollern lehnte an der Tischkante, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah keinen der anwesenden Erwachsenen an – sein Blick lag auf dem Schwarm Vögel, der vor dem hohen Fenster laut kreischend entlangzog. Baden hatte noch immer ein blaues Auge, für das Preußen höchstpersönlich sich verantwortlich zeichnen durfte, und in regelmäßigen Abständen rieb er sich den linken Arm, der seltsam schlaff an seiner Seite hing. Aber er wusste, wann er verloren hatte, und deswegen war er jetzt in diesem Raum, an der Seite von Württemberg, dessen Blick glasig auf Eitel lag. Preußen gackerte fröhlich. „Der Kleine hat viel zu lang als Gleichwertiger bei euch Saftsäcken gelebt.“ Keine Reaktion außer ein leises Seufzen, aber es war nicht zu sagen, von wem. Gilbert lehnte sich über den Tisch zu den ihm gegenüber sitzenden Regionen. „Ab heute erkenne ich ihn ganz offiziell als meinen Sohn an.“ Zufrieden lehnte er sich wieder zurück. Erneut reagierte absolut niemand; stattdessen betrachtete jeder scheinbar höchst interessiert einen unbestimmten Punkt in der Ferne, Eitel oder einen Schwarm Vögel. Gilbert konnte es gar nicht leiden, zu warten. Nach einer ziemlich kurzen, aber für seine Verhältnisse eher langen Zeit stand er auf und packte Eitel ruppig am Arm, der seinen Vater mit großen Augen ansah, die sich in Sekundenschnelle verschmälerten und einen rötlichen Glanz annahmen, bis er vollkommen aussah wie ein kleiner Preuße. „Aber ich lebe weiter hier.“ Baden sah auf von dem unbestimmten Punkt in der Ferne und beobachtete Eitel aufmerksam und mit verschwommenen Augen, ehe er Württemberg grob am Ärmel zog, dass dieser blinzeln musste und den glasigen Blick aus seinem Gesicht verwischen konnte. Preußen zuckte mit den Schultern. „Weißt du, wie egal mir das ist? Je weiter weg du bist, desto besser. Je mehr von mir auf der Welt verteilt ist, desto besser!“ Wieder ein gackerndes Lachen. Diesmal gab es aber nicht keine Reaktion; stattdessen sprang Baden auf, und weder seine Selbstbeherrschung noch die beschwichtigende Berührung des Schwabens konnten ihn nicht mehr am Riemen reißen. „Blöder Saupreuß, kannst du nicht 'mal deine blöde Labb halten! Der Zwerg ist nicht du, der Zwerg ist nicht preußisch!! Du- du solltest dankbar sein, dass-“ Gilbert lachte lauter. „Dass was? Dass du mich nicht zu Tode geblutet hast letztes Jahr?“ Noch lauter. „Du verfluchter, größenwahnsinniger-“ Eitel sah etwas hilflos hin und her, und seine Augen flackerten unkontrollierbar zwischen blau und rot, bis sie sich in einem tiefen Schwarz färbten und er augenblicklich zwischen die beiden Parteien trat. Der kleine Junge schien so viel älter zu sein, als er es war. „Ruhe. Ihr seid zu laut.“ Seine Stimme war eisig und nicht wie sonst schalkig-verspielt. Gilbert hob eine Augenbraue und Baden stolperte irritiert zurück. Württemberg betrachtete den Kleinen misstrauisch, versuchte, ihn am Oberarm zu berühren, aber das blieb erfolglos durch ein seidiges Wegschlüpfen des Jungen. Die pechschwarzen Augen fixierten einen weiteren Moment alle Erwachsenen. Dann schimmerten sie hellviolett und Eitel schien seine Kindlichkeit wiedererlangt zu haben. „Ich hol mein Steckenpferdle!“ Preußen rollte amüsiert mit den Augen – er hatte schon wieder vergessen, was passiert war, oder es machte ihm einfach nichts aus – und ergriff die Hand des Kindes, ohne an die anderen beiden noch einen weiteren Blick zu verschwenden. „Wir spielen Krieg, Eitel. Du bist der Soldat und ich dein Kommandant.“ Eitel warf schwungvoll die Arme in die Höhe. Als die beiden aus dem Zimmer getreten waren, erhielten Eitels Augen erneut einen dunklen Glanz. „Lass sie in Ruhe.“ zischte er, und Gilbert entschied, dass er das nicht gehört hatte, während die beiden Krieg spielten und es mit einer gebrochenen Rippe auf Eitels Seite, einem angeknaksten Knöchel auf Gilberts Seite und lautem Lachen endete. - Die beiden Brüder standen eng umschlungen auf dem kühlen Flur des Konferenzgebäudes und ein kleiner, abgemagerter Junge beobachtete Preußen aus kindlichen, dennoch eingefallenen Augen. Er spürte genausosehr wie Ludwig, dass Gilbert gehen musste – Preußen existierte auf dem Papier nicht mehr, er war aufgelöst worden. Nichtsdestotrotz stand Gilbert noch immer, er lebte noch, atmete noch und schenkte der Welt sein unnachahmliches, sicherlich wundervolles Wesen. Eitel drehte sich um, ohne sich zu verabschieden. Mit geschlossenen Augen und überraschend ruhigem Gang lief er aus dem Gebäude hinaus nach draußen. Er spürte nicht, ob die seine Haut treffende Luft warm oder kalt war, das einzige, was er spürte, war die eigene Leere. Wie lang würde es ihn wohl noch geben, wenn selbst sein großer, mächtiger Vater in die Knie gezwungen worden war? „He, Spätzle.“ Eitel sah auf. Augenblicklich wurden seine Augen dunkelblau und rund. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Württemberg, selbst ein Abbild von Zerstörung und Leid, hatte die dürre Hand, unter der sich die Knochen abzeichneten, auf Eitels Schulter gelegt. „Willst du bei mir bleiben?“ fragte er mit sanfter Stimme. Eitel nickte, denn seine Kehle war wie zugeschnürt und er konnte nichts mehr sagen. Traurig schlang er die Arme um Lukas' Hals und vergrub das Gesicht an der Brust des Schwaben. Schon jetzt spürte Hohenzollern, dass er niemals wieder allein leben würde. Er hatte immer gehofft, eines Tages so groß und mächtig zu sein, dass sich niemand mehr berufen fühlen würde, sich um ihn zu kümmern. Früher war er alleine ja auch gut zurechtgekommen! Früher, als Südwestdeutschland noch ein Flickenteppich aus Kindern dargestellt hatte, als sie in Rudeln miteinander gespielt und gegeneinander gekämpft hatten... aber damals, nach Napoleons Sieg, da waren die anderen gestorben; nur Baden und Württemberg waren übrig geblieben, und die Zwei waren schon so alt gewesen, dass sie keine guten Spielkameraden gewesen waren. Aber eventuell war es nicht so wichtig, unabhängig zu sein. Eitel erinnerte sich an warme Hände, die ihn hielten, als er die Grippe hatte; an scheinende Augen, die ihm sagten, dass alles in Ordnung sei; an einen runden Mund, der ihn mit einem liebevollen Kuss auf die Wange von Verantwortung befreite, und je älter Eitel wurde, je jünger er sich fühlte, desto mehr wuchs sein Wunsch nach einem starken, sicheren Zuhause. Hohenzollern nickte, und er fühlte das zufriedene Lächeln auf Lukas' Gesicht, als dieser seine Hand nahm und mit Eitel gemeinsam aufstand. „Dann gehen wir nach Hause...“ Viele Meter entfernt wartete ein höchst zerstört und zermürbt wirkender Baden an der Seite einer Eisenbahn. Sein Mund war zu einem schmalen Strich verzogen, aber er lächelte matte, als er sah, dass Eitel den Umständen entsprechend gesund und munter wirkte. Als die anderen beiden bei ihm ankamen, ergriff Eitel Maximilians Hand und sie stiegen zu dritt in den wartenden, angerosteten Zug. Er drehte sich nicht um, und er sah nicht, wie Gilbert, von seinem Bruder begleitet, das kahle, düstere Berlin mit leerem Blick ansah. - Das zarte, aufkeimende Familienglück vertrocknete schnell wieder zu einem kleinen Saatkorn. Nach wenigen Jahren, während denen die Länder sich vom Krieg erholten, brach die Situation und nur Hohenzollern war noch überzeugt davon, die wenigen glücklichen Momente auch in Zukunft zu sehen. Obwohl es anfangs tatsächlich so aussah, als könnte es zu einer Annäherung zwischen Baden und Württemberg kommen, zerplatzte diese Hoffnung jäh mit den Plänen eines fusionierten Südweststaates; die Erfüllung Eitels Wunsch nach einer ganzen Familie, mit einer Mutter, die ihn und seinen Vater nicht hasste, mit ganz normal verheirateten Eltern und mit Liebe, zerplatzte. Die Realität sah anders aus, das einzige, was ihm gewährt bleiben sollte, war die Liebe. Vor wenigen Tagen war der Vertrag geschlossen worden. Zu dritt saßen sie abends am Tisch. Maximilian stocherte demotiviert in einem tiefen Teller Spätzle mit Grütze herum und murmelte unverständliche, aber unmissverständlich spitzzüngige Kommentare über das Essen und Schwaben. Lukas schien davon gänzlich unbeeindruckt, während er aß. Dennoch warfen sich die beiden fast konspirative Blicke zu. Eitel versuchte tapfer, zu essen, aber er begann, wie schon am Tag zuvor, zu husten. Er wusste nicht, was mit ihm geschah. Nichts schmerzte, all seine Wunden verheilten, er fühlte sich kräftig und gesund. Zwei besorgte Blicke lagen auf ihm, aber Eitel hielt sich die Hand vor den Mund und steckte die Gabel voller Energie in die Pampe vor seiner Brust. Und dennoch war da diese Krankheit, die ihn scheinbar in ihrer Hand hielt, denn er hustete und keuchte und seine Kehle fühlte sich kratzig an. Aber Hohenzollern hatte schon viel, viel Schlimmeres durchgestanden, diese kleine Erkältung war nichts Nennenswertes. Einen Tag später lag er in seinem kleinen Bettchen mit der dünnen, mehrfach geflickten Bettdecke und starrte aus glasigen Augen die Decke an. Er verstand nicht. Seine fragilen, spindeldürren Finger klammerten sich an der warmen Hand Maximilians fest, der gemeinsam mit Lukas an dem Bett saß. Er verstand nicht. Alles sollte gut sein. Kein Krieg mehr. Er war ein ganz normaler Junge, er hatte Eltern, die ihn liebten und die ihn nicht verstießen. Zum ersten Mal hatte er eine Familie. Verschwommene blaue Augen versuchten, in ihre Spiegelbilder zu blicken, aber schwächlich blieb Eitels Blick an der Decke hängen. „Waru-“ setzte er mit heiserer Stimme an. „Shh. Ruhig.“ murmelte Württemberg beruhigend. Er hatte die Ellbogen auf den Knien aufgestützt und den Kopf niedergeschlagen auf seine Hände gelegt, und er blickte Eitel unentwegt an. Sie hatten gehofft, waren dem schmalen Streifen der Hoffnung am Horizont gefolgt, aber der Weg war ihnen unter den Füßen abgebröckelt: vielleicht, vielleicht hätte sich Hohenzollern in dem neuen Südweststaat erhalten können als eigenständige Einheit. Wahrscheinlich würde er verschwinden. Beide hatten sie gewusst, dass es so kommen würde, dass Eitel sterben musste, wenn der Südweststaat geboren wurde. Beide hatten sie es nicht realisieren wollen. Warum sollten sie das auch tun? Für Baden war diese Fusion an sich schon schrecklich und das absolut allerschlimmste Szenario, was irgendjemand sich jemals hatte ausmalen können, da musste er nicht auch noch ständig daran denken, dass der Zwerg dabei sterben musste. Für Württemberg war diese Fusion gut, sie war richtig und die einzige Option, da wollte er nicht daran denken, dass Spätzle dabei sterben musste. Hohenzollern selbst hatte mit all seiner Kraft für Baden-Württemberg gekämpft. Obwohl er bei seinem Vater gelebt hatte, war er ständig Baden in den Ohren gelegen, dass der Südweststaat der einzige Weg wäre, ihm eine Zukunft geben. So wie es aussah, war genau das Gegenteil eingetroffen. Seine Zukunft verschwand, als sein Wunsch nach seiner Familie erfüllt wurde. „Nein, warum...? Warum fühle ich mich so...“ Eitel schloss die Augen, und er spürte, wie Baden seine Hand fester drückte. „... müde...“ „Das ist-“ Die Stimme von Maximilian war, kaum merkbar, von Tränen gezeichnet. „-das ist das Glück. So viel Glück, Zwerg, deswegen bist du ganz erschöpft. Bist du nicht glücklich? Wir sind zusammen, wir sind alle zusammen.“ Ein Zittern huschte über die Stimme wie ein dunkler Schatten, aber Eitel bemerkte es nicht, wollte es nicht bemerken. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem matten Lächeln. „Ja, ich bin- ich bin-“ Er hustete schwach. Württemberg lehnte die Stirn an Badens Schulter an und verbarg das Gesicht noch tiefer in seinen Händen. „-glücklich...“ Das war er. Nichts tat Eitel weh. Er hatte endlich, was er schon immer gewollt hatte, seit die Mutter, an deren Gesicht er sich nicht erinnern konnte, ihn im tiefsten, dunkelsten Wald auf den Boden gesetzt hatte und weggerannt war und ein schreiendes Baby zurückgelassen hatte. Als Eitel aufhörte, zu atmen, und ins Nichts zurückkehrte, waren Badens Tränen versiegt und die von Württemberg fingen an, zu fließen. Hohenzollern verschwand aus den Köpfen der Menschen. Hohenzollern verschwand vom Antlitz der Erde. Hohenzollern verschwand nicht aus den Erinnerungen derjenigen, die sich um ihn gekümmert hatten, die jener Nervensäge ihr Herz geöffnet hatten. Kapitel 24: 24 - Zenzie und ihre Freunde ---------------------------------------- Das Licht war gedämpft und auf dem großen, massiven Mahagonitisch standen genügend Maß Bier, und das war das einzige, was wichtig war – die drei zum Tisch passenden Stühle waren nur Zierde, denn solange Bier vorhanden war, waren die Anwesenden mit einer Ausnahme glücklich. Zenzie blickte ihre beiden Gefährten streng an, während sie einige Dokumente auf dem hohen Tisch ausbreitete und kleinen elektrische Impulse zwischen den Tischbeinen umherhuschten. Zenz hatte die kräftigen Beine auf den Tisch abgelegt und kippelte mit dem Stuhl, während er seine Maß in der rechten Hand hielt und immer wieder daran nippte. Gedankenverloren blickte er an die rötliche Decke, die von feinen Adern durchzogen war und friedlich pulsierte. Das knappe Kleid Zentas hielt ihren üppigen Ausschnitt kaum unter Kontrolle, und ihre Brüste lagen geradezu auf dem Tisch. Wie immer hatte sie ihre Maß nicht angerührt; Bier war ekelhaft und nur etwas wie Spießer wie ihre Geschwister, sie selbst zog härtere Drogen als Alkohol vor. Sie hatte den Kopf auf ihrer rechten Hand aufgestützt und mit der anderen Hand ließ sie eine ihrer Haarlocken durch ihre Finger gleiten. Zenzie zog zielsicher ein Dokument aus dem Stapel neben ihrer eigenen Maß heraus. An der Wand hinter ihr hing der ausgestopfte Kopf eines Hirsches, auf dessen Geweih die kleinen Impulse herumkletterten und in unregelmäßigen Abständen hinunterfielen, direkt auf Zenzies rote Haare. Sie präsentierte ihren Kameraden das Dokument, auf das mit enger Handschrift ein komplex wirkender Plan geschrieben stand, und erläuterte den anderen knapp das Problem, das vor ihnen lag. „Wie ihr seht, haben wir Geburtstag, und ich habe eine kleine Geburtstagsfeier organisiert.“ Zenz lachte mit lauter, an den Wänden widerhallender Stimme. „KLEIN nennst du das, Schwesterlein?!“ Zenzie rollte mit den Augen. „Sie sind auch alle gekommen, diese Bundesländer. Nun, das Problem ist folgendes...“ Mit dem kleinen Finger deutete sie auf eine rot unterstrichene Zahl und tippte ein paar Mal dagegen. „... wir haben nicht genug Bier für alle Anwesenden.“ Zenta schnaubte höhnisch auf. Zenzie entschied sich, sie zu ignorieren; Zenz schlug entgeistert mit der flachen Hand auf den Holztisch, sodass durch die Erschütterung ein paar Impulse vom Hirschgeweih hinunterpurzelten. Seine Stimme war unglaublich laut und erregt. „Wir müssen neues bestellen!!“ Zenzie nickte ernst. „Das würde ich auch sonst sofort tun. Aber...“ Sie schluckte. „Wir haben hier draußen in Wiesenhausen kein Netz. Wir müssten nach Brannenburg reinfahren, um Nachschub zu besorgen. Da liegt der Hase im Pfeffer.“ Die anderen beiden nickten. Sie verstanden Zenzies Problem: man konnte diesen Kindergarten nicht einen Moment lang aus den Augen lassen, oder sie würden sich alle gegenseitig zerfleischen. Für Krisensitzungen wie diese konnten sie aus dem Vorteil schöpfen, dass Gedanken viel schneller als die Realität abliefen, aber die anderen Bundesländer auch nur für zehn Minuten allein zu lassen?! Undenkbar! Genauso undenkbar war es allerdings auch, die Gäste ohne Bier zu lassen. All die Weißwürste, die konsumiert wurden, weckten schließlich Durst, der gestillt werden musste. Sofort äußerte Zenz seine laute Meinung, dass keine Rücksicht auf Blutvergießen genommen werden dürfte und dass man eben Opfer bringen müsste – wenn das Bier ausginge, wäre das ein katastrophaler Super-GAU. Zenta konnte sich nicht entscheiden. Einerseits sollte man lieber bei den Gästen bleiben und vielleicht den einen oder anderen Herren überreden, mit ein paar grünen Scheinen auf den Heuboden zu kommen, am besten einen Herren mit ganz, ganz vielen grünen Scheinen. Andererseits war es auch gut, in dunkler Nacht auf dem holprigen Weg entlangzufahren und den einen oder anderen Brannenburger begrüßen zu können... In Denkerpose, noch immer mit den Brüsten auf dem Tisch und dem ihr gegenüber sitzenden Zenz tiefe Einblicke gewährend, runzelte sie die Stirn. Als sie sprach, war ihre Stimme dünn und lasziv, also in ihrem typischen Tonfall gehalten. „Ich denke, wir sollten unsere Augen auf den Bundesländern behalten. Und nicht nur unsere Augen...“ Sie lächelte. „Schwesterherz, die Natur hat uns solche großen Erhebungen gegeben, warum möchtest du sie nie zu deinem Vorteil einsetzen? Denk doch einmal an Hessen, mit all seinen hohen Wolkenkratzern und dem ganzen Geld...“ Sie seufzte entzückt. Zenzie schluckte angewidert und wandte sich ab; Zenz bekreuzigte sich murmelnd und wandte den Blick (mit etwas Mühe) von seiner Schwester ab. Zenzie stand auf und schnaubte. „Ich hätte es wissen müssen! Mit euch zu diskutieren bringt's nie! Zenta, du willst immer nur deine- deine- “ Eine flüchtige Röte legte sich auf die Wangen der Katholikin. „-deine verdorbenen-“ Zenta unterbrach sie mit einem Blick auf die schrill bunten Fingernägel, die dringend wieder manikürt werden mussten. „Ist ja gut, Schätzchen, du hast eben keinen Spaß im Leben, sterbende Jungfer.“ „Du sagst das, als wäre es etwas verwerfliches!! Ist ja wohl gerade das Gegenteil!!“ Zenzie blickte ihre Schwester mit einem Todesblick an, der nicht viel Erwiderung fand; Zenz hatte sich von den Frauen abgewandt und starrte mit glasigem Blick den ausgestopften Tierkopf an, das waren keine Gespräche, die sich gehörten. Er fragte sich, wo der Rest dieses Hirsches wohl war, und ob... hm... „Zenz!!“ Die Stimme seiner Schwester, mindestens ebenso laut und resolut wie seine eigene, holte ihn aus seinen Träumen zurück in die Realität und er nickte forsch. „Genau! Bier holen!!“ wiederholte er seine Meinung. Etwas verzweifelt blickte Zenzie Zenta an. „Wir sollten hier bleiben, für all diese Hengste... Stell dir das vor...“ Sie stand auf, trat hinter Zenzie und deutete nach vorne, wo nur sie eine strahlende Zukunft sehen konnte. „Stell dir vor... würden Hessen, Baden und Württemberg zusammenlegen für eine Nacht mit mir... das würden sie sicherlich tun... wir könnten sogleich ein eigenes Königreich gründen!“ Fauchend wie eine Wildkatze schüttelte Zenzie sie ab und stand ihrerseits auf. Zenz entschied sich, sich ebenfalls zu erheben und jeweils eine Pranke auf die Schultern seiner Schwestern zu legen, während er den Kopf schüttelte. „Bier.“ teilte er ihnen mit. Zenzie nickte, Zenta rollte mit den Augen. Zenzie beugte sich nach vorne und notierte einige kurze Sätze auf einem Stück Papier. „Sepp, bring das zur Zentrale!“ instruierte sie einen der kleinen Impulse, der flink von seinem Geweihspielplatz hinuntersprang, den Zettel an sich nahm und weghuschte, um den darauf geschriebenen Befehl auszuführen. Bayern verabschiedete sich bei den anderen Bundesländern für ein paar Minuten, um für Alkoholnachschub zu sorgen. Diese Ankündigung wurde von Applaus empfangen. Als sie wiederkehrte, war der Bauernhof, der das kleine Dorf ausmachte, in hellen Flammen, und neunzehn Bundesländer standen davor und blickten das Schauspiel fasziniert an. Bayern war nach Weinen zumute. Ein ekelerregender und gleichzeitig schmackhafter Geruch – eine verkohlte Mischung aus Weißwürsten, Alkohol und Holz – stieg gen Himmel. Niemand konnte im Nachhinein erklären, was passiert war, nur, dass Brandenburg ein Feuerzeug gehabt hatte und Nordrhein-Westfalen ein Stück Holz und da ganz viel Bier geflossen war. Zenzie schwor sich, bei ihrem nächsten Geburtstag auf Pils, Warsteiner, Bitburger, Hasseröder, Krombacher, Franziskaner, Erdinger und all ihre anderen Freunde zu verzichten. Ihr Entschluss wurde binnen einer einzigen Stunde zu Fall gebracht, nachdem ihr vom ortsansässigen, alten Bauern seine letzte Flasche angeboten worden war. Sie hatte sie mit ihm geteilt, und gemeinsam hatte man sich über all diese 'Norddeutschen, Ossis und Preißen' aufgeregt bis in die frühen Morgenstunden, und in Retrospektive musste sie zugeben, dass es einer der besten Geburtstage war, den sie jemals verlebt hatte. Kapitel 25: 25 - Drabbles 01 ---------------------------- Deutsche Tugenden Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er noch fünf Minuten hatte, ehe er im Wohnzimmer eintreffen musste. Pünktlichkeit. Wie ein Schatten huschte Albrecht umher und räumte die Bücher in das Regal ein. Ordentlichkeit. Mit dem Staubwedel fuhr er über alte Kommoden, die wieder glänzten. Sauberkeit. Im Wohnzimmer wartete Paul auf ihn. In einer Hand hielt er einen langen Rohrstock, wie er von Lehrern früher verwendet worden war. Albrecht lief bei diesem Anblick gräulich an. Paul fing an, zu lachen, und ließ den Rohrstock sinken. „Na komm, alter Spießer. Lass zu Balli gehen.“ Keine Disziplin bei Deutschlands Jugend. Albrecht / Paul -- Disziplin Halt die Fresse „Weeßte wat, Schwabe...“ Paul und Lukas saßen in einem Kloster, tief versteckt in den Alpen, und Lukas knabberte an einem Laib Brot. Paul rauchte. „So, wie die Schwestern hier immer mit gesenktem Kopp rumlaufen, könnte man meinen, sie hätten einen Stock im Arsch.“ Das Brot fiel geradezu erschrocken auf den Boden. „Die Diakonissen hier sind heilig, Gottloser! Red doch nicht so über sie!“ Paul rauchte zu Ende. Er schnippte den Zigarettenstummel weg. „Doch. Willste mich dran hindern?“ Das Gespräch endete mit einem abgebrochenen Stück Holz im Mund eines für einen Moment stummen Pauls. Lukas lächelte selbstzufrieden. Lukas / Paul -- Schwester Meisterdetektiv Nachdenklich betrachtete der Leitende Oberkommissar Chatten das glänzende Messer. Es sah nicht aus, als wäre damit gerade ein Mord begangen worden. Das Metall war poliert und wie neu. Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen und starrte auf die Leiche. Verdammt törichte Frau. Verdammt große Brüste, fügte er gedanklich unter leichtem Erröten noch hinzu. „Noch Kaffee, Herr Oberkommissar?“ fragte ihn die Sekretärin. „Nein danke, Zenzie. Du kannst gehen.“ Sie blickte über seine Schulter auf die Fotografie der Leiche. „Geschieht der Hure ganz Recht.“ Mit gerümpfter Nase rauschte sie ab. Natürlich. Eine Prostituierte. Der Fall war Karol plötzlich glasklar. Karol / Zenzie -- Messer Diskret Ein altes Buch, eine zu schwache Lampe und die Silhouette eines über das Buch gebeugten Hessen waren das einzige, was im Raum zu erkennen war. Sachsen trat ein. „Was machs'n da?“ Karol murmelte laut vor sich hin, um nicht antworten zu müssen. „... typisches Phänomen sind bei der Chaostheorie Seltsame Attraktoren... mhm... aufeinanderfolgender Zustände ein diskretes System...“ Sachsen verdrehte die Augen. Einen Moment später war das Licht aus, und ehe Karol protestieren konnte, legten sich warme Lippen auf seine. Sachsen lächelte unsichtbar. „Diskret genug?“ Karol schlug die Augen nieder. Ja, entschied er und ergriff selbst die Initiative. Sachsen / Karol -- Chaostheorie Nicht schwul Zwei Gestalten inmitten einer Gay Pride-Veranstaltung sahen sich unsicher an, der einzige Anker der Heterosexualität in dieser Zurschaustellung schwuler Gelüste. Über ihnen wehten Regenbogenflaggen heroisch im Wind. „Meinst du, die graben uns an?“ murmelte Max nervös. Albrecht schüttelte nur den Kopf, wollte nicht glauben, was sich vor seinen Augen abspielte. Ein Matrose fuhr neckisch durch zwei helle Haarschöpfe und rief einem – seinem?! - Freund etwas zu. Max ergriff die zitternde Hand von Albrecht. „Komm, weg. Wir sind nicht schwul. Schnell.“ Albrecht war eingefroren, und so blieben die beiden auf der Veranstaltung. Die ganze Nacht bis zum Morgen. Albrecht / Maximilian -- Regenbogen Generationenkonflikt „Als ich so alt war wie du, gab es noch keine iPods.“ Gedankenversunken blickte Jette Jenisch, Kapitänin, auf das plätschernde Wasser hinaus. Nicole nahm die Kopfhörer ab. „Häää, was ist los?“ Ihr iPod war golden. Sie hatte ihm eine Mähne aus Filz gebastelt. Jette sah sie mit einem sanften Lächeln an. „Und nicht solche Ohrstöpsel, und nicht solche Musik, und... ach, wir haben ja fast noch mit Murmeln gespielt. Zehn Jahre, Kleine.“ Sie ließ ihr Bein ins Wasser baumeln. Nicole sah sie verwirrt und höchst gelangweilt an. „Ist gut, olle Großmutter.“ Sie hörte wieder ihre Musik. Jette / Nicole -- Großmutter Das Reich und seine Stadt Der kleine Junge griff nach Pauls Haar. „Warum hast du braune Haare?“ Paul schmunzelte und strich durch das blonde Haar vom noch winzigen Ludwig. „Wegen meiner Mama.“ „Das ist schön... wie Bernstein.“ Ludwig sah weg. Scheinbar schämte er sich. Paul strich erneut durch das dichte Haar. Bernstein. Warum kannte der Zwerg solche Wörter? Vor Deutschland lag eine rosige Zukunft. Aber davon schien er selbst nicht überzeugt zu sein, ein Junge, geplagt von Minderwertigkeitskomplexen. Hoffentlich würde er mit denen zurechtkommen. Oder es würde schlimm enden. „Und dein Haar ist aus Gold.