Zum Inhalt der Seite

Vom Block ins Aus

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Das Finale

„Kommt schon!", versuchte ich meine Mitspieler zu motivieren. „Noch ist nicht alles verloren. Sie haben doch nur zwei Sätze Vorsprung. Das können wir immer noch rumreißen. Das ist das Finale der Volleyballschulmeisterschaften, verdammt noch mal! Wir müssen und da voll reinhängen!"

Ich blickte in die Runde und sah ausnahmslos entmutigte Gesichter. Eingeschüchtert von einem scheinbar übermächtigen Gegner.

„Das schaffen wir nie", murmelte Ichitaka, Abwehrspieler.

„Die sind einfach zu gut", jammerte auch Koji, rechter Block.

„Ich will das nicht hören!", fuhr ich die ganze Mannschaft an. „Wo bleibt euer Kampfgeist?

„Youichi", begann Takumi, Nesthäkchen des Teams in Quengelton.

„Leute, wir sind ein Team!", fuhr ich ihm dazwischen. „Ich bin zwar der Mannschaftskapitän, aber ich kann das Spiel nicht alleine gewinnen. Es stehen sechs Leute auf dem Platz und wenn jeder sich konzentriert und das Beste aus sich herausholt, können wir noch gewinnen!"

„Meinst du?", fragte Koji mutlos. „Das klappt doch nie. Die sind einfach zu gut für uns. Die gewinnen die Meisterschaft jedes Jahr."

Die anderen nickten beifällig.

„Nicht dieses Jahr", entgegnete ich mit aller Überzeugung, die ich aufbringen konnte. „Dieses Jahr sind wir dran. Wir haben in der ganzen Saison noch nicht ein Spiel verloren. Und das wird sich heute nicht ändern. Glaubt an euch, so wie ich an euch glaube! Dann packen wir das! Und selbst wenn nicht - dann werden wir ihnen wenigstens nicht kampflos das Feld überlassen und dem Publikum eine Show bieten, die sie nie vergessen werden. Also gehen wir da raus und zeigen denen, was wir wirklich draufhaben!"

Langsam hellten sich ihre Gesichter auf. Endlich war ich zu ihnen durchgedrungen. Hatte ihren Kampfeswillen wieder entfacht. Eigentlich waren diese Motivationsreden Aufgabe des Trainers. Doch der war selbst mit den Nerven am Ende. Wie die Spieler selbst. Unsere Schule war in den jährlichen Meisterschaften im Volleyball noch niemals zuvor so weit gekommen. Also hatten wir eigentlich schon gewonnen. Was gab es zu verlieren außer einem einzigen Spiel in einer langen Saison? Ich streckte meine Hand aus und ein Spieler nach dem anderen legte die seine obendrauf.

„EIN TEAM!", riefen alle im Chor und sie stürmten aus der Kabine.

Hoch motiviert. Heiß auf den Sieg. Ich blieb als letzter zurück. Hatte ich ihnen zu viel versprochen? Eigentlich hatte ich gar nichts versprochen. Aber würden sie nicht umso enttäuschter sein, wenn wir das Spiel nun doch verlören? Und danach sah es aus. Ich musste mir eingestehen., dass ich Koji insgeheim Recht gab. Unsere Gegner waren verteufelt gut! Ich spielte links außen. Und wenn ich es nicht schaffte, ihren bärenstarken rechten Sturm zu blocken ... Ich gestattete mir nicht, diesen Gedanken zuende zu führen. Kopfschüttelnd verließ auch ich die leere Kabine. Am liebsten wäre ich einfach nicht wieder hinaus aufs Feld gegangen. Doch das Team brauchte mich. Nun, da schon der Trainer versagte, mehr denn je.

Im nächsten Satz war es, als stünde eine völlig neue Mannschaft mit mir auf dem Feld. Das Team gab alles und der Gegner, völlig überrumpelt, hatte unserem neuen angriffslustigen Spiel kaum etwas entgegenzusetzen. Wir gewannen 25:12. Der nächste Satz fiel schon deutlich knapper aus: 25:22, aber dennoch für uns. Jetzt war wieder alles offen. Ich konnte es kaum glauben. Die Spieler waren wie ausgewechselt. Obwohl sie mit ihren Kräften verschwenderisch umgingen, spiegelte sich in ihren Augen eiserner Wille. Der Wille zu siegen. Nach dem vierten Satz waren so ziemlich alle kurz vor dem absoluten Ende ihrer Kräfte. Aber aufgeben wollte keiner. Alle wollten beim finalen Angriff dabei sein. Wir gaben alles, aber unsere Gegner, die das ihr Erstaunen nun endgültig abgeschüttelt hatten, schenkten uns nichts. 23:24. Die Punkte wechselten mit jedem Aufschlag hin und her. Keiner wollte jetzt klein beigeben. Wir waren im Rückstand. Matchball für die Gegner. Angabe. Unsere Annahme machte ihren Job gut. Takumi am Netz stellte Koji den Ball zu. Er schmetterte ihn über das Netz, doch die Annahme der Gegner funktionierte. Der Steller fixierte seinen linken Mitspieler. Das würde ein Block für Koji werden. Ich sprang nach hinten um die kurze Diagonale abzusichern. Doch im letzten Moment lupfte der Steller den Ball über die Kante, direkt hinter das Netz vor meine Füße. Wie in Zeitlupe sah ich den Ball fallen, hechtete nach vorne. Ich würde zu langsam sein. Ich streckte den rechten Arm aus. Er wurde länger und länger und der Ball fiel noch immer. Und das kleine Wunder geschah: Ich erreichte den Ball, er prallte von meiner ausgestreckten Hand ab, flog empor, weit nach oben. Weit genug, dass mein Feldspieler etwas daraus machen konnte. Ich rutschte weiter und - BAMM! Die Halle versank im Nebel. Die enorme Geräuschkulisse verebbte, als hätte jemand den Ton ausgedreht. Nichts. Alles weiß. Ein endloser Nebel. Etwas schlug mich hart ins Gesicht. Ich öffnete die Augen und blickte in die besorgten Gesichter meiner Mannschaftskameraden.

„Oh, Autsch", stöhnte ich und griff mir an den Kopf. „Was ist passiert?"

„Du bist mit dem Kopf gegen die Netzstange geknallt, kurz bevor wir den letzten Punkt gemacht haben", sagte Takumi. „Youichi, ist alles ok bei dir?"

„Den letzten Punkt ...", murmelte ich und versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen. „Dann ... ist das Spiel vorbei?"

„Nein, es steht 24:24", antwortete Ichitaka. „Wir haben eine Auszeit gefordert, um zu sehen, wie es dir geht."

24:24 - mein Schädel dröhnte und brannte, als habe jemand eine Feuersäule darin entzündet.

„Du solltest liegen bleiben, bis ein Arzt bei dir ist", gemahnte mich Koji besorgt, als ich mich langsam aufrappelte und schwankend auf die Füße kam.

„Ich bin ok, ich kann weiterspielen", widersprach ich, doch es klang nicht annähernd so überzeugend, wie ich gehofft hatte. Noch immer kämpfte ich mit dem Nebel in meinem Schädel.

„Mach keinen Scheiß, Mann", mischte sich Kaito ein. Der Feldspieler war immer ein sehr stiller Typ. Er war der Meinung, dass man nur sprechen sollte, wenn man etwas Wichtiges zu sagen hatte. War wohl eine Frage der Erziehung. Nun fand er es wohl wichtig, mich von meinem Vorhaben abzubringen, wieder aufs Feld zu gehen. Doch ich war wie alle anderen: Ich wollte dabei sein, wenn wir das Endspiel gewannen.

„Ich schaffe das", sagte ich. Endlich klang meine Stimme so selbstsicher, wie ich sie haben wollte. Und er Nebel lichtete sich.

Zweifelnd sahen die anderen mich an, doch sie wagten nicht, mir zu widersprechen. Ich ging wieder zurück an meine Position und nach und nach folgten die anderen meinem Beispiel. Der nächste Punkt war wieder für uns. Koji sei dank. Takumi hatte Skrupel mir den Ball zuzustellen. Ich bedachte ihn mit einem strafenden Blick. Zum Nichtstun oder als Deko hatte ich mich nicht aufs Feld gestellt. Angabe auf unserer Seite. Ichitaka spielte auf Sicherheit. Gut für ihn, er war nicht gerade dafür bekannt, gut mit Druck umgehen zu können. Der Angriff der Gegner war gut geziehlt, der Block von Koji ging ins Leere, doch Kaito war zur Stelle und rettete den Ball. Pass zu Takumi, der stellte mir den Ball in einem Traumpass. Ich lief an, sprang, spürte, wie mein Körper die so intensiv trainierten Bewegungsabläufe wie automatisch abrief. Ich holte aus und war bereit alles in diesen einen Schlag zu legen. Ob ich einen Punkt machte oder nicht - dies würde mein letzter Angriff in diesem Spiel sein. Dann schlug ich zu.

Kopfschmerzen

„Lach doch mal wieder", sagte Akira und stieß mir seinen Ellenbogen in die Seite. Ich bedachte ihn mit einem strafenden Blick und wandte mich wieder meinem Mittagessen zu, doch er ließ nicht locker. „Es würden viel mehr Mädchen auf dich abfahren, wenn du hin und wieder lächelst. Andererseits - guck ruhig weiter so mürrisch, dann bleiben mehr für mich."

Mit einem übertriebenen Gähnen und einem demonstrativen Blick aus dem Kantinenfenster machte ich ihm deutlich, wie wenig mir im Moment an Konversation lag. Aber was er sagte, gab mir schon zu denken. Lachte ich wirklich so wenig in letzter Zeit? So wenig, dass es jemandem wie Akira auffiel? Nachdenklich musterte ich meinen Tischnachbarn. Akira war eigentlich ein recht oberflächlicher Typ. Er scherte sich mehr um sich selbst und welchen Eindruck er bei den Mädchen machte, als um andere und deren Gefühle. Lustlos stocherte ich in meinem Essen, das dadurch mehr und mehr nach etwas auszusehen begann, das man nicht einmal einem Hund zu fressen geben mochte.

„Das ist echt eklig, was du da machst", kommentierte Akira, doch er klang eher amüsiert als angewidert.

„Hmm", machte ich und schob den Teller von mir weg. Mir war eindeutig der Appetit vergangen. Nicht dass er besonders groß gewesen wäre.

„Was machen wir am Wochenende?", fragte er. „Tomoko feiert Geburtstag. Gehen wir hin? Ich glaube, sie steht auf mich."

Wenn man Akira Glauben schenkte, standen nahezu alle weiblichen Menschen der Welt auf ihn. Und - warum nicht gleich in die Vollen greifen - auch die Hälfte der männlichen. Sein Ego war so über die Maßen gigantisch, dass es eigentlich nur noch eins war: lächerlich. Einfach lächerlich. Aber man sucht sich seine Freunde nicht aus. Jedenfalls ich nicht. Meistens suchten sie mich aus. Und es gab viele, die mich aussuchten. Als Kapitän der Volleyballmannschaft besaß ich ein gewisses Ansehen. Besonders nachdem ich unsere Schule bei der letzten Meisterschaft den Sieg beschert hatte. Natürlich nicht ich allein, Volleyball ist ein Teamsport und man kann nur gewinnen, wenn das Team funktioniert. Aber das wollte keiner sehen. Für meine Mitschüler war ich der gefeierte Held. Volley-Ass Youichi. Ich hatte nie ein Held sein wollen. Aber jetzt musste ich der Rolle irgendwie gerecht werden. Und dazu gehörte in meinen Augen auch, dass man zu allen Mitschülern höflich war. Man wollte schließlich keinen vor den Kopf stoßen. Und man hatte eine gewisse Vorbildfunktion gegenüber den Jüngeren. Himmel, kurz nach unserem Sieg wurde ich von einigen von ihnen nach Autogrammen gefragt. Als ob ich weiß Gott wer wäre.

„Erde an Youichi - kannst du mich hören?", drang Akiras Stimme an mein Ohr und ich schreckte aus meinen Gedanken. „Wochenende, Tomoko, Geburtstag?"

„Tut mir leid, Akira", antwortete ich matt. Die Kopfschmerzen, die mich nach meinem Zusammenstoß mit der Netzstange immer noch hin und wieder quälten, hatten wieder eingesetzt. Noch während ich sprach suchte ich in meiner Jackentasche nach Kopfschmerztabletten, fand die kleine Dose und schüttelte sie. Leer. Na toll! „Ich muss trainieren."

„Am Wochenende? Darfst du etwa schon wieder?"

„Ja, am Wochenende." Die zweite Frage überging ich. „Mein Vater hat irgendwie den Coach einer Uni-Mannschaft dazu bringen können, sich unser nächstes Spiel anzusehen. Und da muss ich eben in jeder freien Minute aufs Feld."

„Schade", sagte er, erhob sich und ging.

„Ja, schade", murmelte ich, erleichtert, endlich allein zu sein. Wieder schweifte mein Blick aus dem Fenster. Gedämpft drang vom Pausenhof Gelächter und Stimmengewirr herein. Mein Kopf dröhnte. Die Geräusche, die auf mich einströmten, wurden lauter und wieder leiser. Alles vor meinen Augen begann zu verschwimmen. Ich schüttelte den Kopf. Versuchte den Schleier zu verscheuchen, der meine Sicht vernebelte. Doch das machte es nur schlimmer. Alles verlor an Kontur, verlief ineinander. Formen, Farben, Geräusche - alles war in einem einzigen Fluss, der immer dunkler wurde. Und dann nichts als Schwärze. Ich spürte nicht einmal mehr, wie mein Körper zur Seite kippte und auf dem Boden aufschlug.
 

