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Vom Block ins Aus

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Notlügen

Ich konnte mir nicht sicher sein, ob mein Vater wirklich dichthalten würde. Beim Abendessen warf er mir ständig vielsagende Blicke zu, während ich versuchte, mich so wie immer zu geben. Ich hatte nicht den geringsten Appetit. Reis und Gemüse wälzten sich in meinem Mund herum und wurden zu etwas, das ich nicht in meinem Magen haben wollte. Ein paar Bissen. Mehr konnte ich beim besten Willen nicht hinunterwürgen. Vater erzählte Mutter von meinem Erfolg beim Probetraining. Sie war ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung.

„Aber Youichi, das ist ja wunderbar", rief sie aus, wobei sie mir sanft eine Hand auf den Arm legte.

Ich versuchte zu lächeln, spürte aber zugleich, dass es misslingen musste. Eine seltsame Grimasse. Eine Karikatur.

„Freu dich nicht zu früh, Mutter", sagte ich ernst. „Ich werde nur als Stipendiat vorgeschlagen. Das heißt nicht, dass ich es tatsächlich bekomme."

„Das ist richtig, Sohn, aber vom Leiter der Volleyballmannschaft vorgeschlagen zu werden, ist schon eine Hausnummer. Du weißt wie groß der Sport an diesem Institut geschrieben wird."

Ich verdrehte die Augen. Natürlich wusste ich das. Auch meine Mutter wusste das. Aber ich wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen.

„Sei doch nicht so bescheiden, Youichi", sagte sie liebevoll. „Ich bin sicher, du warst großartig heute bei dem Probetraining. Zu schade, dass ich nicht dabei war."

„Ja", gab ich zurück und zwang noch einmal - erfolgreicher - ein Lächeln auf meine Züge, während ich dachte: Zum Glück! Zum Glück weißt du nichts von meinem ganzen verdammten Tag! „Darf ich aufstehen? Ich habe noch zu lernen."

„Aber du hast doch kaum was gegessen", erwiderte meine Mutter besorgt.

„Ich nehme mir noch einen Apfel mit, in Ordnung? Bitte, ich habe wirklich noch einiges zu tun."

„Na gut, lass den Apfel ruhig da", sagte sie mit einem nachsichtigen Lächeln. „Ich mache dir gleich etwas Obst zurecht und bringe es dir dann auf dein Zimmer."

„Danke, Mutter, aber du brauchst dir wirklich keine ..."

„Das macht mir doch keine Mühe", sagte sie lachend. „Jetzt hau schon ab"

Meine liebevolle, kleine Mutter. Sie reichte mir kaum bis zur Schulter. Kurz trafen sich unsere Blicke, als ich mich erhob um die Küche zu verlassen. Ihr Lächeln flackerte. Wie viel hatte sie mitbekommen? Als mein Vater und ich heimgekommen waren, war es mir gelungen, das Badezimmer zu erreichen, ohne dass sie mich in meiner seltsamen Aufmachung zu Gesicht bekommen konnte. Meine Klamotten wanderten schnurstracks in die Waschmaschine, ich putzte mir die Zähne, wusch mich provisorisch und zog mir frische Sachen an. Dass ich andere Sachen trug, als noch heute Morgen, schien sie nicht bemerkt zu haben. Dennoch bezweifelte ich nun, da ich allein in meinem Zimmer hockte, dass alles, was heute geschehen war, von ihr unbemerkt geblieben sein konnte. Meine Schulbücher lagen aufgeschlagen vor mir auf dem Schreibtisch und mein Blick war darauf gerichtet, doch im Grunde sah ich die mathematischen Formeln gar nicht, die dort mit der Schemazeichnung einer Zwiebelepidermiszelle um meine Aufmerksamkeit rangen.

„Ach, verdammt!", entfuhr es mir zornig. Lauter als beabsichtigt. Laut genug, dass ich vor meiner eigenen Wut erschrak. Verwirrt hob ich die Bücher auf, die ich mit der Rechten fahrig vom Tisch gefegt hatte. Irgendetwas stimmte heute ganz und gar nicht mit mir. Leise klopfte es an der Tür.

„Ist alles in Ordnung, Youichi?", fragte meine Mutter. „Kann ich reinkommen?"

„Klar, komm rein", gab ich zurück, während ich die Bücher auf den richtigen Seiten wieder aufschlug.

„Geht es dir gut?", fragte sie, nachdem sie eingetreten war und einen Teller mit geschälten Äpfeln und Bananen auf einem Bücherstapel abgestellt hatte.. „Du siehst ganz blass aus."

„Das liegt am Licht der Schreibtischlampe", behauptete ich nicht ganz überzeugend. „Ich bin OK, Mutter, wirklich. Nur ein wenig im Stress."

„Du solltest nicht immer bis tief in die Nacht über deinen Büchern brüten, Youichi", sagte sie sanft und strich mir mit der Hand über das Haar. „Du schuftest dich ja völlig kaputt. Das Training, das Lernen - warum gönnst du dir nicht einmal eine Pause von allem oder gehst es wenigstens ein bisschen lockerer an?"

„Die meisten Eltern würden ihre Kinder zu mehr Fleiß antreiben", gab ich sanft lächelnd zurück. „Ich möchte einfach, dass du Stolz auf mich sein kannst."

„Aber das bin ich doch. Ich bin stolz auf dich. Und ich liebe dich. Du musst nicht immer überall der Beste sein. Ich liebe dich nicht deiner Leistung wegen."