“ Ludwig erstrahlte wie ein kleiner Engel. Paul / Ludwig -- Gold Heimat Ihr ausdrucksloser Blick hing auf dem sich träge bewegenden Wasser, auf dem sich der Sonnenaufgang rosarot zeigte und vor sich hin waberte. Sie konnte sich nicht an dem Anblick erfreuen, im Gegensatz zu Fritz, der – völlig nackt, aber das störte hier niemanden – neben ihr saß und in dessen funkelnden Augen sich die Farbe widerspiegelte. „Nicht wie zuhause.“ Verwirrt drehte Fritz den Kopf zu ihr. Auch in Annas Augen zeigten sich Reflexe des rötlichen Wassers. Er verstand sie nicht. „Aber das ist doch zuhause.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist die Ostsee.“ „Eben.“, sagte er. Fritz / Anna -- Rosa Duschbegegnung „Entschuldigung!!!“ Knallrot wandte Albrecht sich ab von dem Duschvorhang und Zenzie schnaubte entgeistert auf. Frechheit. Gerade wollte er fliehen aus dem Badezimmer, da erhob sie ihre Stimme. „Wenn du schon mal da bist-“, sagte sie über das Geplätschere des Wassers auf ihre Haut, „-dann gib' mir doch mal dein Shampoo.“ Albrecht sah verwirrt auf. „Warum?“ Er konnte nicht sehen, wie sie genervt die Augen verdrehte, während sie eine rote Strähne in ihren Fingern zwirbelte. „Guck dir mal deine Haare an. Die sind wunderschön.“ Schulterzuckend ergriff er die Shampooflasche und reichte sie ihr. Dann flüchtete er. Zenzie / Albrecht -- Haare Awkward Es war höchst unbeholfen, ungeschickt und heikel. Der Umhang war gerade groß genug, um Albrecht zu umschließen, aber aus einem dummen Zufall heraus stand auch Roland völlig nackt auf der Einkaufsstraße von Bremen. Und auch, wenn Roland selbst kein Problem damit zu haben schien, war Albrecht zu verantwortlich, als dass er ihn so belassen könnte, und umschloss ihn in seinem Umhang. Die Konsequenz war, dass sie wie ein schwules, exhibitionistisches Pärchen aussahen. Auch nicht das Gelbe vom Ei, aber besser, als die Blicke von älteren Frauen auf den Piepmatz von Roland liegen zu wissen – laut Albrecht. Er seufzte gequält. Roland / Albrecht -- Umhang Kapitel 26: 26 - Kälte ---------------------- Kalter, abgestandener und bitterer Kaffee. Maximilian rührte ihn nicht an. Das einzige Licht im Korridor kam von einer kränklichen Glühbirne. Das Licht war kühl und freudlos. Ihn fröstelte. Ein Schluck Kaffee. Widerwärtig. Ein brauner Fleck landete auf dem olivgrünen Linoleumboden. An der fahlen Wand gegenüber hing eine glänzende Fotografie einer uniformierten Familie. Vater, Mutter, Sohn. Alle in Uniformen. Maximilian war müde, erschöpft und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Noch ein Schluck Kaffee. Diesmal brachte er es über sich, ihn zu schlucken. Er musste wach bleiben. Rötliche, verquollene Augen betrachteten das Bild. Die Wurstfinger des Vaters lagen auf den wohlgenährten Schultern des Jungen. Die Mutter stand daneben, als gehöre sie nicht dazu. Ihre Haare waren zu einem Dutt hochgesteckt. Niemand lächelte. Nur Maximilian musste schief grinsen. Das war erst der Anfang solcher Bilder. Grässlich. Uniformierte, einheitliche Familien. Vater, Mutter, Sohn. Uniformen. Kein Lächeln. Sie waren nicht glücklich. Mehr Kinder. War die Mutter schwanger? Mehr Kinder für das Heimatland. Küche, Kirche, Kinder. Kinder, Kinder, Kinder. Das heilige Recht der Frau. Das war ein Anfang, und ein Anfang war auch immer ein Ende. Mit ihm würde es vorbei gehen. Endgültig. Genau wie mit allen anderen. Sie würden sie alle auf die Schlachtbank zerren. ER würde sie alle auf die Schlachtbank ziehen. Und sie würden nichts sagen können. Sie hatten versucht, zu reden, aber sie waren stumm gewesen. Verbundene Münder. Verbundene Augen. Verbundene Ohren. „Maximilian?“ Er wandte den Kopf zur Seite. Lukas war mit Eitel an der rechten Hand zurückgekehrt. Ein schwaches Nicken. Der Junge sah genauso fahl aus wie die Wand. Maximilian sah, wie er schwitzte. Aber er konnte es nicht über sich bringen, ihm durch die zerzausten blonden Haare zu streichen. Er konnte es nicht einmal über sich bringen, dem Schwaben zu antworten, sondern starrte nur wieder das Bild an. Lukas folgte seinem Blick. Er sagte nichts. Eitel ließ sich schwerfällig auf den Boden sinken. Er sah so müde aus, wie Maximilian sich fühlte. Dann blickte auch er das Bild an. Er lächelte schwach. „Eine Familie. Können wir nicht auch- Nein- Nicht, oder?“ Seine Stimme klang rau und kratzig. „Nein, Eitel. Können wir nicht.“ Es war Lukas, der sprach. Sein Griff um die Hand des Jungen blieb hart. Es gab keine Uhr. Aber die Zeit schritt voran. Unausweichlich. Mit der Zeit schritt ihr Schicksal voran. Die letzten Minuten. Alles konnte geschehen. Alles, was man sich nicht vorzustellen wagte. „Kaffee?“ fragte Maximilian. Er war erschrocken, wie fremd seine eigene Stimme klang. Im kalten, aber schneidend klaren Licht sah er, dass Lukas genauso schrecklich aussah wie er selbst. Die Haare, sonst so perfekt in die einzig richtige Form gekämmt, hingen lustlos herab. Die Augen waren leer. Tiefe Augenringe gruben sich in die blasse Haut. Schlaf war Luxus. Lukas schüttelte den Kopf. Er lächelte nicht. Er konnte nicht lächeln. Die Mundwinkel waren zu fest eingegraben, als dass er sie bewegen könnte, mit allem, was er aufbringen konnte. Die Familie auf dem Bild verspottete sie. Maximilian schloss die Augen. Nichts war schlimmer, als zu warten. Die Tür öffnete sich. Schwere Stiefel gingen über zu weichen Teppichboden, versunken geradezu darin. Niemand sprach es aus, aber die drei Länder wünschten sich, diese Menschen würden tatsächlich darin versinken. Und nie wieder herauskommen. Aber sie verschwanden nicht im Teppich, hoben die Hände zum Gruß. Maximilian antwortete, Lukas nicht. Dann waren sie fort, verschluckt von dem endlosen Korridor. Nur Ludwig war da. Er trug dieselbe Uniform wie der Vater. Sein Mund war zu einem Strich verzogen, aber man konnte das groteske Lächeln fühlen, das dahinter wuchs. Er glaubte daran, dass das richtig war. Er glaubte an die neue Welt. Sie glaubten auch daran. Irgendwie. Weil ihre Menschen daran glauben wollten. Aber sie kannten die Realität. Sie wussten, dass das ihr Todesurteil war. Ludwig blickte die drei einen Moment lang an. Ernst. Ernst und zufrieden. Eitel stand auf. Er blieb an Lukas' Hand hängen. Keine Kraft, um fortzuwehen, um zu spielen, keine Kraft mehr, um zu lächeln. Er sah Ludwig mit großen blauen Augen an, endlos tief, alt und jung, weise und stumpf. Voller Liebe und voller Verachtung. Ludwig sprach. Er redete nicht auf deutsch, sondern auf Juristendeutsch. Maximilian schloss die Augen. Trotzdem sah er das Licht der Glühbirne, die an der kahlen Decke hing und sie verschlingen wollte. Alle wollten sie verschlingen. Es gab nichts warmes mehr in diesem Haus, in diesem Land. Seine Finger waren kalt. Sie sollten tot sein. Ob die anderen die Nachricht auch so empfangen hatten? Ob Bayern allein dagesessen war, ganz allein, und glasig in ihr Bier geblickt hatte? Ob Rheinland-Pfalz noch blutete, aus all den Wunden, aus all den Messerschnitten, wie sie so vielen anderen Ländern zugefügt worden waren? Nein. Maximilian öffnete die Augen. Nichts hatte sich verändert, noch immer sprach Ludwig, als wäre er kein Mensch mehr. Nicht der Funken von Emotionen lag in seiner Stimme. Eine Maschine. Kalt. Kalt, kalt, kalt. Alles war so kalt. Der Kaffee zitterte, und dann fiel die noch bis zum Rand gefüllte Tasse auf den Boden. Ludwig fluchte, bekam sich wieder unter Kontrolle. Maximilian lächelte ihn an. Müde, so unendlich müde. Er wollte schlafen. In einem warmen Bett, nicht allein, mit jemandem, der warm war. Aber es gab niemanden Warmen mehr. Die klamme Hand von Lukas legte sich auf seine Schulter. Durch den dünnen Stoff konnte er den Schweiß auf der Handfläche spüren. „Zigarette?“ Er kramte in seinem Trenchcoat herum. Der Umhang war verbeult, getragen und voller Flicken. Eine dünne Schachtel wurde herausgezogen. Ludwig verneinte. Lukas nahm eine. Das Feuerzeug sprang nicht an. Es gab noch nicht einmal einen Funken. Hilfsbereit zog Ludwig eine Streichholzschachtel heraus. Noch immer fehlte das geduldige Ticken einer Uhr. Der Rauch aus zwei Zigaretten stieg empor und zog in die Wände ein, zu dem anderen kalten Rauch, der seit Jahren schon hier hing. Maximilian nahm einen tiefen Zug, und der blaue Dunst umwaberte seinen Kopf, ehe er sich verzog. „Es ist gut, Ludwig. Du musst nichts mehr sagen. Alle Straßen führen nach Berlin.“ Er lachte zu sich selbst, als hätte er einen Witz gemacht. Freudlos und dumpf, wie durch ein Leichentuch. Lukas' Blick auf Ludwig war so kalt wie das Licht, das sie alle berührte mit seinen spitzen, nüchternen Fingern. „Wir hatten seit 1871 keine wahre Souveränität mehr. Wir haben verstanden. Wir sind ein Hindernis bei der neuen Welt.“ Ludwig nickte. „Ich will euch nicht töten. Niemand will euch töten.“ Maximilians Lachen wurde lauter. Fratzenhafter. Verzerrter und distanzierter, als würde es nicht von ihm selbst kommen. „Niemand will uns töten.“ Lukas sah zu Boden, seine Mundwinkel hatten sich nach oben verzogen und er hatte die Augen geschlossen. Eitel drängte sich eng an ihn, ließ die Hand los und stellte sich vor ihn. Sofort fanden sich Lukas' Hände auf den dünnen, abgemagerten Schultern des Jungen wieder. „Niemand will uns töten.“, wiederholte er Maximilians Worte. Sanft und zerbrechlich. Ludwig schüttelte den Kopf. Das wurde ihm zuviel. Kopfschmerzen begannen, an seine Schläfen zu pochen. Der Kaffee floss langsam unter seine Stiefel. Er würde sie wieder polieren müssen. „Ich will euer bestes. Gau Baden und Gau Württemberg-Hohenzollern. Ihr habt zwei der besten Männer der Partei.“ Lukas wollte niemanden von der Partei. Maximilian sah die Wand hinter Ludwig an, und er lächelte immer noch. Ludwig beugte sich zu Eitel hinab. „Kleiner. Das ist doch in Ordnung für dich?“ In seiner Stimme war kein Hauch von Interesse zu spüren. Eitel schloss die Augen krampfhaft, versuchte, sich zu verstecken. Ludwig richtete sich wieder auf. Sein Blick fiel auf das Bild der Familie, das an der Wand hing, und dann sah er Baden, Württemberg und Hohenzollern an. Er lächelte nicht, aber in seinem Tonfall war Amusement zu hören. „Lustig. Als wäre die Familie zum Leben erwacht. Ohne Uniformen. Aber das kommt noch.“ Als er ging, fuhr er Eitel durch die Haare. Er hob die Hand zum Gruß. Keines der Länder grüßte zurück. Dann hatte der Korridor auch Ludwig verschlungen. Plitsch, platsch, machte er auf dem Linoleum, mit von Kaffee durchtränkten Sohlen. Lukas' Hände verkrampften sich um Eitels Schultern. Maximilian hörte auf, zu lachen. Er drehte sich um und nahm das Bild von der Wand. Es war auf einem einzelnen Nagel aufgehängt worden. Lange Zeit starrte er es an. Dann hängte er es zurück. Als er redete, schien er mit dem Bild zu sprechen. „Zum Leben erwacht, hat er gesagt. Uniformen.“ Lukas schnaubte auf und er drehte sich mit mehr Energie um, als Maximilian dachte, jemals wieder greifen zu können. Wieder fand sich eine klamme Hand auf seiner Schulter, aber diesmal schüttelte er sie ab. „Leben nennt er das?! Er nennt uns lebendig?!“ Verzweiflung war in der Stimme des Schwaben. „Er ist blind.“ „Da ist er nicht allein.“ Im Glas, der das Bild beschützte, konnte Maximilian seine eigene Reflektion sehen. Was war aus ihm geworden, seit wann sah er aus wie eine wandelnde Leiche? Blasse Haut, eingefallene Augen und tiefe Furchen in der Stirn. Hinter ihm stand Lukas. „Wir sind alle blind.“ Er konnte das Nicken hinter sich sehen. „Und das ist unsere Rechnung.“ Zärtlich strich Lukas durch Eitels Haar, der still neben ihm stand. „Wir waren zu blind. Und jetzt haben sie uns getötet. Wieviel Zeit haben wir noch, ein Jahr? Zwei Jahre? Zeit, bis Ludwig diesen Krieg beginnt?“ „Hör auf. Sei still.“ Maximilian wandte sich um. Sie waren auf einer Augenhöhe. Helle und dunkle Augen sahen sich an. In keinem war mehr der Glanz vergangener Tage zu sehen. Nicht einmal Hoffnung funkelte noch als kleines Licht. Nichts mehr. Er war still. Sie konnten alle spüren, dass mit diesem Regime ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde. Und sie hatten keinen Platz mehr in diesem Kapitel. Eisige Kälte umklammerte sie. Die Familie starrte sie aus toten Augen an. Sie würden erfrieren. Und niemand würde sie begraben. Ihre Leichen würden auskühlen und erkalten, und ihre Blicke würden so tot sein wie die der uniformierten Familie, und sie würden den mondlosen Nachthimmel anstarren. Kapitel 27: 27 - Kleine Welt ---------------------------- Eine kleine Insel, umspült von wogenden Wellen, ragte inmitten der Ostsee auf. Sie war nicht groß, aber groß genug für ein paar Familien, die hier schon seit Jahrhunderten lebten und starben, gemeinsam mit den Fischen um sie herum. Die Sonne stand hoch am Himmel – es war Sonntag, der freie Tag für all die Fischermänner, und Fritz saß an einem der wenigen Teiche auf der Insel und hatte seine Angel tief im Wasser versunken. Es gab keine Fische in diesem Teich, aber das machte ihm nichts aus. Er angelte nicht, um Fische zu angeln, sondern, um an einem Teich sitzen zu können und das Leben genießen zu können. So gesehen handelte er nicht aus einer Maxime des profitorientierten Sinnes heraus, sondern aus rein hedonistisch motivierten Gründen heraus – er tat, was er tat, allein aus dem Handeln der Tat heraus. Neben ihm saß sein etwas jüngerer Nachbar und hatte ebenfalls eine Angel im Wasser hängen. Wie immer waren die Lippen des jungen Mannes fest verschlossen, aber das war Fritz nur Recht. Immerhin schenkte er ihm jeden Tag Beachtung, wenn sie gemeinsam auf See fuhren, und manchmal hörte er ihm sogar zu, im seltenen Falle, dass Fritz überhaupt etwas zu sagen hatte. Zur Vorsicht, falls sich doch ein Fisch in diesen Teich verirrt haben sollte, hatte Arndt den Haken von seiner Angel entfernt. Das würde schließlich schmerzen, und das wollte er, wenn es möglich war, auf jeden Fall vermeiden. Die beiden schwiegen, bis die Sonne eine komplette Runde gedreht hatte, vom Anfang des Horizonts bis zum Ende und das Meer blutrot gefärbt hatte. Erst dann erklang die helle Stimme von Arndts Zwillingsschwester, die die beiden Männer rief, auf dass sie heimkehren sollten. Die beiden machten sich schweigend auf den Weg. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die zwanzig Meter zurück zu dem Haus von Fritz und seinem Bruder zurückgelegt hatten. Heute war ein festlicher Tag, und Fritz' Schwester Friederike war vom Festland zurückgekehrt, nur, um diesen feierlichen Tag mit ihrer Familie verbringen zu können, auf der Insel, auf der sie groß geworden war. Sie arbeitete in der Weltmetropole Schwerin als Sekretärin, und man hatte sie seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Während Anna in der kleinen Küche stand und Knieper, ein Gericht, das sie von ihrer aus Helgoland stammenden Großmutter erlent hatte, zubereitete, hatte sich Friederike mit den drei Schmetterlingen, die auf ihren kurzen Haaren saßen und sich an sie schmeigten, es auf einem der kühlen Holzstühle bequem gemacht. Die kurzen, aber in einem dezenten Blau lackierten Nägel lagen auf dem Holztisch, von dem sich schon manches Kind einen Splitter gezogen hatte. Sie hatte einige Zeit lang mit diesem Bauerntrottelkind verbringen müssen. Oh, sie hatte nichts gegen ihr Zuhause, sie liebte ihre Heimat, aber sie war froh, dass sie nur einmal im Jahr zurückkehren musste. Man sollte sich doch einfach mal Anna ansehen, eine ehemals gute Freundin von ihr, wie sie mit diesem altmodischen Kleid in der Küche herumwuselte, als wäre es ihre Bestimmung. Außerdem hatte sie scheinbar noch nie ein Glätteisen gesehen, geschweige denn ein Shampoo – zumindest aus Friederikes Sicht heraus. Sie nahm einen Schluck des starken Kaffees und beobachtete, wie ihr Bruder und Arndt direkt durch die Küchentür in das Haus eintraten. Fritz hob die Hand zum Gruße und lächelte. Arndt lächelte auch und schob seine von Friederike geschätzten fünfundachtzig Kilogramm Walfett auf den Stuhl neben ihr. Scheu blickte er sie an und dann lagen seine Hände ein paar Zentimeter neben ihren eigenen auf dem Tisch. Sie legte die Hände in den Schoß. „Guten Tag, Brüderchen. Hallo, Arndt. Schön, euch wiederzusehen.“ begrüßte sie die beiden. Als Arndt sprach, war seine Stimme wie immer sachte, sanft, ja geradezu verträumt. „Es ist so schön, dich wiederzusehen...“ Gegen Ende hin verlief seine Stimme wie ein Bächlein Wasser im Sand. Sie lächelte nicht, als sie mit einem abweisenden „Ja.“ antwortete. Aber diese Ablehnung würde er vermutlich nicht verstehen – ob er es nicht wollte oder nicht konnte war die andere Frage. Es dauerte eine Weile, bis die vier an einem Tisch saßen und Annas Essen schweigend (Arndt, Fritz, Friederike) oder weniger schweigend (Anna, dadurch gezwungen, mit sich selbst zu reden oder es bleiben zu lassen) verzehrten beziehungsweise genossen. Erst, als sie schon fast fertig waren, kamen zwei zerzauste Gestalten die hölzerne Treppe hinuntergestolpert. Frieder, die Brille hing schief von seinem Nasenrücken, kam als erster an und sein Laborkittel flatterte eindrucksvoll. Das war das erste Mal seit Wochen, dass Fritz seinen Bruder sah – ansonsten saß er immer in seinem geheimen Geheimlabor ein paar Meter in einer kleinen Höhle entfernt und wandte ihm immer kichernd den Rücken zu, wenn er ihn besuchen kam und ihm etwas zu Essen vorbeibrachte. Aber die Ankunft von Anne, die ansonsten in Schleswig-Holstein lebte und ihrer Arbeit nachging – niemand wusste genau, was sie tat, und niemand wollte es wirklich wissen – hatte ihn aus seiner selbst auferlegten Versenkung geholt. Nun, nicht wirklich sie selbst, sondern eher ihre Brüste. „Heeeeey, ist noch was von dem Futter da, hä, hä, häää? Und was ist drin, wieder nur blöder, langweiliger Fisch? Wie wär's mal mit mehr Gemüse, Mais zum Beispiel, oder hey, vielleicht auch mal Fleisch, ja, ich bin für Fleisch! Fritz, wenn du das nächste Mal einkaufen bist, dann komme ich mit und dann zeige ich dir, wie man anständig Fleisch einkauft! Wir brauchen mehr Fleisch, und ich habe ja auch schließlich genug Geld, um-“ Annes Augen leuchteten auf und sie schmiegte sich an Frieder. „Geld, sagtest du?“ schnurrte sie in sein Ohr und knabberte an dem Ohrläppchen. Auf Frieders Gesicht breitete sich ein verklärtes Grinsen aus und er starrte die restlichen vier Anwesenden nur glasig an. „Ist auch egal, das mit dem Essen, ich habe noch was anderes zu tun, ich muss meine Erfindungen erfinden und perfe5ktionieren und ich muss Gänse schlachten und äh ich muss Obst pflücken und mein Gott, Anne!!“ Sein Kopf schien zu explodieren. Anne kicherte verrucht und tänzelte mit ihm gemeinsam in den Garten hinein, und endlich war es wieder still in der kleinen Hütte. „Tee?“ fragte Anna. Arndt nickte. Fritz nickte. Friederike nickte. Die Stille kehrte zurück. Erfüllte, zufriedene Stille kehrte zurück, und die Sonne ging unter, und das Glück und die Zufriedenheit legten ihre ruhigen Flügel über die Insel. Nur das Seewasser plätscherte leise vor sich hin, das einzige, was die Stille durchbrach. Kapitel 28: 28 - Jedem Tierchen sein Plaisierchen ------------------------------------------------- Zwar war noch Nacht, aber das helle, funkelnde Licht war schon von Weitem zu erkennen, und obwohl der Weg matschig war und man leicht einsunk, beeilte Hamburg sich, zu dem plattgedrückten, aber riesigen Gebäude zu gelangen, das in der Finsternis so hell strahlte wie eine explodierende Supernova. Es war viel zu früh für ein Treffen, aber da die meisten Tiere nachtaktiv waren, hatten sie sich zum ersten Mal für vier Uhr morgens verabredet. Es war etwa fünf Uhr, während Hamburg in warmen, dicken Klamotten den sumpfigen Weg entlanghastete, mit den beiden goldenen Löwen ihres großen Staatswappens, die kläglich knurrten – es war viel zu kalt für die in ihrem natürlichen Terrain von Sonne verwöhnten Tiere. Aber Jette, die schon seit langer Zeit von den beiden begleitet wurde, wusste, dass sie nur so schlecht gelaunt waren, weil sie genau wie ihre Besitzerin es nicht leiden konnte, zu solch einer nachtschlafenen Zeit aufstehen zu müssen. Aus mehreren Kilometern Entfernung konnte man ein dumpfes, rythmisches Grollen hören, dass professionnell ausgeblendet wurde. Als Jette an der Tür angekommen war, klopfte sie und ihre beiden goldenen Löwen schmiegten sich eng an ihre Unterschenkel. Es war Roland, der ihr öffnete, mit dem goldenen Schlüssel, das einzige Mittel, jenes Gebäude zu öffnen, ob von außen oder innen, und er begrüßte sie mit einem energetischen „Moin“, für das sie nur ein müdes Blinzeln übrig hatte und sich an seiner Seite in den Raum schmuggelte. Es war ein unglaublich hoher Raum, mit riesigen Fenstern ohne Vorhänge und einem Obergeschoss, das offen einsehbar war. Die Wände waren einst weiß gewesen, aber heute hing eine rosé-grün-geblümte Tapete daran, die schon an vielen Stellen entfernt worden war. Jette sah sich um, auf der Suche nach bekannten Gesichtern, während Roland neben ihr irgendetwas vor sich hin brabbelte („... und dann war ich plötzlich in einem Wald, und...