*
 

Mein Erwachen war ein schleichender Prozess. Es war, als wäre ich auf den Grund des Meeres getaucht und hätte mich nur ganz sacht abgestoßen. Unendlich langsam glitt ich wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins. Als ich die Augen öffnete, blinzelte ich gegen grelles Licht, bis sie sich daran gewöhnt hatten. Ich wusste sofort, dass ich mich im Krankenzimmer der Schule befand. Wie oft war ich nach Trainingsunfällen schon hier gelandet? Ich hatte längst aufgehört, mitzuzählen. Die Krankenschwester Frau Endogawa wuselte eilig herbei, als sie bemerkte, dass ich erwacht war. Sie war eine sehr eifrige Frau, schien alle Kinder der Schule zu lieben, als wären es ihre eigenen. Doch sie redete unglaublich viel. Ihre Stimme war enorm hoch und sie sprach in einer Geschwindigkeit, über die ich nur staunen konnte. Dass Ihre Zunge kein Schleudertrauma bekam, glich einem Wunder.

„Da bist du ja wieder", flötete sie, noch bevor sie die Liege erreichte. „Schön, dich mal wieder hier zu haben, Youichi."

Ich runzelte die Stirn über diese Begrüßung, während ich mich vorsichtig aufsetzte. Ich fand es nämlich ganz und gar nicht schön, einmal mehr im Krankenzimmer gelandet zu sein. Sie aber beachtete das gar nicht, sondern zwitscherte munter weiter.

„Also ich muss ja schon sagen, dein Einsatz beim letzten Spiel - ungeheuerlich! Aber zugleich so brillant! Habe ich dir eigentlich schon zu deinem Sieg gratuliert? Natürlich habe ich das, aber doppelt hält besser. Also herzlichen Glückwunsch zum Meisterschaftsgewinn und weißt du, ich bin ja so begeistert von deinem Talent. Und dann nicht abzuheben, sondern so ein höflicher Schüler zu bleiben. So ganz anders als die meisten anderen. Gerade letzte Pause zum Beispiel ..." Irgendwann hörte ich einfach auf ihrem Redeschwall Beachtung zu schenken. Bei den Worten zu deinem Sieg musste ich es mir verkneifen, die Augen zu verdrehen. Es war nicht mein Sieg. Wir hatten als Team gewonnen. Warum verstand das eigentlich keiner?

„... mitbringen?" Plötzlich hörte Frau Endogawa zu reden auf und die einsetzende Ruhe hatte den gleichen Effekt, wie ein Geräusch in einem ansonsten eher stillen Zimmer: Sie riss mich aus meinen Gedanken. Die Krankenschwester sah mich erwartungsvoll und unverwandt an. Sie musste eine Frage gestellt haben, die sie sich nicht sogleich selbst beantworten konnte. Und erwartete nun eine Antwort. Himmel, was hatte sie gefragt?

„Bitte entschuldigen Sie, Frau Endogawa", murmelte ich. „Was haben Sie gesagt?"

„Ich habe dich gefragt, ob du dem neuen Jungen sein Notizbuch zurückgeben kannst."

„Welchem neuen Jungen?", fragte ich verwirrt. Das Schuljahr war doch fast zuende. Warum sollte jetzt noch jemand Neues auf die Schule kommen?

„Das habe ich dir doch gerade erzählt", beschwerte sie sich. Doch sie war sich nicht zu schade, die ganze Geschichte noch einmal für mich zu wiederholen. Und diesmal hörte ich zu.

„Aaalso", begann sie gedehnt, „Heute in der dritten Stunde kam er an. Fuhr mit einem gewaltigen Schlitten vor. Sein Vater ist irgendein hohes Tier bei der Polizei oder in der Politik oder so etwas. Ich weiß es nicht genau. Er könnte auch Yakuza-Boss sein, jedenfalls jemand mit viel Geld. Egal. Der Junge meldete sich in der Verwaltung, hatte kaum das Büro verlassen und zettelte schon eine Prügelei an. Wenn es nach mir ginge, würde er sofort wieder von der Schule fliegen", wetterte sie. „So etwas macht man doch nicht. Gleich am ersten Tag! Jedenfalls sind die beiden, die sich geschlagen haben, mit ihren Blessuren natürlich bei mir gelandet. Und dann hat der neue Junge sein Notizbuch hier liegen gelassen. Komisch, er hatte es die ganze Zeit umklammert wie einen Schatz und dann ließ er es liegen. Ich habe nicht reingeschaut, was drinsteht. Das geht mich nun wirklich nichts an. Früher oder später würde er es wohl abholen kommen, aber ich habe nun wirklich nicht das Bedürfnis, diesen Jungen so schnell wieder zu sehen. Er hatte etwas Merkwürdiges an sich."

„Ich nehme das Buch mit", versprach ich. „Wie heißt der Junge denn und in welche Klasse geht er?"

„An seinen Namen kann ich mich nicht erinnern, aber er geht in deine Parallelklasse, die von Herrn Ito. Du wirst ihn schon erkennen. Er sieht ...", sie machte eine Pause. Normalerweise war die Krankenschwester nicht um Worte verlegen. Etwas hilflos schloss sie: „komisch aus."

So wie sie komisch sagte, klag es in meinen Ohren, als spräche sie über irgendein besonders ekelhaftes Insekt. Ich hatte Frau Endogawa noch nie so über einen Schüler sprechen hören. Sonst schloss sie alle Schüler sofort in ihr großes Herz, ganz egal, was sie auch angestellt haben mochten. Dieser Neue musste ja wirklich ein übler Typ sein.

Vatergefühle

„Dein Vater wird gleich kommen und dich abholen, Youichi", sagte Frau Endogawa.

„Mein Vater?", entfuhr es mir fast panisch - und ungefähr eine Oktave höher als gewöhnlich. Ich musste mich sammeln, bevor ich weitersprechen konnte: „Sie haben meinem Vater Bescheid gegeben?"

„Ja, natürlich", sagte sie überrascht über meine Reaktion. „Wenn ein Schüler in der Pause in Ohnmacht fällt, ist das doch nur angebracht, findest du nicht? Eigentlich hätte ich gleich einen Krankenwagen holen müssen. Aber Herr Masanori sagte, er wolle nicht, dass du ganz allein ins Krankenhaus musst. Also wollte er dich selbst fahren. Er möchte bei dir sein, wenn du richtig durchgecheckt wirst. Vielleicht hat das ganze ja noch etwas mit deinem Unfall zu tun. Keiner fällt einfach so in Ohnmacht. Das muss eine Ursache haben. Ich finde das sehr anständig von ihm, auf der Arbeit alles stehen und liegen zu lassen, damit er bei seinem Sohn sein kann."

„Ja", sagte ich gequält. Widerspruch zwecklos. Und natürlich hatte sie Recht. Hatte ein Schüler in der Schule einen Unfall, mussten die Eltern benachrichtigt werden. Aber mein Vater und ich hatten nicht eben das beste Verhältnis. Als Leiter der Entwicklungsabteilung einer großen Computerfirma in Tokio mit einem netten Haus in der Vorstadt und einer vorzeigbaren Familie war Sasuke Masanori in jeder Hinsicht ein respektabler Mann. Nach außen hin. Zu Hause war er viel eher ein Tyrann als ein Familienvater. Leistung war das einzige, das ihn interessierte. Er ließ mich in Frieden, so lange ich in der Schule und auf dem Volleyballfeld die erwünschten Leistungen erbrachte. Doch wehe, wenn die Mannschaft in einem Spiel durch meine Schuld einen Punkt verlor oder etwas Schlechteres als eine Zwei unter einer Klassenarbeit stand. Er setzte mich ziemlich unter Druck, denn anstatt mich gegen ihn aufzulehnen, versuchte ich stets, seinen Ansprüchen gerecht zu werden. Einmal hatte ich es versucht, als er nicht zulassen wollte, dass ich am Wochenende das Training ausfallen ließ, um auf eine Geburtstagsfeier zu gehen. Daraufhin griff er meine Mutter an, was für ein missratenes Balg die aus mir gemacht habe. Sie hatte noch mehr unter ihm zu leiden als ich. Behandelte sie wie eine Sklavin. Sie hatte ihm zu gehorchen und unterzuordnen. Er schlug sie nie. Doch die Kälte, mit der er ihr manchmal begegnete, war schlimmer als jede Art von körperlicher Gewalt. Der Grund dafür war schlicht der, dass sie nicht mehr funktionierte. Nach meiner Geburt, bei der so ziemlich jede mögliche Komplikation aufgetreten war, die man sich vorstellen konnte, wurde ihr mitgeteilt, dass sie keine weiteren Kinder würde bekommen können. Es sei denn, sie wolle bei der nächsten Geburt sterben. Ihr unerfüllbarer Wunsch nach weiteren eigenen Kindern, ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, Verständnis und Mitgefühl, hatte sie in Depressionen getrieben, die sie vor meinem Vater und mir geheim zu halten versuchte. Einmal hatte ich sie Antidepressiva schlucken sehen. Als ich sie zur Rede stellen wollte, behauptete sie, es seien nur Kopfschmerztabletten, aber in ganz normalen Kopfschmerztabletten ist nun mal kein Mirtazapin! Ich hatte mir heimlich die Packung geholt, die sie unter ihrer Matratze verbarg - welch ein schlechtes Versteck - und die Wirkstoffe nachgeschlagen. An jenem Tag, ich war gerade 15, hatte ich mir geschworen, meiner Mutter nie wieder Sorgen zu bereiten.

Nach meinem letzten Angriff im Meisterschaftsendspiel hatte ich abermals das Bewusstsein verloren und war erst in der Notaufnahme wieder zu mir gekommen. Meine Mutter hatte an meinem Bett gesessen und gelächelt. Ich erinnerte mich, dass Tränenspuren im Licht der Neonlampen auf ihren Wangen geglitzert hatten. Sie brachte kein Wort heraus. Lächelte nur.

„Mutter", stöhnte ich schwach. „Wo bin ich?"

„Youichi, du bist wach", hauchte sie. „Wie fühlst du dich?"

„Ich weiß nicht", gab ich zurück, was der Wahrheit entsprach. „Leer, glaube ich."

„Das kommt sicher von den Medikamenten. Du bist im Krankenhaus. Der Doktor wird sicher gleich kommen."

„Wo ist Vater?", fragte ich, als mir auffiel, dass er gar nicht da war.

Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Noch in der Sporthalle glaube ich. Redet mit wichtigen Leuten."

Der Vorhang hinter meiner Mutter wurde zur Seite geschoben. Ein Mann im weißen Kittel und notorisch sorgenvollem Gesicht trat an ihre Seite und maß mich mit einem langen Blick, der nichts Gutes verhieß.

„Mutter, du siehst ziemlich mitgenommen aus", sagte ich. „Warum gehst du nicht und holst dir einen Kaffee oder etwas zu essen? Könntest du mir ein Sandwich mitbringen?"

Sie zögerte. Wollte mich nicht allein lassen. Doch ich spürte, dass der Arzt etwas zu sagen hatte, das sie in noch tiefere Sorgen stürzen würde. Und das wollte ich ihr in jedem Fall ersparen.

„Bitte, Mutter. Ich bin wirklich hungrig", sagte ich so ruhig ich konnte. Und endlich ging sie.

„Das war sehr rücksichtsvoll von dir", kommentierte der Doktor. Seine Stimme war weich, sonor und irgendwie gütig. „Aber meinst du nicht, dass deine Mutter den Befund hören möchte?"

„Nein", gab ich bestimmt zurück. „Es reicht, wenn Sie mir sagen, was in meinem Kopf alles durcheinander gewirbelt wurde."

Ein leiser Zweifel flackerte in seinen Augen auf: „Du bist noch nicht volljährig ..."

„Aber trotzdem gilt die ärztliche Schweigepflicht", unterbrach ich ihn. „Die steht auch Minderjährigen zu. Verstehen Sie, ich will meine Mutter schonen. Sie hat schon genug eigene Sorgen."

Mein Gegenüber suchte nach Argumenten, doch schließlich seufzte er resignierend: „Also schön. Es besteht der Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma. Das bedeutet, dass wir dich mindestens 48 Stunden zur Beobachtung hier behalten müssen, damit ..."

„Das geht nicht", unterbrach ich ihn erneut.

„Damit du die Scharade vor deiner Mutter aufrecht erhalten kannst? Und dafür gefährdest du deine ganze Gesundheit? Wenn sich der Verdacht bestätigt und du hier jetzt einfach so herausspazierst, können die Spätfolgen gravierend sein!", warnte er mich. „Zwei Tage, Youichi. Das ist reine Routine. Danach können wir eine genauere Diagnose stellen. Welche Sorgen würdest du deiner Mutter erst bereiten, wenn du heute beim Abendessen einfach so die Besinnung verlierst?"

„Kann das passieren?"

„Ich möchte nicht den Teufel beschwören, aber passieren könnte es durchaus."

„Also gut, zwei Tage. Aber meine Mutter erfährt nichts von Ihrem Verdacht."

„Wie du willst", seufzte er und wandte sich zum gehen.

„Eines noch", sagte ich. „Wann kann ich wieder Volleyball spielen?"

Der Doktor warf einen Blick über die Schulter zurück. „Das hängt ganz von dem endgültigen Befund ab."

Es stellte sich heraus, dass es wohl doch nur eine Gehirnerschütterung war. Der Doktor verordnete mir Trainingspause und Schonung für mindestens einen Monat. Auch davon ließ ich meine Mutter nichts wissen. Nach zwei Tagen durfte ich das Krankenhaus verlassen. Nach zwei Tagen, an denen meine Mutter nahezu pausenlos bei mir gewesen war und ich meinen Vater nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte. Drei Tage später warf er mir meine gepackte Sporttasche vor die Füße und sagte nur ein einziges Wort: „Training!"