„Das weiß ich, Mutter", sagte ich sanft und schaffte es gerade so, die Tränen niederzuringen, die in mir aufzusteigen drohten. Sie hatte einen ihrer guten Tage. Einen ohne Mirtazapin. Ich umarmte sie und barg mein Geicht an ihrer Brust, damit sie das feuchte Glitzern in meinen Augen nicht sehen konnte. Lebhaft konnte ich mir vorstellen, was mein Vater zu diesem Verhalten sagen würde: Verweichlicht. Aber es tat mit gut. Und Mutter auch. Ein Moment der Zweisamkeit. Einer jener Momente, die in letzter Zeit viel zu selten geworden waren.

„Danke", murmelte ich in ihre Bluse.

„Gern geschehen", gab sie flüsternd zurück. Wir beide hatten das gebraucht.

„Jetzt muss ich aber wirklich etwas tun", sagte ich, und ließ sie los.

„Schmeißt du mich etwa raus?", fragte sie entrüstet.

„Nein, nein, ich würde dich nie ...", hob ich an, doch sie lachte schallend und ich spürte, wie sich eine leichte Schamesröte auf meine Wangen stahl. Ihre Entrüstung war nur gespielt gewesen. Ihr helles Lachen erfüllte den Raum und ließ sie wie ein junges Mädchen klingen. Wann hatte ich sie zuletzt so lachen gehört? So befreit?

„Eines Tages wirst du mich aus deinem Zimmer schicken, Youichi", sagte sie abwesend lächelnd.

„Niemals", gab ich bestimmt zurück.

„Doch, mein Lieber", sagte sie und grinste schelmisch. „Wenn du eine Freundin hast. Ein Mädchen, das dir gefällt. Dann wird es dir peinlich sein, wenn deine alte Mutter einfach so in dein Zimmer kommt. Du wirst mit ihr allein sein wollen. Sag mal, Youichi, gibt es denn an deiner Schule kein Mädchen, das dir gefällt?"

„Wie kommst du denn jetzt darauf?", fragte ich verwirrt.

„Ach", sagte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe beim Einkaufen die Mutter von Akira getroffen. Sie erzählte, das Akira ständig andere Mädchen mit nach Hause bringt. Und dass sie sich allmählich Sorgen macht, er sei einer dieser Jungs, die ... du weist schon."

Einer dieser Jungs, die alles flachlegen, das nicht bei drei auf den Bäumen ist und Vater werden, bevor sie volljährig sind. So etwas in der Art muss sie gemeint haben. Aber sie war viel zu anständig, um es je laut auszusprechen.

„Und dann ist mir aufgefallen, dass du noch gar keine Mädchen nach Hause eingeladen hast. Gibt es denn keine, die du gern magst?"

„Hmmm ...", machte ich. Ein völlig neutrales Hmmm. Kein ja und auch kein nein. „Ich möchte ein Mädchen, das mich mag. Mich als Person und nicht nur den Volleyball-Kapitän. Ich möchte nicht das Statussymbol eines Mädchens sein. Woher weiß ich, dass sie wirklich mich will?"

Sie seufzte. „Das kann ich dir auch nicht sagen. Aber vielleicht solltest du es einfach auf einen Versuch ankommen lassen und mit ihr darüber sprechen. Wie heißt sie denn?"

Ich schluckte. Tatsache war: Es gab derzeit kein Mädchen, mit dem ich ausgehen wollte oder gar zusammensein. Ich war nicht wie Akira, der nichts anbrennen ließ. Außerdem schaffte ich es gerade so, Volleyballtraining und Lernpensum unter einen Hut zu bekommen. Aber ich wollte meine Mutter auch nicht enttäuschen. Dass ich heimlich ein Mädchen verehrte, war ein Gedanke, der ihr zu gefallen schien. Ein Geheimnis, das nur wir beide teilten. Eine Sache, bei der sie mich unterstützen konnte.

„Es brauch dir nicht peinlich zu sein", sagte sie aufmunternd, während ich noch mit mir rang. Ich wollte sie wirklich nicht belügen. Doch sie sah so begeistert aus. Sie hatte dieses Glitzern in den Augen, dass ich schon lange an ihr vermisst hatte. Sie wollte so gern meine leidenschaftliche Kumpanin sein in Sachen Liebe. Sie wollte mir mit Rat und Tat zur Seite stehen, damit ich mein Glück finden konnte. Wie könnte ich ihr das verwehren?

„Tomoko", nannte ich schließlich den Namen des erstbesten Mädchens, das mir einfiel. Garniert mit einem tiefen resignierenden Seufzen. „Ihr Name ist Tomoko."



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2010-08-08T10:43:27+00:00 08.08.2010 12:43
hehe, mama möchte mit dem kleinen über mädchen reden^^ find ich sehr süß :) da bin ich ja wirklich gespannt, wieviel er ihr denn dann am ende tatsächlich erzählt, wenn es mal zu was ernsterem kommen sollte ~.^
sehr schönes kapitel, auch wenn eigentlich sehr viel bitterkeit dahintersteckt. denn im grunde genommen ist die ganze familie doch eine einzige fassade.
freu mich wieder einmal auf den weiteren verlauf^^
Von:  Inan
2010-08-05T23:41:07+00:00 06.08.2010 01:41
Drogen sind halt nich gesund :P
Aber mal im ernst, Youichi hat wirklich Pech, was seine Familie anbelangt
Zum Glück findet er bald raus, dass er schwul ist, darauf läuft es wohl hinaus xD


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