klopf an die Tür von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Seelenstrip ---------------------- Die Wellen spülen mich fort, weit weg zum anderen Ende der Welt oder zum Mond und ich frage mich die ganze Zeit: Warum? Wie konnte das passieren? Ich bin ein Stein, verdammt! Das kleine Gesicht scheint wie auf meiner Netzhaut eingebrannt, obwohl ich sie nicht sehe…“Warum?“ ist alles was ich denke. „Weil, es halt so ist im Leben…“, sagt die Vernunft, oder ist es die Logik, oder sogar die Realität höchstpersönlich?! Wenn man jemanden verloren hat scheint die Zeit die man mit ihm oder ihr verbracht hat, die ursprünglich Jahre dauerte, Sekundenbruchteile zu bemessen. Die Wellen des Tsunami bestehen aus Schuld, Vorwürfen und was-wäre-wenn-?, aber das ist nicht schlimm genug. Man malt sich aus wie es wäre, wenn ich an ihrer Stelle…Wer hätte mich schon vermisst? Niemand. Aber das ist nicht schlimm, im Gegenteil, es wäre ein Segen gewesen, für die die zurück bleiben, weil es ganz einfach niemanden gibt den es jucken könnte. Gott, der nicht existiert in meiner Welt, ich bete dich an: nimm mich und gib sie der Welt zurück! Meine Tür ist in diesem Moment offen, sperrangelweit. Doch wer eintritt ist nicht Gott. Ich spüre es irgendwo, nebenbei, während mein Flashback der letzten 20 Jahre abläuft. Es ist als wenn jemand mir zu ruft, während ich ganz den Klängen der schreienden Opfer und zusammenstürzenden Häuser lausche, die wie ich einfach fortgespült werden. Aber irgendwo da oben, an der Wasseroberfläche ist jemand der nach mir greift, nicht um mich zu retten, sondern um mich zu ermutigen mich selbst zu retten. Zurück an der Oberfläche streicht mir eine winzige Hand durchs Haar und holt mich zurück in die Wirklichkeit. „Nicht weinen, Onkel.“, piepst die Stimme die zu der Hand gehört. Durch meine gespreizten Finger sehe ich die Frage ganz nahe vor meinem Gesicht. Augen, so blau wie der Himmel, wenn die Sonne scheint. Das macht es nicht besser, ganz und gar nicht, die Tränen sprießen wie Blüten im Frühling, fallen wie im Spätsommer und verdorren auf dem Boden wie im Herbst. Die Tür ist auf, das Schild hängt noch, doch vermutlich kann sie noch nicht lesen. Bevor ich die Tür zuschlagen kann hat sie den Fuß dazwischen, stemmt sie auf und tritt ein. Was ich dort vor ihren Augen vollführe ist ein erstklassiger Striptease, ja, ich entblöße mich vor ihren Augen und lege ihr mein innerstes zu Füßen. Ich bin ein erwachsener Mann, wie kann ein kleines Mädchen stärker sein als ich? Es wird spät. Das Mädchen lässt mich auf dem Boden zurück und verkriecht sich einfach in mein Bett. Merkwürdig, es ist so müde wie ich mich fühle, doch kann es mit dieser Müdigkeit etwas anfangen im Gegensatz zu mir. Endlich versiegen die Tränen und ich setze mich vor mein geliebtes Fenster, auf den Boden. Hinter mir vernehme ich leise, gleichmäßige Atemgeräusche. Du glaubst es geschafft zu haben? Nein, ganz und gar nicht, es war nur ein Moment der Schwäche! Der Mond ist hell heute Nacht, eine Ausrede um nicht schlafen zu müssen. Die Wolken scheinen zu ihm zu drängen, ihn verdecken zu wollen. Mit seinem kalten Licht vertreibt er sie irgendwie. Vielleicht bin ich der Mond? Er besteht aus Stein, so wie ich…also vielleicht? Und die Wolken, mit ihren langen Fingern wollen in sein inneres eindringen. Die Sonne ist out, sie ist ein Verräter. Der Mond ist mein neuer Freund, kein Wunder bei unseren Gemeinsamkeiten. Die Nacht vergeht und ein neuer Tag beginnt. Ich wünsche mir einen riesigen Schild um die Sonne fern zu halten…Warum kann die Nacht nicht ewig gehen? Ohne den ständigen Wechsel von Tag und Nacht würde die Zeit nicht so bedrohlich wirken und man hätte nicht das Gefühl sie zu verschwenden, denn Nachts scheint sie still zu stehen oder ewig zu gehen. „Ich werde nie mehr alleine sein.