All das ging mir durch den Kopf, als ich bei Frau Endogawa im Krankenzimmer saß und auf meinen Vater wartete.

Begegnungen

„Youichi, du bist so still und ganz blass", bemerkte Frau Endogawa. „Ist dir übel, oder hast du Schmerzen?"

„Nein, es ist nichts, ich", das gespielte verlegene Lächeln musste überzeugend sein, ebenso wie der verschämte Blick zur Seite, „will nur nicht ins Krankenhaus."

„Das ist doch nur zu deinem Besten, mein Lieber", zwitscherte die Krankenschwester so fürsorglich, dass ich lächeln musste. Es klopfte an der Tür.

„Das wird dein Vater sein", mutmaßte sie und wuselte hinüber um zu öffnen. „Herr Masanori", drang ihre Stimme an mein Ohr, doch die Stimme, die antwortete, war nicht die meines Vaters.

„Ich bin nicht Masanori."

„Ach du bist es", sagte Frau Endogawa mit einem Unterton der Feindseligkeit, den ich bei ich noch nie gehört hatte.

„Ich hätte gern mein Buch zurück."

Das war keine Bitte, sondern ein Befehl. Wie automatisch blickte ich auf meine Hände, die immer noch das Notizbuch des neuen Schülers hielten. Ich hatte es mir gar nicht genauer angesehen. Der dunkelrote Einband war über und über bekritzelt, sodass man die einzelnen Motive oder Schriftzüge nur bei genauerem Hinsehen als solche erkennen konnte. So faszinierend wie der Buchumschlag war auch die Stimme des Fremden. Für einen Schüler ungewöhnlich tief und ausdrucksstark. Sehr weich, wie fließender schwarzer Samt, aber zugleich auch herablassend. Es schwang stets eine Spur von Arroganz in ihr mit. Wie mochte sie wohl klingen, wenn er mit einem Freund oder einem Mädchen sprach, dass er mochte? Ich konnte ihren Besitzer nicht sehen, da er immer noch vor dem Zimmer stand und vom Türblatt verdeckt wurde. Frau Endogawa zögerte, den Fremden hereinzubitten, doch er nahm ihr die Entscheidung ab, indem er sich einfach an ihr vorbeischob. Kurz schweifte sein Blick durch den Raum auf der Suche nach seinem Eigentum, bis er es in meinen Händen erspähte. Ich lächelte ihm entgegen.

„Hallo, ich bin ...", begann ich, bevor mich sein Blick verstummen ließ.

Der Ausdruck in seinen kalten, blauen Augen bohrte sich wie Speerspitzen in die meinen, als er sagte: „Ich weiß wer du bist. Und ich glaube das gehört mir."

Er sagte das ganz ruhig und ohne jede Gefühlsregung, aber dennoch - oder gerade deswegen - lief mir ein Schauer über den Rücken. Jetzt konnte ich Frau Endogawas Abneigung verstehen. Dieser Junge war wirklich seltsam. Und zwar nicht nur in seinem Benehmen. Auch sein Aussehen unterschied sich krass von dem eines jeden Schülers dieses Instituts. Das lag einerseits daran, dass er keine Schuluniform trug, doch andererseits, dessen war ich mir sicher, wäre er immer noch aus der Masse hervorgestochen, wenn er eine getragen hätte. Sein kunstvoll verstrubbeltes, rabenschwarzes Haar hatte er zu einem kleinen Zopf gebunden. Ein paar Strähnen hingen ihm vorwitzig ins Gesicht. Es ließ sich nicht leugnen, dass es ein schönes Gesicht war. Ebenmäßige, strenge Züge - fast schon aristokratisch. Es hätte hübsch sein können, wäre sein Mund nicht zu diesem mürrischen, herablassenden Ausdruck verzogen gewesen, mit dem er mich bedachte. Die Platzwunde an seiner rechten Augenbraue, die offensichtlich von der Prügelei herrührte ließ ihn verwegen erscheinen.

„Volleyball-Captain Youichi, was?", murmelte er verächtlich. „Hälst dich wohl für ganz toll, hm?"

„Was soll das?", gab ich scharf zurück. Heftiger als ich eigentlich gewollt hätte. „Ich habe dir gar nichts getan und du greifst mich an. Warum?"

„Weil ich Typen wie dich nicht leiden kann", erwiderte er ohne mit der Wimper zu zucken. Noch immer hielt er meinen Blick mit dem seinen gefangen. „Und jetzt gib mir - bitte - das zurück, was mir gehört. Höflich genug für dich?"

Wortlos streckte ich die Hand mit dem Buch in seine Richtung aus. Völlig perplex von seinem feindseligen Benehmen. Er nahm es und deutete die Karikatur einer Verbeugung an. „Vielen Dank, oh großer Youichi!"

Als er den Kopf wieder hob, war sein Gesicht zu einem gemeinen Grinsen verzerrt. Diese Auseinandersetzung schien ihm richtig Spaß zu machen. Immer noch grinsend wandte er sich zum gehen, hob die Hand zu einem verächtlichen Gruß.

„Wir sehen uns wieder", sagte er, bevor er stolzen Schrittes die Krankenstation verließ.

„Was war das den bitte?", fragte ich in den Raum hinein, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Frau Endogawa, die die ganze Zeit über - für sie eine ungewöhnlich lange Zeit - geschwiegen hatte, seufzte erleichtert. Ich verstand, warum sie diesem Jungen so schnell nicht hatte wieder begegnen wollen. Nun, da sie sich aus ihrer Starre gelöst hatte, fand sie bald zu ihrer gewohnten Redseligkeit zurück.

„Ein wirklich merkwürdiger Junge. Allein schon wie er herumläuft. Diese Haare und Kleidung. In löcherigen Jeans in die Schule zu kommen. Und diese abgenutzte Lederjacke mit Dornen auf der Schulter. Dass seine Eltern ihm das durchgehen lassen ..."

Und so ging es in einem fort weiter, bis es erneut an der Tür pochte. Herein trat Sasuke Masanori, mein Vater. Er besaß die besondere Eigenschaft, dass seine Präsenz sogleich jeden Raum erfüllte, den er betrat. E schob sie vor sich her wie eine unsichtbare Wolke. So wirkte er auf die meisten Menschen, denen er begegnete, charismatisch und beeindruckend. Ich dagegen - da ich ihn besser kannte - fand ihn eher beängstigend. Manipulativ. Aber es wunderte mich keineswegs, dass Frau Endogawa sich von seinem charmanten Lächeln und dem tadellos sitzenden Anzug imponieren ließ. Sie tauschten ein paar höfliche Floskeln aus, dann wandte mein Vater sich mit zu. Er lächelte. Ein Lächeln, das sich nicht auf seine Augen erstreckte. Und er sah mir nicht in die Augen. Es war, als sähe er mich gar nicht.

„Komm, mein Junge", sagte er. „Wir fahren."

Auch Frau Endogawa schenkte mir ein Lächeln. Ein ehrliches, aufmunterndes Lächeln. Ich versuchte es zu erwidern, spürte aber sogleich, dass es misslang. Widerstrebend ließ ich mich von der Liege gleiten. Als ich zu meinem Vater trat, legte er mir seine Hand auf den Rücken und geleitete mich hinaus, nachdem ich der Krankenschwester einen raschen Gruß zugemurmelt hatte.

Schweigend lief ich neben meinem Vater her. Ab und zu warf ich ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu, schaute aber immer schnell genug weg, dass er es nicht bemerken konnte. Auch er sagte kein Wort. Blickte stur geradeaus. Ich wollte nicht derjenige sein, der das Schweigen brach. Es war wie eine Mauer, die sich zwischen uns aufgebaut hatte. Als wir schließlich den Wagen erreichten, trafen sich unsere Blicke über dem Autodach zum ersten Mal wirklich. Das Gesicht meines Vaters erschien mir wie aus Stein gemeißelt. So regungslos. Nicht wie das eines Mannes, der seinen einzigen Sohn ins Krankenhaus bringen musste, weil dieser in der Schule aus heiterem Himmel zusammengebrochen war. Aber was hatte ich erwartet? Falsche Frage, dachte ich spöttisch. Richtige Frage: Warum hatte ich überhaupt etwas anderes erwartet? Warum hatte ich gehofft, einmal so etwas wie echte Sorge in seinem Blick zu lesen? Seufzend stieg ich ins Auto und los ging die Fahrt. Die Mauer zwischen uns schien undurchdringlich. Jedenfalls für mich. Doch ebenso wenig konnte ich es länger ertragen. Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz herum.

„Warum hast du Frau Endogawa davon abgehalten, einen Krankenwagen zu rufen?", platzte es schließlich einfach aus mir heraus. „Warum wolltest du mich unbedingt selbst abholen?"

Überraschungen

Mein Vater antwortete nicht. Er starrte hinaus auf die Straße, als fordere die leere Allee seine ganze Konzentration. Ich beobachtete seine unbewegte Miene. Wartete auf irgendeine sichtbare Reaktion. Ich wartete umsonst.

„Vater, sprich mit mir", verlangte ich. Unbehagen und Zorn stiegen in mir auf. Wie konnte er so ungerührt da sitzen? Wie konnte er mich einfach ignorieren? Ich machte einen letzten Versuch und sagte flehentlich: „Bitte."

Ein Muskel zuckte in seinem Gesicht, doch ich vermochte nicht zu deuten, welche Gefühlsregung sich dahinter verbarg. Die Hoffnung, dass er auf dieser Fahrt auch nur ein Wort mit mir sprechen und sein Verhalten erklären würde, schwand dahin. Betrübt wandte sich mein Blick dem Seitenfenster zu. Die Bäume, an denen wir vorüberfuhren, nahm ich nur am Rande wahr. Dann, ganz plötzlich, fiel mir etwas auf, das mich förmlich zusammenfahren ließ: Dies war nicht die Strecke zum Krankenhaus! Auch nicht der Weg nach Hause. Fassungslos starrte ich aus dem Fenster.

„Vater, wohin fahren wir?", fragte ich alarmiert. Ich konnte mir nicht helfen - das Verhalten meines Vaters begann mir Angst zu machen Ich fühlte mich ... ausgeliefert. „Wo bringst du mich hin?"

Noch eine ganze Weile wartete ich auf eine Antwort. Dann bequemte sich mein Vater, mich aufzuklären: „Zur Universität."

„Was?"

„Zur Universität", wiederholte mein Vater, als ob ich begriffsstutzig wäre. „Der Coach der Volleyballmannschaft hat mich heute Vormittag informiert, dass er dich gern spielen sehen will. Er möchte sehen, wie du dich in eine fremde Mannschaft integrieren kannst. Deine Sporttasche liegt im Kofferraum."

„Wie bitte? Vater, das kann nicht dein Ernst sein!" Ich schrie beinahe. „Ich bin in der Schule zu-sam-men-ge-bro-chen. Wie kannst du da wollen, dass ich ein Testspiel mache?"

„Youichi, was bist du?", fragte er ärgerlich. „Ein Mann oder ein Milchmädchen? Du wirst dieses Testspiel machen und du wirst dein bestes geben! Weißt du eigentlich, welche Ehre es wäre, an dieser Universität ein Stipendium zu bekommen? Wenn du da anfängst, ist dir an Platz in der Nationalmannschaft förmlich schon reserviert!"

Mir fehlten die Worte. War ihm denn meine Gesundheit völlig egal?

„Das kannst du doch einfach nicht ernst meinen", murmelte ich. „Das kann nicht dein Ernst sein."

„Es ist mein voller Ernst", erwiderte er. „Ich sage es dir noch einmal: Du wirst spielen, sonst ..."

„Sonst was", unterbrach ich ihn aufgebracht. Ich konnte mich einfach nicht länger beherrschen. „Bin ich dann nicht länger dein Sohn? Verstößt du mich aus der Familie? Behandelst du mich dann mit der gleichen Kälte, mit der du Mutter behandelst?" Zu meiner eigenen Schande spürte ich Tränen der Wut in mir aufsteigen und hoffte inständig, dass der Mann neben mir sie nicht bemerken würde.

„So sprichst du nicht mit deinem Vater!", schrie er mich an und ich erwartete fast, dass er ausholen und mir eine schallende Ohrfeige verpassen würde. Doch natürlich tat er das nicht. Er warf mir einen Blick zu, der mich wieder sechs Jahre alt werden ließ, einen Blick, dem ich nicht standhalten konnte. Blitze schienen aus seinen Augen zu sprühen. So durfte man nicht mit seinem Vater reden, wenn man wollte, dass er einem seine Liebe zeigte. Ich fühlte mich, als sei ich wieder der kleine Youichi, der sich nichts anderes wünschte, als seinem Vater ein guter Sohn zu sein. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann rannte ich auch heute noch seiner Zuneigung hinterher. Fast körperlich spürte ich, wie mein Widerstand brach und dem Gefühl von Resignation Platz machte. Natürlich würde ich aufs Feld gehen und alles aus mir herausholen, um das Stipendium zu bekommen. Natürlich wusste ich, wie entscheidend diese Uni für mein Leben sein könnte. Dort aufgenommen zu werden, gehörte zu meinen erklärten Zielen. Sie war mein großer Traum und jetzt, da mein Vater sich für mich eingesetzt hatte, war er zum Greifen nah. Ich musste lediglich ein sauberes Testspiel abliefern. Als guter Sohn sollte ich mich freuen und Dankbarkeit zeigen, dass mein Vater mir diese Chance ermöglichte. Doch ich konnte es nicht. Die Umstände waren einfach zu bizarr. Schlechte Vorraussetzungen für das, was vor mir lag.