“) welchem sie kein Gehör schenkte. Wieder einmal hatte jeder alle Löwen mitgebracht, und diese lagen teilweise verschlafen auf einem großen flachen Stein, der extra dafür in diesem Raum lag. Auch Jettes Löwen, die eben die drei Löwen von Roland und Hein entdeckt hatten und mit ihnen gemeinsam zu dem Haufen Löwen schritten, um sich dort gemütlich niederzulassen und sich die Pfoten zu lecken, waren anwesend und trugen dazu bei, dass insgesamt fünfzehn dieser Großkatzen sich in dem Gebäude aufhielten. Jette gähnte hinter vorgehaltener Hand; in genau diesem Moment rauschte ein großer schwarzer Stier an ihr vorbei und sie blieb perplex stehen. Es war, natürlich, einer der beiden Stiere von Mecklenburg-Vorpommern, der einzige von ihnen, der sich dieses extravagante Wappentier ausgesucht hatte. Verfolgt wurde der Stier von dem anderen Stier, und wie es Jette bekannt war, würden die beiden – wie seltsamerweise jedes Jahr – versuchen, die Schimmelstute von Hans zu begatten. Aber als stolzes Pferd, wie sie es wohl war, würde sie die seltsamen Stiere abweisen, und ihr Bruder, Niedersachsens Brillant, würde laut wiehernd einschreiten. Aber noch waren die beiden Stiere in ihrer Verfolgungsjagd verstrickt, und Jette würde sicherlich nicht einschreiten... Sie ließ sich an den Rand des langen Tisches nieder, der für die Bundesländer aufgestellt war, und die harte Holzbank unter ihr war von den jährlichen Treffen schon längst abgesessen. Es war genauso eine Tradition wie Weihnachten oder das Oktoberfest; jeden Frühling trafen sie sich mit ihren Wappentieren, und jeden Frühling konnten sie beobachten, wie sich diese Tiere eben so verhielten, wie man es von ihnen erwarten würde... tierisch. Wie zur Bestätigung dieses Gedankenganges landete der Adler von Sachsen-Anhalt in eben jenem Moment auf Jettes Kopf, und mit einem schrillen Kreischen schüttelte sie ihn ab und blickte das preußische Tier mit bösem, alles Gute in dieser Welt zermalmendem Blick an, bis es den Kopf in seinen Schultern vergrub und jämmerlich fiepsend auf den Schoß von Grete hüpfte, die dafür nur ein leichtes Lachen übrig hatte. Vom anderen Ende des Tisches hatte der rote Adler von Brandenburg dieses Schauspiel aus kühlen Augen beobachtet und erhob sich dann hoch hinaus, bis er direkt unter dem Dachgebälk war und sich mit eingezogenem Rücken, ganz und gar nicht majestätisch, wie es sich für einen Adler gehört, dort niederließ. Albrecht sah ihn besorgt an und murmelte ein paar Worte, dass das Tier doch wieder hinunterkommen sollte, statt dort oben ganz allein in der Dunkelheit zu sitzen, aber es hörte ihn nicht, und als Berlin synchron mit seinem Bären eine Pranke auf Albrechts Schulter fallen ließ, war dieser zu abgelenkt, als dass er sich weiter mit seinem Tier beschäftigen könnte – genauer gesagt war er durch die Wucht des Bärentatze mit der Stirn direkt in das weiche Müsli gepresst worden, das vor ihm auf dem Tisch stand. Paul konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen, dann nahm er seine Serviette und bot sie Brandenburg freundschaftlich an. Jette beobachtete diese rührende Szene einen Moment lang, ehe ihr Blick unwillkürlich auf den beiden Greifen landete, die in der Luft tänzelten und sich krächzende Laute zuwarfen. Einer der Greife, das wusste sie, die junge rote Dame namens Alwine – zuerst hatte sie gedacht, als er sie in einem Brief an Jette erwähnt hatte, dass Fritz einfach „Lawine“ falsch geschrieben hatte – gehörte Mecklenburg-Vorpommern, welcher sich nicht darum zu kümmern schien, was seine Tiere machten, denn er war zu sehr an dem Kartoffelbrei interessiert, in den er mit seiner Gabel simple Formen hineinmalte. Deswegen bemerkte er – im Gegensatz zu Hamburg – auch nicht, wie der andere Greif, mit goldenem und silbernen Fell glänzend und beinahe glitzernd, seinen Greif scheinbar dazu überredete, aus der Luft Jagd zu machen auf den Hirsch, der noch friedlich neben Brillant stand und dessen Fell im Energiesparlampenlicht (denn Glühbirnen waren verboten worden) eben golden-silbern glänzte. Jette schmunzelte ein wenig, und sie richtete den Blick auf den Besitzer des Greifes, und Baden hatte die Augen glühend auf sein Tier gerichtet, scheinbar nur darauf wartend, dass er die Klauen in den unwissenden schwäbischen Hirsch schlug. Ein Knurren aus der Richtung des Löwensteins ließ sie ihre Augen misstrauisch verengen. Normalerweise kamen die zahlreichen männlichen Löwen gut miteinander aus. Es gab schließlich genug Futter, gesponsort von den zahlreichen Zoos der Bundesrepublik, und manche von ihnen mussten zuhause doch manchmal Hunger leiden – ob ihre Besitzer ihnen das Fressen nicht zahlen wollte oder nicht zahlen konnte, war nebensächlich, wenn man nichts im Magen hatte. Die beiden blauen Löwen von Otto lagen übereinander in einer Ecke und betrachteten das ganze mit offenen, gähnenden Mäulern. Über dem ganzen Geschehen thronte Zenzies Panther wie ein König und ließ von einer etwas erhöhten Liegegelegenheit seinen langen, blauen Schwanz über der Situation schwenken. Neben den blauen Löwen lag ein goldenes Knäuel aus Hamburgs, Bremens und Loreleys Löwen. Die Wappentiere, die Probleme machten, befanden sich jedoch in der Mitte des Steines. Da war das Bein einer jungen Antilopen, und da waren fünf nimmersatte Löwen, die sich darum zankten. Drei Stauferlöwen – von Baden-Württemberg vernachlässigt, die nur Augen für die beiden Tiere mit güldenem und silbernen Fell hatten – waren schon genug, um den Streit zu einem ausgewachsenen Krieg werden zu lassen, aber auch Nicoles kleiner Villeroy war hungrig wie ein, nun ja, wie ein Tier, und seine Herrin war ganz damit beschäftigt, sich von Zenzie eine Geschichte erzählen zu lassen, sodass sie ihm nichts von ihrem Essen anbieten konnte. Der lauteste von ihnen war allerdings Sachsens Löwe, ein stolzes schwarzes Tier, das es sich nicht gefallen lassen wollte, dass es mit weniger als die anderen auskommen sollte. Am Ende wurde das Stück Fleisch von dem roten und von dem schwarzen Adler gemeinsam gestohlen, und die beiden suchten sich eine ruhige Ecke, wo sie es fressen konnten. Hamburg, die kurz davor gewesen war, die Löwen daran zu hindern, sich gegenseitig zu zerfleischen, atmete wieder auf. Wenn sie sich nicht verzählt hatte, dann fehlten da allerdings noch zwei Löwen, und so schwer zu übersehen waren die beiden nicht... ah, natürlich. Ganz am Rande, man erkannte sie kaum, ruhten Thüringens und Hessens Löwe in einer Eintracht, die ihre beiden Besitzer in nächster Zeit nicht erreichen würden. Sie waren Vater und Sohn, und unüblich für diese Tierart kamen sie harmonisch miteinander aus. Ein kurzer Blick auf Bernd und Karol bestätigte, dass auch diese beiden die zwei Löwen ansahen, ob nun wütend oder nachdenklich spielte keine Rolle... sie blickten sie an. Aus der Ferne war ein dumpfes Dröhnen zu vernehmen, das immer schneller immer näher zu kommen schien. Zuerst klang es wie ein Gewitter, dann ging ein Jette ein Licht auf und sie erhob sich ruckartig. Sie seufzte. Musste das sein? So viele Jahre über hatte sie Ruhe gegeben. Und nun sollte sie wieder den Wunsch verspüren, zu diesen Treffen zu erscheinen, obwohl sie doch wusste, dass das unangebracht war und sie vollkommen unerwünscht war? Es war unmöglich, mit ihrer Stimme durch den allgegenwärtigen Lärm zu dringen, obwohl sie sich räusperte, mehrfach sogar. Niemand hörte ihr zu, aber da war noch ein wenig Gewissen, dass sie die armen Bundesländer nicht einfach in Ruhe lassen konnte, während sie fortlief, zumal die Zerstörung dieses Gebäudes – das dumpfe Pochen kam rasend schnell näher – wohl nun ihre Verantwortung sein müsste. „Hey!“ rief sie laut. Ein oder zwei Augenpaare sahen sie an. Das war schon einmal eine gute Quote. Sie wiederholte also diese Tat, bis sie die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich liegen wusste. „Sie kommt.“ Ihr Gesicht war bleich und unterstrich die Ernsthaftigkeit der Situation. Nicht jeder verstand sofort, aber die, die es taten, sprangen auf und sammelten ihr Tier oder ihre Tiere ein, und aus Gruppenzwang folgten ihnen auch die nicht ganz so gescheiten Bundesländer. Am Ende blieben nur Hamburg und Bremen zurück, vor den Toren des Gebäudes, mit ihren verängstigten Löwen. Mit zitterndem Griff versuchte Bremen, es wieder zuzuschließen, während Jette mehrere Meter hinaufblicken musste zu der Burg, die plötzlich vor ihr erschienen war. Das Gebäude schien zu jaulen und zu jammern, und es sah sie aus traurig gesenkten Sternen vorwurfsvoll an. Mit sanfter Hand strich sie über die weißen, im Sonnenaufgang glänzenden Steine, aus der die Burg in ihrem Wappen erbaut worden war. „Du weißt, dass du nicht kommen sollst.“ sagte sie ihr, und die Burg fiepte mitleidserregend auf. Bremen mischte sich ein. „Hey, wenn die so gerne mitmachen will – warum machen wir dann nicht einfach das nächste Treffen in ihr?“ Jette sah ihn kurz an und nickte. Die Burg wirkte glücklicher. Ihre Glocken läuteten hell und fröhlich. Die Sonne ging auf, und von einer Turmspitze aus winkte Hamburg Bremen zu, während die Burg sie jubilierend nach Hause brachte. Kapitel 29: 29 - Der Sturm -------------------------- Die See lag ruhig. Keine einzige Welle kräuselte die Oberfläche. Die Spiegelung der grellen Sonne auf dem Wasser war kreisrund, als wäre die gesamte Nordsee ein einziger, riesiger und akkurater Spiegel des wolkenlosen Himmels. Schwül lastete die Luft auf den Gebäuden und zog in die Straßenschluchten ein. Der Wind, der der Stadt sonst Erfrischung und eine Abkühlung schenkte, lag ermattet und tot in Winkeln, aus denen er nicht fliehen konnte. Der beißende Geruch von Schweiß. Hein wusste nicht, warum er schwitzte. Das einzige, was er den gesamten Vormittag über getan hatte, war, im Hafen zu sitzen und auf die wenigen Fußgänger zu blicken, die mit großen Augen und noch größeren Sonnenbrillen auf die Sportboote – 'pleasure crafts', und Heins Ton war ironisch – glotzten, die streng gesichert am Kai lagen. Er wollte nicht wissen, mit welcher Temperatur seine Leute gequält wurden, sicherlich über vierzig Grad im Schatten, und man konnte kaum atmen. Die Klamotten klebten an seinem Körper. Ein kleines Mädchen blickte zu ihm hoch, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, mit zwei dunkelbraunen Zöpfen, an der Hand ihrer Mutter. Hein nickte ihr zu. Die Kleine vergrub das Gesicht im Sommerkleid ihrer Mutter und schien zu schluchzen. Heins Mimik blieb unverändert. Als sie wieder aufsah, merkte er, dass sie nicht weinte, sondern lachte. Sie lachte ihn aus. „Hey Brüderchen!“, war das letzte, was Hein hörte, bevor salziges Wasser seine Haut benetzte, in seine Ohren eindrang und ihn vollkommen umschloss. Er öffnete die reflexartig geschlossenen Augen, während er langsam in die Tiefe sank, in die Tiefe seines Hafens. Kein Fisch blinzelte ihn an, es war völlig still, oder hörte er einfach nichts hier unten? Von oben drang Sonnenschein zu ihm hinunter, an der Wasseroberfläche gebrochen, und das Wasser schillerte in allen Farben des Regenbogens. Es war bezaubernd. Dann erinnerte er sich daran, dass er atmen musste, und tauchte trotz seiner mit Wasser vollgesogenen Klamotten prustend auf. Sofort fand sein Blick den Anblick seines Bruders, der triumphierend auf dem Steg thronte und zu ihm hinunter blickte. Das dunkelhaarige Mädchen konnte Hein von dieser Position aus nicht mehr sehen. Vielleicht war sie auch schon weg, an der unbarmherzigen Hand der Mutter fortgezogen worden. Luft drang in seine Lungen ein wie eine scharf schneidende Rasierklinge und schien ihn zu verstümmeln. Er schnappte nach Sauerstoff, versuchte, die Wunden zu vertiefen, sie einzureißen, bluten zu lassen; und dann plötzlich ging es ihm wieder gut, hatte das Gasgemisch in der Atmosphäre ihn wieder geheilt. „Warum hast du das gemacht?“ In Heins Stimme lag weder ein Vorwurf noch irgendeine andere Emotion, es war die Neugier, die ihn trieb. Wie konnte er ahnen, weswegen sein Bruder aus dem Nichts auftauchte und ihn in das brackige Hafenwasser schmiss, Wasser, das sich immer mehr wie die kalte Realität und weniger wie der sanft gewebte Traum von eben anfühlte? Roland zuckte mit den Schultern, und ehe Hein auch nur einen Ansatz machen konnte, die steile Mauer hinauf zu klettern und den feuchten Fingern des Wassers zu entkommen, landete sein Bruder neben ihm, mit einem lauten, ohrenbetäubenden Platschen, das Heins Ohren wieder mit Wasser füllte. Als der Jüngere zur Seite blickte, sah er, wie die blendend weißen Zähne die Sonne, die Wolken und ihn widerspiegelten, wie sie geradezu blitzten und blinkten. Er wandte den Blick ab. „Warum hast du's nicht gemacht?“ konterte Roland. Hein zuckte treibend mit den Schultern. Je mehr Zeit er in diesem Wasser verbrachte, desto schmutziger erschien es ihm. Oder hing das damit zusammen, dass Roland alle Aufmerksamkeit auf seine von innen strahlende Erscheinung zog? Er konnte es nicht sagen. Aber er fing an, sich unwohl zu fühlen in seinem eigenen Hafenbecken. Ihm wurde bewusst, dass das hier nicht der offene, freie Ozean war, dass hier keine gesunden Fische mehr lebten, dass der Dreck das Becken bis zum Rande auffüllte. Vermutlich drang das Sonnenlicht nicht einmal wirklich durch die Wasseroberfläche, vermutlich war jegliche Impression, dort unten etwas zu sehen, nur Einbildung. Würde er weiter hinabtauchen, würde er einen von Algen überzogenen Seeboden spüren, dunkelgrüne, alles Leben erstickende Algen. Hein fühlte sich, als würde auch er ersticken. Der Anblick von Roland, fröhlich und frisch im toten Wasser, schnürte ihm die Kehle zu. - Der Weg in seine Heimat war schrecklich. Roland gestand, er war ihn besuchen gekommen, weil er keine Lust hatte auf die Arbeit, die vor ihm lag. Also, wie er genauer ausführte, indem er sich wiederholte, hatte er beschlossen, seinem kleinen Bruder einen Besuch abzustatten. Und er hatte genug Beck's mitgebracht, um eine Elefantenherde ins Koma zu saufen. Das konnten sie ja heute Abend zusammen trinken, schlug er vor. Die Sonne war ihnen auf die Haut gebrannt und hatte die durchnässten Klamotten mir nichts, dir nichts getrocknet, bis sie ihnen nicht mehr klitschnass an der Haut klebten, sondern mit einem feinen Salzüberzug wieder glatt und leicht lagen. Die Schwüle drückte Hein aufs Gemüt, Roland schien sich davon nicht stören zu lassen, er redete über dies und das und jenes und sell, und nichts schien ihn stoppen zu können, und Hein hörte zu und hörte ihn nicht und es beruhigte ihn. Nachdem sie ein paar Mal anhalten mussten, damit Roland sich die eine oder andere bremerhaveranische Spezialität an Straßenimbissen kaufen konnte, zogen Wolken am Himmel auf. Die Luft drückte schwerer und schwerer. Katzen verschwanden von den Straßen, suchten laut mauzend bei ihren Besitzern Einlass oder verkrochen sich hinter Mülltonnen in abgelegenen, verwinkelten Gassen. Hunde wurden nervös und zogen an den Leinen, wollten in die Sicherheit ihrer Häuser zurück. Ein Sturm zog auf. Bremen und Bremerhaven kamen rennend an Heins Haus an, aber sie waren nicht schnell genug gewesen, und waren wieder völlig durchnässt, dass ihnen die Klamotten am Leibe klebten und die Haare nass und traurig hinabhingen. Die blau gestrichene, schon lang verblasste Holztür fiel mit einem lauten Klappern ins Schloss, während der Wind den Regen gegen die Backsteinmauern schlug. „Ich hol uns neue Kleidung.“, murmelte Hein und huschte die gewundene Treppe in den ersten Stock hinauf. Oben sah er sich um, als würde er die Zimmer zum ersten Mal sehen. Seit wann hatte er Roland schon nicht mehr gesehen? Nein, das war leicht, vor einer Woche und zwei Tagen. Besser: seit wann wollte er Roland nicht sehen und wollte ihn sehen und wusste nicht, was er wollte? Er blieb völlig ruhig, nur die Fingerspitzen mit abgeknabberten Fingernägeln zitterten. Laut war der Sturm draußen zu hören. Hein selbst fühlte sich wie ein einziger Sturm, ein Sturm in einer Glasglocke, der nichts in der Welt draußen verändern konnte, sondern auf ewig in seinem Inneren wüten musste. Er wandte sich zu dem großen, hellen Buchenholzschrank und beobachtete genau, was seine Hände ohne sein Zutun hinauszogen. Für sich ein beiges Shirt, nichtssagend und fahl, und für seinen Bruder ein altes Hemd aus seiner Jugend, das ihm inzwischen zu klein war. Hoffentlich passte es Roland. Es war hellgrün mit roten Streifen. Hein wusste nicht mehr, woher er es hatte, er wusste nur, dass er es nie getragen hatte. Für beide hatte er helle Stoffhosen. Der Gedanke, an dieser Stelle, hier oben aus seinen Klamotten zu gleiten und in die neue Kleidung zu schlüpfen, kreuzte seine Gedanken, aber er tat nichts, sondern er nahm den Stoff fest in die Hand und kehrte zurück nach unten. „Hier.“ Er legte das Hemd ordentlich zusammen, mit der Hose obenauf. Dann wandte er Roland den Rücken zu. Sein Blick streifte den gekachelten Kamin, der seit Jahren nicht mehr benutzt wurde. In den Fliesen spiegelte sich Roland, der sein nasses T-Shirt auf den Boden fallen ließ und aus der Hose stieg. „Hey, ziehst du dich nicht um?“ Das Lächeln schwang in Rolands Stimme mit. Hein war wie paralysiert, dann schüttelte er den Kopf. „Hä? Na klar ziehst du dich auch um!“ Nasse Hände legten sich an Heins Nacken, auf seine Schultern. Er konnte geradezu vor sich sehen, wie die Regentropfen auf dem Handrücken lagen, wie Roland sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um die Hände auf seine Schultern legen zu können. „Ich kann dir helfen!“, bot er selbstlos an und langte nach vorne, um Heins Hemdsaum zu fassen. Panik stieg in ihm auf, intensivierte den Sturm, aber an der Oberfläche blieb er ruhig, ungestört, still wie ein gefrorener See. Rolands Finger waren kurz und dünn, wie ein Tau, das sich unbarmherzig um seine Hüfte schlang. Wieder blieb ihm die Luft weg, Adrenalin stieg auf, sein Kopf wollte zerplatzen, es war heiß und stickig, er wusste nicht, wie lange er das ertragen konnte. Sein Shirt landete neben dem von Roland auf dem Boden. Hein kniff die Augen zu. Er wollte sich nicht sehen, er wollte nicht sehen, was hier geschah, mit ihm, mit Roland, mit ihnen. „Mann, Hein. Dass du das immer noch nicht allein kannst, Kleiner, he?“, stichelte Roland den kleinen Bruder ein wenig, mit liebevollem Ton in der Stimme. Hein drehte sich um und öffnete Augen wie Mund, aber kein Ton entfloh ihm, er starrte. Das war nicht das erste Mal, dass er Roland halbnackt sah, mit Haaren, die sich elegant um seinen Hals schlangen und Regentropfen, die langsam die helle Haut hinabtröpfelten. Draußen waren orkanartige Böen zu hören. Es war nicht das erste Mal, aber es war das erste Mal, seit Hein erwachsen war, wie er es zumindest selbst von sich behauptete. Er schloss den Mund. Dann öffnete er ihn wieder. Er war sprachlos und verhielt sich wie ein Fisch auf dem Land. Luft. Er brauchte Sauerstoff oder er würde ersticken. „Ich kann das allein.“, behauptete Hein atemlos der Realität widersprechend, und verschränkte die Arme vor der Brust. Er konnte gegen seine nackten Schulterblätter fühlen, wie Roland lachte. Passiv stand er da, passiv wollte, konnte er sich nicht wehren. Das Gewitter fegte einen Ziegel vom Haus gegenüber auf die Straße. Heins Reetdach blieb unberührt. Das Lachen verstummte nicht, und es hallte schrill und gleichzeitig angenehm in Heins Ohren nach. Er wollte im Erdboden versinken, denn er konnte nichts tun, er konnte sich nicht wehren, er konnte nicht, weil er nicht wollte. „Na dann mach doch.“, forderte Roland ihn auf. „Ja. Ich mach.“, erwiderte Hein. „Und?“, fragte Roland nach. „Ja. Ich zieh mich um.“, antwortete Hein. Stille. „Brauchst du noch Hilfe?“, hakte Roland nach. „Nein!“, kam hastig die Antwort von Hein. Stille. Hein hob die Hände zur Hose. Nass klebte sie an seinen Schenkeln, und mit einem Mal waren zwei raue, zahnstocherartige Beine entblößt. Roland schien zufrieden zu sein. Er ließ von ihm ab. „Jetzt erkältest du dich nicht.“, teilte er ihm mit und reichte ihm die trockene Hose. Die Worte hingen auf Heins Lippen, sie wollten entkommen, wollten sich Roland vor die Füße werfen und sich ihm hingeben. Sie hingen an seinen Lippen wie süße, zähe Honigtropfen, kurz davor, hinab zu tropfen und Roland endlich die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit, die tief in seinem Herzen pochte. Aber er sagte nichts. Er nahm die Hose, zog sie sich an, schlüpfte in sein neues Shirt und beobachtete dann seinen Bruder, wie er es ihm gleichtat. Dann setzten sich die beiden vor den Fernseher und sahen sich eine Vorabendsendung an, über die Roland laut lachte und die an Hein vorbeizog. Der Sturm war vorüber. Auf der Straße lagen zerbrochene Ziegelsteinstücke. Bäume waren in Richtung Erdboden verbogen. Der Sonne schien dumpf, die See lag ruhig und Hein Mück war feige. Kapitel 30: 30 - Paul und seine Freunde --------------------------------------- Das geschah nur einmal alle Jubeljahre. Alle Impulse waren aktiv und überbrachten Paolo sowie Paul einen Gehirnwasserkaffee und die Nachricht, dass Paula zu einem absolut „dRiiinGeNdEn“ Gespräch geladen hatte. Die Sonne stand hell im Westen, der Körper von Paul Albrecht döste vor sich hin, und als Paul und Paolo zum Meeting eintrafen, waren sie müde und erschöpft. „Was gibt’s, Paula?“, fragte Paul, während er sich auf dem kleinen Schemel niederließ, der vor dem niedrigen Holztisch stand. Sein Gehirnwasserkaffee wurde ihm nachgeschenkt. Sie fuhr mit einer Hand durch ihre Haare; als Ergebnis standen sie struppig ab. Es war klar ersichtlich, dass Paula sich nicht gekämmt hatte. Auch der Pyjama mit den süßen rosa Babykätzchen auf beigefarbenem Grund verstärkte den Eindruck, dass dieses Treffen mehr als hastig einberufen wurde, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie stützte die Handflächen energisch auf dem Tisch ab. Paul neben ihr, der unruhig auf dem Schemel umherrutschte und einen der Impulskellner damit beauftragte, ihm eine Kippe zu bringen, ließ den Blick zu Paolo schweifen, der die Schnüre seiner Kapuze festhielt und sie um seinen Hals schlang. Als Paula ihre süße Mädchenstimme erhob, klang sie beinahe hysterisch. „Knut!!! Der knuffige kleine Kuschelbär!“ Paul sah sie misstrauisch an, während der Impuls eine Zigarette brachte und sie ihm hinhielt. Paolo kicherte leise, aber Paula in ihrem inneren Aufruhr bemerkte das nicht. „Er ist tot! Er …............ er ist tot...“ „Wie.“ Pauls Stimme klang belegt. Der Rest der Welt schien diesen März einer Apokalypse entgegenzuschlittern, und jetzt sollte selbst Knut tot sein? Das konnte nicht sein. Er schüttelte den Kopf. Die Zigarette steckte unangezündet und vergessen in seinem Mundwinkel. „Ich weiiiiiß!!“ In Paulas Augenwinkeln sammelten sich Tränen, und sie schniefte laut auf. Paolo sah sie aus einem großen Auge heraus an. Er hatte die Schnüre seines Pullovers losgelassen und rückte mit seinem Stuhl näher an sie heran. „Hey“, sagte er mit leiser, fast schon sanfter Stimme. „Meinst du, meine Hand riecht nach Pferdescheiße?“ Er hob ihr die Hand hin, Paula schniefte noch einmal laut auf. Statt aber zu fragen, warum das nun plötzlich wichtig war, streckte sie den Kopf nach vorne und hielt die Nase über die Hand ihres Bruders. In einer plötzlichen Bewegung schnellte Paolos Hand nach oben und schlug damit brutal gegen Paulas Nase. Paolo lächelte schief. „Yo bitch!! Hab' dich!!“ Einen Moment lang war es still, dann fing Paula an, Rotz und Wasser zu heulen. Sie stotterte unvollständige Sätze – „Knut“ kam darin oftmals vor, und „nie wieder“; „Pupsi“ ebensooft wie „tot“. Sie bot einen armseligen Anblick, und niemand mit einem halben Herz würde kein Mitleid empfinden für das ansonsten so schlagfertige Mädchen. Paul tätschelte ihre Schulter, obwohl er selbst Trost brauchte. Er räusperte sich. „Ich denke, es ist keine große Frage, was wir nun tun werden.“ Noch immer hing die Kippe vergessen in seinem Mundwinkel. Paula wandte sich von Paul ab und klammerte sich haltsuchend an Paolo, der dieser Aktion nur mit einem Seufzen begegnete und sich eine Tüte aus seinem Känguruhbeutel fischte. „Haste ma Feuer.“, verlangte er. Paul antwortete nicht, aber ein kleiner Impuls kam geschwind angerannt und bot dem Drogensüchtign ein Streichholz an. Sekunden später roch man im großen, ausladenden Raum den bekannten Gestank von Gras. Paula störte das nicht, im Gegenteil: sie schien sich langsam wieder zu fangen und sah Paul aus geröteten Augen an. „Das ist keine große Frage, nööö!“, rief sie laut aus. „Wir machen ein riesiges Begräbnis! Mit Fanfaren und so! Und wir werden die Straßen anmalen, mit Sternchen und Elefanten und süßen- süßen Babybären!!“ Ihre Stimme zitterte wieder gefährlich. Paul wagte kaum, ihr zu widersprechen, aber er war hier der einzige, der sowas ähnliches wie Vernunft besaß, also musste er diese auch hin und wieder einmal anwenden. „Nein. Das geht leider nicht.“ „Was?!“ Der Blick aus ihren Augen war furchterregend. Sie wandte sich zu Paolo. „Pupsi!! Tu' was, Schnuckelchen! Sag' ihm, dass das nicht geht!“ Paolo sah sie aus den Augenwinkeln heraus genervt an. „Ey Paul...“ Einen Moment lang glaubte der Angesprochene tatsächlich, dass Paolo auf seine Schwester gehört hatte. „Meinst du, man kann Eisbären rauchen?“ Stille. „Haste sie noch alle, du Wahnsinniger?!“ Es war weniger eine ernstgemeinte Frage, deren Antwort Paul noch nicht kannte, als eher ein Vorwurf. Ein kluger kleiner Impuls brachte ihm Feuer, und augenblicklich wurde Paul ein wenig ruhiger. Paolo lachte. „Ist doch eh tot, oder nicht? Is' ja nicht so, als würden wir ihn töten...! Voll moralisch gut und so!!“ Paul wandte den Blick ab. Er hätte schon vor 19382909 Jahren aufgeben sollen, mit diesem gehirnampurtierten Arschloch zu reden. Er blies gräulich-blauen Rauch aus und beruhigte sich langsam. „Was haltet ihr davon. Wir stopfen ihn aus.“ Hoffnungsvoll sah Paul in zwei aus verschiedenen Gründen rot unterlaufene Augenpaare. „Hey!!“ Von unten kam eine hohe, helle Stimme. Ein Sehnerv war marathonartig mit einer Eilmeldung in die Kommandozentrale gerast und übergab Paul mit zitternden Händen die Beobachtung von Berlins Augen. Dann brach der Sehnerv zusammen und blieb reglos liegen. Geschwind kamen zwei Impulse herbeigehuscht, die das arme erschöpfte Ding auf einer Trage nach in ein Krankenzimmer verschafften. Paul öffnete das Dokument mit kaum weniger zitternden Händen. Sein Blick huschte über die hastig hingeschmierten Buchstaben. Die Tinte war an manchen Stellen verschmiert. „Okay.“, teilte er seinen beiden Mitstreitern mit. „Wir müssen zu 'ner Entscheidung kommen. Keine Zeit. Albi kommt auf uns zu. Man vermutet, er will uns trösten.“ „Oh!“ Paolos Augen leuchteten auf. „Er will uns töten?“ Paula kicherte. „Nein nein, das hast du falsch verstanden, er will uns tröööösten!“ Paul ergriff wieder das Wort. „Ja. Trösten. Und wir sollten bis dahin genau wissen, was wir wollen.“ Paolos Mund verzerrte sich zu einem dreckigen Grinsen. Paula kicherte noch lauter. Paul verdrehte die Augen und nahm einen tiefen Zug. „Dann nehm' ich das mal in die Hand.“ So wie immer. Immer blieben alle Entscheidungen hier drin an ihm hängen. „Ausstopfen.“ Ein letztes Mal zog Paula die Nase hoch und wischte gleichzeitig Rotz an Paolos Pullover ab. Sie nickte kaum merkbar. „Und dann stellen wir ihn aus, wa, Paul?“ Auch er nickte. Paolo schien am ganzen Thema völlig desinteressiert zu sein. „Wär's das? Dummer toter Bär, voll laaangweilig. Mein Arsch will bereit sein, wenn Brandenburg da ist.“ Paul sah ihn aus giftigen Augen heraus an. „Steck's!!“, sagte er mehr als streng. Paula tätschelte Paolo auf den Kopf, als wäre er ihr kleiner Sohn. „Ja, ja, sei mal schön bereit.“, sprach sie ihm gut zu. „Lass dich nicht von dem Langweiler Paul unterkriegen.“ Paolo ignorierte sie, stand auf, schmiss damit seinen Stuhl um und rauschte mit winzigen, aber umso irritierenderen Schritten aus dem Zimmer heraus. Paul, Paula und eine dunstige Rauchwolke blieben zurück. „Viel Spaß mit deinem Lover, Paule, ne?“ Sie lächelte selbstzufrieden. Paul lächelte ebenso. „Danke. Und hey, Paula...“ Sie hatte sich schon erhoben und wollte sich etwas anderes als den Katzenschlafanzug anziehen; Paul legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du packst das schon. Knuts Tod. Wir packen das alle. Glaub' mir.“ Ein weiterer Sehnerv kam hereingehastet. Paul sah ihn zärtlich an. Paula lächelte. „Wir sind ja nicht allein.