“, hat Chris damals im Krankenhaus gesagt als ich sie kurz nach der Geburt besucht habe. Sie sah zum kotzen aus, wie eine dieser Crackhuren, die Tagelang auf irgend einem Zeug waren ohne zu schlafen, zu essen, zu duschen…trotzdem war sie überglücklich. Ich stand da und wusste nicht ob ich sie beglückwünschen oder bemitleiden sollte, beim Anblick des verschrumpelten, plärrigen möchte-gern-Mensch tendierte ich eher zu zweiterem. Natürlich tat ich weder das eine noch das andere. Jetzt sitze ich auf dem Bett und sehe dass aus dem Ding von damals doch noch ein Mensch geworden ist. Und vor allem denke ich krampfhaft nach wie es weitergehen soll! Wir können nicht zusammen leben. Ich kann mich nicht um sie kümmern. Ich habe nichts was ich ihr geben könnte, absolut nichts. Ich denke an alles Mögliche: Kinderheim, an der Autobahnraststätte aussetzen…Aber irgendwo in meinem Inneren ist immer noch ein Herz und die meisten Menschen glauben darin befindet sich die Seele was natürlich Blödsinn ist. Falls es so etwas wie eine Seele gibt steckt sie im Gehirn. Das Herz ist nur ein kümmerliches Organ, ersetzbar, persönlichkeitslos. Ohne kann ein Mensch sogar einige Stunden überleben, wenn entsprechende Maschinen da sind. Das Gehirn kann nicht ersetzt werden und ohne, naja, gibt es kein leben. Und plötzlich spuckt mein geliebtes Gehirn die unumgängliche Wahrheit aus: sie wird wohl oder übel hierbleiben müssen, zumindest vorerst. Und mein Unterbewusstsein, das ignorante kleine Arschloch, ruft mir kurz die Worte in Erinnerung :„Ich werde nie mehr alleine sein.“ Ich war immer allein, das stimmt, aber ich habe es nie verdammt oder mir anders gewünscht. Und jetzt, so plötzlich, geht meine geliebte Einsamkeit den Bach runter und ich kann mein Einsiedlerdasein an den Nagel hängen. Ich drehe mich um, schiele über den Bettrand und mache das kleine, runde, allzu weiße Gesicht aus auf den der Mond gnadenlos sein unwirkliches Licht wirft. Armes kleines Ding. Sie hat mit ihrem kindlichen Gehirn sicherlich noch nicht ansatzweise begriffen was mit ihrer Mammi passiert ist. Und irgendjemand wird es ihr erklären müssen. Und dieser Irgendjemand werde ich sein müssen. In diesem Moment tue ich selbst mir ausnahmsweise mal weniger Leid als jemand anderes. Und ich will sie nicht alleine lassen. Ich will sie niemals alleine lassen, diesen kleinen Chris-Klon. Ich stehe auf und ziehe ihr die Decke hoch bis ans Kinn, so vorsichtig und wachsam wie ein Perverser mit schmutzigen Gedanken der Angst hat, dass sein Opfer durch die kleinste Kleinigkeit aufwacht und schreiend weg rennt. Kann ich es wagen? Wird meine Steinschicht aus Gleichgültigkeit, Hoffnungslosigkeit und Resignation das überleben? Ich wage es und streiche ihr eine Haarsträhne von der Wange, denke "wir werden nie wieder alleine sein", spüre die Risse im Stein der sich um meine unheilige Seele gebildet hat und lasse ihn von mir abbröckeln. Und darunter? Was liegt da? Mein kaltes, nacktes Ich. Den Rest der Nacht verbringe ich auf dem Bett sitzend, wachend über das kleine schlafende Wesen, welches von nun an mein einziger und erster Mittelpunkt im Leben sein wird. Und es ist unerträglich, diese Liebe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)