Als mein Vater erkannte, dass mein Widerstand gebrochen war, fand er zu seiner üblichen Abgeklärtheit zurück. Im Plauderton begann er, Spielzüge und Taktiken aufzuzählen, die ich bei dem Coach unbedingt demonstrieren müsse, doch ich hörte ihm überhaupt nicht mehr zu, sondern versuchte mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Es war, als hätte ich in meinem Kopf einen Schalter umgelegt. Zorn, Wut, Enttäuschung - das alles blendete ich aus. Negative Gefühle hatten auf dem Volleyballfeld nichts zu suchen. Sie störten nur die Konzentration.

Als wir die Universität erreichten, schickte mein Vater mich ohne Umschweife in die Umkleidekabine. Er sagte, dass er den Coach über unsere Ankunft benachrichtigen würde. Ich solle mich nicht von den Studenten - oder schlimmer: Studentinnen - ablenken lassen. Allerdings war schon die Universität für sich eine Ablenkung. Das Gebäude war so gigantisch, dass mir fast die Kinnlade herunterfiel, als ich aus dem Wagen stieg. Mein Vater musste mir den Ellbogen in die Seite stoßen, damit ich mich aus meiner beeindruckten Starre löste und ihm meine Tasche abnahm.

„Reiß dich zusammen", befahl er. „Schließlich geht es hier um deine Zukunft. Spiele sauber und beweise deinen taktischen Einfallsreichtum auf dem Platz. Und denk an die lange Diagonale, die ist dein Trumpf. Das muss der Coach sehen!"

„Ich weiß", gab ich zurück, wobei es mir irgendwie gelang, den genervten Unterton aus meiner Stimme zu verdrängen.

Die Umkleide war leer als ich sie betrat. Die Uni-Spieler mussten schon in der Halle sein. Was den Sportsektor - insbesondere Volleyball - betraf, war diese Universität eine der besten in ganz Japan. Eine Halle wie diese hatte ich bisher nur im Fernsehen gesehen. Während ich mich umzog, spürte ich, wie sich ein Kribbeln in meinem Körper ausbreitete, wie vor einem wichtigen Match. Ich ließ mir mehr Zeit als gewöhnlich um mich mental auf darauf vorzubereiten. Noch einmal atmete ich tief durch, dann verließ ich die Umkleidekabine und ging in die Halle. Wie vermutet waren die anderen Spieler bereits dort und wärmten sich auf. Sie waren fast alle größer als ich, obwohl ich mit meinen 1,80 m nicht gerade klein war. Ziemlich einschüchternd. In der Mitte der Halle stand mein Vater bei einem Mann, den ich als den Coach erkannte. Kogoro Sato war eine Legende. Früher hatte er selbst in der Nationalmannschaft gespielt, aber nach einer schweren Knieverletzung hatte er schließlich aufhören müssen. Verträge und Angebote als Trainer großer Vereine hatte er abgelehnt um Lehrer zu werden und ein ruhiges Leben zu führen. Damals war er 28 Jahre alt gewesen und die Universität, an der er anfing, eine x-beliebige. Heute war er fast 60 und hatte die Uni weit nach vorn gebracht. Das ich nun mit diesem Mann zusammentraf, glich einem Traum!

Ich lief zu den beiden herüber, grüßte höflich und musste mich bemühen, den Coach nicht allzu offenkundig anzustarren.

„Youichi Masanori", begann Sato. „Ich habe dein letztes Spiel verfolgt. Nicht von schlechten Eltern - aber durchaus noch ausbaufähig. Mach dich mit den anderen warm und dann sehen wir, was du drauf hast."

Machtspiele

Ich nahm an der kompletten Trainingseinheit teil. Aufwärmen, Ballführung, Angriff und Annahme. Erst dann kam das eigentliche Spiel. Das, worauf es im Endeffekt ankam, wenn ich beweisen wollte, was in mir steckte. Der wesentliche Unterschied zu unserem Schultraining: Es war wesentlich härter. Aber noch hatte ich nicht das Gefühl, dass ich nicht würde mithalten können. Trotzdem bewahrheitete sich, was ich während der Technikphase schon befürchtet hatte. Die Studenten nahmen mich nicht ernst. Besonders jener, der auf meiner Lieblingsposition spielte, dem linken Angriff. Er konnte höchstens zwei Jahre älter sein als ich, doch er spielte sich auf, als sei er schon in der Nationalmannschaft. Zu meinem Elend wurde ich seinem Team zugeteilt. Vermutlich hatte Sato schon gesehen - und gehört - dass wir aneinandergeraten würden, sobald der Raum zwischen uns weniger als eine halbe Halle betraf. Wollte er sehen, ob ich meine persönlichen Antipathien im Spiel ausblenden konnte? Nun, ich konnte. Aber würde der Riese das genau so? Hatte er zuvor nur Sprüche geklopft, legte er jetzt richtig los. Er ließ die anderen mich umspielen, sodass ich mich - die Augen auf den Ball gerichtet - bald fühlte wie ein Kreisel, der sich wieder und wieder um die eigene Achse drehte. Und wenn mich doch wie durch Zufall ein Ball erreichte, tat dieser Typ alles um ihn mir wegzunehmen. Ich wollte mich nicht mit im anlegen. Nicht vor Sato. Bis er mich, als mir wieder ein Ball zugespielt wurde, so hart zur Seite rammte, dass ich taumelte und nur mühsam einen Sturz verhindern konnte. Der Ball, den er spielte, ging ins Aus.

„Was soll denn das?", fuhr ich ihn wütend an. „Ich stand viel günstiger zum Ball. Wegen sowas verlieren wir Punkte!"

„Ist doch nur Training", gab er grinsend zurück. „Unser Training. Was hat ein Wurm wie du da auf dem Feld überhaupt zu suchen?"

Ein gellender Pfiff erklang. Alles wandte sich zu Sato um, dessen sonst so ausgeglichene Miene sich verdunkelt hatte.

„Takiyama! Masanori! Herkommen!", rief er. Der Riese funkelte mich an.

„Super gemacht, Wurm", zischte er. Ich hielt seinem Blick eine Weile stand, dann - wie in gegenseitigem Einverständnis - wandten wir gleichzeitig den Blick ab. Unentschieden. Wir trabten zu Sato.

„Takiyama, wenn du so weiter machst, nehme ich dich vom Platz und im nächsten Spiel sitzt du auf der Bank! Dein Egoismus hat auf dem Feld nichts zu suchen. Masanori hat für dich ein Mannschaftskamerad zu sein, wie jeder andere auch!"

„Sie lassen mich nicht auf der Bank sitzen", sagte Takiyama kühn. Doch in seiner Stimme schwang eine Spur Unsicherheit mit, die nur bemerkte, wer ganz genau hinhörte.

„Willst du es wirklich darauf ankommen lassen?", fragte der Coach lauernd. Und da knickte Takiyama ein. Er senkte den Blick und murmelte: „Tut mir leid, Coach."

„Was hast du gesagt?", fragte dieser in einem Ton, der klarmachte, dass er sehr wohl verstanden hatte.

„Tut mir leid, Coach", wiederholte der Riese ein wenig lauter.

„Sag das nicht mir, sondern Masanori", forderte Sato.

Ich könnte hören, wie der Student mit den Zähnen knirschte. Auf seinem Gesicht mischten sich die Aggression gegen mich, der Respekt vor Sato und die Angst vor der angedrohten Konsequenz. Aber verstehen konnte ich seine Feindseligkeit gegen mich immer noch nicht.

„Das ist nicht", begann ich abwehrend. Die ganze Situation war mir äußerst peinlich.

„Doch, das ist nötig", unterbrach mich der Trainer. „Also?"

„Entschuldige bitte", murmelte Takiyama nun in meine Richtung.

„Schon ok", gab ich zurück.

„Reicht euch die Hände und dann Abmarsch zurück in die Mannschaft", befahl Sato.

Ich befürchtete schon, dass Takiyama versuchen würde, mir die Finger zu zerquetschen. Zu meiner Überraschung tat er es nicht. Sein Händedruck war fest, aber nicht unangenehm. Fast schon freundschaftlich. Ebenso wie mein eigener. Nebeneinander liefen wir zurück auf das Spielfeld und nahmen unsere Positionen ein. Nun stand für mich außer Frage, dass Takiyama unter den Spielern das Sagen hatte. Da er aufgehört hatte, mich auf dem Feld zu schikanieren, taten es auch die anderen und endlich konnte ich mein Potential wirklich entfalten. Das Spiel wurde ausgeglichener, schneller - richtig gut. Mit diesen Spielern zu trainieren war eine ganz andere Welt. Selten hatte ich jemanden getroffen - geschweige den mit ihm gespielt - der besser war als ich. Und hier war es eine ganze Handvoll. Trotzdem ging ich zwischen all diesen Talenten nicht unter und das machte mir Hoffnung. Takiyama war ohne Zweifel der beste von ihnen. Aber Mannschaftskapitän war er nicht. Sondern einer des gegnerischen Teams namens Koshiba. Mich wunderte das nicht. Jemanden mit Takiyamas Temperament und Egoismus hätte ich auch nicht zum Captain gemacht. Sato ließ mich auf allen möglichen Positionen spielen. Zum Schluss auch im linken Angriff, wobei Takiyama den Steller spielte. Seine Pässe waren perfekt. Als hätten wir schon immer zusammen trainiert stellte er mir genau die Bälle zu, die ich brauchte um sie in meine besten Angriffsschläge zu verwandeln. Es war eine Freude zu sehen, wie die gegnerische Annahme damit zu kämpfen hatte.

Schließlich pfiff Sato das Spiel ab und erklärte die Trainingseinheit für beendet. Erst jetzt merkte ich, wie der Schweiß mir in Strömen den Körper hinunterlief. Wie sehr das Training geschlaucht hatte. Die Hände auf die Oberschenkel gestützt versuchte ich, durchzuatmen.

„Hey, Masanori", Das war Takiyamas Stimme. Ich blickte auf und war überrascht zu sehen, dass er mir meine Flasche entgegenhielt. Dankbar nahm ich sie und trank in tiefen Zügen. Noch während ich trank, sagte er: „Dein Spiel - nicht übel für einen Wurm. Ganz und gar nicht übel."

Er lächelte, als er mir auch noch mein Handtuch reichte. Es war das erste wirkliche Lächeln, dass ich von ihm sah.

„Los komm mit", sagte er, wobei er mir winkte, ihm zu folgen. „Ab unter die Dusche."

„Masanori." Sato stoppte mich. „Komm doch bitte, wenn du fertig bist, ins Trainerbüro, damit wir über deine Leistung sprechen können."

Ich nickte und rannte zu den Umkleiden, wo ich mich meiner durchgeschwitzten Sachen entledigte.

Ich konnte die Studenten unter der Dusche lachen und schwatzen hören. Sie diskutierten das Training aus.

„War ja doch ein bisschen lahm heute, oder?"

„Ich habe den Eindruck, Sato wollte den Kleinen schonen", pflichtete ein anderer bei.

„Wer ist der eigentlich?"

Sie schienen nicht bemerkt zu haben, dass ich Raum betreten und ihre Kommentare gehört hatte. Ich spürte, wie ich bis zum Haaransatz rot anlief. So wollte ich den Studenten nicht unter die Augen treten.

„Jetzt macht aber mal ‘nen Punkt!", fuhr eine Stimme dazwischen, von der ich wusste, dass es Takiyama war. Er verteidigte mich? Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. „Am Anfang dachte ich ja auch, er sei ein unfähiges Würmchen. Wie sie sonst hier reinkommen. Ihr wisst schon: Reicher Daddy, ein bisschen Ballführungstechnik ... Aber dieser Youichi Masanori hat wirklich Talent. Wenn er mit öfter mit uns trainieren würde, könnte er locker mithalten."

„Du bist komisch", sagte ein anderer Student, der bis dato geschwiegen hatte. „Erst machst du den Kleinen fertig und jetzt springst du für ihn in die Bresche?"

„Du weißt, wie ich bin, Koshiba", gab Takiyama zurück. „Ich brauche bei neuen immer eine Weile. Aber du kannst nicht abstreiten, dass ich ein Talent anerkenne, wenn ich es sehe."

„Ja, nach einer Weile", stimmte Koshiba zu.

Ich hoffte, dass mein Gesicht inzwischen wieder seine normale Farbe angenommen hatte, denn ich wollte nicht länger in der Umkleide stehen und lauschen. Ich atmete tief durch, lächelte freundlich, als ich mich unter eine freie Dusche stellte und tat, als hätte ich kein Wort mitbekommen. Sofort begann einer von ihnen mit einem völlig anderen Thema: „Weiß jemand von euch, wann die Juravorlesung anfängt?"

„Oh, Junge", stöhnten einige Mannschaftskameraden. Koshiba lachte gutmütig: „Du wirst deinen Stundenplan wohl nie lernen, was?"

„Nie", bestätigte der Vergessliche und lächelte verlegen.

Obwohl ich der letzte unter der Dusche war, war ich doch am schnellsten fertig. Mein Haar rubbelte ich nur notdürftig ab und als ich aus der Umkleidekabine stürmte hing mir noch ein Hemdzipfel aus der Hose. So sehr brannte ich auf die Meinung von Kogoro Sato. Doch als ich vor dem Trainerbüro stand, die Hand zum Anklopfen schon erhoben, hielt ich inne. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich konnte hören, wie Vater drinnen auf Herrn Sato einredete. Doch ich konnte kein Wort verstehen. Ruhig atmen, Youichi, sagte ich mir immer wieder vor. Du warst gut, nachdem Takiyama dich gelassen hat, oder etwa nicht? Zögerlich klopfte ich endlich an. Auf Satos „Herein", das wie vom Band abgespult klang, betrat ich das Büro.

Glückskotzen

„Setz dich, Masanori", sagte Sato schlicht, wobei er auf den zweiten Stuhl vor seinem Schreibtisch deutete. Eine Begrüßung schien er für überflüssig zu halten.