“ Kapitel 31: 31 - ABC -------------------- Es waren zwanzig Drinks, alle neongrün und mit pinken Strohhalmen sowie einer halben Kokosnuss. Selbst Nicole war es erlaubt, zu trinken. Die Bundesländer feierten Silvester, und an diesem Abend sollte jeder glücklich sein, sollten sich alle zumindest für die zehn letzten Sekunden des alten Jahres und die ersten fünf Sekunden des neuen Jahres vertragen. Das war natürlich eine Utopie. Ludwig beobachtete die Drinks nachdenklich. Neben ihm stand Gilbert und klopfte ihm optimistisch auf die Schulter. „Nicht so trübselig“, sagte er seinem Bruder, „ich weiß, was ich mache!“ Da war sich Ludwig nicht sicher, aber hatte er eine große Wahl? Sein Bruder hatte mal wieder einen Erfolg nötig, und er hatte mal wieder ein paar streitlose Stunden nötig. Also warum nicht? Ludwig wusste nicht, dass die „Geheimzutat“, die Gilbert den Drinks zumischte, alles andere war als ein harmloses Mittelchen. Er hatte die Mischung aus Gretes Haus gestohlen und war sich selbst nicht sicher, was es bewirkte. Zumindest Gilbert würde die Effekte wieder ausbügeln müssen. --- Als Maximilian am nächsten Morgen aufwachte, war es warm und still, ein angenehmer Kontrast zum vergangenen Abend, mit dem lauten Feuerwerk und der kalten Januarluft. Irgendetwas war falsch. Mit geschlossenen Augen tastete er nach dem warmen Körper neben sich. Mit einem Ruck öffnete er seine Augen und sah nur den Schnee, der auf dem Fensterbrett lag. Seine Hand lag erstarrt auf einem nackten Oberarm hinter ihm. Er wagte nicht, sich umzudrehen, und so lag er noch ein paar Momente paralysiert da, ehe er den Kopf nach hinten drehte und wildes, rotes Haar sah. Dann ereilte ihn der Drang, sich übergeben zu müssen. Während Maximilian über dem Waschbecken hing, öffnete Zenzie langsam ihre Augen, und im Gegensatz zu ihm waren ihre Erinnerungen an den vergangenen Abend klar und deutlich, scheinbar hatte sie um einiges weniger Alkohol getrunken – seltsam.. Sie sah an sich hinunter. Ihre Unterwäsche war noch an ihrem Platz. Das war einerseits beruhigend, andererseits bedeutete es aber auch, dass sie eben nur noch in Unterwäsche war, und dass Maxi sie so gesehen hatte... Er kam zurück aus dem Badezimmer, nur in rot-grün gestreiften Shorts, und sie sahen sich einen Moment lang an. Zenzie zog die Daunendecke über ihren gesamten Körper. „Ähm...“, fing er an, aber sie hatte genau im selben Moment beschlossen, ebenfalls mit einem beschämten „Es...“ ein Gespräch beginnen zu wollen, und so verstummten sie beide, und peinliche Stille legte sich über die beiden, ehe Zenzie wieder das Wort ergriff. „Deswegen heiraten wir aber nicht.“ Er schüttelte vehement den Kopf. „Und wir erzählen nie irgendjemanden davon, gell. Nie. Jemanden.“ Sie nickte ebenso vehement. Ein Klopfen an der Tür unterbrach die beiden. Mit Panik im Blick schaute Max sie an. „Wem gehört das Zimmer?“, fragte er völlig verkatert. Sie sah sich um und kam zu dem Schluss, dass es ihr gehörte. Schnell verkroch sich Baden im Badezimmer; sie zog sich einen Bademantel an, der wirklich alles verdeckte, und öffnete, nur, um in eine noch schlimmere Stimmung gestürzt zu werden. Vor der Zimmertür stand Gilbert und auf seiner ausgestreckten Handfläche lagen zwei kleine Pillen. Sein Gesichtsausdruck spiegelte eine Art Schuldbewusstsein, aber auch viel Amusement wider. Dann sprach er. „Wenn...“ - In Pauls Zimmer befand sich ein Doppelbett, aber er lag nicht im Bett, er lag auf dem schwarzweißen Teppich. Seine Arme griffen ins Nichts, und er schnarchte leise. Auf dem Bett saß ein fahler, bleicher Württemberg mit angezogenen Beinen und starrte durch Paul hindurch, in nervöser Erwartung des Erwachens der Hauptstadt. Er konnte sich genau daran erinnern, warum sie gemeinsam in diesem Zimmer gelandet waren. Da war der Preuße gewesen, mit seinem seltsamen Gesöff, und irgendwann hatten sie ein lustiges Spiel gespielt, irgendetwas mit dem Alphabet, so genau erinnerte er sich nun auch nicht mehr. Dann, und daran konnte er sich nur noch mit Abscheu erinnern, war er mit Paul gemeinsam in diesem Raum gewesen, und er fühlte noch die warmen Fingerspitzen auf seiner Haut. Ein wenig zitterte er bei dem Gedanken daran. Bevor Paul aufwachen konnte, trat Gilbert ohne anzuklopfen ein und musterte die beiden Anwesenden einen Moment lang. Mit hastigen Schritten rannte er erst zu Paul auf dem Boden und schob diesem eine Tablette in den Mund, dann wandte er sich zu Lukas, der ihn mit brennendem, roten Gesicht anblickte, aber nicht zurückwich, als der Preuße sich ihm näherte und ebenfalls eine Tablette anbot. Gilbert erhob die Stimme. „Wenn ihr...“ - Das Wasser war eisig kalt. Bremen war noch immer wach. Er hatte die Nacht durchgemacht, und nun lag er in einer Badewanne, inmitten von kaltem Wasser, in den Armen Albrechts. War eigentlich gar nicht so schlecht. Das Beck's ließ seine Adern pulsieren, und die leeren Flaschen im Badewasser waren auch nicht so schlimm, wie man es sich vorstellte. Er sah auf. Brandenburg war schon vor Stunden eingeschlafen, aber er hielt ihn trotzdem sicher in seinen Armen. Roland kuschelte sich etwas enger in diese Hände, die ihn an eine Mutter erinnerten, die er nie gehabt hatte. Seine eigenen Finger schlangen sich um die Finger des anderen, und Albrecht wachte auf. „Was zum...“, murmelte er schläfrig. Roland hielt die Augen fest geschlossen und hielt die Hände fest um Albrecht umklammert. „Bremen?!“, fragte Albrecht schockiert. Roland nickte kaum merkbar. „Warum--“, fügte er an. Roland konnte ihn nicht ansehen. Ihre Klamotten hatten sich mit Wasser vollgesogen, und fiel beiden schwer, aufzustehen, aber Albrecht nieste, und Roland sah ein, dass es Zeit war, aufzustehen. Bei ihm war der Effekt des Drinks von Gilbert noch nicht vollständig abgeklungen, vielleicht, weil er so viel kleiner war als Albrecht. Mit nassen, glitschigen Händen kletterte er aus der Wanne hinaus und fiel auf den Fließenboden, wobei er sich den Kopf schmerzhaft anschlug. „Brandenburg, das tut weh!!“, beschwerte er sich bei dem anderen Bundesland. Albrecht schluckte. Der Satz klang falsch. Er kletterte aus der Wanne und suchte mit durchweichten Fingern inklusive eingeschrumpelten Fingerkuppen ein Handtuch, das er geschwind um Bremens Kopf wickelte. „Besser?“, fragte er und nieste erneut. Bremen nickte. Etwas im Blick des anderen sagte Albrecht, dass dieser ihm erneut um den Hals fallen wollte, aber zu seinem Glück klopfte es an der Tür, und ohne nachzudenken, rannte er zur Tür, um sie zu öffnen und einen fröhlich grinsenden Gilbert zu erblicken. Albrecht öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, hatte ihm der andere schon eine kleine, weiße Pille in den Rachen geschmissen. „Wenn ihr das...“, setzte er an. - Ihre Hand war verschwitzt, aber sie klammerte sich mit aller Macht an Heins dünnen Fingern fest. Sie wusste nicht, warum sie draußen auf dem Fensterbrett im fünften Stock geschlafen hatte, und sie wusste nicht, warum Hein neben ihr geschlafen hatte, aber nun war sie aufgewacht, und nun hing Hamburg an Bremerhavens Hand, und wenn der Griff sich lockern würde, dann würde sie hinunterfallen, und sie wusste jetzt schon, dass dies schmerzen würde. Außerdem trug sie aus einem Grund, der ihr nicht bekannt war, ihr Holzbein nicht mehr, und auch sonst nur sehr spärliche Kleidung. Hein versuchte, sie nicht anzusehen, während er sie festhielt. „Warum habe ich dich geküsst, Jette?“, fragte er mit seiner leisen Stimme. Sie sah ihn irritiert an. Achja. Da war ja was gewesen. Vor ihren Augen blitzte ein Bild auf, von Hein, der sie auf den Boden drückte und ihr in die Augen sah, und sie wusste wieder, warum sie ihre Kleidung verloren hatte. „Ich weiß es nicht.“, erwiderte sie, denn warum sollte sie auch nur den Hauch einer Ahnung davon haben, wieso Hein plötzlich solch verwirrende Aktionen tätigte? Noch weniger Ahnung hatte sie davon, warum sie ihn hatte gewähren lassen. Wenn ihre Erinnerung sie nicht täuschte, das war jedoch gut möglich, war sie, nachdem er sie ausgezogen hatte, auf das Fensterbrett geklettert, und nun, ein paar Stunden später, hing sie ihr, mit zappelnden Beinen und einem Fuß, der keinen Halt fand. Hein hörte, wie Gilbert eintrat, aber er konnte sich nicht umsehen, um ihn zu begrüßen, er musste sich darauf konzentrieren, die starke Frau festzuhalten, deren Leben am seidenen Faden hing – oder alternativ an seiner Hand. Gilbert stellte sich neben ihn und betrachtete die Szene interessiert, aber bevor er half, teilte er den beiden noch mit, wieso er gekommen war. „Wenn ihr das nehmt, ...“ - Dreckig. Er war von Kopf bis Fuß verdreckt. Karol sah an sich hinunter, und was er sah, gefiel ihm gar nicht. Er stand draußen im Garten, hielt die Schaufel von Hans und lehnte hockend an einem Baumstamm. Außerdem fröstelte er: Schnee lag überall um ihn herum, die kalte Luft fühlte sich so schneidend an wie Messerscheiden, und er trug keine angemessene Kleidung. Eigentlich trug er gar keine Kleidung, wie er nüchtern feststellte. Eigentlich lag ein Paar nackter Füße auf seinem Schoß. Zumindest eine Unterhose trug er. Glück gehabt. Karol wandte den Kopf, bis er den Besitzer der Füße erspähte, und entgegen seinen Erwartungen gehörten sie zu Mecklenburg-Vorpommern. Fritz war nicht im Geringsten entblößt, und er war auch nicht dreckig; er lag friedlich schlummernd da, schien nicht einmal zu zittern oder zu frieren. Ein wenig beneidete Karol ihn. Hauptsächlich um die Kleidung. „Fritz?“ Er rüttelte an dem Bein. Trotz der warmen Hose konnte er spüren, dass die Haut darunter kalt war. „Fritz?“, wiederholte er und war seltsam erleichtert, als das andere Bundesland erwachte. Zwar sehr langsam, mühselig gähnend und ohne sich die ersten paar Minuten zu bewegen, aber er erwachte. „Hm?“, hörte Karol die leise, unauffällige Stimme. „Würdest du mir behilflich sein, bitte?“, fragte der Hesse. Fritz schien angestrengt nachzudenken, wie er das erreichen konnte. Dann stand er auf. Karol konnte seine Füße kaum mehr spüren, und je mehr Zeit verstrich, desto kälter wurde ihm, desto mehr litt er. Auch er richtete sich auf, auf temporal sehr unsicheren, da erfrierenden Beinen. Sobald er stand, fand er sich in einer Umarmung durch Mecklenburg-Vorpommern wieder, protestierte schwach, konnte diese Aktion aber nicht lange kritisieren, weil die Körperwärme des anderen sich lebensnotwendig anfühlte. Noch bevor er sich an das behagliche Gefühl gewöhnen konnte, kam aus der Richtung des Hauses ein sichtlich verstörter Gilbert hergerannt, schmiss Karol zwei kleine Tabletten zu und verschwand sofort wieder. Über seine Schulter rief er den beiden noch etwas zu. „Wenn ihr das nehmt, werdet...“ - Seine Schaufel fehlte, bemerkte Hans mit verschlafenem, benebelten Geist. Er hatte gestern Nacht – er würde nicht „zu viel“ sagen, denn „zu viel“ gab es nicht, aber doch sehr viel – Alkohol gehabt. Nicht, dass ihm das irgendetwas ausmachte; normale Menschen oder Länder hätten an seiner Stelle wohl einen Mordskater gehabt, er war völlig unbeeindruckt von dem Nervengift, das durch seine Blutbahn raste. Zurück zum Thema. Seine Schaufel fehlte. Stattdessen lag da irgendsoein komischer Typ in seinen Arm. Wo lag er überhaupt? Hä? Ah, achso, im Keller, in einer Grube, die er gebuddelt hatte. Dem Dreck unter seinen Fingernägeln nach zu schließen mit seinen eigenen Händen. Mal wieder eine klasse Aktion, Hans, sagte er sich selbst. Dann betrachtete er den braunen Haarschopf, der in seiner Armbeuge lag. Unter sich spürte er Würmer den Boden umgraben. Brave Würmer. Ein kleiner frecher Wurm schlängelte sich seinen Unterschenkel hinauf, hatte seinen Weg hineingefunden in seine Jogginghose und kitzelte ihn nun, sodass Hans laut auflachte, sich schüttelte und den anderen Mann dadurch aufweckte. Niedersachsen sah ihn mit einem Blick an, der nichts davon verriet, dass er bis eben noch geschlafen hatte. „Hans?“, fragte er erst unsicher, aber bevor der noch immer grinsende Nordrhein-Westfalen die Möglichkeit hatte, zu antworten, sprach er schon weiter. „Was soll das?“ Sein Blick war misstrauisch. Hans schien amüsiert zu sein und die Situation nicht mit dem gebührenden Ernst anzugehen. Dabei war Ernst doch so angemessen. Georg lag hier halbnackt auf einem ebenso halbnacktem Hans, dem auch noch der Gürtel fehlte. Nicht, dass das eine ungewohnte Situation war, aber normalerweise war einer der beiden immer verschwunden, bevor man erwachte. Hans sah ihn an, und er meinte, zu erkennen, wie er ihn anflehte, die Situation nicht zu verkomplizieren. Nein, Hans mochte es nicht, wenn Dinge allzu kompliziert wurden. Georg wurde ein wenig wütend – er mochte komplizierte Dinge! Er verstand sie meistens nicht, aber er mochte sie! – stand dann aber auf und strich seine Hose wieder ordentlich hin. Gerade öffnete er den Mund, da stolperte Gilbert die Kellertreppen hinunter. Eine kleine Spinne huschte über den Boden und stellte sich dem Preußen in den Weg, aber er zertrat sie ignorant, ehe er Georg und Hans jeweils eine kleine Pille in die Hand dückte. Er wirkte ein wenig außer Atem, als er sprach. „Wenn ihr das nehmt, werdet ihr...“ - Nicole und Villeroy versteckten sich unter dem Bett. Auf dem Bett lag Loreley, und ihre Hand hing hinunter, und Nicole war sich sicher, dass sie tot war. Sie hielt den Löwen fest an sich gedrückt und machte sich so klein, wie sie nur konnte, obwohl kein Mensch, der auch nur einen Zentimeter größer war als sie, sich unter dieses Bett hätte quetschen können. Sie wusste nicht, wie sie hier hergekommen war. Sie wusste nichts mehr, absolut nichts mehr. Das warme Fell ihres Tierchens beruhigte sie ein wenig, bis sich die Zimmertür knarzend öffnete. „Hallo?“, erschall Gilberts Stimme. Nicole war erleichtert. Da war jemand am Leben!! Sie kroch unter ihrem Versteck heraus, rannte auf Gilbert zu und versteckte sich hinter seinen Beinen, ohne sich umzusehen. „Sie ist tooooot!!“, teilte sie ihm eindeutig traumatisiert mit. Gilbert war irritiert. Das friedlich schlafende Mädchen auf dem Bett war bestimmt nicht tot. Er kniete sich neben die „Leiche“ und schob ihr eine Pille in den offenen Mund. Ein leises Schnarchen war zu hören, dann drehte sich Rheinland-Pfalz um. Auch Nicole wurde eine Pille überreicht. „Keine Sorge, du Feigling. Sie ist noch am Leben.“ Wie zur Unterstützung seiner Worte drehte sich Loreley geräuschvoll um. „Und was ist das für ein Teil?“ Misstrauisch sah Nicole die seltsame Pille an. Gilbert hielt sie ihr auf seiner ausgestreckten flachen Hand hin. „Wenn ihr das nehmt, werdet ihr die...“ - Sachsen hing an einem Kronleuchter. Es schaute nach unten. Die Decke war wirklich sehr hoch. Es erinnerte sich genau daran, wie es hierhergekommen war. Da war Margarethe gewesen. Und ihr Besen. Irgendwie waren sie gemeinsam auf dem Besen gelandet. Dann waren sie umhergeflogen. Dann waren sie hier oben gelandet. Sachsen erinnerte sich, dass Margarethe genau untersucht hatte, welches Geschlecht man besaß. Es schauderte und sah wieder nach unten. Dort unten lag Margarethe, mit freigelegten Brüsten, auf dem Bett und sah aus starren Augen nach oben. Die Blicke der beiden trafen sich. Margarethe wandte sich ab. „Vergiss' die Nacht.“, befahl sie ihrem Namensvetter. Sachsen sah sie stoisch an. „Leochen wird nie davon erfahren.“ Sachsen zuckte mit den Schultern, so gut das eben möglich war, wenn man an einem Kronleuchter hing und sich nur mit purer Willenskraft davor schützte, hinunterzufallen. Gilbert trat ein, sah Margarethe und wurde automatisch ein wenig sanfter. Nicht so viel, dass man eine Änderung seines Verhaltens bemerken würde – aber der Blick aus seinen Augen war nicht ganz so überheblich wie bei den meisten anderen Menschen. Dementsprechend hatte er keinen Blick übrig für Sachsen oben am Kronleuchter, sondern drückte Margarethe zwei kleine Tabletten in die Hand. „Wenn ihr das nehmt, werdet ihr die letzte...“ - Der Bär lag fest in ihren Armen. Das Problem war nur, dass sie keine Ahnung hatte, wem dieser Bär gehörte. Irgendwo hatte sie ihn schon einmal gesehen, er erinnerte sie dunkel an etwas, das weit in der Vergangenheit zurücklag. Gedankenversunken starrte sie ihn eine Weile lang an. Neben ihr saß Leopold. Auch er starrte seinen Teddybär an. Das schwarze Fell unter den hellen Fingern der norddeutschen Frau – Anna hieß sie, glaubte er sich zu erinnern – schien zu vibrieren. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein: er war nervös wie eine Maus, die weiß, dass hinter der nächsten Tür eine hungrige Katze auf sie lauert. In dem Fall war Margarethe die Katze. Was, wenn sie erfahren sollte, dass er in diesem Raum mit dieser Frau … so viel … getan hatte? Er hätte sein Leben verwirkt. Anna wandte den Blick zu ihm. „Anhalt!“ Sie erkannte ihn. Na, immerhin vergaß sie ihn nicht sofort. Das war nichts Schlechtes, oder? Leopold war, was One Night Stands anging, völlig unerfahren. Vor und nach Gretchen hatte er niemanden geliebt. Und jetzt das. Er wünschte nur, er könnte die letzte Nacht vergessen. Er wollte sich nie wieder an die weiche Haut unter seinen Fingern erinnern, so anders als die vertraute Haut, der leichte Geruch nach Meerwasser, der von ihr ausging und ihr diesen exotischen Charme verlieh. Noch bevor Leopold sich einen effektiven Plan ausdenken konnte, die Katze zu befrieden (wenn er einen Plan gemacht hätte, dann hätte dieser viel Streicheln und Leckerlis beinhaltet), öffnete Gilbert die Zimmertür, trat ein und schmiss den beiden zwei Pillen vor die Füßen. Er konnte nur eine einzige Erklärung anbieten. „Wenn ihr das nehmt, werdet ihr die letzte Nacht...“ - Sie hatten Strippoker gespielt. Wer war auf die Idee gekommen? Er sicherlich nicht. In Bernds Ohren schallten immer noch die hellen Töne von Ottos Stimme nach. Wie er das Spiel vorgeschlagen hatte. Wie sie danach nackt Flaschendrehen gespielt hatten, wie vierzehnjährige Schulmädchen. Sogar sich selbst hörte er noch sprechen: „Was tun Sie da, junger Mann?“ Aber all das hatte nichts genützt. Sie hatten geknutscht. Er hatte Schleswig-Holstein geknutscht. Allein der Gedanke daran ließ sein Blatt in Flammen aufgehen. Nun stand er in der Küche und machte sich ein Frühstücksbrötchen. Auch für Otto schmierte er ein Brötchen. Mit Honig. Das Nordlicht saß auf einem Stuhl und sah ihm wachsam zu. „Du hast einen schönen Po, Bernd!“, rief er fröhlich aus. Bernd sah ihn nicht an. Das Blatt auf seinem Kopf loderte greller und heißer, und er schnitt sich beinahe in die Hand, bei dem Versuch, das Brötchen in zwei gleichmäßig großte Teile zu teilen. Er strich Leberwurst auf die eine Hälfte und belegte die andere mit gekochtem Schinken. Mit den zwei Brötchen auf einem Teller setzte er sich neben Otto. Sie schwiegen. Von draußen drang Sonnenlicht in den Raum. Irgendwo im zweiten Stockwerk erwachte Ludwig und wusste noch nicht, welch ein Chaos das Getränk verursacht hatte, das Gilbert so bereitwillig angeboten hatte – und er wusste auch nicht, dass Gilbert im Begriff war, jede Erinnerung daran auszulöschen. Der Preuße trat ein. Die beiden waren die letzten, die er gesucht hatte, die beiden letzten, die noch nicht vergessen hatten. Er legte je eine Pille auf ein Brötchen. Otto sah ihn misstrauisch an, Bernd noch misstrauischer. „Wenn ihr das nehmt, werdet ihr die letzte Nacht vergessen.“ Bernd nickte und biss bereitwillig in das Brötchen, auf dem die Tablette lag. Aber Otto sah Gilbert nur weiter misstrauisch an, sogar mit etwas Traurigkeit im Blick. „Aber ich will das nicht vergessen!“ Gilbert zuckte mit den Schultern. „Dann eben nicht. Aber jeder andere hat es bereits vergessen.“ Bernd schluckte. Einen Moment später griff er sich an den Hals, als würde er ersticken, und kullerte vom Stuhl hinunter. Geschockt eilte Otto an seine Seite und schüttelte ihn sacht, während er zärtlich seinen Namen rief, immer und immer wieder. Nach genau sechsundzwanzig Sekunden wachte Bernd wieder auf und wich zurück. Er sah sich verwirrt um, entdeckte Gilbert und Otto, und rannte weg, ohne sein Frühstück aufgegessen zu haben. Otto sah ihm enttäuscht nach, ehe Gilbert ihm fast väterlich eine Hand auf die Schulter legte und laut loslachte. Die Sonne stand noch lange nicht in ihrem Zenit, als Gilbert wieder zurück in das Zimmer schlüpfte, das er mit seinem Bruder teilte, und sich gähnend unter die warme Bettdecke legte. Kurz betrachtete er Ludwig. Der hatte mal wieder gar keine Ahnung, was eigentlich abging!! Und das sollte besser so bleiben, sonst würde er ihm nie wieder so ein Vertrauen schenken. Gilbert schlang die Decke eng um sich und genoss noch ein kurzes Nickerchen, ehe der Alltag begann, ehe sich alle wieder wie üblich streiten würden. Ludwig würde Gilbert vorwerfen, dass sein kleiner Zaubertrank nicht gewirkt hätte, Gilbert würde ihn nur auslachen, und dann würden sie alle gemeinsam Rodeln gehen, und es würde einige ernsthafte Verletzungen geben, aber alles würde ganz normal bleiben. Ganz normal. Kapitel 32: 32 - Drabbles 02 ---------------------------- „Ahh!“ Karols Schrei schien vor Schmerz zu brennen. Otto fiel rücklings vom Baumstamm, auf dem er bis eben noch geangelt hatte. „Karol?!“, fragte er überrascht, ehe er in den See sprang und an Hessens Seite schwamm. „Ist alles in Ordnung?!“ Natürlich war nicht alles in Ordnung. Für Karol waren die Dinge nie ganz in Ordnung, aber nun steckte ein Angelhaken in seinem Rücken. Das fiel eindeutig unter die „überhaupt nicht in Ordnung“-Kategorie. „Ich glaube, da bleibt eine Narbe.“, verkündete er, und dann zog Otto ihm den Angelhaken aus der Haut, und es floss kein Blut. Otto / Karol -- Narbe Schwarz stachen die Buchstaben auf dem weißen Papier hervor. Jette betrachtete sie mit weichem Blick. „Sie liebten sich bis zum Sonnenuntergang“, stand dort geschrieben. Manchmal wünschte sie sich, Protagnostin in solch einem Buch zu sein. Rote Strähnen flossen durch seine Hände, weiche Strähnen, und es waren raue Hände. Nachdenklich nahm er ihren Duft auf. Über ihre nackte Schulter hinweg konnte Bernd sehen, dass sie las. Golden erkletterte vor dem Fenster die Sonne den Horizont. Sie drehte sich zu ihm um und las ihm genüsslich vor. Bernds Mundwinkel zuckten. Sie liebten sich nicht bis zum Sonnenuntergang, aber bis zum Mittag. Bernd / Jette -- Schwarz-Rot-Gold „Du willst passieren?“, grollte das Wesen. Otto fuchtelte mit seiner kurzen Angelschnur vor ihm herum. Ihm war mulmig, aber er musste nun einmal unter dieser Brücke hindurch. Verdammte Trolle. „Ich werde passieren.“, verkündete er und versuchte, sich das Zittern in seiner Stimme nicht anmerken zu lassen. Seine Angst schwappte über. Lange konnte Paul diese Maskerade nicht mehr aufrechterhalten. Noch kicherte er zu sich selbst. „Wie wäre es, wenn ich dich fresse...?“ Otto sah dem sogenannten Troll tief in die Augen. Dann streifte Paul sein furchterregend reales Kostüm ab. Plötzlich sah die Brücke viel freundlicher aus. „Reingelegt!“ Paul / Otto -- Troll Sie dachte an Algen. Grüne, ekelhafte Algen, die unter einer transparenten blauen Schicht umherwaberten, die einen am Knöchel festhielten, wenn man den Mut hatte, in solchen Gewässern zu schwimmen. Dann blinzelte Hamburg, und für einen Augenblick waren die Algen verschwunden. Die Sonne brannte heiß vom Himmel, und dann waren die Algen wieder da. „Pfui.“, merkte Bayern an. Man sah es ihr nicht an, aber Jette war verwirrt. „Oh, gefällt dir der Fluss nicht?“, fragte sie und musterte Zenzie mit ihrem durchnässten Badeanzug. Es war ein sehr schöner und sehr kalter Fluss. „Algen. Zu viele Algen.“, sagte Zenzie. Jette / Zenzie -- Augen Die schwüle Luft drückte auf Heins Gemüt. Es war ein ungewöhnlich feuchter Sommer in Sachsen-Anhalt. Leopold stand neben ihm und sah zu ihm auf. „Gefällt's dir nicht.“ Es war weniger eine Frage als ein unmotivierter Satz, der in den Raum gestellt wurde. Sofort schüttelte Hein den Kopf. „Nein, es ist schön. Ungewohnt.“ Auch er war eher wortkarg. Die beiden standen mitten in Bernburg vor einer Häuserfassade. Leopold wusste nicht, wo sein Schlüssel für die Wohnung war. Es war unerträglich heiß. Geduldig starrte Hein Leopold an, wagte aber nicht, ihn zu fragen, ob sie sich heute noch bewegen würden. Hein / Leopold -- Sommer Misstrauisch sah Zenzie die Flunder an, die sich ihr darbot. „Hat dieses Tier Gräten?