„Deine Leistung heute war nicht schlecht. Es gibt nicht allzu viele, die auf Anhieb so mit meinen Jungs mithalten können, wie du es getan hast."

Ich musste alle Selbstbeherrschung aufbringen, die ich hatte um nicht zu strahlen wie ein ganzes Atomkraftwerk.

„Du bemühst dich, mannschaftsdienlich zu spielen. Das ist eine deiner großen Stärken. Aber das allein reicht nicht. Du musst dich auch in deiner Mannschaft behaupten können. Kannst du das?" Das war eine rein rhetorische Frage. „Ich habe daran so meine Zweifel. Die Szene mit Takiyama gibt mir zu denken." Ich versuchte, mir meine Anspannung nicht anmerken zu lassen, als ich spürte, wie das Lächeln auf meinen Lippen gefror. Wie sollte ich mich verhalten? Nahm ich Satos Kritik zu gleichmütig hin, würde er denken, mir fehle der Respekt vor Autoritätspersonen. Verteidigte ich mein Verhalten zu vehement, hieße es, ich sei nicht kritikfähig. Ich versuchte seinem Blick so offen wie möglich zu begegnen. War es mir je so schwergefallen, einen Menschen direkt anzusehen? „Nichtsdestotrotz hast du Talent. Ich bin mir sicher, das aus dir noch mehr rauszuholen ist, als du heute gezeigt hast. Aber du musst hart an dir arbeiten. Meine Ansprüche sind höher als die deiner Schule oder anderer Universitäten. Vielleicht sogar höher als die Ansprüche, die du an dich selbst stellst. Wenn du glaubst, du bist dem nicht gewachsen, dann lasse es lieber gleich sein. Bist du das?" War das jetzt wieder eine rhetorische Frage? Ich war mir nicht sicher, antwortete darum erst einmal nicht. Diesmal war es die falsche Entscheidung.

„Bist du meinen Ansprüchen gewachsen Masanori?", fragte Sato noch einmal mit schärferem Unterton.

Sein Monolog hatte mich beeindruckt. Er sprach eher wie ein Feldherr, nicht wie ein Universitätscoach. Ich schluckte schwer, bevor ich antwortete: „Das bin ich, Herr Sato."

Die Worte kamen nicht annähernd so sicher aus meinem Mund, wie ich es beabsichtigt hatte.

„Wie bitte", hakte er nach. Die Situation erinnerte mich an Takiyama, den er seine Entschuldigung lauter hatte wiederholen lassen.

„Das bin ich, Herr Sato", wiederholte auch ich und diesmal klang meine Stimmer wieder selbstsicher - eher nach mir.

Noch einen Moment lang nagelte er mich mit seinem Blick fest. Musterte mich, als wolle er in meinen Kopf hineinsehen. Ich bemühte mich, dem standzuhalten. Keine Unsicherheit zu zeigen. Der Augenblick kann nicht länger als dreißig Sekunden gedauert haben, doch mir kam er viel länger vor. Dann Endlich sagte Sato die so herbeigesehnten Worte: „Dann werde ich dich dem Dekanat als Stipendiaten vorschlagen. Aber ich muss dir sagen, dass das noch keine feste Zusage ist. Es gibt einige vielversprechende Anwärter, über die beraten werden muss."

Das wusste ich. Ich kannte das Procedere. Und sicher würden sich an einer Universität wie dieser viele Schüler umein Stipendium bewerben. Warum sollten meine Chancen, ausgewählt zu werden, höher sein, als die eines anderen? Und mir war klar, dass ich es mir ohne ein Stipendium nicht würde leisten können, auf dieses Institut zu gehen. Trotzdem brachte dies nicht sie Seifenblase der Hoffnung zum Platzen, die in mir herangewachsen war. Der erste Schritt war getan. Jetzt konnte ich nur noch abwarten.

„Bis die Entscheidung gefallen ist", fuhr Sato fort, „bist du herzlich eingeladen, hier zu trainieren, wenn die Zeiten mit deinem Stundenplan vereinbar sind. Ich wünsche ausdrücklich, dass du deinen regulären Unterricht weiterhin besuchst. Denn an dieser Universität wird nicht nur auf deine sportlichen Leistungen Wert gelegt, sondern auch auf die geistigen. Wir sind hier ja nicht in Amerika." Er reichte mir einen Zettel mit den Trainingszeiten. Ich glühte förmlich vor Begeisterung, als ich das Papier entgegennahm. Diese Einladung zum Training war so ziemlich das größte Lob, das ich hätte bekommen können und beileibe nicht selbstverständlich! Ich blickte in meines Vaters Richtung und registrierte sein wohlwollendes Nicken. Er war zufrieden mit mir, sich und der Welt. Noch ein paar höfliche Floskeln wurden ausgetauscht und dann waren wir auch schon wieder auf dem Heimweg. Diesmal war ich derjenige, der ununterbrochen redete:

„Hast du gesehen, wie ..."

„Und dann, als Takiyama ..."

„Und dann dieser Traumpass zu ..."

„Hast du gehört, wie Sato sagte, dass ..."

Die ganze Zeit über hielt ich den Zettel mit den Trainingszeiten in den Händen, als wäre er mein größter Schatz. Der absurde Gedanke, ihn einzurahmen, drehte seine Runden in meinem Kopf wie ein Rennwagen. Mir wurde schwindelig vor Glück, sodass ich schluckte und zu Reden aufhörte. Und plötzlich schlug alles um.

„Vater, halt an", verlangte ich. Meine Stimme zitterte. Ebenso wie meine Hände, die sich derartig zusammengekrampft hatten, dass mein Papierschatz knitterte und an mehreren Stellen einriss.

Er warf mir einen raschen Seitenblick zu. Ich konnte nicht auf seinen Gesichtsausdruck achten. Zu sehr war ich mir selbst beschäftigt, mit meinem Körper, der nicht mehr so funktionierte, wie er sollte.

„Reiß dich zusammen, Junge", erwiderte mein Vater. Genervt, geisterte es dumpf durch den Schwindel. Eindeutig genervt. „Wir sind in zehn Minuten zu Hause. So lange wirst du es doch noch aushalten."

Doch ich wusste, ich würde es kaum mehr zehn Sekunden aushalten.

„Bitte", presste ich zwischen den Zähnen hervor, aber mein Vater reagierte überhaupt nicht. Sein Problem. Hatte ich mich gerade in der campuseigenen Sporthalle so gut geschlagen, verlor ich hier den Kampf gegen meinen rebellierenden Körper. Ich erbrach meinen gesamten - überwiegend flüssigen - Mageninhalt über meinen Schoß. Im teuren Auto meines Vaters. Über den Zettel mit den Trainingzeiten. Meinen Schatz. Mein Vater bequemte sich nun doch, den Wagen auf den Seitenstreifen zu lenken. Während ich ausgestiegen war und meine vollgekotzten Kleider auszog, wischte er fluchend mit Taschentüchern notdürftig auf dem Sitz herum. Obwohl es ein warmer Tag war, fror ich in meinen Boxershorts. Ich schlang die Arme um meinen zitternden Oberkörper, was überhaupt nichts nützte, und schämte mich in Grund und Boden. Hätte mein Gesicht nicht die ungesunde Farbe von Saurer Milch angenommen, ich bin sicher, ich wäre scharlachrot angelaufen.

„Schau sich einer diese Sauerei an", wetterte mein Vater. „Wenn wir zu Hause sind, kannst du zusehen, wie du das wieder sauber bekommst!"

Ich erwiderte nichts. Ich wollte mich entschuldigen, aber ich brachte die Zähne einfach nicht auseinander. Nicht einmal ein Dankeschön brachte ich heraus, als Sasuke Masanori mir in einer pseudoväterlichen Geste meine Trainingsjacke um die Schultern legte.

„Du darfst nichts davon Mutter erzählen", sagte ich kleinlaut, als ich endlich meine Sprache wiederfand. Schon längst saßen wieder im Auto - ich diesmal auf dem Rücksitz - und waren gerade in unsere Straße eingebogen.

„Und warum sollte ich dir diesen Gefallen tun?", gab er ungnädig zurück. „Im Übrigen: Kannst du mir verraten, wie wir das vor ihr verheimlichen sollten?"

Fieberhaft dachte ich nach. Irgendwo in meinem Kopf, der sich auf einmal so furchtbar leer anfühlte, musste sich doch eine Geschichte finden, die genau auf eine Situation wie diese passte. Doch mir fiel nichts ein.

„Sag einfach nichts, okay? Bitte. Sie soll sich keine Sorgen machen."

Mein Vater runzelte die Stirn, als dächte er ernsthaft darüber nach. Dann machte er ein geringschätziges Geräusch und winkte ab. Irgendetwas murmelnd, dass sich wie „verweichlichtes Getue" anhörte, ging er zum Haus.

Notlügen

Ich konnte mir nicht sicher sein, ob mein Vater wirklich dichthalten würde. Beim Abendessen warf er mir ständig vielsagende Blicke zu, während ich versuchte, mich so wie immer zu geben. Ich hatte nicht den geringsten Appetit. Reis und Gemüse wälzten sich in meinem Mund herum und wurden zu etwas, das ich nicht in meinem Magen haben wollte. Ein paar Bissen. Mehr konnte ich beim besten Willen nicht hinunterwürgen. Vater erzählte Mutter von meinem Erfolg beim Probetraining. Sie war ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung.

„Aber Youichi, das ist ja wunderbar", rief sie aus, wobei sie mir sanft eine Hand auf den Arm legte.

Ich versuchte zu lächeln, spürte aber zugleich, dass es misslingen musste. Eine seltsame Grimasse. Eine Karikatur.

„Freu dich nicht zu früh, Mutter", sagte ich ernst. „Ich werde nur als Stipendiat vorgeschlagen. Das heißt nicht, dass ich es tatsächlich bekomme."

„Das ist richtig, Sohn, aber vom Leiter der Volleyballmannschaft vorgeschlagen zu werden, ist schon eine Hausnummer. Du weißt wie groß der Sport an diesem Institut geschrieben wird."

Ich verdrehte die Augen. Natürlich wusste ich das. Auch meine Mutter wusste das. Aber ich wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen.

„Sei doch nicht so bescheiden, Youichi", sagte sie liebevoll. „Ich bin sicher, du warst großartig heute bei dem Probetraining. Zu schade, dass ich nicht dabei war."

„Ja", gab ich zurück und zwang noch einmal - erfolgreicher - ein Lächeln auf meine Züge, während ich dachte: Zum Glück! Zum Glück weißt du nichts von meinem ganzen verdammten Tag! „Darf ich aufstehen? Ich habe noch zu lernen."

„Aber du hast doch kaum was gegessen", erwiderte meine Mutter besorgt.

„Ich nehme mir noch einen Apfel mit, in Ordnung? Bitte, ich habe wirklich noch einiges zu tun."

„Na gut, lass den Apfel ruhig da", sagte sie mit einem nachsichtigen Lächeln. „Ich mache dir gleich etwas Obst zurecht und bringe es dir dann auf dein Zimmer."

„Danke, Mutter, aber du brauchst dir wirklich keine ..."

„Das macht mir doch keine Mühe", sagte sie lachend. „Jetzt hau schon ab"

Meine liebevolle, kleine Mutter. Sie reichte mir kaum bis zur Schulter. Kurz trafen sich unsere Blicke, als ich mich erhob um die Küche zu verlassen. Ihr Lächeln flackerte. Wie viel hatte sie mitbekommen? Als mein Vater und ich heimgekommen waren, war es mir gelungen, das Badezimmer zu erreichen, ohne dass sie mich in meiner seltsamen Aufmachung zu Gesicht bekommen konnte. Meine Klamotten wanderten schnurstracks in die Waschmaschine, ich putzte mir die Zähne, wusch mich provisorisch und zog mir frische Sachen an. Dass ich andere Sachen trug, als noch heute Morgen, schien sie nicht bemerkt zu haben. Dennoch bezweifelte ich nun, da ich allein in meinem Zimmer hockte, dass alles, was heute geschehen war, von ihr unbemerkt geblieben sein konnte. Meine Schulbücher lagen aufgeschlagen vor mir auf dem Schreibtisch und mein Blick war darauf gerichtet, doch im Grunde sah ich die mathematischen Formeln gar nicht, die dort mit der Schemazeichnung einer Zwiebelepidermiszelle um meine Aufmerksamkeit rangen.

„Ach, verdammt!", entfuhr es mir zornig. Lauter als beabsichtigt. Laut genug, dass ich vor meiner eigenen Wut erschrak. Verwirrt hob ich die Bücher auf, die ich mit der Rechten fahrig vom Tisch gefegt hatte. Irgendetwas stimmte heute ganz und gar nicht mit mir. Leise klopfte es an der Tür.

„Ist alles in Ordnung, Youichi?", fragte meine Mutter. „Kann ich reinkommen?"

„Klar, komm rein", gab ich zurück, während ich die Bücher auf den richtigen Seiten wieder aufschlug.

„Geht es dir gut?", fragte sie, nachdem sie eingetreten war und einen Teller mit geschälten Äpfeln und Bananen auf einem Bücherstapel abgestellt hatte.. „Du siehst ganz blass aus."

„Das liegt am Licht der Schreibtischlampe", behauptete ich nicht ganz überzeugend. „Ich bin OK, Mutter, wirklich. Nur ein wenig im Stress."

„Du solltest nicht immer bis tief in die Nacht über deinen Büchern brüten, Youichi", sagte sie sanft und strich mir mit der Hand über das Haar. „Du schuftest dich ja völlig kaputt. Das Training, das Lernen - warum gönnst du dir nicht einmal eine Pause von allem oder gehst es wenigstens ein bisschen lockerer an?"