“, fragte sie Fritz besorgt. Er blickte sie nur mit leuchtenden Augen an und schwieg. Es war kein hartnäckiges Schweigen, es war eher ein zutiefst normales Schweigen, ein Schweigen, dessen Natürlichkeit durch jede noch so kleine Silbe pervertiert werden würde. Er fing glücklich an, seine Flunder zu verspeisen. Sein Gesicht zeugte von purer Glückseligkeit. Zenzie stocherte in ihrer Flunder herum, versuchte, den Gräten zu entgehen, und als sie das Tier probierte, verzog sie angewidert das Gesicht. Sie konnte den unerträglichen Geschmack nicht einmal mit Bier hinunterspülen... Zenzie / Fritz -- Des einen Leid, des anderen Freud Er war kein Bär, für Georg war er ein Phönix. Die goldenen Zwanziger machten ihrem Namen alle Ehre. Paul glänzte, Paul schimmerte, Paul blendete ihn – Paul brannte lichterloh, und Georg würde das Feuer nicht erlöschen lassen. Paul war eine Metropole wie Hannover, aber so viel heller, so viel funkelnder, und so farbenfroh, nicht grau, sondern bunt. Fasziniert strich Georg über die Haut, die sich ihm darbot. Er spürte kein Federkleid, sondern nur einen weichen Puls. Berlin war eine schöne Stadt. Und wenn Berlin sterben würde, so würde er aus seiner eigenen Asche wiederaufsteigen, egal, wie lang es dauern würde. Georg / Paul -- Phönix „Was tust du da?“ Nachdenklich betrachtete Albrecht Jette. Sie zog sich gerade einen Schuh an, einen Lederstiefel. Der ihm gehörte. Sie sah auf, ohne eine Regung zu zeigen. „Ich ziehe einen Schuh an.“, erklärte sie ihm. „Der Schuh gehört mir.“ „Oh, soll ich dir Geld geben?“ Sie streifte auch den anderen über. Er hatte das Paar völlig vergessen. Es verfügte über Plateauabsätze. Plötzlich entschied er sich, großzügig zu sein. Jette betrachtete sich im Spiegel. „Du kannst sie geschenkt haben.“ Sie zog den linken Schuh wieder aus und reichte ihn Albrecht. „Ich brauche nur einen.“ Albrecht / Jette -- Lederstiefel „Hans?!“ Nicole kreischte erschrocken. Sie hatte das Zimmer Nordrhein-Westfalens geöffnet, ohne zu klopfen, aber das, hatte sie gedacht, sollte doch auch nicht nötig sein, schließlich waren sie beide Bundesländer. Und nun bot sich ihr der unvergessliche Anblick von Hans, der seine strammen Schenkel in Seidenstrümpfe presste, sowie ein Korsett und roten Lippenstift trug. Als er sie sah, blinzelte er freundlich und einladend. „Oh, hey Nici, alles locker?“ Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. „Manchmal zieh' ich sowas an. Macht Spaß! Solltest du auch versuchen. Wenn du etwas größer bist.“ Fröhlich pfeifend schlüpfte er in Stöckelschuhe. Hans / Nicole -- Coming-Out „Und was genau soll das?“, fragte Paul eine überirdische Entität, die ihm leider nicht antwortete. Stattdessen antwortete ihm das Baby im Stuhl neben ihm. Es war winzig, hatte glatte Haut und einen blonden Flaum auf dem Kopf, und es gluckste fröhlich. Eine Sekunde zuvor hatte in diesem Stuhl noch Max gesessen und ihm etwas von Wein erzählt. Paul war verwirrt. Als er das Baby auf den Arm nahm, brabbelte es etwas Unverständliches und klammerte sich an Pauls Schultern fest. Es rülpste. Paul war überfordert. „Genau. Mach Bäuerchen.“, sagte Paul, und dann roch er etwas sehr Unangenehmes. Oh nein. Maximilian / Paul -- Baby Kapitel 33: 33 - Atem --------------------- Ich stell mir nie vor wie es wär, gäb's dich irgendwann nicht mehr – weil das zu hart ist. Doch sollte ich dich einst verlier'n, werd ich in meinen Träumen spür'n, wie du atmest. - Farin Urlaub, Atem Natürlich alterten sie nicht wie normale Menschen. Sie waren keine Menschen. Wollte man sie mit einem Geschöpf vergleichen, so musste man am ehesten die Schildkröte wählen: die Schildkröte lebte langsam und überlebte die Menschen um sie herum – aber sie starb genauso wie alle anderen Lebewesen. Die Schildkröte war lebendig, und auch sie waren lebendig, atmeten Leben mit gierigen Zügen, bis ihr Atem irgendwann stockte. Wer hat in meinen Kopf geschaut und dich aus meinem Traum gebaut? Als erstes starb Margarethe. Sie lag im Kindbett, und Leopold hielt ihre Hand, und ein kleiner Junge ohne Namen schrie aus voller Kehle. Er war blond, nicht so blond wie seine Mutter, es war eher ein dreckiges Köterblond, und seine kleinen Augen strahlten. Sie hatte ihn angesehen, und sie hatte geseufzt, und sie hatte genauso gestrahlt wie die Augen des kleinen Jungen. Er hatte nur weitergeschrien. Grete hatte gewusst, dass er ihren Platz einnehmen würde. Es tat ihr nicht Leid. Sie fühlte sich alt, fürchterlich alt. Es tat ihr nur Leid, dass auch Leopold sterben würde, sterben musste. Ohne Sachsen kein Anhalt mehr, und Sachsen-Anhalt war überflüssig geworden. Sie war nicht mehr dazu gekommen, dem jungen Land einen Namen gegeben. Leopold hatte ihre Hand gehalten, und kurz bevor er sich am nächsten Morgen erhängte, hatte er noch einmal ihren warmen Duft eingeatmet, der sich in seiner Handfläche gesammelt hatte. Deine Haut ist kühl und weich Schon vor der Jahrhundertwende hatte sie es gewusst, hatte das ganze einundzwanzigste Jahrhundert lang Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sie war immer schwächer geworden, und die Wellen an ihren Klippen immer höher. Ihre Sprache hatte sie schon vor einigen Dutzend Jahren verloren. Sie würde ertrinken, gemeinsam mit ihrer Insel, und während der Meeresspiegel stieg, fühlte sie eine raue Hand in ihrer. Sie musste nicht zur Seite blicken, um Otto zu identifizieren. Er war der einzige, der diesen Ort kannte. Im Moment lebten noch fünf Menschen auf Helgoland, aber der Sturm, der sich über Annas Kopf zusammenzog, würde sie töten, und mit diesen fünf Menschen würde auch sie verschwinden. Sie drückte die junge Hand in ihrer und sah das Meer zärtlich an. Der Wind pfiff um zwei Paar Ohren, aber nur Annas Haare wirbelten grandios umher; die von Otto lagen fast platt an seinem Kopf an, von einer Mütze in der Position gehalten, die ihresgleichen suchte. „Ich werde dich vermissen“, murmelte Otto, und niemand hörte ihn über den Sturmwind hinweg. Noch einmal strich er über die weiche Haut der Frau – vergeblich. Seinem Griff war sie schon längst entwichen, auch wenn sie noch aufrecht stand, auch wenn sie noch atmete, auch wenn ihre Augen noch funkelten. Er hatte gelogen: er vermisste sie schon in diesem Augenblick. Dann flüchtete er auf sein Festland. Am nächsten Morgen war Anna verschwunden, und es dauerte nur dreiundfünfzig Jahre, bis Otto ihr folgte. Er war noch sehr jung, als er starb, noch nicht einmal wirklich volljährig. Aber die Meeresfluten waren unerbittlich. Deine Augen sternengleich Loreley hatte nie verstanden, warum sie nicht erfolgreich sein konnte. Außer dem Saarland – und das Saarland zählte nicht, hatte sie schon bei ihrer Geburt beschlossen gehabt – war sie nur von mehr oder weniger erfolgreichen Nachbarn umgeben. Aber von Anfang an hatte sie Probleme gehabt; das einzige, auf das sie richtig stolz war, war ihr Wein, der beste aus ganz Deutschland. Sie verstand nicht, warum sie so schwach war. Mit müdem Blick betrachtete sie sich im Spiegel. Das war so typisch für sie und ihr Glück. Ausgemergelte, dürre Gesichtszüge, strähnige Haare und Flecken, die sie sich nicht erklären konnte. Sie glaubte, dass man sie vergaß, einfach vergaß. Sie war sicherlich nicht die einzige, die man vergaß, aber bei ihr schien dieser Prozess viel schneller zu sein als bei den anderen. Seit Deutschland den Föderalismus abgeschafft hatte, war ihnen allen, zumindest den übrig Gebliebenen, klar gewesen, dass sie nur geringe Chancen auf ein Überleben hatten. Vielleicht hundert oder maximal zweihundert Jahre – aber sie wurde schon nach einer Generation vergessen. Rheinland-Pfalz übergab sich, und in ihrem Erbrochenen sah sie blendend rotes Blut. Ein weiterer Blick in den Spiegel. Ihre ansonsten ausdrucksstarken violetten Augen wirkten matt und fahl. Sie wollte noch, aber sie konnte nicht mehr, und dieses Wissen schnürte ihr die Kehle zu. Und sie schau'n mich spöttisch an Weil ich nicht Süßholz raspeln kann Als er aufgehört hatte, ihn zu hassen, da hatte er sein Todesurteil unterschrieben. Es war keine freie Entscheidung gewesen, denn Emotionen können nie frei bestimmt werden, aber als er es bemerkte, da war er glücklich darüber, denn er war des Hasses müde geworden. Ihm war nicht bewusst, dass nur der Hass ihn am Leben erhielt, denn über so etwas hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Lukas hatte sich darüber Gedanken gemacht, und er behielt diese Gedanken nicht für sich. „Ach, halt doch die Klappe, du blöder Idiot“, sagte Maximilian und drehte sich auf die andere Seite, wandte dem anderen den Rücken zu. So ein Quatsch, er und sterben?! Er hatte bisher immer gelebt, es war rein rechnerisch gar nicht möglich, dass er starb. „Als würde ich dich nicht mehr hassen.“ Sie hatten doch gerade Jubiläum gefeiert – einhundert Jahre Baden-Württemberg. Und im Gegensatz zum fünfzigjährigen Jubiläum, damals 2002, war Max auch nach außen hin froh gewesen. Er hatte eine Rose gepflückt. Und es ging Baden-Württemberg blendend! Wirtschaftlich hatte es Bayern überholt, es verfügte bald über mehr Einwohner als Nordrhein-Westfalen, die meisten Elite-Universitäten und die höchste Zufriedenheit der Einwohner. Es gab keinen Grund für die Schwächeanfälle, die seit einigen Jahren zu einem ständigen Begleiter geworden waren. Und Lukas' Gesundheit war blendend. Es dauerte noch weitere zwanzig Jahre, bis er vor seinem eigenen Grab stand und in den tiefen Schacht hinunterblickte. Es gab nicht mehr viel Platz, zuviel Industrie, zuviel Menschen, aber wem, wenn nicht ihm, stand ein Platz im Herzen des Schwarzwalds sonst zu? Es war das Ende seiner Beerdigung. Er war unheilbar krank, und er wollte keine Medizin. Die einzige Medizin wäre Hass gewesen. Es war ironisch, bitter, bittersüß. Er hielt die Hand von Lukas, aber er fühlte sich ihm zum ersten Mal in seinem Leben fremd. Das einzige, was ihn definierte, das einzige, was Leute an ihn glauben hatte lassen, das hatte er aufgegeben für ein paar wenige sorglose Jahre. „Bereust du's?“, fragte Lukas, als könne er seine Gedanken lesen. Wortlos schüttelte Maximilian den Kopf. Er sah nicht alt aus, aber verbraucht, und seine Haare waren ergraut. Spröde, siechende Lippen mit dem fahlen Geschmack des Todes trafen verzweifelt auf ein rosiges, gesundes Gegenstück. Als er schließlich im Grab lag, da weinte Württemberg um Baden, er weinte wie ein Kleinkind, wie ein verletzter Hund, wie ein sterbender Hirsch. Es hätte den anderen gefreut, ihn so zu sehen, da war er sich sicher: Max hätte es so gewollt. Zweihundert Jahre später war die Leiche immer noch im einst großartigen Namen von Baden-Württemberg, und dann wurde der Föderalismus abgeschafft, und Lukas kehrte zum Herzen des Schwarzwalds zurück. Er war einer der letzten, einer derjenigen, die sich festgeklammert hatten an das Leben. Ohne einen Groschen in den Taschen legte er sich auf das weiche Laub. Der Wind raschelte in den Baumwipfeln. Er lachte ihn höhnisch aus. Manchmal möcht ich dich verführ'n Der Sommerabend war lau. Am Horizont stand die Sonne blutrot, aber friedlich leuchtend. Sachsen schloss die Augen, aber das Licht brannte weiterhin durch seine Augenlider und schienen seine Pupillen zu verätzen. Die Hand mit der warmen Kaffeetasse zitterte ein wenig. Sachsen war alt. Er fühlte sich einsam, auf seiner Terrasse aus Holz irgendwo in der Sächsischen Schweiz. Und weil er sich einsam fühlte, saß er dort; weil er nicht mehr weiterwusste, saß er dort; weil er kaum mehr die Hand heben konnte, um den Kaffee an seine Lippen zu führen, saß er dort. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Er war alt, und er konnte von einem erfüllten Leben reden. Die Luft um ihn herum verschwamm, aber das konnte er nicht mehr sehen. Er atmete tief, und dann hörte er einfach damit auf. So simpel hatte er sich den Tod nicht vorgestellt. Dich nur mit meinem Blick berühr'n Die Ostsee lag ruhig da, so ruhig, dass man den Eindruck erhielt, man könne auf ihr einen Spaziergang wagen. Natürlich war Fritz nicht so dumm, tatsächlich auf Wasser laufen zu wollen. Die anderen hielten ihn zwar für dumm, aber er hielt sich selbst für … nun, für einen Menschen mit angemessener Intelligenz. Wer hatte Dummheit überhaupt definiert? Warum war es „dumm“, die Quadratwurzel von Neun nicht zu kennen, aber nicht „dumm“, die Bedienung eines Traktors nicht zu kennen? Seine Fliegen lagen matt im Ostseestrand, eingekeilt zwischen feinen Sandkörnern. Fritz war nackt, aber das fiel ihm gar nicht auf, und auch sonst fiel es niemandem auf. Denn er fiel niemandem mehr auf. Jeder hatte ihn vergessen, aber er war ihnen nicht böse. Er hätte sich selbst vergessen. Seit der Schaffung von Großbrandenburg waren einige Generationen vergangen, und er hatte beobachtet. Fritz hatte Otto beobachtet, hatte beobachtet, wie dieser vom Meer verschlungen worden war. Fritz hatte Albrecht beobachtet, hatte beobachtet, wie er stärker und stärker geworden war, und er hatte dieses matte Lächeln gelächelt. Fritz hatte Hamburg beobachtet. Er hatte bei ihr im Bett gelegen, er hatte sie geliebt, und am nächsten Morgen war sie vor ihm erwacht, ausnahmsweise. Hamburg hatte ihn nicht gesehen. Er hatte ihr in die Augen geblickt, und sie hatte starr geradeaus geschaut. Er wusste, dass sie nicht böse auf ihn war. Sie hatte ihn nur vergessen. Aber er hatte nicht gewagt, sie zu berühren. Als Jette ihn vergessen hatte, da war er nach Hause zurückgekehrt und hatte sich an den Strand gesetzt. Er ließ sich nach hinten fallen, und der Sand liebkoste seinen Rücken, und Fritz war glücklich. Weil du so zart bist Nicole weinte. Sie weinte um alles. Sie weinte um ihr Leben, sie weinte um ihre Zukunft, sie weinte um ihre Hoffnung. Sie trauerte, sie schluchzte, sie vergoss die bittersten Tränen ihres Lebens, und es nahm kein Ende mehr. Sie wusste Bescheid, ihr Herz wusste Bescheid, aber sie sperrte sich vor dem Gedanken, sie konnte es nicht fassen, nicht begreifen, es lag außerhalb ihrer Möglichkeiten. Ihre Kehle war rau. Dünne, wenn nicht gar dürre Hände tasteten in der Dunkelheit nach dem Wasser, von dem sie wusste, dass es floss, denn sie hörte es, sie roch es, sie konnte es schon fast schmecken, aber sie fand es nicht. Irgendwo, irgendwo musste es sein. Nicole kroch auf aufgeschürften Knien weiter durch die Dunkelheit, völlige Dunkelheit. Sie war blind, denn es gab kein Licht. Sie war taub, denn das Rauschen des Wassers füllte ihre Ohren aus. Sie war stumm, denn hier war niemand, der sie hören konnte. Auf der anderen Seite ihres Bewusstseins saßen zwei Chefärzte und wussten endlich, was sie mit dieser komatösen Patientin tun sollten. Sie hatten keine Angehörigen gefunden, niemanden, der das kleine Mädchen kannte. Schon zehn Jahre lag sie in der Klinik, und sie schien nicht zu altern, nur ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Einer der Ärzte, seine Familie ließ sich bis auf die Zeit zurückverfolgen, in denen Frankreich und Deutschland noch getrennt waren, damals, als das Saarland noch relativ gesund gewesen war, raunte ein leises „Au revoir“, der andere betätigte einen Schalter. Und endlich fand Nicole Wasser. Und was ich am liebsten spür', bevor ich mich im Traum verlier' Ist wie du atmest. Er hielt ihn so fest umschlungen, dass es ihn schmerzen musste. Ja, vermutlich schmerzte es ihn, aber er sagte nichts. Albrecht hatte die Augen geschlossen – nicht nur geschlossen, eng zusammengepresst. Es war, als wolle er nie wieder irgendetwas sehen. Einst, vor vielen, vielen, ungezählten Jahren war er am Ufer des Wannsees gesessen, an der Seite von Paul, und er hatte nachgedacht. So viele geliebte Menschen waren ihm entrissen worden, aber er war sich sicher gewesen, dass Berlin immer bleiben würde; dass, solange es Berlin gebe, es auch Brandenburg geben würde. Damit hatte er richtig gelegen. Es gab Brandenburg, so lange es Berlin gab. Und es würde Brandenburg auch dann noch geben, wenn es Berlin schon längst nicht mehr gab. Ein Hustenanfall schüttelte Paul, und Albrecht schlang die Arme als Reaktion noch enger um ihn, so, als wolle er ihn beschützen. Beschützen vor was? Es war aussichtslos. Sie hatten geheiratet. 2013. Paul erinnerte sich deutlich an den Tag, er stand ihm bildlich vor den Augen. Nein, nicht der ganze Tag; nur der Moment, in dem Albi ihn angesehen hatte und ihn angelächelt hatte. Ja. Das war ihm ganz deutlich vor Augen. Sie hatten geheiratet, und einige Zeit lang war es wunderbar gewesen. Paul hatte sich auf eine sonderbare Art und Weise ganzheitlich gefühlt. Es war nicht so gewesen, als wäre eine Lücke gefüllt worden; da war eher etwas dazugekommen, von dem er nicht einmal bemerkt hatte, dass es gefehlt hatte, das er aber nun umso weniger wieder verlieren wollte. An seinem letzten Tag erinnerte er sich daran. Er wusste nicht genau wann, aber irgendwann hatten seine Kinder aufgehört, sich als Berliner anzusehen. Sie waren Brandenburger geworden. Jeder einzelne seiner Bürger, ob nun aus Charlottenburg oder Lichtenberg, war kein Berliner mehr – sondern Brandenburger. Das freute Paul, der beobachtete, wie Albrecht erstarkte, wie sich seine Wangen im Laufe der Zeit in seinem gesunden Rotton färbten, wie er tatsächlich ein wenig wuchs und die neue Macht auch politisch anwenden konnte. Und er selbst, er wurde dünner und dünner und dünner, und er fühlte sich leicht und bedeutungslos wie eine Feder. „Albi...“ Selbst sein gehauchter Tonfall war filigran und verletzlich. Albrechts Gesicht, in Pauls Halsbeuge vergruben, wandte sich zu ihm auf, und sie nahmen Blickkontakt auf. Mit einer zitternden Hand strich Brandenburg über Berlins Wange. Sie war viel, viel zu weich. „Albi, ver-“ Er hustete erneut. Er hustete viel zu oft. „Versprich mir, dass du stehen bleibst.“ Das waren seltsame Worte, aber Albrecht war bereit, sich an allem festzuhalten, was Paul ihm gab. Er nickte. Paul lächelte. „Komm.“, sagte Paul, und Albrecht kam, und Albrechts heiserer, ängstlicher Atem traf auf Pauls Haut. Es war ein regelmäßiges Atmen, sanft und liebevoll, und die letzten Sekunden Berlins waren die schönsten seines Lebens, und die schrecklichsten Sekunden in Brandenburgs Leben. Er stieg auf, zum bedeutendsten ostdeutschen Bundesland: er nahm Fritz in sich auf, und Sachsen-Anhalt, und er wurde zu Großbrandenburg, erhielt einen völlig neuen Stellenwert. Ein-, zweihundert Jahre lang fühlte er sich tatsächlich mächtig, tatsächlich wichtig, tatsächlich groß. Es war ein neues Gefühl, lange ungewohnt, Gilbert schenkte ihm Aufmerksamkeit, viel Aufmerksamkeit. Aber all die Jahre lang weigerte sich Brandenburg, den Menschen zu vergessen, der in seiner Metropole gesteckt hatte. Brandenburg war Berlin-Brandenburg geworden und Berlin-Brandenburg war Großbrandenburg geworden – es gab keinen Hinweis mehr auf Paul, außer die Sieben-Millionen-Stadt in Albrechts Herzen. Alle anderen vergaßen Paul. „Berlin? Deine blöde Hauptstadt? Ja, was ist damit? Ist ein nettes Städtchen, sehr lauschig“, hatte Gilbert gesagt. „Oh ja, Berlin ist ein wichtiges Finanzzentrum“, hatte Ludwig gesagt. Alles, was Albrecht tat, war, sich an das Versprechen zu halten, das er Paul gegeben hatte. Sein Tod war unspektakulär. Er hustete nicht, er wurde nicht dürr wie ein Skelett, er war kerngesund, als er sich zu Bett legte, ein paar Jahre nach dem Ende des Föderalismus, und nicht mehr aufwachte. Vielleicht wollte er auch einfach nicht mehr aufwachen. Ohne dich bin ich nicht viel Wahrscheinlich fing es mit einem Ende an. Mit dem Ende von Frankfurt am Main. Aus finanzpolitischen Gründen verlagerte sich das pochende wirtschaftliche Herz Deutschlands mit den Jahren immer weiter nach Berlin, der Hauptstadt eines Deutschlands, das endlich auch in den Köpfen zusammengewachsen war. Wiesbaden zum Trotz war Frankfurt die einzige Stadt Hessens, die ihn zu großem Ruhm verholfen hatte... und nun verschwand sie, sie überalterte, und die einstigen Hochhäuser von Mainhattan wurden zu verlassenen Ruinen. Hin und wieder schlief ein Penner in den öden Glasbauten, aber die meisten Bewohner waren eher von tierischem Charakter. Ja, Frankfurts Ende war der Beginn von Hessens Ende. Er starb sogar noch vor dem Ende des Förderalismus: sein Land lebte weiter, ohne ihn zu benötigen. Es war ein klarer Morgen, die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Vögel zwitscherten schon. Hätte Karol überlebt, hätte er später diesen Morgen als etwas einzigartiges, etwas wundervolles in Erinnerung behalten. Er saß in seinem Büro, mit fest verschlossener Tür, und er schrieb ein Gedicht. Es war kein besonders gutes Gedicht. Er mischte die Stile verschiedener bewunderter Dichter, brachte auch den eigenen, etwas unbeholfenen Stil ein, sodass am Ende ein recht unausgegorenes Werk zu Papier gebracht wurde. Aber was das Gedicht auszeichnete, war seine Einmaligkeit: es sollte das einzige Werk bleiben, das die Todesangst eines nahezu unsterblichen Wesens für die Ewigkeit festhielt. Das einzige Werk, das Hessen überdauern sollte. Wie ein Besen ohne Stiel Wie ein Fenster ohne Glas Zwar hatte Niedersachsen infolge der Hebung des Wasserspiegels schon früh herbe Verluste zu beklagen, aber er hielt sich über Wasser. Hannover florierte als „Stadt an der Nordseeküste“, und die Migranten aus den nördlicheren Bundesländern brachten frisches Blut, frische Innovationen in Niedersachsens Körper. Aber auch dieser verwelkte mit der Zeit. Niedersachsen wurde noch älter. Niedersachsen wurde noch steifer. Irgendwann konnte er sich nicht mehr bewegen, war zu paralysiert und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in einem Hospital an der einstigen südlichen Grenze seines Landes. Immer blickte er aus dem Fenster hinaus, und er sah öde Felder und verwelkte Blumen. Nichts sonst. Sein Kopf wollte nicht zulassen, dass er auch die spielenden Kinder auf den frisch geernteten Feldern oder die munteren Bienen in den neu aufblühenden Blumen sah; sein Leben bestand nur noch aus grauen Sprenkeln auf schwarzem Grund. Georg war froh, als er eines Nachmittags einfach so verstarb und niemandem zur Last fiel. Er hätte sich nur gewünscht, auf dem Rücken eines Pferdes zu sterben. Wie Mallorca ohne Bars Wie ein Vogel ohne Nest Er lag auf dem Rücken. Vor seinen Augen hob und senkte sich sein Brustkorb. Die Bierflasche stand neben ihm, aber unerreichbar weit fort. Bitter hob er die Hand, erreichte die Flasche jedoch nicht; nur die Fingerspitzen streiften das kühle, braune Glas. Seine Arbeit war vollbracht, und der letzte Feierabend war zuende. Die Party war vorbei, so drückte er es aus. Vielleicht würde er an seinem eigenen Erbrochenen ersticken. Vielleicht würde er auch einfach nur einschlafen. Ganz ehrlich: die zweite Möglichkeit wäre Hans um einiges lieber. Es war kein schlechtes Leben gewesen, nein, das konnte man nun wirklich nicht sagen. Nordrhein-Westfalen mit dem pochenden Herzen des Ruhrgebiets in seiner Mitte war erfolgreich gewesen, dann weniger erfolgreich, dann bald entvölkert, dann wiederbevölkert durch die Flüchtlinge aus dem Norden, dann vergessen. Er spürte es. Wenn er die Hände ausstreckte, wenn er versuchte, nach den Sternen zu greifen, wenn er versuchte, die Herzen der Menschen zu berühren, die ihn am Leben erhielten-- dann griff er in die Leere. Er bekam nichts zu fassen. Hans stieß auf. Er hatte zu viel getrunken, aber wann, wenn nicht kurz vor dem Tod, sollte man noch einmal ausschweifen? Er versuchte, einzuschlafen. Und wie durch ein Wunder schlief er, ruhig, tief und friedlich, aber er wachte nicht wieder auf. Und darum halte ich dich fest Fieberhaft rannte Bernd durch den Wald mit den hohen, im Wind schwankenden Bäumen. Sie waren immer da gewesen, und soweit er es sich vorstellen konnte, würden sie immer da sein. Das Konzept von Mortalität, von der endgültigen Sterblichkeit alles Seienden, hatte sich ihm noch nicht erschlossen. Alles, was er wusste, war, dass er bald sterben würde, und deswegen hastete er durch das Unterholz und scheuchte kleine Tiere auf. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Seine Gedanken rasten im Kreis umher, versuchten, sich zu fangen, verwirrten ihn jedoch nur umso mehr. Er war verzweifelt. Bernd wollte nicht allein sterben. Einsamkeit hatte einen so großen Teil seines Lebens definiert, er wollte diesem Konzept nicht erlauben, auch noch seinen Tod zu prägen. Und daher gruben sich kleine Zweige tief in seine nackten Füße, daher zerquetschte er hin und wieder einen Mistkäfer, der sich unter seine Zehen verirrt hatte. Und dann war Bernd angekommen, holte rasselnd Luft, beugte sich nach vorne und lehnte sich an einen Baum an, um wieder zu Atem zu kommen. Es war eine Lichtung. Keine imposante Lichtung, mit atemberaubendem Mondschein oder einem magischen Hirsch, der den Kopf hob. Für solchen kitschigen Kram hatte Bernd nie viel übrig gehabt. Es war auch keine große, großartige oder in irgendeiner Weise hervorstechende Lichtung. Da waren wenig Bäume, und irgendwo in der Nähe plätscherte ein Bach, mehr Idylle wollte der Wald dem Bild nicht geben. Nicht einmal ein kleines Reh graste friedlich. Alles, was man hörte, waren der Bach und die Geräusche eines lebendigen, ewigen Waldes. Bernd sank zu Boden. Seine Finger berührten feuchtes Moos. Bald würde die Sonne aufgehen. Er konnte am Horizont schon einen rosanen Streifen erkennen. Er hoffte, er würde bis Sonnenaufgang durchhalten. Das hier war das wichtigste, was er hatte. Nicht die Lichtung, nicht das Moos unter seinen Händen, nicht die Kellerassel auf seiner rechten Hand. Der Herzschlag des Waldes ging regelmäßig und beruhigend, und wenn Bernd genau hinhörte, dann hörte er das Wispern des Windes in den Baumwipfeln sanft zu ihm sprechen. Er wollte den Wald behalten, er wollte ihn mitnehmen, falls er überhaupt irgendwo hingehen würde. Seine Finger gruben sich tief in das weiche Moos, aber er riss es nicht heraus; er streichelte es liebevoll. Es wurde hell. Am Rande der Lichtung hatten sich Tiere versammelt. Rotwild und Räuber, Nager und Vögel saßen in einem Waffenstillstand nebeneinander und beobachteten Thüringen. Er wusste nicht, warum er starb, aber es war ihm egal. Der Boden unter ihm war organisch, er war lebendig, die Tiere waren lebendig, die Bäume waren lebendig – der Wald war lebendig. Solange es den Wald gäbe, würde auch Bernd in ihm existieren. Dann starb er. Die Tiere wandten sich ab, nur die winzigsten unter ihnen sahen einer erquicklichen Mahlzeit entgegen und sammelten sich um Bernd herum. Innerhalb von einem Tag wurde Bernds Körper Teil des Waldes. Ich fühle mich von dir beschützt Obwohl – oder gerade weil – sich draußen vor den Fenstern die Wellen auftürmten zu kolossalen Zerstörungsmaschinerien, war es im Raum selbst angenehm warm und ruhig. Auf dem Herd kochte ein undefinierbarer Eintopf vor sich hin, und die Heizung war auf der höchsten Stufe eingeschaltet. Bremen und Bremerhaven saßen auf einer abgewetzten Couch nebeneinander. Es war eine Jahrhundertflut. Bremen war zu seinem kleinen Bruder geeilt, um ihm zur Seite zu stehen, so gefährlich nahe am Meer. Zwar herrschte kein Körperkontakt, aber die Luft vibrierte vor Zuneigung und Harmonie. Roland lachte, Hein lächelte; das Wasser schlug über ihren Köpfen zusammen, aber das bemerkte Hein nicht einmal mehr. Das Fehlen eines Hafens hatte Roland wirtschaftlich schwer angeschlagen zurückgelassen. Dazu kam, dass die Nordseeküste sich immer weiter in das Landesinnere grub, immer näher, immer näher. Irgendwann hatte er wieder einen Meerhafen. Nicht, dass ihn das wirtschaftlich besonders weiterbringen würde – es lebten nur noch ein paar tausend Menschen in seinen Stadtgrenzen, und ein Großteil davon war alt, so alt, dass sie nicht mehr fliehen konnten. Deswegen starb Bremen, der immer jung geblieben war, inmitten von alten Menschen. Du bist so schön wie du hier sitzt Und auf mich wartest Ein Fluss; und der Wind, der von Abenteuern flüsterte und von Freiheit erzählte. Das dreckige Wasser der Elbe schwappte um Hamburgs Knie, während sie bis zur Hüfte im Fluss stand und tief einatmete, versuchte, den salzigen Geruch des Meeres zu erhaschen, den es über den Fluss bis zu ihr trug. Über ihr kreischte eine Möwe. Immer häufiger hatte sie sich gefragt, was Freiheit eigentlich bedeutete. Immerhin war es das einzige Wort, der einzige Wert, an den sie noch glaubte, nachdem alle, die sie geliebt hatte, gestorben waren. Hamburg war erfahren, Hamburg war nicht dumm, Hamburg hatte vorgesorgt, und die Deiche hatten gehalten. Bis jetzt. Hamburg stand auf dem Marktplatz. Sie weigerte sich, einen höhergelegenen Ort aufzusuchen. Es war ihre Wahl, hier zu stehen, mit dem Geruch des Meeres in der Nase und dem salzigen Wind in ihren Haaren. Freiheit, was bedeutete das? Für Hamburg bedeutete das, dass nur sie selbst sich den Moment ihres Todes erwählte und dass niemand anders das Recht hatte, sie umzustimmen. Sie sah in die Richtung, aus der die Nordsee durch ihre Gassen jagte. „Ich komme.“, sagte sie ruhig, den Kopf hoch erhoben, und sie hatte das Gefühl, dass der Wind ihre Wange streichelte. Du musst nicht deine Liebe schwör'n Bayern war die letzte. Die allerletzte. Alle anderen waren nach und nach gestorben, ob nun an Landverlust oder an Bedeutungsverlust. Nur sie war geblieben, sie lebte noch hunderte von Jahren weiter, nachdem der Rest Deutschlands sich längst daran gewöhnt hatte, dass es keine Bundesländer mehr gab. Nur ihr Volk grenzte sich ab. Mit Weißwürsten – obgleich die Tötung von Tieren verboten worden war – und Weizenbier und weißblauen Rauten erhielt es sich seine Identität und Zenzie am Leben. Es störte sie nicht, dass sie die letzte war. Sie konnte sehr gut ohne andere klar kommen. Sie war immer ohne andere klar gekommen. Aber es war zu leise. Eines Tages besuchte Ludwig sie, überrascht, dass sie sich immer noch ans Leben klammerte, ohne aufgeben zu wollen. Er fragte sie, ob sie sich an die anderen erinnere, ob sie manchmal an die Vergangenheit denke, ob sie noch vorhabe, sehr lange zu leben. Ludwig sprach nie durch die Blume. Aber dann fügte er an, dass er dagegen nichts einzuwenden habe. Im Gegenteil: es war angenehm, nicht allein mit Gilbert wohnen zu müssen. Da konnte sie ihm nur Recht geben, aber auf die letzte Frage konnte sie ihm nicht antworten. Ludwig erhielt die Antwort früh genug. Zenzie lebte am längsten, aber sie starb auch am längsten. Jahrelang siechte sie am Vergessen. Immer weniger Leute erinnerten sich an sie. Aus den Jahren wurden Jahrzehnte, bis sie endlich, geplagt von Krankheiten und Schmerzen, gehen durfte. An ihrem Grab stand Ludwig ohne seinen Bruder, und als er weinte, musste er nicht behaupten, dass ihm etwas ins Auge gekommen war. Ich würd' nur gern für immer hör'n Wie du atmest. Sie waren ganz allein, und das Haus war viel zu groß. Es gab keine Hunde mehr, und das Küken, das Gilbert so lang begleitet hatte, lag vor dem Haus in der Erde vergraben. Gilbert selbst saß auf einem Stuhl in der hohen Küche und schnitt Kartoffeln in kleine Stücke, damit er sie besser essen konnte. Sein Bruder betrachtete ihn. Erst war Gilbert ein Orden gewesen, dann Preußen, dann Ostdeutschland; dann „der Osten“, der sich verzweifelt ans Leben klammerte, dann war er „der Norden“ gewesen, der, der nicht vom Meer verschluckt worden war, der Grund für Großbrandenburgs Tod. Aber es gab keinen Norden mehr. Nachdem die aufkommende Gefahr der Regionalisierung Europas Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts gebannt worden war, nach der Föderalismusreform, die in Deutschland Zentralismus eingeführt hatte, seit damals dachten die Menschen einfach nicht mehr in solchen kleinen Kategorien. Zum ersten Mal war Gilbert einer Lebensgefahr ausgesetzt, der er nicht mit purer Willenskraft und kreativer Nischenfindung entgegentreten konnte. Vorher konnten die Menschen ihm keinen Platz mehr einräumen – heute wollten sie das nicht mehr. Gilbert war das bewusst, und Ludwig war das bewusst, und weil Gilbert bewusst war, dass es Ludwig bewusst war, machte es ihn wahnsinnig. Gilbert starb an einem Dienstagvormittag. Es war kein besonderer Tag. Das Wetter war kühl und verhangen, aber nicht besonders unangenehm, und die Sonne zeigte sich nicht. Menschen gingen zur Arbeit, Hunde pinkelten an Bäume, es war ein Tag, der an Normalität kaum zu überbieten war. Außerdem war es Dienstag. Und dann auch noch Vormittag. Gilbert wäre gerne an einem Montag gestorben, oder an einem Sonntag. Es sollte stürmen, oder die Sonne sollte alles Lebendige verbrennen; es sollte wenigstens Feiertag sein, oder die Welt sollte aufhören, sich zu drehen. Er hatte keine hohen Ansprüche. Stattdessen starb er an einem Dienstagvormittag. Selbst sein Tod war völlig unspektakulär. Er saß vor seinem LightPad – der neuesten Erfindung, die „die komplette Medienwelt revolutionieren“ würde – und erlag einem Herzinfarkt, sodass sein Kopf auf den Tisch fiel. Ja, er kam nicht einmal in die Zeitung als eine Leiche, die erst Wochen nach ihrem Tode entdeckt wurde; Ludwig kam eine halbe Stunde später hinein, der Notarzt stellte den Tod fest, und der jung und vital wirkende tote Gilbert wurde verbrannt. Ja, Gilberts Tod war völlig unspektakulär und langweilig. Das einzige, was ihm Brisanz verlieh, war die Art, wie Ludwig ganz ohne Hemmungen vor der Urne seines Bruders zusammenbrach, wie er klagte, wie er schluchzte, wie er weinte, wie er das Leben verfluchte und nach einer halben Stunde aufstand und sich die Krawatte richtete. Ludwig war ein guter kleiner Bruder. Er kümmerte sich um den Urnenplatz seines großen Bruders. Keine der anderen Nationen hatte bemerkt, dass er tot war. Frankreich und Polen waren zu sehr mit der immer schneller wachsenden Europa beschäftigt, und ansonsten gab es niemanden mehr, der überhaupt noch Notiz von Gilbert genommen hatte. Ludwig hörte immer noch die Stimme seines Bruders, sah immer noch die fahlen Haare, roch den allzu vertrauten Geruch nach frischem Schweiß und spürte heißen Atem neben seinem Ohr, wenn er als Kind ängstlich in das Bett des Bruders gekrochen war. Jeden Dienstag stellte Ludwig Kornblumen vor die Urne. Irgendwann übernahm Europa Ludwigs Hoheit. Das schien Deutschland nicht zu schaden: zwar war es kein souveräner Staat mehr, sondern nur noch ein Teil eines Bundesstaats, aber Ludwigs Gesundheit war blendend. Er diskutierte Griechenland gegen die Wand, er schmetterte Ukraines Vorschläge ab, er stimmte manchmal Frankreich zu, und dann kehrten sie alle in ihre eigenen kleinen Häuser zurück. Europa wuchs, Europa wuchs zusammen, Europa wurde zum dritten großen und wichtigen Staat neben China und Latinoamérica – Europa war auf der Höhe ihrer Macht, und dieses Macht wurde dadurch erkauft, dass die anderen starben. Bald war Deutschland kein Teil des Bundesstaats mehr, bald war Teil eines größeren Teils – Französisches Deutschland – bald wurde der Teil größer – Mitteleuropa – dann gab es in Europa keine Unterteilungen mehr. Es war genau derselbe Prozess, der auch die Bundesländer hinwegraffte. Als Ludwig röchelnd und zitternd in seinem Bett lag, dachte er an die Vergangenheit – er dachte daran, wie die anderen gestorben waren. Er dachte an all jene Länder, die vom Meer verschluckt wurden; die, die von ihren Kollegen verschluckt wurden; die, die vergessen worden waren. Auch Deutschland wurde vergessen, erst verschluckt von Europa, dann vergessen von seinem Volk. Er dachte an seinen Bruder, seinen bemitleidenswerten Bruder, der sich so sehr ans Leben geklammert hatte, und an dessen ruhigen Atem. Deutschland wurde vergessen. Und die Welt drehte sich trotzdem weiter. Kapitel 34: 34 - Vier Kinder ---------------------------- Der Frühling bringt Blumen Das schalkhafte Kichern erfüllte den langen Weg von Ostpreußen bis zur Spree die Kutsche. Gilbert spielte an seinem mit Federn geschmückten Hut herum, riss einzelne Federn heraus und zerrupfte sie, bis der Boden der Kutsche aussah, als hätte ein Fuchs ein Huhn geschlagen. Jede zweite Minute rammte er dem jungen Mädchen, das ihm gegenüber saß, den Zeigefinger in die knochigen Knie, was ihr keine Regung entlockte. Königsberg starrte nur unbewegt auf die Landschaft, die sich vor ihren Augen erhob, und sie war kein bisschen erfreut. „Stephanie, warum so miesepetrig?“, fragte er seine kleine Begleitung mit neckendem Unterton. Sie starrte nur weiter hinaus auf den Weg, der sich noch nicht Straße nennen durfte, hinaus auf die von Frühlingsschein verwöhnten Felder, und schob die Unterlippe nach vorne. Gilbert kicherte nur umso lauter. Paul war in seine beste Kleidung gesteckt worden. Er glitzerte geradezu mit all dem Goldschmuck, der irgendwo an seinem Körper hing, und mehr als verunsichert blickte er zu Albrecht auf, der neben ihm stand. Aus seinen Augen war abzulesen, dass er dieser Prozedur eher misstrauisch gegenüberstand. Seine Haare, flach gegen seinen Kopf gepresst und ordentlich gescheitelt, taten ihr Übriges, um in ihm einen Widerwillen gegen das kommende Rendezvous wachsen zu lassen. Würde er seinen Vormund ansehen, dann würde Paul sehen, dass dieser die Arme völlig schlaff und leblos an seiner Seite hängen ließ und auch sonst die Situation nicht unbedingt positiv einschätzte. Hinter ihnen stand das Anwesen, in dem die junge Familie wohnte. Vor ihnen hielt eine Kutsche, und erst, als die Türen sich geradezu majestätisch öffneten, konnte man einen Blick auf den bekannten weißen Haarschopf erhaschen. Gilbert sprang munter auf den Boden und packte Paul unter den Achseln. Prüfend musterte er ihn, dann setzte er ihn mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht wieder ab und fuhr durch die Haare, zerstörte damit die Frisur, mit der Albrecht sich so viel Mühe gegeben hatte. So, als würde ihm einfallen, dass es da ja noch etwas anderes gab als Paul, wandte sich der Preuße um und sah seinen Partner an. Sie waren seit ein paar Jahren verheiratet, und Gilbert gefiel die ganze Geschichte ausnehmend gut. „Dich gibt’s ja auch noch!“, rief er geradezu erstaunt aus und zog den anderen in eine warme Umarmung; sein Mund fand sich am Ohr des anderen wieder, und Albrecht hoffte, dass Paul die Worte, die ihm zugeflüstert wurden, nicht verstehen konnte. Die beiden lösten sich voneinander. Albrecht begrüßte seinen Partner mit den Worten, dass er froh sei, dass er wieder zurückgekehrt sei, dass sie aber auch ohne ihn gut zurecht geko--, und an dieser Stelle wurde er von Gilbert unterbrochen. „STEPHI!!!“, schrie Gilbert, und nach ein paar stillen Minuten stieg aus der Kutsche ein zerzaustes, dürres Mädchen mit sehr langen, lockigen, dunklen Haaren, deren Blick gen Boden gerichtet war. Ein paar Sekunden verstrichen. Das Mädchen bewegte sich nicht. Gilbert stand da wie ein stolzer Berg, Albrecht war etwas verunsichert und Paul begann, sich zu langweilen. „Stephi, kommst du dann mal rüber?“ Gilbert klang nicht unfreundlich, aber seine Stimme war unmissverständlich fordernd. Mit kleinen Schritten folgte das Mädchen der Aufforderung und blieb einen Meter vor Gilbert stehen, den Blick noch immer auf ihre nackten Füße gerichtet. Auch ihr Kleid war Pauls Klamotten ganz und gar nicht angemessen. Scheinbar legten Gilbert und Albrecht andere Maßstäbe an, was das Auftreten der Kinder anging. „In Ordnung. Berlin, das ist Königsberg. Königsberg ist ein schönes Mädchen. Irgendwann kriegt sie soooolche Brüste, und wenn der Tag gekommen ist, dann wirst du mir danken, dass ihr euch kennt!!“ Paul sah ihn verwirrt an. „Ja, ich und Albi gehen jetzt mal Sachen besprechen und so.“ Er zwinkerte vielversprechend. „Ihr spielt hier draußen. Viel Spaß.“ Mit diesen Worten schlang er einen Arm um Brandenburgs Hüfte und führte ihn aus der Sicht der unschuldigen Kinderäuglein hinaus. Ein paar Momente verstrichen. Berlin beäugte Königsberg misstrauisch. Sie sah ihn nicht an. Die Kutsche fuhr fort. Irgendwo sang ein Vogel sein Frühlingslied. „Hm.“, sagte Berlin. Königsberg sagte nichts. Dann sah sie auf. In ihren auffällig bernsteinfarbenen Augen spiegelte sich die Sonne, und rosige Lippen machten sich daran, zu sprechen. „Was soll ich hier?“ Ihr Tonfall war nicht anklagend, ihr Blick nicht vorwurfsvoll, eher klug – aber Paul fühlte sich, als hätte sie ihn persönlich angegriffen. Also, weil, 'was soll ich hier', das ist doch, das-- Er schüttelte innerlich den Kopf. „Weiß ich doch nicht!“, erwiderte er aggressiver, als er es wollte. Ihr Blick änderte sich, sie schob die Unterlippe vor, wie so oft. „Und warum bin ich dann hier?“ Ihr Deutsch war geprägt von der polnischen Umgebung, in der sie lebte. Der slawische Einschlag war klar herauszuhören. „Gilli hat mich ja nicht hierhergebracht, um in der Gegend herum zu stehen!“ „Gilli?“ „Ja.“ Wieder ein wenig Stille. Paul sah sie irritiert an. „Ich bin Paul.“, stellte er sich vor. In den goldenen Klamotten fühlte er sich mehr als unwohl, gerade, weil die andere so eindeutig leger gekommen war, um es vorsichtig auszudrücken. „Stephanie.“, erwiderte sie. „Und wer ist Gilli?“ Sie blickte ihn an, als wäre er ein Vollidiot. „Gilbert, du Idiot?“, kleidete sie ihre Gedanken direkt in Worte. „Hey!!“, protestierte Paul laut. Er sah sie böse an, aber sie schaute wieder auf ihre Zehen. Dann drehte er ihr den Rücken zu. Er hatte besseres zu tun, als den ganzen Tag mit so einer dummen Pute zu reden. Womöglich wollte sie auch noch mit ihm spielen! Bäääh! Das wäre so unendlich eklig! Mit schnellen Schritten schlappte er in Richtung der Spree. Stephanie blieb mit vorgeschobener Unterlippe reglos stehen. Als die Sonne unterging, machte sich Gilbert auf die Suche nach seinen beiden Schützlingen. Sein Plan war perfekt gewesen. Er hatte Stephanie mitgebracht, seine geliebte alte Hauptstadt, um sie mit Paul, seiner ebenso geliebten neuen Hauptstadt, zu verkuppeln. Albi hatte genau das getan, wozu er ihn instruiert hatte: er hatte Paul inszeniert als ein Kind, das im Luxus schwamm. Es war eigentlich unmöglich, dass die beiden Kinder sich nicht sofort ineinander verknallten. Zumindest laut Gilbert, der von kindlichen Psychen etwa so viel Ahnung hatte wie von Computern. Gilbert ließ den Blick über den Vorplatz des Hauses schweifen, in dem er wohnte. Niemand zu sehen. „Pauuuul!!“, rief er in die immer kühler werdende Abendluft hinein. Keine Antwort. Gilbert hatte keine Ahnung, wie er nach den Kindern suchen sollte – war schließlich nicht seine Aufgabe, sich um die Blagen zu kümmern – aber das hier war sein Projekt, das würde er Albi nicht überlassen. Es war seine eigene Verantwortung, die beiden zusammenzubringen, komme, was da wolle. Nach einer halben Stunde hatte er die beiden gefunden. Der ganze Schmuck, der an Pauls Kleidung hing, verlor so langsam die dünne goldene Beschichtung, und das Kupfer drang ans Tageslicht. Paul selbst war von Kopf bis Fuß durchnässt. Stephanie bot auch kein beeindruckenderes Bild; die nassen Haare klebten an ihrem Rücken, und sie fröstelte erbärmlich. Niemand erklärte, was passiert sei, und Gilbert war auch nicht daran interessiert. Er erfreute sich daran, dass die beiden so fröhlich miteinander gespielt hatten. Ein Frosch suchte sich seinen Weg aus dem Chaos auf Stephanies Kopf und sprang laut quakend auf Pauls Kopf hinüber. Während er die beiden Kinder zurück ins Haus geleitete, warfen die sich böse Blicke zu. Was Gilbert für ausgelassenes Spielen am Ufer der Spree gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Kampf auf Leben und Tod gewesen. Im Nachhinein konnte keines der Kinder angeben, was genau passiert war, nur, dass sie sich nie nie nie nie nie wieder sehen wollten. Der Sommer den Klee Paul stand auf Zehenspitzen auf einer hohen Mauer, bestimmt zwei Meter hoch, und auf seinen Schultern stand Cölln. Er versuchte, sich die Äpfel von dem Baum zu klauben, dessen Zweige niedrig wuchsen, aber zu hoch, um problemlos hinaufklettern zu können. Es waren frühe Äpfel, der Sommer stand in vollster Hitze, das gesamte Stadtgebiet erstickte unter einer Decke schwüler Luft. Cölln streckte sich, er stand wackelig auf Zehenspitzen, seine Fingerspitzen berührten einen prallen roten Apfel knapp, nur noch ein paar Sekunden und er würde--- Zwei magere Hände packten Pauls Knöchel und zogen ihn unsanft hinunter, dass er auf dem Rücken landete, Cölln auf ihn drauf fiel und der Apfel noch immer in der Sonne glänzend am Baum hing. „Heeey!“, rief Paul, während er zappelnd aufstand, und als er sowie Nikolai wieder auf ihren Beinen waren, war da nur noch ein schnell verschwindender, dunkler Haarschopf. Nikolai zuckte nur mit den Schultern, aber Paul hatte das Mädchen erkannt, und sobald er wieder einigermaßen sicher auf der Erde stand, rannte er ihr hinterher. „Was machst du, blöde Pute!!“, schrie er ihr hinterher, sodass sie stehenblieb und ihn mit zusammengezogenen Brauen böse anblickte, und er wurde unwillkürlich langsamer und kam erst einige Sekunden später bei ihr an. Sie stand im Schatten eines Hauses mit überhängendem Dach, aber die fast goldenen Augen schimmerten hell. Paul war mit seinen Vorwürfen allerdings noch nicht fertig. „Wir sind den ganzen Weg zu dir gekommen, und jetzt machst du sowas!!“ Störrisch schob sie die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern. Paul sah sie wütend an. Natürlich waren Paul und sein komischer kleiner Freund hierhergekommen, aber nicht extra für sie, dessen war sich Stephanie bewusst. Nicht, dass sie wollte, dass die beiden herkamen! Allein war Paul schon unerträglich, aber mit diesem anderen Gör zusammen hielt sie die Zeit nicht aus. Gilli war gekommen, das war alles, was zählte. Und dann war da noch dieser andere Mensch. Albrecht Fontane. Sie nannte ihn Herr Fontane, und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihm diese Anrede gefiel, und dass er viel zu selten auf diese Art angesprochen wurde. Er war ihr egal. Aber sie mochte es nicht, wenn er Gilli dazu brachte, traurig zu sein. Und das tat er. Sie war gestern Abend bei Gilli gewesen, und sie hatte versucht, ihn zu einer gepflegten Partie Schach zu überreden, aber er hatte ihr lieber ein Märchen erzählt über den guten, feinen Ordenskrieger und den blöden Kurfürsten, der zwar unverschämt attraktiv war (wenn auch nicht so attraktiv wie der Ordenskrieger), aber auch unglaublich enervierend, zickig und undurchschaubar. Zumindest, seitdem der Ordenskrieger dem neuen Königreich den Namen Preußen gegeben hatte, und spätestens ab diesem Zeitpunkt war Stephanie klar gewesen, dass er von Herr Fontane sprach. Aber Paul, Paul wurde abgöttisch von Gilli geliebt (nicht so abgöttisch wie er selbst, aber das war selbstverständlich) und machte ihn nie unglücklich, und deswegen war Stephanie einfach nur eifersüchtig. Was hatte dieses Berlin schon, was sie nicht hatte? Er hatte einen lächerlichen kleinen Freund, er hatte einen blöden Fluss, er hatte-- er konnte nicht einmal schwimmen! Sie sah ihn weiterhin abschätzig an und biss auf ihrer Unterlippe herum, dann rannte sie auf ihn zu und blieb einen Zentimeter vor ihm stehen. Ihre dunklen Locken lagen um ihren Kopf wie eine Löwenmähne. „Du bist jetzt Hauptstadt von einem Königreich. Warum lächelst du nicht mehr?“ Sie legte jeweils einen Finger in seine Mundwinkel und zog sie nach oben; er reagierte, indem er irritiert ein paar Schritte zurückstolperte und sie giftig anblickte. „Das geht dich ja mal gar nichts an, olles Gör!!“, verteidigte er sich. Sie zuckte mit den Schultern und lief fast schon elegant an ihm vorbei. Erst später merkte er, dass sie die hölzerne Brosche, die Albrecht ihm am Tag zuvor geschenkt hatte, hatte mitgehen lassen. Über einem Teller Königsberger Klopse gebeugt sah Cölln Königsberg aus glänzenden Augen an. Sie spießte die Kapern auf und versuchte, möglichst wie eine vornehme Dame zu wirken, aber seiner Meinung nach sah sie eher wie ein Schlossgespenst aus, so dürr und klapprig, wie sie war, mit den endlos langen Haaren und den unheimlichen goldenen Augen. „Stephi?“, fragte er. Sie sah von ihrer Speise auf. Ein bisschen Soße hing an ihrem Mundwinkel, aber sie schien dies nicht zu bemerken. „Hm?“ Herr Fontane, Pisspaul, wie sie ihn in Gedanken getauft hatte, und Gilli waren im Großen Salon und besprachen wichtige Königreichsachen. Cölln war der einzige, den Stephanie für vernünftig hielt. Sie liebte ihren Gilli – eines Tages würde sie ihn heiraten, mit wunderschönem Goldschmuck, und Pisspaul würde hinter den Büschen stehen und eifersüchtig auf sie sein – aber er war manchmal schon sehr kindisch. Im Gegensatz zu ihr, Stephanie war weise. Und Cölln war zwar im Doppelpack mit Pisspaul unerträglich, aber allein mochte sie ihn ziemlich, ziemlich gern. Aber sie traute sich nie, ihn anzusprechen. Auch nun konnte sie ihn nicht ansehen. Er schwieg eine Zeit lang, so, als würde er sich seine Worte sorgfältig zurechtlegen. „Warst du mal krank?“ Sie sah ihn nicht an, konzentrierte ihren Blick auf ihren Teller und eine winzige Kaper, die sie durch die Soße schob. Ihre Unterlippe blutete ein wenig. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war leise. „Nie wirklich.“ „Na gut.“ Sie schwiegen. Stephanie hörte das klappernde Geräusch seines Bestecks auf dem wertvollen Geschirr. Sie wollte nicht, dass das Gespräch schon zuende war. „Also, einmal, da habe ich mich nicht gut gefühlt.“, versuchte sie und zerteilte einen der Klöpse. „Als ich noch ganz klein war, da bin ich fast gestorben, so miserabel ging es mir da.“ Cölln schien Interesse zu gewinnen. „Und... haben sich Leute um dich gekümmert?“ Das war eine seltsame Frage. Stephanie schaute auf. Cölln hatte kaum etwas gegessen. Einen Moment lang war sie verletzt. Das war ihr Lieblingsessen, das hatte sie sogar selbst gemacht! Aber Nikolai schien das gar nicht zu interessieren... Einen Moment lang trafen sich die Blicke der beiden. Nikolai sah ernst aus, ruhig, und nicht wie der Scherzbold, als den Stephanie ihn kannte. Unterm Tisch, im langen hellblauen Kleid, zappelte sie mit ihren Füßen, aber sie biss nicht mehr auf ihren Lippen herum. „Naja, Gilli war ja auch noch ganz klein, der war kaum größer als ich. Aber der war ja auch Schuld daran, dass es mir so schlecht ging.“ Sie meinte, sich ein verächtliches Schnauben von Nikolais Seite einzubilden, aber sie war sich sicher, dass sie sich verhört hatte. „Und sonst gab's ja niemanden, niemand außer Gilli. Also nein, ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Niemand hat sich um mich gekümmert oder so.“ Einen Moment lang herrschte Stille. „Aber das war nicht schlimm! Ich wurde dann schnell sehr stark und sehr klug.“ Nikolai schien ihr nicht mehr zuzuhören. Zehn Jahre später wusste sie, dass er ihr zugehört hatte, zehn Jahre später, als sie Paul seine hölzerne Brosche zurückgab, und als er ihr erzählte, dass Cölln gestorben war und dass er seine Krankheit nie ernst genommen hatte. Zehn Jahre später, nachdem auch sie schwerkrank gewesen war, nachdem Gilbert sich um sie gekümmert hatte, nachdem sie erfahren hatte, wie wichtig es für die Genesung war, jemanden zu haben, der sich um einen sorgte. Trotzdem hatte sie geweint, als sie hörte, wie Nikolai gestorben war, und Paul hatte sie zum ersten und letzten Mal umarmt. Der Herbst, der bringt Trauben Als einer der Abgeordneten nach draußen trat und in gebrochenem Deutsch mit Königsberg redete, wusste Paul, dass es zu spät für irgendwelche Kompromisse war. Vielleicht war es schon seit Kriegsbeginn zu spät für Kompromisse gewesen. Er beobachtete Stephanie. Es war ihr erster Besuch in Berlin, gar im westlicher gelegenen Deutschland seit Ewigkeiten. Ihr ehemals wildes, langes Haar war sehr kurz geschnitten, nur ein dünner schwarzer Flaum bedeckte ihren Kopf, sodass sie aussah wie ein müder Mann statt wie eine ausgemergelte Frau. Vermutlich hatte man ihr das Haar geschnitten, damit sie besser in der Armee dienen konnte, überlegte sich Paul. Oder, damit sie sich keine Läuse einfing während der Belagerung in den, wie es sich später herausstellen sollte, allerletzten Wochen des Krieges. Oder- nein, er hatte keine Ahnung, warum ihr Haar verschwunden war, er wusste nur, dass es ihn mit bitteren Gefühlen von Verlust erfüllte. Sie würde nie wieder wie ein Waldgeist aus der Welt der Mythen wirken, sondern ab nun war sie ein dürres Mädchen mit matten Augen, blutdurchtränkten Verbänden an den Armen und einer breitflächigen Schusswunde am Hals. Beinahe hätte eine Kugel ihre Halsschlagader zerfetzt. Sie nickte dem Mann mit dem starken russischen Akzent und den vertauschten Artikeln ruhig zu, ehe sie sich wieder neben Paul auf die harte Holzbank setzte. Er blickte sie fragend an, und sie betrachtete ihre blassen Füße. „Hast du irgendwas zu sagen?“ Die langen Momente der Stille gingen ihm auf die Nerven, waren ihm in ihrer Gegenwart immer auf die Nerven gegangen. Und auch nach dieser unmissverständlichen Aufforderung, mit ihm zu reden, zeigte sich nicht einmal ein Wimpernzucken in ihrem unbewegtem Gesicht, wie aus Stein gemeißelt. Als sie letztendlich sprach, war ihre Stimme leise wie ein Windhauch. „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.“ Paul nickte. „Das war Immanuel.“ Ihr geliebter Immanuel. Sie wusste nicht, ob Berlin mit seinen philosophischen Schriften bekannt war, ob er die Aufklärung auch nur ein Zehntel so leidenschaftlich vorangetrieben hatte wie sie damals, als sie das wissenschaftliche Herz Preußens genannt worden war, ob er auch nur ein Zehntel von ihrem Mut hatte, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Er nickte noch einmal. Nun, zumindest schien er zu wissen, wer Immanuel war und dass er der größte Philosoph unter der Sonne war. Ihrer bescheidenen Meinung nach zumindest. Wer vor diesem Genie war schließlich auf die Idee gekommen, zuzugeben, nichts zu wissen? Nun gut, Sokrates, aber Immanuel hatte sehr viel gedacht, von dem Sokrates nicht zu träumen gewagt hätte. Der kategorische Imperativ! Oder die Kritik der reinen- „Was hat er dir gesagt?“, fragte Paul sie, riss sie aus ihren Erinnerungen an ihren geliebten Sohn heraus und ließ sie grob in der Realität aufkommen. „Oh, nichts besonderes. Immanuel wäre nicht davon begeistert.“ In den Kriegsjahren hatte ihre Rhetorik gelitten, aber während der Epoche der Aufklärung hatte sie sich ein beeindruckendes Vokabular angeeignet. „Aber es geschieht mir gerade Recht. Hätten wir uns an den Leitspruch gehalten, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, so wäre alles in bester Ordnung.“ Pauls Geduld war genauso dünn wie Stephanies Oberarme. „Also?“ „Ich meine, wir haben die Menschen als Mittel benutzt, nicht als Endzweck unseres ganzen Handels. Wir hätten damit rechnen müssen.“ Alles an ihr ging ihm auf die Nerven; die Pausen, ihre Ablehnung von klaren Worten, ihre merkwürdige Art, das R zu rollen, ihr Blick auf ihre Füßen, ihre Art, auf ihren Lippen zu kauen, wenn sie unzufrieden war. „Stephanie.“ Sie schreckte auf und sah Berlin an, als wäre sie aufgewacht. „Natürlich, natürlich. Entschuldige. Ich bin in letzter Zeit oftmals gedanklich... hmm... abwesend...“ Ihr Kopf wurde zur Seite geneigt, die Zähne trafen auf die weiche Unterlippe, und dann blickte sie ihm direkt in die Augen, und Paul merkte, dass ihre Augen nicht so matt waren, wie er es gedacht hatte. „Metaphysik der Sitten, 1785. Darf ich Immanuel Kant zitieren? "Hat er aber gemordet, so muss er sterben."“ Das waren immer noch nicht die klaren Worte, die Paul sich wünschte, aber als sie aufstand, fühlte er, dass er nicht noch einmal fragen musste. Sie wirkte schwankend und schwach, als könne sie sich kaum auf den Beinen halten. Er bemerkte, dass ihre Beine bandagiert waren, zumindest bis zu den Knien, nach denen die kurzen Wehrmachtshosen die Sicht auf alles andere verdeckten. „Ich werde russisch.“ Sie klang, als beträfe sie diese Aussage nicht im Geringsten. Einige Momente verstrichen. Sie war scheinbar wieder in ihren Gedankenkäfigen verschollen, jedenfalls sah sie Paul nicht mehr an. „Warum?“ „Ach. Weil diese Alliierten das so wollen. Weil Russland das so will. Ich werde sowieso bald sterben. Guck mal.“ Ein paar Zuckungen durchliefen ihre Schultern. Ansonsten geschah nichts. „Ich kann nicht einmal mehr den linken Arm bewegen.“ Paul schüttelte den Kopf. Es steckte nicht viel Vehemenz dahinter. Er selbst war ein Opfer des Krieges, und er konnte nicht so viel Mitleid für Stephanie aufbringen, wie es angebracht wäre. „Du stirbst nicht. Aber- Russland-“ Stephanie wunk ab, obwohl sie nicht einmal wissen konnte, was Berlin sagen wollte. Auch sie schüttelte den Kopf, und dann drehte sie sich um, drehte ihm ihren Rücken zu. Als sie wieder sprach, waren ihre Worte gewispert, leise, ruhig, sodass Paul sie kaum verstehen konnte. „Finde Gilli.“, sagte sie. „Gilbert ist tot.“ „Nein. Er lebt. Er lebt immer. Ich weiß das.“ Paul konnte es nicht sehen, aber Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie lächelte. „Ich war seine Hauptstadt. Königsberg und Preußen. Das ist etwas besonderes. Das verstehst du nicht.“ Paul antwortete nicht. „Wenn du ihn findest, dann sag' ihm bitte etwas.“ Sie zitterte. „In Ordnung.“ „Gilli mochte mein Haar. Er hat mich immer gekämmt. Als wir noch ganz klein waren natürlich. Er hat das als Kampf gesehen.“ Sie lachte heiser. „Sag ihm, dass ich mein Haar versteckt habe. Es ist im Bernsteinzimmer. Und es wartet auf ihn. Ich will, dass er das Bernsteinzimmer nach Preußen zurückbringt. Nach Hause. Wo es hingehört. Es gehört hier hin. Ja. Und meine Haare.“ Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges fühlte Paul Mitleid mit diesem armen, armseligen Mädchen in sich aufsteigen. Sie war verwirrt, unheimlich, hatte den Bodenkontakt verloren, und sie war der festen Überzeugung, zu sterben. Es war unmöglich, ihr diesen letzten Wunsch abzuschlagen. „In Ordnung.“, sagte er, und das waren die letzte Worte, die er an Königsberg richten würde. Der Winter den Schnee. Stephanie hatte falsch gelegen, dachte Paul, während er im Auto nach Kaliningrad saß. Sie war nicht gestorben. Nach dem Krieg war Königsberg zwar umbenannt worden, aber es existierte noch, es war eine Stadt in einer russischen Exklave geworden. „Verkommen“, würde Gilbert wohl sagen, der am Steuer saß und ein fröhliches Lied auf den Lippen hatte. Paul beobachtete ihn ein paar Momente lang, ehe er seinen Blick wieder aus dem Fenster richtete und endlose von Schnee bedeckte Felder betrachtete. „Paul, warum so miesepetrig?“, fragte Gilbert, und Paul rollte nur mit den Augen. Auch, als die Ortsschilder der Hauptstadt der Oblast Kaliningrad in Sichtweite kamen, verstummte Gilberts Lied nicht. Er schwieg erst, als sie aus dem Auto stiegen und gefrorener Schnee unter ihren Stiefeln knirschte; als sich ein zwölfjähriges Mädchen in einer Seitengasse einen Schuss setzte; als unter einem Müllbeutel ein erfrorener Obdachloser lag. Die Probleme der Stadt waren seit dem Zerfall der Sowjetunion nur noch schlimmer geworden. „привет!“, wurden die beiden Deutschen von Ivan begrüßt, der in der Vorhalle des Rathauses stand. Zerknirscht fragte Gilbert ihn auf russisch, wo „die Kleine“ sei, erhielt keine zufriedenstellende Antwort und stellte genau dieselbe Frage noch einmal – nur lauter. Bevor Gilbert allerdings zu Gewalt greifen konnte, öffnete sich eine Tür und eine schmale, geradezu dürre, kleine Frau trat hinaus. Sie hatte sich nicht im Mindesten verändert. Der einzige Unterschied zu 1945 bestand aus den zwei eindrucksvollen Brüsten, die wie aufgeklebt auf ihrem Oberkörper schienen und sich unter dem braunen Kleid unangenehm abzeichneten. Gilbert beruhigte sich, aber das Lächeln auf seinen Lippen war gezwungen. „Hallo, Stephi.“, wandte er sich an seine ehemalige Hauptstadt, die ihn ausdruckslos ansah. Als keine Antwort kam, suchte sein Blick den von Berlin. „Paul, rede mit ihr. Unter vier Augen. Wenn-“ Er brach sich ab. „Egal. Viel Spaß.“ Ein paar russische Worte wurden mit Ivan getauscht, und Berlin und Kaliningrad waren allein. Stille breitete sich aus, eine unangenehme, erdrückende Stille. „Königsberg.“, sagte Paul. „Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?“ Noch immer war ihr Blick ausdruckslos. Die dunklen Haare waren knapp vor Schulterlänge geschnitten. Es war ein praktisches Schnitt, ein Haarschnitt, der der Realität angemessen war; sie ar kein Waldgeist aus einem Märchen mehr. Als sie sprach, wirkte sie maschinell. „Ja. Wir böse. Du böse. Ist viel Wasser.“ Ihr Deutsch war wohl über die Jahrzehnte ein wenig eingerostet. Paul schluckte. „Erinnerst du dich an Cölli?“ Sie schien nachzudenken, dann schüttelte sie den Kopf. „An deinen Gilli?“ „Gilli. Immer.“, antwortete sie, und noch immer regte sich kein Muskel in ihrem Gesicht. „Du bist nicht gestorben. Stephanie, du lebst noch!“ Er versuchte, zu lächeln, und endlich, endlich zeigte sich eine Emotion in ihrem Gesicht. Es war Verwirrung. „Stephanie?“, fragte sie. „Ich nicht Stephanie. Ich Renata. Stephanie tot, Stephanie lange tot. Kein Kjonigsberg. Nur Kaliningrad.“ Paul schwieg. „Kein Kjonigsberg.“, wiederholte sie sich. „Russland.“ Und dann wurde Paul etwas klar. Er hatte sich darüber gewundert, dass Stephanie auf der einen Seite behauptet hatte, sie würde russisch werden, und auf der anderen Seite, dass sie sterben würde. Das war ein Widerspruch, aber er erkannte, dass sie mit beidem Recht behalten hatte. „Was ist mit Kant?“, fragte er. „Immanuel? Kritik der reinen Vernunft und so?“ Das brachte ein Lächeln zum Vorschein. „Immanuel“, sagte sie leise, und die russische Aussprache war fast unerträglich. „Immanuel Kant. Er sehr gut.“ Sie rollte das R beinahe übertrieben. Bevor Paul die Tränen in die Augen steigen konnten, kehrten Gilbert und Ivan zurück. Ivan fragte Steph- Renata etwas, und sie antwortete mit schnellen Worten, sodass selbst Gilbert Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen, und er hatte vierzig Jahre lang Russisch gelernt. Sie hatte ihre Rhetorik nicht verloren, das war eindeutig, nur ihre Deutschkenntnisse. „Komm, Paul, wir sind hier nicht mehr erwünscht. Obwohl wir eingeladen wurden. Blöde russische Idioten.“, knurrte Gilbert und taxierte Ivan mit einem abwertenden Blick; der Russe erwiderte diesen Blick nur mit einem fröhlichen Lächeln. Als sie das Rathaus wieder verließen - „Wenn wir schon acht Stunden fahren, dann bleiben wir aber auch! Willste die Statue von Herzog Albrecht sehen? Oder wir gehen einen heben.“ - drehte Paul sich nach einigen Metern um. Kaliningrad stand vor der Tür und schien trotz der Kälte nicht zu frieren. Hinter ihr war Russland aufgebaut. Sie sah Paul an, und irgendwo in ihren Augen sah Paul den Glanz des kleinen, wilden Mädchens, das ihn ertränken wollte. Ihre Lippen bewegten sich, ohne, dass sie etwas sagte, ohne, dass Russland sie hören konnte, und Paul bildete sich ein, dass sie „Ich bin in Ordnung.“ sagte. Er lächelte und schaute nach vorne. Kleine Schneeflocken fielen auf seine Winterjacke. „Vermisst du Stephanie?“, fragte er unvermittelt und unterbrach damit Gilberts nicht enden wollenden Monolog. Der sah ihn irritiert an und schaute dann auf die Straße. „Naja, sie war meine Hauptstadt.“ „Gilbert. Vermisst du sie?“ „... Ja.“ Pauls Lächeln wurde breiter. Die Temperatur fiel noch ein wenig weiter, während die Sonne ihre letzten Strahlen über die Stadt warf, und das Schneegestöber wurde noch ein wenig dichter. „Egal, wie kalt und ewig ein Winter ist... irgendwann kommt der Frühling.“ Gilbert schwieg, Paul lächelte. Königsberg wartete auf den Frühling. Kapitel 35: 35 - Frauentausch I ------------------------------- Sie haben sich schon viel von den Nachmittags- und Vorabendformaten der privaten Fernsehsender bieten lassen; Respektlosigkeiten, Wutausbrüche, Liebesschwüre, die ganz großen Gefühle eben. Action! Spannung! Alles echt, alles nicht gestellt, mit Garantie Ihres vertrauenswürdigen Senders! Doch so aufregend all jene Formate auch sein mögen, gibt es unter Garantie eine Erfahrung, die Sie noch nicht gemacht haben. Aber warum so viele Worte verlieren? Verlieren Sie sich lieber in einem einmaligen Tausch, der ein Dutzend Leben völlig auf den Kopf stellen wird! Die Familie Albrecht lebt in einer Vier-Zimmer-Wohnung am westlichen Rand des Ortsteils Charlottenburg. Paul Albrecht (31), arbeitssuchender Arbeitsloser, ist ein ganzer Mann: mit seiner klaren Vorstellung von Autorität hält er die Familie im Gleichgewicht. Seinen langjährigen Freund Albrecht Fontane (34) nennt er „den perfekten Freund“, der nur perfekter werden könnte, wenn ihm ein Paar Brüste wachsen würde. Albrecht, zugezogen aus Brandenburg, ist das wahre Herz der Familie: vormittags arbeitet er in einem kleinen Verlag als Lektor und verdient so etwas Geld, um das Hartz IV seines Freundes aufzustocken, und nachmittags kümmert er sich hingebungsvoll um Pauls Sohn Alexandré (15) und seine Nichte Charlotté (5). Alexandré bereitet seinem Vater und seinem Stiefpapi große Probleme: statt für seinen Abschluss zu lernen, treibt er sich lieber in Berlin-Mitte herum und versäuft das Geld, das von Albrecht unter Mühen herangeschafft wurde. Charlotté, nur liebevoll Charly junior genannt, ist hingegen der Sonnenschein der Familie. Nach dem mysteriösen Tode ihres Vaters – Bruder von Paul – und ihrer Mutter lebt sie bei den Albrechts und erfreut sich bester Gesundheit. Eine echte Patchworkfamilie, die durch viele Tiefen gerät, durch Liebe und Harmonie aber immer wieder neue Berge erklettert! Siebenhundert Kilometer im Südwesten davon leben Lukas Häberle (33) und Maximilian Reichenbach (33) in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft in einem Einfamilienhaus im historischen Ortskern von Villingen-Schwenningen. Seit der passionierte Computerspieler und adoptierte Sohn Eitel (10) in die Schule geht, arbeiten die beiden vollzeit, Lukas als Manager bei Mercedes und Maximilian als Gastronom in einem mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurant. Nach außen hin eine völlig normale Familie des oberen Mittelstands, integriert in die lokale Gemeinschaft, jeden Sonntag in der Kirche anzutreffen und beliebt bei den Nachbarn. Aber hinter der Fassade verbergen sich, wie so oft, tiefschwarze Abgründe... – Am Vorabend der Abreise beginnt Albrecht damit, zu packen. Extra für das Experiment hat er sich Urlaub genommen, und natürlich hat er die Wohnung in einem Zustand zurückgelassen, der sich nur als Tip-Top beschreiben lässt. Er will sich nicht vorwerfen lassen, einen schlampigen Haushalt zu führen oder gar ein Rabenvater zu sein! Leider wird seinen Bemühungen schnell ein Strich durch die Rechnung gemacht, denn sein Freund betritt das gemeinsame Schlafzimmer und hält ihn vom Packen ab. Ein schwere Rauchwolke geht Paul voraus. „Bist du dir sicher, dass du das aushältst, so ganz ohne uns?“, fragt er, und die Sorge in seiner Stimme klingt ironisch. „Lass mich!“, antwortet Albrecht, und er ist eindeutig als schnippisch zu bezeichnen. In seinen Händen befindet sich gerade eine Unterhose, die noch aus DDR-Zeiten zu stammen scheint. Er faltet sie sorgfältig und nervös, und dann legt er sie in den geöffneten Koffer. Paul lässt sich nicht mit dieser Antwort abspeisen, und er beugt sich zu seinem Freund hinunter, streicht sanft über sein Ohr. Albrecht bewegt sich nicht. Dann zerbricht etwas in einem anderen Raum. Paul sieht sich irritiert um, drückt seine Zigarette Albrecht in die Hand und macht sich auf die Suche nach dem Grund für das Geräusch. Der Brandenburger bleibt allein zurück. - In Villingen-Schwenningen dagegen ist der Koffer schon seit zwei Wochen säuberlich gepackt, und so wird der letzte Abend im Kreise der Familie genossen. Auf dem Tisch steht ein Topf mit dampfenden Maultaschen und Salat. Gegessen wird in Stille, nur hin und wieder hört man die helle Stimme des Jungen, der einen mehr oder weniger angemessenen Kommentar zu diesem und jenem macht. Im Hintergrund läuft ein Radio, das SWR3 abspielt, aber die Kommunikation beschränkt sich auf ein Minimum. - Albrecht läuft durch die Wohnung und hat ein paar gelbe Zettel in der Hand. Mit einer zierlichen Schreibschrift hat er sie ganz sachlich beschriftet. An die Tür des Wohnzimmers klebt er einen Zettel, auf dem „Wohnzimmer“ zu lesen ist; an die Tür der Küche „Küche“ und so weiter. Nur der Balkon erhält einen Extrakommentar: „Balkon – Hier raucht Paul. Denn er raucht nicht drin.“ Es scheint, als wäre Albrecht stolz. Dann setzt er sich auf das große, braune Sofa, um ein Video für seine Tauschfamilie aufzunehmen. Er schluckt und rückt sich eine Krawatte zurecht. In seiner roten Weste sieht er äußerst adrett aus. Das ganze Video über lächelt er nur ein einziges Mal. „Guten Tag, liebe Tauschmama. Ja, mit einem Mann hast du nicht gerechnet, wa? Denn ich bin keine Frau, aber das siehst du ja. Haha.“ An dieser Stelle lächelt er. „Genug gescherzt. Ich bin mit einem Mann zusammen, er, er, er heißt Paul und er hat zurzeit leider keine Arbeit. Hmja. Und äh, also, hm, er hat einen Sohn, du kannst ihn bestimmt Alex nennen. Er ist ein Teenager. Und dann haben wir noch ein Mädchen. Charly junior. Sie ist süß. Ich liebe meine Familie, also, also äh, also mach bitte nichts kaputt hier, ja? Danke.“ Seine Rede ist geprägt von vielen Pausen. Er scheint häufiger nach den richtigen Worten zu suchen. „Ja. Also. Ich würde dich gerne um etwas bitten.“ Er holt Luft. „Paul lässt mich alles machen. Im Haushalt. Bitte versuche, ihn dazu zu bringen, auch etwas zu machen.“ Noch eine etwas längere Pause. „Danke. Tschüss. Viel Spaß.“ - Die gelben Zettel in Baden-Württemberg sind ebenfalls mit einer ordentlichen Schrift verziert, aber sie ist sehr simpel gehalten. Jeder Zettel erhält einen kleinen persönlichen Kommentar. „Das ist der Kühlschrank. Wir kaufen Lebensmittel preisbewusst ein!“ oder „Mein Arbeitszimmer. Auf gar keinen Fall betreten.“ geben einen ersten Eindruck über das Wesen von Lukas. Im Hintergrund ist der alte Röhrenfernseher zu sehen, der allen Widrigkeiten zum Trotz noch immer funktioniert. Lukas steht aufrecht neben einer Vitrine, die mit allerlei Flohmarktkram gefüllt ist und von Porzellanadlern bis zu verrosteten Schraubschlüsseln die gesamten Errungenschaften der Zivilisation präsentiert. Auch er trägt eine Krawatte, auch er rückt sie zurecht, aber er schluckt nicht, sondern räuspert sich, und er lächelt fast die gesamte Zeit über, während er spricht. „Hallöle, Tauschmutter. Willkommen. Ich hoffe, es wird dir hier gut gehen, gell. Ich bin Lukas. Wir haben recht feste Regeln im Haushalt. Du solltest es hier sauber halten. Um das Essen kümmert sich mein Mäxle, du musst also nicht kochen. Kauf bitte auch nichts ein. Wir achten auf das Geld. Und wir haben einen Sohn adoptiert. Er heißt Eitel. Stör ihn bitte nicht, er ist sehr kreativ und braucht seinen Entfaltungsraum.“ Er stockt in der Rede, die sich wie auswendig gelernt anhört, und blickt in die Richtung eines Fensters. Draußen laufen am Glas die Innereien eines Vogeleis hinunter. Dann sieht Lukas wieder in die Kamera. „Wie gesagt, er ist kreativ. Er spielt gerne draußen, aber er ist auch gerne an seinem Computer. Er ist so sensibel.“ Er macht eine Pause und denkt angestrengt nach – die blonden Brauen ziehen sich zusammen. „Ja.“ Dann lächelt er breit. „Mäxle ist ein bisschen anstrengend. Aber du wirst keine Probleme mit ihm haben. Also, du wirst sehr viel Spaß hier haben. Ab 10 Uhr abends bist du still, die Nachbarn könnten gestört werden.“ - Es ist ein herzzereißender Abschied. Paul hält Albrecht fest umschlungen, Alexandré steht unbeteiligt daneben und raucht eine Kippe, und die kleine Charly junior hält sich an der Hand von ihrem Stiefpapi fest. Mit großen, runden und verweinten Augen sieht sie ihn anklagend an. Wie kann er es wagen, sie zu verlassen, nachdem schon ihre echte Mutter sie so herzlos verlassen hat?! Charly junior versteht es nicht, aber sie hofft, dass ihr Albi bald zurückkehrt. Albrecht drückt seinem Freund und dem kleinen Mädchen Küsse auf die Wangen. Alexandré wird herzlich umarmt, und er erwidert die Umarmung, indem er Albrecht etwas hilflos den Rücken tätschelt. Dann lässt sich Albrecht in das Auto nieder, das ihn nach Baden-Württemberg bringen wird, und durch die Rückscheibe betrachtet er seine Familie, bis sie aus seiner Sicht verschwunden sind. - Im Vorgarten stehen drei Gartenzwerge und winken vorbeifahrenden Autofahrern fröhlich zu. Eitel mit seinen auffällig hellen Haaren sitzt erst auf seinem Baumhaus, dann ist er innerhalb von Sekunden auf dem Weg, der zum Hauseingang führt, und er ergreift die Hand von Lukas. An der Tür lehnt lässig Maximilian, schüttelt seinem Partner nur die Hand und sieht ihn mit nach unten verzogenen Mundwinkeln an. Eitel hüpft wie ein kleiner Flummi an der Hand von Lukas nach oben und unten, bis er im silbernen Wagen verschwunden ist. „Nein, ich werde ihn nicht vermissen“, sagte Maxmilian. „Ist mir gerade Recht, dass er weg ist. Ich freue mich auf eine nette Frau. Vielleicht räumt die auf. Naja, ist aber alles besser als der Hornochse.“ Eitel hat sich zu ihm gesellt, und dann schlägt Maximilian die Tür direkt vor der Kamera zu. - In der Mitte des Weges treffen sich Lukas und Albrecht. Mit Augenbinden berühren sie sich gegenseitig, ertasten sich. Albrecht bleibt still, aber Lukas wünscht dem anderen eine schöne Zeit. Man sieht Albrechts fahler Gesichtsfarbe an, dass er nicht damit gerechnet hat, einem anderen Mann zu begegnen. - Noch ist die Wohnung leer. Nur gelbe Post-It-Zettel zeugen davon, dass hier eine vierköpfige Familie lebt. Lukas stellt den ordentlich gepackten, verhältnismäßig kleinen, sparsamen Koffer auf der Türschwelle ab und untersucht die Wohnung. Einige Regaloberflächen sind nicht perfekt gewischt, und als er mit dem Finger darüberfährt, bleibt Staub hängen. Das ist ekelerregend; die hier lebende Familie muss wahrlich dreckig und faul sein. Lukas liest die Zettel, die Albrecht ihm hinterlassen hat, und er ist ein wenig irritiert, da sie so wenig erklären und dennoch so präzise sind. Er öffnet die Tür des Balkons, tritt hinaus und betrachtet aus dem vierten Stock, in dem die Wohnung gelegen ist, das Stadtviertel. In den Wänden, die den Balkon eingrenzen, hat sich der Geruch von schwerem Rauch gesammelt. Lukas rümpft die Nase. Wenigstens gibt es keine Tiere. Das wäre die Höhe gewesen: Hundehaare auf dem Boden! Obwohl gegen ein kleines Aquarium nichts einzuwenden wäre; ein paar schillernde Tropenfische gegen die Einsamkeit. Auf der Couch im Wohnzimmer klebt ein Zettel mit „Dein Bett“. Es scheint nicht so gemütlich zu sein, aber verglichen mit anderen Schlafgelegenheiten, die er schon erleben musste, wird Lukas die Couch vorkommen wie das Bett der Prinzessin auf der Erbse. Ohne Erbse. Auf dem fast die gesamte Wand ausfüllenden Flachbildschirm wird die Bluray von Albrechts Willkommensrede abgespielt. Am Ende breitet sich auf Lukas' Lippen ein äußerst dünnes Lächeln aus. Man hat ihm eine Aufgabe erteilt, und Aufgaben erfolgreich zu erledigen ist seine Lieblingsbeschäftigung. - Die Sauberkeit blendet Albrecht geradezu, als er das große Einfamilienhaus betritt. Er lebt zwar in Berlin, aber mit dem Großstadtleben konnte er sich nie richtig anfreunden, und auf den ersten Blick wirken die geselligen, engen Straßen von Villingen-Schwenningen auch nicht besonders einladend. Schon im Eingangsbereich empfängt ihn der erste gelbe Zettel: „Auf jeden Fall Schuhe ausziehen!!