„Die meisten Eltern würden ihre Kinder zu mehr Fleiß antreiben", gab ich sanft lächelnd zurück. „Ich möchte einfach, dass du Stolz auf mich sein kannst."

„Aber das bin ich doch. Ich bin stolz auf dich. Und ich liebe dich. Du musst nicht immer überall der Beste sein. Ich liebe dich nicht deiner Leistung wegen."

„Das weiß ich, Mutter", sagte ich sanft und schaffte es gerade so, die Tränen niederzuringen, die in mir aufzusteigen drohten. Sie hatte einen ihrer guten Tage. Einen ohne Mirtazapin. Ich umarmte sie und barg mein Geicht an ihrer Brust, damit sie das feuchte Glitzern in meinen Augen nicht sehen konnte. Lebhaft konnte ich mir vorstellen, was mein Vater zu diesem Verhalten sagen würde: Verweichlicht. Aber es tat mit gut. Und Mutter auch. Ein Moment der Zweisamkeit. Einer jener Momente, die in letzter Zeit viel zu selten geworden waren.

„Danke", murmelte ich in ihre Bluse.

„Gern geschehen", gab sie flüsternd zurück. Wir beide hatten das gebraucht.

„Jetzt muss ich aber wirklich etwas tun", sagte ich, und ließ sie los.

„Schmeißt du mich etwa raus?", fragte sie entrüstet.

„Nein, nein, ich würde dich nie ...", hob ich an, doch sie lachte schallend und ich spürte, wie sich eine leichte Schamesröte auf meine Wangen stahl. Ihre Entrüstung war nur gespielt gewesen. Ihr helles Lachen erfüllte den Raum und ließ sie wie ein junges Mädchen klingen. Wann hatte ich sie zuletzt so lachen gehört? So befreit?

„Eines Tages wirst du mich aus deinem Zimmer schicken, Youichi", sagte sie abwesend lächelnd.

„Niemals", gab ich bestimmt zurück.

„Doch, mein Lieber", sagte sie und grinste schelmisch. „Wenn du eine Freundin hast. Ein Mädchen, das dir gefällt. Dann wird es dir peinlich sein, wenn deine alte Mutter einfach so in dein Zimmer kommt. Du wirst mit ihr allein sein wollen. Sag mal, Youichi, gibt es denn an deiner Schule kein Mädchen, das dir gefällt?"

„Wie kommst du denn jetzt darauf?", fragte ich verwirrt.

„Ach", sagte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe beim Einkaufen die Mutter von Akira getroffen. Sie erzählte, das Akira ständig andere Mädchen mit nach Hause bringt. Und dass sie sich allmählich Sorgen macht, er sei einer dieser Jungs, die ... du weist schon."

Einer dieser Jungs, die alles flachlegen, das nicht bei drei auf den Bäumen ist und Vater werden, bevor sie volljährig sind. So etwas in der Art muss sie gemeint haben. Aber sie war viel zu anständig, um es je laut auszusprechen.

„Und dann ist mir aufgefallen, dass du noch gar keine Mädchen nach Hause eingeladen hast. Gibt es denn keine, die du gern magst?"

„Hmmm ...", machte ich. Ein völlig neutrales Hmmm. Kein ja und auch kein nein. „Ich möchte ein Mädchen, das mich mag. Mich als Person und nicht nur den Volleyball-Kapitän. Ich möchte nicht das Statussymbol eines Mädchens sein. Woher weiß ich, dass sie wirklich mich will?"

Sie seufzte. „Das kann ich dir auch nicht sagen. Aber vielleicht solltest du es einfach auf einen Versuch ankommen lassen und mit ihr darüber sprechen. Wie heißt sie denn?"

Ich schluckte. Tatsache war: Es gab derzeit kein Mädchen, mit dem ich ausgehen wollte oder gar zusammensein. Ich war nicht wie Akira, der nichts anbrennen ließ. Außerdem schaffte ich es gerade so, Volleyballtraining und Lernpensum unter einen Hut zu bekommen. Aber ich wollte meine Mutter auch nicht enttäuschen. Dass ich heimlich ein Mädchen verehrte, war ein Gedanke, der ihr zu gefallen schien. Ein Geheimnis, das nur wir beide teilten. Eine Sache, bei der sie mich unterstützen konnte.

„Es brauch dir nicht peinlich zu sein", sagte sie aufmunternd, während ich noch mit mir rang. Ich wollte sie wirklich nicht belügen. Doch sie sah so begeistert aus. Sie hatte dieses Glitzern in den Augen, dass ich schon lange an ihr vermisst hatte. Sie wollte so gern meine leidenschaftliche Kumpanin sein in Sachen Liebe. Sie wollte mir mit Rat und Tat zur Seite stehen, damit ich mein Glück finden konnte. Wie könnte ich ihr das verwehren?

„Tomoko", nannte ich schließlich den Namen des erstbesten Mädchens, das mir einfiel. Garniert mit einem tiefen resignierenden Seufzen. „Ihr Name ist Tomoko."

Schlagfertigkeit

Meine Mutter runzelte die Stirn: „Ist das die Tomoko, mit der du in der Grundschule in einer Klasse warst?", fragte sie.

„Ja, genau", antwortete ich und setzte noch einen drauf. „Ich mochte sie damals schon gern."

„Ich dachte, sie sei mit ihrer Familie nach Kyoto umgezogen."

„Ja, war sie auch, aber vor zwei Jahren ist doch ihre Mutter gestorben. Und weil ihr Vater wegen der Arbeit kaum Zeit für sie hat, lebt sie jetzt hier bei ihrer unverschämt reichen Tante in diesem unverschämt großen Haus am Stadtrand."

Wie konnte sie das vergessen haben? Wir hatten damals so oft davon gesprochen. Doch jetzt es ihr völlig neu zu sein. Ich versuchte, sie meine Überraschung nicht sehen zu lassen.

„Die Arme", sagte sie. Dann: „Sie hat doch demnächst Geburtstag, oder nicht? Hat sie dich eingeladen?"

„Woher weißt du, dass sie am Wochenende Geburtstag hat?"

„Mir war so ... also, hat sie dich eingeladen, oder nicht?"

„Sie hat so ungefähr den ganzen Jahrgang eingeladen", gab ich zu. Oh Mann, warum hatte ich das gesagt? Rasch fügte ich hinzu: „Aber ich werde nicht hingehen. Ich muss trainieren. Wenn ich mit den Studenten mithalten will, habe ich eine ganze Menge aufzuarbeiten."

„Was?", fragte sie ungläubig. „Du willst einen Ball und ein Netz gegen dein Herzensglück eintauschen? Das geht nicht, Youichi."

„Mutter, bitte", versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Meine Zukunft ist auch wichtig. Diese Uni ..."

„Es ist wegen deinem Vater, richtig? Weil er will, dass du trainiertst", unterbrach sie mich.

Volltreffer!

„Nein, ich dachte wirklich nur ..." daran, das Vater nur wieder dich fertig machen wird, wenn ich ihm sage, dass ich am Wochenende zu dieser Party gehen will. „... daran, dass diese Uni eine Chance ist, die sich nur einmal im Leben bietet. Training ist wichtig."

„Aber nicht wichtiger als dein Herzensglück. Keine Widerrede", sagte sie nachdrücklich, als ich schon Luft geholt hatte, um zu widersprechen. „Ich werde mit deinem Vater reden. Vielleicht ist das die beste Chance, die du je bekommen wirst. Ich werde nicht zulassen, dass du sie nicht nutzt. Alles klar?"

„Klar", sagte ich lahm.

Sie zwinkerte mir schalkhaft zu, drückte mir die Schulter und verließ mein Zimmer. Die Tür fiel sanft ins Schloss. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Noch einmal ging ich die Szene im Kopf durch. Was hätte anders laufen müssen, damit es nicht so enden würde, wie es eben geendet hatte? Warum hatte ich ausgerechnet Tomokos Namen gesagt? Warum hatte ich zugegeben, dass ich eingeladen war? Und warum - zum Teufel - wusste meine Mutter zwar nicht mehr, dass Tomoko wieder hier lebte, dafür aber, wann sie Geburtstag hatte? Verdammt, verdammt, verdammt! Meine Konzentration war für diesen Abend jedenfalls hinüber. Also ließ ich Matheformeln und Zwiebelzellen links liegen und ging ins Bad, um noch rasch zu duschen, und mich bettfertig zu machen.

Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Verwirrende Träume suchten mich heim. Nicht wirklich Alpträume, aber dennoch verstörend. Da war Takiyama, mit einer seltsamen Frisur und noch seltsameren Klamotten, der mich im Krankenzimmer meiner Schule aufsuchte und ein roten Volleyball von mir zurückforderte, der über und über mit schwarzen Zeichnungen und Symbolen bekritzelt war. Der Ball wurde heiß in meinen Händen, aber ich konnte ihn einfach nicht loslassen. Er wurde von meinen Handflächen angezogen wie ein Magnet. Ich schrie und Takiyama lachte und lachte, dass er die Augen schließen musste. Und dann plötzlich merkte ich, das ich wach war und selbst derjenige, den es vor Lachen schüttelte. Abrupt hörte ich auf, erschrocken vor mir selbst. Ich hielt die Luft an. Angestrengt lauschte ich in die Stille hinein, hoffend, dass ich meine Eltern nicht geweckt hatte. Ich hörte nichts außer meinem eigenen schlagenden Herzen. Als meine Lungen begannen, nach Luft zu schreien, stieß ich keuchend die verbrauchte Luft aus und atmete tief ein. Noch für eine Weile ging mein Atem stoßweise. Bis sich mein Herzschlag wieder beruhigt hatte. Die Erinnerung an meinen Traum verblasste bereits. Doch ich wollte ihn nicht vergessen. Er war so abstrus gewesen. Und nicht zum ersten Mal nach einem verwirrenden Traum fragte ich mich, ob ich ihn einfach als Ausgeburt meiner Fantasie abtun, oder ihm Bedeutung beimessen sollte. Auf wackeligen Beinen tappte ich zum Schreibtisch, nahm mir Zettel und Stift und schrieb auf, was mir noch in Erinnerung geblieben war. Bei der letzten Zeile brach die Mine des Bleistifts ab. Doch trotzdem sollte diese Notiz reichen, um mir den Traum später noch einmal in Erinnerung zu rufen. Danach ging es mir besser. Ich hatte die Gewissheit, dass ich später noch würde darüber nachdenken können, sodass ich nun versuchte, an etwas anderes zu denken und wieder einzuschlafen. Daran, wie schnell es gelang, zeigte sich, wie ausgelaugt mein Körper von den Strapazen des Tages war. Und ein weiteres Plus: Als ich aufwachte, konnte ich mich an keinen dieser bekloppten Träume erinnern, die sich seit meinem Unfall mit der Netzstange hin und wieder in meinen Schlaf stahlen.

Woran ich mich allerdings nur zu deutlich erinnerte, war das Gespräch mit meiner Mutter über Tomoko. Hatte sie schon mit meinem Vater gesprochen? War es bereits zu spät, das noch zu verhindern? Mir war sehr wohl bewusst, dass in unserer Familie etwas grundlegend falsch lief. Schon lange passte ich mehr auf meine Mutter auf, als umgekehrt. Ich fühlte mich verantwortlich, dafür zu sorgen, dass es ihr gut ging. Und sie hatte ein Talent dafür, meinem Vater ins Messer zu laufen - im übertragenden Sinne. In ihren manischen Phasen handelte sie einfach, ohne an die Konsequenzen zu denken. Ihr war im Moment einfach nicht klar, wie Vater reagieren würde. Dass er sie fertig machen und demütigen würde. Sie wieder in eine depressive Phase treiben würde. Ich hatte Angst um meine Mutter. Seit ich von ihrer Krankheit wusste, hatte ich Angst, dass sie sich eines Tages das Leben nehmen würde. Ich hatte sie nicht darauf angesprochen, aber ich fragte mich doch, woher sie die Tabletten bekam, die sie schluckte. Besuchte sie überhaupt einen Psychiater? Aber ich traute mich auch nicht, meinen Vater zu fragen. Wenn er vor dem Zustand seiner Frau die Augen verschloss und von den Psychopharmaka keine Ahnung hatte, würde ich sie verraten. Und das war das letzte, was ich wollte. Während ich all dies dachte, hatte ich völlig mechanisch das obligatorische Morgenprogramm abgespult: Waschen, kämmen, Zähne putzen, anziehen. Bei letzterem wischte ich mit der Jacke meiner Schuluniform etwas vom Nachttisch, sodass es unter das Bett segelte. Seufzend ließ ich mich auf Hände und Knie nieder, um nachzusehen, was das gewesen war, und förderte einen abgebrochenen Bleistift zutage. Wie merkwürdig. Was hatte der auf meinem Nachttisch zu suchen gehabt? In einer lässigen Bewegung warf ich ihn auf meinen Schreibtisch, auf dem es aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ich wühlte in dem Durcheinander, packte die Schulsachen zusammen, die ich heute benötigen würde und ging nach unten in die Küche, um mir mein Schulessen fertig zu machen. Meine Mutter würde wie üblich darauf beharren, dass ich frühstückte, und ich würde wie üblich ihr zuliebe eine Scheibe Brot in mich hineinzwingen, obwohl ich wusste, dass mir davon übel werden würde. Ich konnte morgens einfach nichts essen. Ich betrat die Küche, murmelte ein „Guten Morgen" und ließ mich am gedeckten Tisch nieder. Die ganze Familie war anwesend, aber dennoch blieb mein Gruß unerwidert. Mein Vater starrte mir aus kalten Augen entgegen und jagte mir damit einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Er weiß bescheid, dachte ich missmutig und ließ den Blick zu meiner Mutter schweifen, die sich, die Fäuste geballt und den Blick gesenkt, auf der Kante der Spüle abstützte. Bildete ich es mir nur ein, oder zitterte sie tatsächlich ein wenig? Behutsam, als wäre sie ein scheues Tier, das ich nicht erschrecken wollte, trat ich auf sie zu.