“ Während der weiteren Erkundungstour betrachtet er kritisch den kitschigen Schmuck in und auf den Regalen. Er sieht Bücher und fühlt sich gleich ein wenig zuhause, aber als er sie aufschlägt, realisiert er, dass es sich hauptsächlich um Bedienungsanleitungen handelt. Sein Finger folgt den Buchstaben, während er leise murmelnd liest. „Der Rasterschalter zum permanenten Deaktivieren der GRA (Öffnung 13b) wird gegen den Uhrzeigersinn drei Komma fünf mal gedreht; nach dem Einrasten soll der Strom auf ca. die Hälfte des üblichen Verbrauchs (siehe S. 199) gestellt werden...“ Damit kann er nicht viel anfangen, legt das Buch wieder weg und sieht sich weiter um. Am Ende eines Ganges im ersten Stock findet er noch einen gelben Zettel. „Das Gästezimmer. Du wirst hier schlafen. Am Ende sollte alles wieder völlig aufgeräumt sein.“ Albrechts Vermutung, in einer völlig wahnsinnigen Familie untergebracht worden sein, erhärtet sich. Als er auf dem abgewetzten Sofa sitzt und sich nach vorne beugt, um auf dem alten Fernseher etwas von der Videobotschaft erkennen zu können, fängt er an, sich vor den nächsten Wochen zu fürchten. - Mit einem Quietschen öffnet sich die Glastür zur Wohnung von Paul Albrecht. Neben ihm läuft Charly junior quietschfidel in ihre Heimat hinein und Alexandré folgt mit der obligatorischen Kippe. „Mamaaaaa!“, ruft Charly junior, aber als sie statt Albrecht nur einen großen, fremden Mann sieht, erbleicht sie und wendet sich ihrem Adoptivvater zu. „Onkel Paul, wer ist das?“, fragt sie mit großen Augen, während der Angesprochene dem Neuzugang die Hand hinhält. Lukas ergreift sie, und sein fester Händedruck lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht gehen wird, ohne eine Veränderung vollbracht zu haben. Paul ist sehr erfolgreich darin, sich seine Überraschung ob des Geschlechts des anderen nicht anmerken zu lassen. „Hi, ich bin Paul.“, sagt er auf hochdeutsch. „Das sind Alex und Charly junior, wie wir sie nur nennen. Alex, sag' Hallo!“ „Hallo.“, kommt es von Alex, während er seine Kippe auf dem Boden austritt. Lukas rümpft die Nase und betrachtet Alex, als bestünde er aus Erbrochenem. „Guten Tag“, er gibt sich Mühe, möglichst fröhlich zu klingen, und er lächelt breit, „mein Name ist Lukas.“ Im Gegensatz zum Berliner ist seine Mundart klar herauszuhören. Das wiederum bringt Paul dazu, zu zucken. „Ich komme ausm Ländle. Freut mich, hier zu sein.“ Dann beugt er sich zu Charly junior hinunter. „Hallo Charly junior. Wie heißt du'n richtig?“ Sie wirkt irritiert, dann scheint sie sich an etwas zu erinnern. „Theresa!“ Lukas nickt zufrieden. Paul schickt die beiden Kinder auf ihre Zimmer. Alexandré schlurft und Charly junior hüpft. Paul und Lukas setzen sich nebeneinander auf das Sofa, und jegliche geheuchelte Freundlichkeit verlässt den Raum. „Ihr habt schon lange nicht mehr geputzt, nicht wahr?“, beginnt Lukas vorwurfsvoll und durchbohrt Paul mit seinem Blick. „Entschuldigung, das geht gar nicht; Kinder in solch einer schmutzigen Umgebung aufwachsen zu lassen! Hast du das Bad gesehen, Paul? Da ist Schimmel!! Schimmel!!“ Paul zuckt mit den Schultern. Erleichtert zündet er sich eine Zigarette an, und Lukas' Pupillen vergrößern sich. „Da is kein Schimmel. Und auch sonst isses hier aufgeräumt. Was denkstn du, wer du bist? Wir sind halt nich... na... so putzgeil oder so.“ Am genüsslichen Gesichtsausdruck von Paul sieht man, dass ihn die Worte des anderen nicht im Geringsten tangieren. Lukas presst die Lippen zusammen. „Ihr seid widerlich.“ Paul zuckt erneut mit den Schultern. „Ach, ich bin ganz froh, dass Albi mal weg ist.“, sagt er unverbindlich. „Jetzt muss ich mal nicht sofort auf den Balkon, wenn ich eine rauchen will.“ Mit flinken Fingern nimmt Lukas ihm die Zigarette aus dem Mund. „Das kommt dazu. Man raucht nicht in der Wohnung.“ Sein Blick ist streng. Paul nimmt sich vor, heute Abend das Kriegsbeil auszugraben. - Viele hundert Kilometer entfernt klingelt Maximilian an seiner Haustür. An der einen Hand hält er seinen Sohn, in der anderen einen Strauß Rosen. Als Albrecht öffnet, bekommt er den Strauß sofort in die Hände gedrückt. „Hallo Tauschmama!“, sagt Maximilian fröhlich, und währenddessen sagt Eitel „Hallo Tauschkrüppel!“, was einen eigenartigen Effekt zur Folge hat. Dann realisieren die beiden, dass statt einer schönen, jungen Mutter vor ihnen ein fahler, überforderter Mann steht. Max' linkes Auge zuckt; Eitel fängt an, zu lachen. Albrecht tritt mit einem riesigen Strauß Rosen in den Händen einige Schritte zurück, nein, er stolpert eher. Hektisch, gar panisch sieht er sich um und legt den Strauß am Schluss kurzentschlossen auf einen Beistelltisch. Er räuspert sich, dann schüttelt ihm Maximilian sehr kräftig die Hand. Nachdem Albrecht aus dem Griff erlöst wird, tätschelt er die schmerzhaft pulsierende Hand. „Hallo, willkommen bei mir zuhaus, ich bin Maxmilian Reichenbach, kannst mich aber einfach Max nennen.“ Er strahlt ihn an. „Und du, du bist schwul?“ Albrecht blinzelt irritiert. Ohne auf die Frage einzugehen oder sich selbst vorzustellen, wandert sein Blick fast automatisch zu dem Kind, und dann muss Albrecht schlucken. Er zieht die Augenbrauen zusammen. Irgendwie kommt ihm der Junge bekannt vor, und irgendwie hat er den Drang, vor ihm zu fliehen; er stellt eine Gefahr dar. Albrecht hat keine Ahnung, warum der unscheinbare, unschuldige Junge solch eine emotionale Reaktion bei ihm hervorruft. „Äh...“, antwortet er. „Ich bin Albrecht Fontane.“ „Fontane? War das net irgendwie so'n Musiker oder so?“ Albrechts Blick wendet sich zu Max. Einige schockierte Sekunden verstreichen. Mit einem lauten „Hi Ally!“ begrüßt der Sohn den Neuankömmling. „Ich bin Eitel! Und wenn du dich über meinen Namen lustig machst, dann werd ich dich in ein Grab befördern, zu deiner Mudda!“ Max rollt liebevoll mit den Augen und gibt dem Jungen einen Klaps auf den Rücken. „Spätzle, willst du in dein Zimmer gehen? Ist heute nicht der große WoW-Raid, von dem du schon seit Tagen erzählst?“ Eitels Augen fangen an, zu leuchten, dann rennt er nach oben. Ohne sich die Schuhe auszuziehen. Max schmunzelt vergnügt. „Komm, wir wär's mit einem Weißen, während wir reden?“ Albrecht nickt. Jetzt, als der Junge nicht mehr anwesend ist, hat er einen viel klareren Verstand. Fünf Minuten später sitzen die beiden am Esszimmertisch, zwischen ihnen ein Klingelberger Riesling von 2004 und zwei Gläser. Max nippt an seinem Getränk, Albrecht berührt zumindest das Glas. Ersterer lächelt, zweiterer sieht ihn ausdruckslos an. „So, nochmal in Ruhe“, beginnt Max, während er sein leeres Glas noch einmal einschenkt. „Ich bin sehr froh, dass du hier bist. Es war eine Qual, den Hornochsen zu überreden, hier mitzumachen. Zum Glück hat das geklappt.“ Eitel guckt durch den Türspalt. „Lukas hat das vorgeschlagen!!“ Dann rennt er wie von der Tarantel gestochen weiter. Max sieht seinem Sohn bösartig nach. „Wie ich gerade sagte, es war eine Qual. Aber jetzt ist er endlich weg.“ Er sieht Albrecht über den Rand des Glases tief in die Augen. „Ich bin sehr froh, dass du da bist, Albrecht. Das ist eine schöne Abwechslung. Wie wär's, wenn wir das Programm verlängern?“ Albrecht sieht ihn verwirrt an. „Warum...“ Er erinnert sich an die Videobotschaft. „... warum bist du so froh darüber, dass Lukas weg ist? Ist er nicht … äh...“ „Nein!!“, erwidert Max entrüstet. „Ich hasse ihn!“ Danach entspannt sich das Gespräch wieder; Albrecht erzählt von seiner Familie, von Alex und Charly junior, er erzählt von Paul, er erzählt von seiner Heimat, einem kleinen brandenburgischen Dorf, abgeschnitten von der Außenwelt. Er erzählt davon, dass Alex im Grunde ein guter Junge ist, und was für ein Sonnenschein Charly junior ist, obwohl doch ihre Eltern so tragisch starben. Max erzählt von Villingen-Schwenningen, von seiner Heimat, von seinen reichen Eltern und von Eitel. „Das mit Eitel war lustig“, erzählt er, „willst du mehr?“ Albrecht hat sein Glas noch nicht ausgetrunken und Max bringt einen Roten. „Das ist ein Onyx Cabernet Cuvee 2001. Wir haben ihn im Wald gefunden, da war er ein, zwei Monate alt. Der lag einfach so da.“ Albrecht hört ihm auf eine seltsame Art und Weise höchst fasziniert zu. „Dann – natürlich zur Polizei. Wir haben eine Suchaktion gestartet. Keiner hat sich gemeldet. Der Kleine hat keine Eltern gefunden. In ganz Deutschland. Weißt du nicht mehr, des war ganz groß in den Zeitungen.“ Albrecht erinnert sich dunkel an den Fall von vor zehn Jahren. Er nickt. „“Rabenmutter setzt Waldbaby aus!“, hat die BILD getitelt, nicht wahr?“ Max nickt lächelnd. „Naja, wir haben ein halbes Jahr gewartet. Dann sind wir zu dem Heim gegangen und haben den Kleinen adoptiert. Wegen Lukas, der wollte das, der wollte so ein kleines Bobbele. Ich hab dann so getan, als wär ich glücklich mit dem. Dann haben die uns Eitel gegeben.“ Er nimmt einen Schluck und seufzt genießend. Mit ein paar weiteren Worten findet der Abend sein Ende. Max muss noch den Computer von Eitel ausschalten und das Kind ins Bett schicken. Albrecht schläft unruhig und irritiert im Bett des Gästezimmers ein. - Um genau 6:30 erwacht Lukas. Der Rest der Bewohner schlafen noch tief; mit einem Kaffee in der Hand betrachtet er den Stundenplan des Sohns. Noch ein Schluck Kaffee, dann weckt er Alexandré eigenmächtig. Der junge Mann dreht sich um, murmelt etwas unverständliches und zieht sich die Decke über den Kopf. Lukas geht in das Zimmer von Paul; natürlich klopft er an, wartet aber nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor er eintritt. „Paul, dein Sohn will nicht aufstehen. Dabei hat er bald Schule. Er sollte diese Pflicht nicht vernachlässigen.“ Weder fragt er den Hausherren etwas, noch bittet er um Erlaubnis, irgendetwas zu tun; stattdessen verlässt er den Raum wieder und kehrt zurück zu Alexandré. Fünfzehn Minuten später sitzt Alex kreidebleich, aber geduscht, in der Küche und löffelt Kellogg's. Paul kommt in Bademantel in die Küche und sieht seinen Sohn eindeutig schockiert an. „Alex?! Was hat er dir angetan?“ Alex schüttelt stumm den Kopf. Er möchte nicht reden. Mit einem zufriedenen Lächeln begleitet Lukas den Sohn zur Bushaltestelle. - Für Albrecht beginnt der Tag später und angenehmer. Aus dem Esszimmer dringt der Geruch von Speck und frischem Obst. Als der Brandenburger verschlafen die Treppen hinuntersteigt und fast ausrutscht, rennt Eitel so schnell an ihm vorbei, dass es ihm vorkommt, als hätte sich der Junge zur Tür teleportiert. „Tschü Pa!“, ruft er, dann ist er auf dem Gehweg. In dem Moment, in dem Albrecht sich umdreht, erblickt er Max mit offenen Haaren und einer Küchenschürze. „Guten Morgen, Albrecht!“ Draußen singen ein paar Vögel, und durch die altmodischen Fenster dringt Sonnenlicht. „Ich hab Speck gebraten, und es gibt Obstsalat. Bedien dich! Aber räum hinterher anständig auf.“ Er zieht die Schürze aus. „Ich muss jetzt schaffen.“ „Was schaffen?“, fragte Albrecht. „Na, schaffen eben.“, antwortet Max. Zehn Minuten später verabschiedet sich Max, und Albrecht ist ganz allein. Bis Eitel zurückkommt. - Paul entscheidet sich dazu, seine Wohnung zu verlassen; Charly junior ist stets an seiner Seite. Sie gehen auf einen Spielplatz, und es ist herzerwärmend, wie liebevoll er mit der Kleinen umgeht. Natürlich nur, bis sie während dem Schaukeln unsanft auf die Erde fällt und sofort anfängt, so laut zu heulen und zu schreien, als könne sie allein dadurch ihren Schmerz lindern. Paul zündet sich noch eine Zigarette an, dann nimmt er das Mädchen auf den Schoß, und eine Stunde später kehrt er mit einem fröhlich lachenden Mädchen, deren Knie von einem Pflaster mit Blümchenmuster geziert wird, in sein Zuhause zurück. „Hallo Paul!“, wird er von Lukas begrüßt; er sieht irritiert aus, so als hätte er vergessen, dass der Schwabe nun bei ihm lebt. „Was willste?“, fragt er. „Ich habe ein paar Jobangebote für dich rausgesucht.“ Paul sieht nicht allzu begeistert aus von dieser wunderbaren Neuigkeit, aber er setzt sich trotzdem Lukas gegenüber an den Esstisch und sagt dem Mädchen, dass sie in ihr Zimmer spielen gehen soll. Auf dem Tisch stehen ein paar belegte Brötchen. „Bedien' dich.“, lädt Lukas den Hausherren ein und scheint nicht zu bemerken, wie sehr sein Verhalten dem anderen auf die Nerven fällt. „Also, sie suchen hier ein paar Bauarbeiter für die Konstruktion von einem Hochhaus. Dazu braucht man nicht viel Vorwissen. Dann ist eine Stelle als Straßenkehrer frei geworden. In den Todesanzeigen war dabei, dass ein ehemaliger Müllabfuhrwagenfahrer gestorben ist, da habe ich ein wenig recherchiert und bei seiner Agentur angerufen, und dort sucht man schon händeringend nach einem Ersatz. Ansonsten, wie wäre es mit Taxifahrer oder LKW-Fahrer? Ich habe ein paar Beziehungen, ich k-“ Harsch wurde er von Paul unterbrochen. „Ich nehm' keinen Loserjob! Hey, ich weiß nich, was du von mir denkst, aber ich bin kein Idiot, ich bin 'n ausgebildeter Grafikdesigner-“ Jegliche weitere Worte werden vom amüsierten Lachen des anderen verschluckt. Nachdem Lukas sich wieder gefangen hat, antwortet er. „Es ist egal, wie viele Ausbildungen du hast, im Moment bist du arbeitslos und liegst damit der Gemeinschaft auf der Tasche. Schämst du dich nicht?“ „Nö“, sagt Paul, „eigentlich nich'.“ „Nun, du musst dich nicht zu kümmern, ich habe an die ganzen Geschäftle schon Bewerbungen geschickt. Hoffentlich wirst du irgendwo genommen.“ Ohne ein weiteres Wort, dafür aber mit einem Blick, der Bände spricht, verschwindet Paul nach oben zu seiner Tochter. Lukas bleibt allein zurück. - Albrecht genießt die Ruhe. Er sitzt auf der Terrasse des Einfamilienhauses und betrachtet den spießigen, aber idyllischen Garten vor seinen Augen. Eine verrostete Schaukel kündigt davon, dass hier einmal ein junges Kind lebte, ein Kind, das nun älter geworden ist und viel eher das Mountainbike benutzt, das neben dem Geräteschuppen lehnt. Vielleicht ist die Schaukel „uncool“ geworden, genauso wie der Sandkasten am östlichen Ende des Gartens. Entfernt fahren ein paar Autos, Schmetterlinge flattern. Es fühlt sich fast an, als würde er wieder in einem abgelegenen kleinen Dorf wohnen. Albrecht weiß nicht, wie lange er auf der Bank sitzt. Ein Schrei reißt ihn aus dem Halbschlaf, in den er gerutscht ist; er springt auf, schlägt sich den Kopf an einer Lampe und rennt in das Haus hinein, in die Richtung, aus der der Schrei noch immer kommt, hoch, schrill, lang anhaltend und panisch. „Alles in Ordnung??“ Er erblickt den jungen Eitel im Wohnzimmer, der den Mund zu einem O geformt hat und ihn überrascht ansieht. Der Schrei verstummt. „Oh, hey, ich-“ „Ich habe dich gar nicht heimkommen hören...“, unterbricht Albrecht ihn; er wirkt zerfahren und verwirrt, als hätte er die Situation noch nicht so ganz verstanden, und Eitel ignoriert seine Worte. „-habe gerade für meinen Auftritt geübt. Morgen Abend singe ich im Chor den Solopart!“ Er strahlt, wie nur zehnjährige Jungs strahlen können. „Und jetzt will ich Essen!“ Dann fängt er wieder an, hoch, laut und eintönig zu schreien. Albrecht blickt ihn aus großen Augen an. „Eitel...“, setzt er langsam an, aber der Schrei übertönt seine Stimme. „... vielleicht solltest du aufhören, so zu singen, ich meine...“ Plötzlich treten Tränen in die Augen des Jungen. „DU MEINST ICH KANN NICHT SINGEN????“, ruft er verzweifelt. Albrecht hält schützend die Hände vor den Körper. „N-nein, aber-“ „ABER! DU HASST MICH, ALBRECHT!“ Die Tränen fließen ungehindert. Albrecht ist völlig eingefroren. Man sieht ihm an, dass er diese Herausforderung nicht wird meistern können. „Ei-“ Doch bevor er auch nur den Namen zuende sprechen kann, hat Eitel ihn in die Seite geboxt und ist die Treppen nach oben gerannt, noch immer weinend, noch immer schreiend, und Albrecht bleibt ihm Wohnzimmer zurück, umgeben vom gedämpften Schreien Eitels, und fragt sich, was gerade geschehen ist. - Und nun: die Werbung! - Kennen Sie das: Traurigkeit, tiefe Emotionen, und niemand, dem man seine tiefsten Probleme anvertrauen kann? Fragen Sie sich häufiger, warum ausgerechnet IHNEN das alles passiert? Besteht Ihr Leben größtenteils aus Schmerzen und Sorgen? Jetzt endlich können Sie aufhören, sich zu sorgen: die J. Gutenberg AG präsentiert stolz das neue Produkt Buch! Buch enthält zahllose Buchstaben, manchmal sogar Bilder, und vor allem: Buch kann niemanden verletzen! Aber vertrauen Sie nicht uns, vertrauen Sie unseren Kunden! 120% aller Hessen benutzen Buch! Karol C. Sagt: „Buch ist die beste Erfindung seit der Erfindung des Buchdrucks!“ Also zögern Sie nicht lange und bestellen Sie sich Buch! „Lieber Bernd, kannst du mir nicht etwas von dir schenken? Deine Hemd mit der Parfum von letzte Nacht, und vielleicht die kleine Silberauto? Und eine Flasche von die Bier, die so schön hat geprickelt in mein Bauchnabel... Köstritzer Schwarzbier – prickelt länger, als man schmeckt.“ Hol dir JETZT den besoffenen Kölner! Schick KÖLLE12 an die 0011101010110 und lad ihn dir als Klingelton! 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Nächsten Samstag auf RTL X: der neue Katastrophenactionliebeskomödienfilm „Angriff der Killerhaie vor Megacity Kiel“, mit den Stars OTTO STAHMER und ANNA KRÜSS! Packende Action, reißende Gefühle, und die Killerhaie mitten in einem Einkaufscenter!!! Aber bevor es mit Frauentausch Special Supersonderedition weitergeht: die Quizfrage, mit der Sie über 9000 tote Armadillos gewinnen können! Machen Sie mit! Wieviele Bundesländer gibt es in Deutschland? A: 16 B: Kühlschrank Wenn Sie die richtige Antwort kennen, einfach A oder B an per SMS an 0179-DEINGESICHTISTEINPOPO senden! Wir freuen uns auf Ihr Geld! Kapitel 36: 36 - Drabbles 03 ---------------------------- Ernte Ein brütend heißer Tag. Die Sonne stand an ihrem Zenit. Schweißtropfen perlten von der Sonne verwöhnte Haut hinab, während Max auf einer hohen Leiter stand und fette Kirschen von einem Baum pflückte. Unter ihm wartete Karol mit einem Korb darauf, das Obst sicher in die kleine Hütte bringen zu können. Mit zwei Händen voller Kirschen sprang Maximilian hinunter und legte sie vorsichtig in den zur Hälfte gefüllten Korb hinein. Eine Kirsche jedoch behielt er in der Hand und schob sie in Karols Mund. Seine Fingerspitzen blieben an den Lippen des anderen hängen. Karol schloss den Mund und schmeckte salzige Haut. Maximilian / Karol -- Kirschen Sailor Moon Zwei weit aufgerissene Augenpaare starrten auf den Fernsehbildschirm. „Mit der Macht des Mondsteins...!!“ schrie ein blondes Mädchen glücklich. Sachsen warf den Kopf in den Nacken, und irritiert blickte er Bernd an, der ihn sichtlich wohl in den Armen hielt. Die alte VHS-Kassette mit der Aufschrift „Bunnys erster Kuss“, deren Inhalt die beiden überraschte, zerstörte jegliche Stimmung, die aufkommen konnte. „Also ich weiß nicht-“, begann Sachsen, wurde aber von Bernd unterbrochen. „Ssht! Jetzt kommt die Szene, in der sie sich verwandeln!!“ Verwirrt schaute Sachsen in Richtung des Fernsehers, dann in Bernds Augen, und dann war alles gut. Sachsen / Bernd -- Bunny Der neue König Sie war noch nicht lange seine Untergebene. Wie das schon klang! Untergebene! Pah. An sich war dieser Blondschopf ja nicht unsympathisch, aber allein die Tatsache, sich nach Jahrhunderten der Unabhängigkeit wieder jemandem unterordnen zu müssen... ein Albtraum. Sie hatte alles versucht, um ihn in irgendeiner Weise zu erniedrigen. Inzwischen war auch der Plan, ihn unter den Tisch zu trinken, völlig aus dem Ruder gelaufen. Jette hatte es sich in der dunklen Gaststube auf Ludwigs Schoß bequem gemacht und versuchte, ihm den billigen Wein einzuflößen. Es war sinnlos. Alkohol schien keine Wirkung auf ihn zu haben. Jedoch umso mehr auf sie. Jette / Ludwig -- Wein Der Wolf Die Zigarre in seiner Hand füllte die Luft mit Rauchschwaden. Pauls Brust hob sich nur schwerfällig, denn ein bleicher Arm ruhte darauf. Träge drehte er den Kopf und musterte Preußen. Er dachte an ein Märchen, das Albrecht ihm als Kind erzählt hatte. Haut, weiß wie Schnee, Augen rot wie Blut und eine Seele schwarz wie Ebenholz. Und dann fraß der Wolf Gilbert auf. Der Gedanke an Albrecht war ein Schlag gegen seine Brust. „Gib mir auch 'nen Zug“, forderte Gilbert. Provokativ blies Paul ihm Rauch ins Gesicht. Innerhalb weniger Sekunden spürte er Gilberts gesamtes nacktes Gewicht auf seiner Brust. „Jetzt.“ Als sie sich küssten, schmeckte Pauls Zunge Blut. Gilbert / Paul -- Blut Flitterwochen Es war die erste Nacht ihrer Flitterwochen, und die beiden lagen gemeinsam am Ostseestrand. Fritz hatte beschlossen, dass das Erste Mal seiner katholischen Ehefrau etwas besonderes sein würde. Der Mond tauchte die beiden in sanftes Licht, als Fritz träge wie immer ein Kondom aus seiner Hemdtasche holte und es Zenzie zeigte. „Dies ist ein Kondom“, weiter kam er nicht, denn ihre Hand landete schmerzhaft auf seiner Wange, das gerötete Gesicht in einer empörten Grimasse verzogen. „Wie kannst du es wagen?!“, rief sie so laut aus, dass Spaziergänger auf die beiden aufmerksam wurden. Es war keine besonders erfolgreiche Nacht. Fritz / Zenzie -- Kondom Konzert Albrecht war nicht begeistert. Fritz ebenfalls nicht, aber Fritz zeigte das nicht so deutlich. Die beiden alten, alten Männer standen im hinteren Teil einer Turnhalle, in der normalerweise junge Talente trainierten. „Rock“, sagte Albrecht mit einem eindeutig unamüsierten hochgezogenen Mundwinkel. Er blickte das Getränk an, das er in der Hand hielt. Stilles Wasser. Nicht Bier. „Das nennen sie Rock.“ Die Sängerin auf der Bühne sang etwas Englisches, irgendetwas über Liebe, glaubte Albrecht zu verstehen. Fritz nickte nachdenklich. Dann zog er die Augenbrauen zusammen. „Er ist kariert“, sagte er und deutete auf die Sängerin. Albrecht blinzelte. „Was?“ Fritz / Albrecht -- Rock Massage Finger, die einst schlanker waren, massierten die Kopfhaut unter ihnen, und Paul seufzte; es war ein genießendes Seufzen, und es kommunizierte Zufriedenheit, wie sie sonst nur eine schnurrende Katze in der Sonne kommunizieren kann. „Bist du dir sicher?“ Ihre Stimme war zart wie eine Pusteblume im Sommer. Paul wollte nicken, erinnerte sich aber an die Finger in seinem Haar und sagte stattdessen "Ja". Loreley dagegen nickte; ihre Hände nahmen etwas Farbe, und nach einigen Dutzend Minuten des Einziehens konnte jedermann Pauls neue blonde Haarfarbe bewundern. Loreley lächelte liebevoll als er aufstand und sich das Handtuch von der Brust riss. Paul / Loreley -- Blond Sommerurlaub Sie befanden sich auf einer ostfriesischen Insel, der grobe Sand zwischen ihren Zehen und die Sonne, von Wolken verdeckt, schien matt auf sie herab. Und sie küssten sich; sie küssten sich, als hinge ihr Leben davon ab. Hans' Hand strich über Georg's Oberkörper, fordernd und leidenschaftlich, und seine Fingernägel hinterließen hellrote Male und ein Zittern auf der Haut des anderen. Dann machte er sich daran, das Bikinioberteil von Georg zu öffnen. "Gott, es macht mich so verdammt geil, wenn du Frauenkleider trägst", murmelte er gegen den Mund des anderen. Georg stöhnte. Innerhalb von wenigen Momenten war auch die Bikinihose verschwunden. Georg / Hans -- Bikini Sie sind müde Jette saß wie eine Statue. Sie war alt geworden, einst rote Haare waren nun fahl und müde. Ihr Mund war nichts als ein dünner Strich in ihrem Gesicht, während ihr Ehemann schrie und zeterte. Max war nie ruhig gewesen, aber niemals hatte er sich so aufgeregt. Er hasste sie, schrie er, sie hatte sein Leben zerstört, sie hatte ihm alles genommen, hatte jede Chance zunichte gemacht. Als Jette aufstand und zu dem Ehebett humpelte, dass die beiden teilten, verstummte er. Zwei Stunden später wachte sie von alten Armen um ihre Taille auf. "Es tut mir Leid", sagte er und weinte. Maximilian / Jette -- Hass Ein Märchen Der Lindwurm thronte auf seinem Schatz. Mindestens dreitausend Taler waren unter seinen Pranken verborgen, Kronen und Geschmeide und Ketten unter der ledrigen Haut. Und über allem saß Albrecht, in einem wunderschönen rosa Tüllkleid, mit einem Diadem auf dem Kopf und mit einem Gesichtsausdruck, der Tod und Verderben versprach. Aber er war in den Klauen des Wurms gefangen, und er konnte nicht fliehen. Es war aussichtslos, bis sein Retter Paul auftauchte, in einer Rüstung, deren Glanz dem Hort des Reptils in nichts nachstand. Das Monster wurde geschlagen, die Prinzessin gerettet, und als Paul aufwachte, lag ein wohliges Lächeln auf seinen Lippen. Paul / Albrecht Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)