„Mutter?", sprach ich sie an und legte ihr sacht eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte unter der Berührung zusammen, doch ich ließ die Hand dort ruhen. Kein Zweifel, sie zitterte. Ich konnte ihre Gesicht nicht sehen. Ihr langes, schwarzes Haar verbarg es wie ein Vorhang. „Mutter, ist alles in Ordnung mit dir?"

„Lass sie", hörte ich die Stimme meines Vaters in meinem Rücken. Scharf. Schneidend. Und so kalt. Sie ließ mich herumfahren. „Du willst also am Wochenende das Training ausfallen lassen." Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Für ein Mädchen?"

„Was hast du mit ihr gemacht?", fragte ich fassungslos.

„Die Frage ist doch eher, was sie mit dir macht", stellte er nüchtern fest. „Sie bringt dich dazu, dein Training zu vernachlässigen. Das kann ich nicht dulden. Und du solltest das auch nicht. Aber schön - geh zu dieser Party. Lach dir ein Mädchen an, schwänger sie und versau dir deine Zukunft. Hier macht ja doch jeder, was er will!"

„Was hast du mit ihr gemacht?", schrie ich. Tränen des Zorns stiegen mir in die Augen.

„Ist schon gut, Youichi.", erklang schwach hinter mir die tränenerstickte Stimme meiner Mutter. „Ist nicht schlimm, wirklich."

Mein Blick flog in ihre Richtung. Ich sah sie langsam den Kopf heben. Und gewahrte sofort den roten Fleck auf ihrer Wange. Er hatte die unmissverständliche Form eines Handabdrucks.

„Du hast sie geschlagen", sagte ich völlig fassungslos. Und danach ging alles fürchterlich schnell. Ich hörte meinen eigenen wutentbrannten Schrei. Stürzte mich auf diesen Mann, der mein Vater sein sollte, riss ihn vom Stuhl zu Boden und schlug zu. Einmal. Zweimal.

„Youichi, hör auf! HÖR AUF!", schrie meine Mutter.

Meine Faust verharrte in der Luft. Zitternd. Ich starrte auf den Mann hinab. Er blutete aus der Nase und seine Lippe war aufgeplatzt. Dann blickte ich auf meine Hände, an denen ebenfalls Blut klebte. Das gleiche Blut, das auch durch meine Adern rann. Ich hatte meinen Vater geschlagen. Kein Sohn durfte seinen Vater schlagen, ganz gleich, was auch geschehen sein mochte.

„Es tut mir leid", murmelte ich verstört. „Ich wollte das nicht."

„Youichi, geh. Verschwinde! Geh zur Schule, los, geh schon!", befahl meine Mutter und schubste mich von meinem Vater weg. Dann beugte sie sich zu ihm hinab. „Liebling, geht es dir gut?"

Sie hatte ein seidenes Taschentuch aus der Rocktasche gezogen und wollte ihm das Blut aus dem Gesicht wischen, doch er stieß sie grob beiseite.

„Scher dich bloß weg", zischte er und rappelte sich langsam und ächzend auf.

Ich lehnte immer noch zitternd im Türrahmen und verfolgte die ganze Szene, deren Hauptrolle ich bis vor kurzem gespielt hatte, mit Tränen in den Augen. Ich fing den Blick meiner Mutter auf. Er war unmissverständlich: Geh!

Drohgebärden

Ich verließ das Haus so schnell wie möglich. Fluchtartig. Beinahe hätte ich meine Schultasche vergessen. Ungehindert liefen mir Tränen über die Wangen. Was brachte es, sie fortzuwischen, wenn doch sofort neue nachfolgten? Es gab auch keinen Grund, mich ihrer zu schämen, denn niemand war da, der sie hätte sehen können. Mein Weg verlief durch den Park. Um diese Zeit begegnete man dort selten einer Menschenseele. Vielleicht mal einem Spaziergänger mit seinem Hund. Doch ansonsten war man hier so früh am Morgen mutterseelenallein. Genau das, was ich jetzt brauchte. Stille, Einsamkeit - zur Ruhe kommen. Ich schleuderte meine Tasche auf eine Bank, ließ mich selbst daneben fallen und barg das Gesicht in den Händen. Mein ganzer Körper bebte, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte. Die Geschehnisse in der Küche spielten sich wie ein Film in Endlosschleife wieder und wieder in meinem Kopf ab. Der feuerrote Handabdruck auf der Wange meiner Mutter. Wie ich plötzlich über meinem Vater war und meine Faust auf ihn niedersauste. Erst jetzt merkte ich, wie sehr meine rechte Hand brannte. Ich ließ sie sinken und blickte darauf hinab. Durch die Schläge war die Haut über den Fingerknöcheln aufgeplatzt. Das Blut, das aus den Wunden trat, begann schon zu gerinnen. Mein Blut und das meines Vaters. Auf meiner Haut zusammengeronnen zu einem unansehnlichen rostbraun. Wie seltsam das alles doch war. Es bestand überhaupt kein sichtbarer Unterschied zwischen seinem und meinem Blut. Man sollte meinen, da wir uns so sehr voneinander unterschieden, müsse auch unser Blut verschieden aussehen. Doch wessen Blut, so fragte ich mich, hätte dann die Farbe schwarz verdient? Durch mein Handeln war ich nämlich keinen Deut besser als er.

Irgendwann während dieser Überlegungen waren meine Tränen versiegt und mein Körper hatte aufgehört zu zittern.

„Ts, ts, ts - na, das ist ja was", vernahm ich plötzlich eine Stimme dicht bei mir. Ich erschrak so sehr, dass ich leicht zusammenzuckte. Ich hatte überhaupt keine Schritte gehört. Die Stimme kam mir bekannt vor. Aber ich vermochte sie nicht einzuordnen. Langsam hob ich den Kopf und erblickte ‘den Neuen’, dessen Namen ich immer noch nicht kannte.

„Ich sehe schon die Schlagzeile: ‘Volley-Ass Youichi am Boden’, sagte er höhnisch grinsend und zeichnete einen Balken für seine Headline in die Luft.

„Was willst du?", fragte ich scharf, wobei ich auf die Füße sprang. Er war ein bisschen kleiner als ich - aber nicht viel.

„Ich gehe zur Schule", gab er achselzuckend und betont arglos zurück. „An meinem ersten richtigen Schultag will ich doch nicht zu spät kommen." In seiner Stimme schwang beißende Ironie mit.

„Und warum trägst du dann nicht deine Schuluniform?", fragte ich harsch.

„Jaaa, die Uniform", antwortete er gedehnt und zog genüsslich an seiner Zigarette. „Die wurde rein zufällig und ganz aus Versehen in der falschen Größe geliefert." Jede Wette, dass das gelogen war. „Aber wir beide haben ja etwa die gleiche Größe, vielleicht sollte ich also einfach deine nehmen."

„Kein guter Witz", gab ich zurück.

„Sollte auch keiner gewesen sein."

„Willst du mir drohen?"

„Und wenn es so wäre? Rennst du dann zu deinen vielen kleinen Freunden, damit sie den bösen Nakamura fertig machen?"

„Nakamura - ist also dein Name, ja?" Ich stutzte. „Moment - etwa DER Nakamura? Dein Vater ist dieser Politiker, der ..."

„Ja, genau der", unterbrach mich der Sohn eines der mächtigsten Männer Tokios. „Aber meine Freunde nennen mich Jason."

Was für ein seltsamer Name. Dem Aussehen nach zu schließen war er eindeutig Japaner. Einen Akzent hatte er auch nicht. Warum, um alles in der Welt dann dieser Name - Jason.

„Also gut ... Jason", begann ich , doch schon wieder fuhr er mir über den Mund.

„Na, na , na, wer sagt denn, das wir Freunde sind? Für dich Nakamura-sempai, kapiert?" (Anm. d. Red.:Sempai = jap. Anrede für einen älteren Mitschüler)

„Du hast sie doch wohl nicht alle!", fuhr ich ihn an. „Wir sind in der selben Klassenstufe. Wahrscheinlich bist du sogar jünger als ich. Außerdem bin ich ..."

„Was? Was bist du schon großartiges? Kapitän der Volleyballmannschaft? Schulsprecher? Oder Gott? Was bist du, Youichi, sag’s mir! Zeig’s mir! Weise mich in meine Schranken. Mach mich fertig, na los!"

„Du hast sie ja wirklich nicht alle", grollte ich. Wäre ich nicht so zornig gewesen, hätte ich mich über diese Szene durchaus amüsieren können. Was wollte dieser Typ von mir? Wohl kaum meine Uniform. „Warum verschwindest du nicht einfach? Niemand hat dich gezwungen hier bei mir stehen zu bleiben. Und nenn mich nicht beim Vornamen!"

Fast die gesamte Klassenstufe nannte mich beim Vornamen - meine Freunde, Bekannte, sogar Mitschüler, die zu mir aufsahen. Aber Nakamura brachte mir eine so offenkundige Feindseligkeit entgegen, dass ich jede nur mögliche Distanz zwischen uns aufrecht erhalten wollte. Anstatt darauf zu reagieren, musterte Nakamura mich von oben nach unten. Ich hatte fast den Eindruck, seinen Blick körperlich spüren zu können. Er war mir unangenehm.

„Du hältst dich wohl für ganz toll, was Captain?", fragte er. Genau das gleich hatte er auch schon im Krankenzimmer zu mir gesagt. Hältst dich wohl für ganz toll, hm? Aber sein Tonfall hatte sich verändert. Das Grinsen auch. Es war nicht länger höhnisch, sondern viel eher bitter. Aber darauf konnte und wollte ich jetzt keine Rücksicht nehmen.

„Ja ja, und gleich kommt wieder ‘Ich kenne Typen wir dich’ und das ganze Geseier", fuhr ich ihn an. „Was soll der Mist? Du kennst mich kein bisschen! Schon bei Frau Endogawa warst du so drauf. Ich habe wirklich versucht, freundlich zu dir zu sein. Aber so wie du dich aufführst, weiß ich nicht, ob ich das überhaupt will."

„Und wer sagt, dass ich deine scheiß-Freundlichkeit will? Da irrst du dich aber gewaltig mein Lieber! Denkst du, nur weil du der Schulstar bist, werde ich mich sogleich in den Staub werfen und um deine Beachtung betteln? Nicht für dich, Youichi."

„Masanori", berichtigte ich. „Und jetzt hau endlich ab!"

Mir fiel auf, dass wir diesen Teil des ‘Gesprächs’ eigentlich schon hinter uns hatten und fragte mich gerade, wie lange ich das hier noch erdulden musste, als Nakamura seine Selbstgefälligkeit wiederfand.

„Wir sehen uns in der Schule - großer Youichi!" Und endlich ging er.

So verrückt diese Begegnung auch war, sie hatte doch ein Gutes an sich: Nakamura hatte mich völlig von dem Chaos abgelenkt, das ich zu Hause verursacht hatte. Die Muskeln in meinen Schultern hatten sich gestrafft, der Rücken gerade, das Haupt erhoben. Nakamura hatte das kleine Häuflein Elend, das zuvor heulend auf einer verlassenen Parkbank gesessen hatte, aus meinem Körper vertrieben. Vielleicht sollte ich mich bei nächster Gelegenheit bei ihm bedanken.

Prügelknabe

Das erste, was ich in der Schule tat, war, mir die Hände zu waschen. Mit dem Blut, das durch den Ausguss in die dunkle Welt der Tokioter Abwasserkanäle rauschte, Schwand das Gefühl, den heutigen Morgen tatsächlich selbst erlebt zu haben. Allein die Wunden auf meinen Fingerknöcheln zeugten noch von seiner Realität. Obwohl ich viel früher als sonst von zu Hause aufgebrochen war, kam ich fast zu spät in den Unterricht.

„Verdammt, Youichi! Warum kommst du ausgerechnet heute so spät?“, begrüßte Akira mich missgelaunt. „Ich wollte doch die Hausaufgaben von dir abschreiben.“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Akira“, gab ich zurück. „Warum machst du deine Hausaufgaben nicht selbst? Wie, um alles in der Welt, willst du denn die Abschlussprüfungen bestehen?“

„Ich schreibe bei dir ab“, sagte er breit grinsend. „Und für Hausaufgaben hatte ich gestern wirklich einfach keine Zeit. Hatte ein Date. Mit diesem Mädchen.“

„Na toll“, seufzte ich. Ich versuchte gar nicht erst, zu überlegen, welches Mädchen er meinte. Ebenso wenig würde ich ihn danach fragen. „Hat es sich wenigstens gelohnt?“

„Nö ...“

Siedend heiß viel mir ein, dass auch ich meine Hausaufgaben nicht vollständig erledigt hatte. Verdammter Mist.

„Wenn es dich tröstet, Akira - ich habe die Hausaufgaben auch nicht.“

Er prustete. Guckte mich an, als hätte ich eine Nudel an der Nase und lachte dann schallend.

„Was? Du hast die auch nicht? Dass ich das noch erlebe. Youichi Masanori hat die Hausaufgaben nicht ... ehrlich nicht?“

Ich warf ihm einen strafenden Blick zu. „Ehrlich nicht.“

Er lachte immer noch, während ich mir den gestrigen Abend vor Augen führte. „Lach du nur über mich“, murmelte ich.

„Aber du hast doch bestimmt so einen Krankenhauswisch, mit dem du dich entschuldigen kannst“, sagte Akira, als er sich wieder beruhigt hatte. Nun war es an mir, ihn verwirrt anzustarren.

„Krankenhauswisch?“ Dann fiel es mir ein. Wer ohnmächtig wird, kommt ins Krankenhaus. Wo ich, meinem Vater sei Dank, nicht gewesen war. „Habe ich vergessen.“

„Also manchmal bist du echt doof, Youichi. Das passt gar nicht zu dir.“ Er fing schon wieder an zu lachen.

„Ich weiß“, gab ich zurück und ließ meinen Blick über die Grüppchen von Schülern schweifen, die sich auf dem Flur unterhielten, schwatzten, lachten und sich überhaupt keine ernsteren Gedanken zu machen schienen als den Ausgang der letzten Klassenarbeit. „Ich weiß“, murmelte ich noch einmal nur für mich selbst und spürte einen Stich des Neides auf ihre Sorglosigkeit.

Der Schulgong ertönte. Unterrichtsbeginn. Erste Stunde Mathe. Ich überlegte, ob ich gleich zu Herrn Ito gehen sollte, um ihm zu sagen, dass ich die Hausaufgaben nicht erledigt hatte. Als der Lehrer das Klassenzimmer aufschloss, entschied ich mich dafür. Ich spürte Akiras missbilligenden Blick in meinem Rücken, als ich gesenkten Kopfes ans Lehrerpult trat.

„Herr Ito, ich bitte Sie um Entschuldigung, dass ich die Hausaufgaben nicht habe.“

Der Lehrer sah mich aus ersten Augen an: „Es ist das erste Mal bei Ihnen, nicht wahr?“

„Ich glaube schon“, gab ich zurück.

„Eigentlich gibt es dafür einen Eintrag ins Klassenbuch“, seufzte Herr Ito. „Aber ich weiß zufällig, was gestern passiert ist. Da kann man schon mal eine Ausnahme machen. Hat es im Krankenhaus lange gedauert?“

„Nein“, antwortete ich halbwahrheitsgemäß, „aber mir ging es am Nachmittag nicht so gut.“

„Das verstehe ich. Mich wundert ehrlich gesagt, dass Sie schon wieder hier sind. Jeder andere Schüler hätte eine solche Gelegenheit genutzt, sich ein bis zwei Tage vor der Schule zu drücken. Setzen Sie sich auf Ihren Platz, Masanori. Ich möchte mit dem Unterricht beginnen.“

„Was war das denn bitte?“, fragte Akira sofort, als ich mich auf den Stuhl neben ihm fallengelassen hatte. „Er hat dich nicht einmal ins Klassenbuch eingetragen! Er ist doch sonst immer gleich sofort auf 180, wenn jemand die Hausaufgaben vergisst.“

„Du redest nicht zufällig von dir, oder?“, flüsterte ich zurück.

„Zufällig doch.“

„Vielleicht liegt es daran, dass er dich immer erwischt und du nicht von dir aus auf ihn zugehst.“

„Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht Masanori heiße!“, äffte er meinen Tonfall nach. „Rede du nur. „Selbst wenn du alles falsch machst, machst du noch alles richtig.“

Ich knuffte ihn freundschaftlich in die Seite. „Du bist doch nicht etwa neidisch?“

„Oh doch, manchmal bin ich das“, seufzte Akira, konnte sich ein Grinsen aber nicht länger verkneifen.

„Still jetzt und Augen nach vorne“, gemahnte ich ihn. Doch ich selbst konnte mich nicht so recht daran halten. So unkonzentriert wie noch nie saß ich in Herrn Itos Unterricht und hoffte nur, er würde mich nicht ohne Meldung aufrufen. Was das betraf, hatte ich Glück. Ich überstand die Stunde ohne auch nur einen Wortbeitrag. Dennoch fiel mir auf, dass Herr Ito gegen Ende der Stunde häufiger einen Blick in meine Richtung warf. Es kam nicht oft vor, dass ich mich am Unterrichtsgeschehen überhaupt nicht beteiligte. Eher war es im Gegenteil nicht selten, dass ich eine seiner Stunden fast allein bestritt. Ich sah mich nicht als Streber und keiner hatte mich je als solchen bezeichnet, vielmehr wollte ich den anderen ein Vorbild sein. Und erstaunlicherweise funktionierte es ganz gut. Als Volleyballkapitän war mir ein positives Image an der Schule sicher. Ich war cool. Gerade die Jüngeren eiferten mir nach - auch im Unterricht. Nicht zuletzt aber wollte ich gut sein, um den Familienfrieden zu wahren. Machte mich das zu einem Streber? War das trivial? Oder heroisch?

Der Gong unterbrach meinen Gedankenstrom.

„Puh, das wurde aber auch Zeit“, sagte Akira. „Ich hasse Mathe! Hast du gesehen, wie oft der zu mir rüber geguckt hat? Als ob er sagen wollte: ‚Na Akira, können wir dem Geschehen mal wieder nicht folgen?‘ Mannomann …“

Ich ließ ihn kommentarlos stehen. Eine Menschenauflauf hatte sich im Flur gebildet und meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Gejohle und Geschrei, das durch den Flur hallte, erschien mir unerträglich laut. Eine Prügelei – na toll! Kopfschüttelnd ging ich auf Traube zu.

„Was ist denn hier los? Lasst mich mal durch“, forderte ich genervt und arbeitete mich langsam zum Zentrum durch. Eigentlich war ich nicht sehr überrascht, als ich zwei Jungen erblickte, die sich im Kampf auf dem Boden wälzten. Umso erstaunter war ich, als ich erkannte, dass einer der beiden Takumi war. Der andere – natürlich – Nakamura. Alle im Volleyballteam waren wie Brüder für mich und Takumi, der jüngste von allen, genoss bei mir beinahe so etwas wie Welpenschutz, auch wenn er eigentlich nicht viel jünger war. Er würde für mich immer der kleine Takumi bleiben. Gegen Nakamura hatte er nicht den Hauch einer Chance. Zusammengekrümmt und vor Schmerz und Angst wimmernd versuchte er mit den Unterarmen die Schläge Nakamuras abzuwehren, doch nur allzu häufig drangen dessen Fäuste durch diese spärliche Deckung. In Nakamuras Augen erkannte ich blanken Hass. Er würde nicht von sich aus aufhören, auf den Jüngeren einzuprügeln. Wie lange mochte ich gebraucht haben, all diese Tatsachen zu realisieren? Eine Sekunde? Vielleicht Zwei? Doch mir kam es viel länger vor. Viel zu lange. Und erst als ich meine eigene Stimme hörte, fiel die Starre des Entsetzens von mir ab.

„Bist du bescheuert?! Sofort runter von ihm!“, schrie ich, doch Nakamura reagierte überhaupt nicht. Er drosch weiter auf Takumi ein, ohne auch nur in meine Richtung zu blicken. Ohne weiter zu überlegen, sprang ich auf Nakamura los. Durch den Schwung stieß ich ihn von Takumi herunter und wir überschlugen uns ein paar Mal. Die Schüler in der ersten Reihe sogen erschrocken Luft ein und wichen eilig ein paar Schritte zurück. Als wir zum Halten kamen, hatte ich die Oberhand. Zum zweiten Mal an diesem Tag erhob ich meine Hand gegen einen Menschen. Hob die rechte Faust, auf deren Knöcheln sich bereits Schorf gebildet hatte. Mit eisiger Genugtuung spürte ich, wie er erneut aufriss, als ich Nakamura hart im Gesicht traf. Die Menge um uns herum brüllte. Die einzelnen Stimmen verwoben sich zu einem undurchdringlichen Vorhang aus Lärm, der uns umschloss. Uns aufpeitschte. Was sie schrien, konnte ich nicht verstehen. Es war auch egal. Nakamura und ich waren ebenbürtige Gegner. Niemand behielt lange die Oberhand und jeder von uns kassierte ebenso viele Schläge wie er austeilte. Keiner von uns schien den Schmerz wahrzunehmen, den sie verursachen mussten. Plötzlich, ich hatte gerade erneut ausgeholt, riss mich etwas zurück. Und auch Nakamura wurde daran gehindert, mir nachzusetzen. Er wurde zurückgehalten von Herrn Ito und Ichitaka aus dem Team. Links und rechts von mir erkannte ich Koji und Kaito. Beiden stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. So hatten Sie mich noch nie erlebt. In ihren Augen las ich den gleichen Schrecken, den ich auch selbst über mich empfand. Was war nur in mich gefahren? So löste man keine Konflikte. So schürte man sie. Herr Ito, der Nakamura am Oberarm gepackt hatte, hob die Stimme: „Danke, Jungs. Ich denke, ihr könnt ihn jetzt loslassen.“ Mit zornfunkelndem Blick maß er meinen Gegner und mich. „Ihr beide! Mitkommen. Der Direktor erwartet euch.“ Betreten senkte ich den Blick und kam schwankend auf die Füße. Herr Ito ließ uns vorangehen. Mit dem leisen Anflug von Genugtuung gewahrte ich ein leichtes Humpeln in Nakamuras Gang und schämte mich sogleich dafür. Wann war ich zu einem gewalttätigen Monster mutiert, das sich am Schmerz der anderen ergötzte? Als wir das Büro des Direktors betraten, ahnte ich bereits, was mich erwartete.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (24)
[1] [2] [3]
/ 3

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2011-08-13T18:34:43+00:00 13.08.2011 20:34
so, jetzt hab ich´s endlich gelesen :) mensch, das gibt ja immer mehr kontakt zwischen den beiden, das verspricht noch ganz schön spannend zu werden ;)
die anspielung auf loriot fand ich super :D außerdem würd ich gern mal den herrn traube kennenlernen xD sorry, aber da musste ich echt lachen^^ (hast nur den artikel vergessen, aber liest sich witzig^^)
dialoge fand ich auch wieder gut, schönes kapitel, in dem man doch so langsam eine neue seite an youichi kennenlernt.
sag mir bescheid, wenns ein neues kapitel gibt! :)
Von:  Inan
2011-07-24T21:13:29+00:00 24.07.2011 23:13
Oje, das gibt Ärger, zuhause sowieso Óò
Irgendwie ist es faszinierend, wie kalt und gleichzeitig verbittert und intensiv Nakamura sich verhält, vielleicht ist ja das das Interessante an ihm ;)
Tolles Kapitel :)
Von: abgemeldet
2010-09-27T16:07:53+00:00 27.09.2010 18:07
ein dialog! *freu* :D ich fand den gut, davon kanns weitere geben!
seltsam fand ich nur, dass... äh... moment... Nakamura *namen eben reinkopiert hat*^^ gleich so aufbrausend war. war doch gar nichts passiert ô.o aber wie du schon sagtest, ich kenne seine hintergrundgeschichte ja nicht und kann deswegen auch sein handeln nicht verstehen :)
lovings :D
Jeezy
Von:  Inan
2010-09-24T18:01:00+00:00 24.09.2010 20:01
Yay, der Eisklotz ist back :D
Tolliges Chap^^
Von:  chaos-kao
2010-09-12T10:39:32+00:00 12.09.2010 12:39
Ich kann Youchis Reaktion seinem Vater gegenüber sehr gut nachvollziehen ... ich hätte ihm am Liebsten ebenfalls eine reingeschlagen ... er hat es verdient! So ein Arschloch! ><

Du schreibst wirklich mitreißend ... weiter so! ^^
Von:  Inan
2010-08-30T18:08:11+00:00 30.08.2010 20:08
Grundlegend falsch ist ja so total die richtige Beschreibung für Youchis Familienverhältnisse :O
Aber gut, Eisklotz aus Trauer und Depression meets sensiblen, verantwortungsbewussten Mädchenschwarm mit miesen Familienverhältnissen, von denen keiner was weiß hat echt was xD
Manche Leute sollten aber echt keine Kinder bekommen
Tolliges Chap^^
Von: abgemeldet
2010-08-30T18:05:43+00:00 30.08.2010 20:05
tja, ich kriegs auch selbt raus, wenn du ein neues kapitel hochlädst ;p
meine meinung? er hat am ende gekniffen. endlich kriegt sein vater mal konter und dann entschuldigt er sich doch wieder dafür und seine mutter kümmert sich um ihren mann. unfaire welt. am ende steht er (also der vater) ja doch wieder als gewinner da.
weißt du, wen ich vermisse? ich glaube, du kannst es dir denken^^ wann kommt er denn mal wieder vor?
ich bin wirklich gespannt, wie es auf der party wird^^ aber wie ich dich kenne werde ich noch ein paar kapitel warten müssen bis wochenende ist xD
also dann, gehab dich wohl :) ich freu mich aufs nächste kapüüü ^o^
Jeezy
Von: abgemeldet
2010-08-08T10:43:27+00:00 08.08.2010 12:43
hehe, mama möchte mit dem kleinen über mädchen reden^^ find ich sehr süß :) da bin ich ja wirklich gespannt, wieviel er ihr denn dann am ende tatsächlich erzählt, wenn es mal zu was ernsterem kommen sollte ~.^
sehr schönes kapitel, auch wenn eigentlich sehr viel bitterkeit dahintersteckt. denn im grunde genommen ist die ganze familie doch eine einzige fassade.
freu mich wieder einmal auf den weiteren verlauf^^
Von:  Inan
2010-08-05T23:41:07+00:00 06.08.2010 01:41
Drogen sind halt nich gesund :P
Aber mal im ernst, Youichi hat wirklich Pech, was seine Familie anbelangt
Zum Glück findet er bald raus, dass er schwul ist, darauf läuft es wohl hinaus xD
Von:  Inan
2010-07-26T23:47:21+00:00 27.07.2010 01:47
Ok.. Oo
Dieser ...Anfall kam plötzlich
Die Reaktion des Vaters darauf war einfach nur biestig ._.
Also wenn er sich je Sorgen um seinen Sphn macht, versteckt er das echt gut Ó_ò
Tolles Chap, es war richt süß, wie er sich gefreut hat, als er zum weiteren Training eingealden wurde <3


Zurück