Das Mädchen stellte seinen Schulranzen im grünen Gras ab und setzte sich im Schneidersitz daneben. Es lächelte.
"Hi Mami."
Dann lauschte es auf eine Antwort.
"In der Schule war es schön. Wie immer. Rechnen war doof, aber Lesen find ich gut."
Irgendwo hoch oben in den Bäumen zwitscherte ein Vogel. Oder vielleicht waren es auch mehrere. Das Mädchen hörte dem Gesang ein wenig zu. Der Tag war wie geschaffen zum Singen und draußen Spielen, die Sonne schien und es war warm. Dabei war es letzte Woche so regnerisch gewesen. Tagein, tagaus hatte es geschüttet wie aus Eimern.
"Wir haben heute eine neue Geschichte angefangen. Frau Meier hat gesagt, das nennt sich 'Kurzgeschichte', aber die ist gar nicht so kurz. Ganze zwei Seiten lang im Lesebuch."
Irgendetwas raschelte hinter dem Mädchen im Gebüsch, und als es sich neugierig nach dem Geräusch umdrehte, saß im Gras ein rostbraunes Eichhörnchen. Frech betrachtete es das Mädchen aus seinen schwarzen Knopfaugen, und dann, ganz flink, drehte es sich um, und das letzte, was von ihm zu sehen war, war der buschige Schwanz, der im Busch verschwand.
Das Mädchen drehte sich wieder um, überlegte, wo es seine Erzählung unterbrochen hatte, bevor es von dem kleinen, süßen Tier so abgelenkt wurde.
"Ich glaube, ich fange gleich zu Hause an zu lesen, nach dem Mittagessen. Dann weiß ich schon mehr als die anderen. Wir dürfen nicht vorarbeiten, aber ich sag’s keinem." Es kicherte leise und grinste dann. "Aber verrate du auch nichts, okay?"
Es lehnte sich zurück und stützte sich mit den Händen im Gras ab. "Papa und Kathi streiten sich jetzt sehr oft. Viel öfter als früher. Papa sagt, das liegt an Kathis Alter, aber ich glaube, sie ist einfach nur total fies. Das sagt auch Markus, aber dann verprügelt Kathi ihn immer. Deshalb sag ich es besser nicht laut, sondern nur so, dass nur wir zwei es wissen."
Es seufzte und wartete auf eine Antwort. Dann zuckte es mit den Schultern.
"Papa redet auch irgendwas von Puhbääär, äh... es hört sich jedenfalls an wie Puh der Bär, aber mit dem hat das nichts zu tun, glaube ich. Das ist eine Krankheit oder so, die Kathi hat. Markus sagt, das kriegt jeder, aber ich war vorgestern beim Arzt zum Impfen, deshalb muss ich das vielleicht nicht bekommen. Ich hoffe, es ist nicht ansteckend."
Ein paar Wolken zogen vor die Sonne und es wurde schattiger. Doch schon wenige Sekunden später gaben sie das warme Sonnenlicht wieder frei. Das Mädchen schaute empor und versuchte sich vorzustellen, dass die Wolken Tiere wären.
"Schau mal, Mami. Die Wolke da sieht aus wie ein Dino. So einer mit einem langen Hals, der nur von Bäumen was essen kann. Oder es könnte auch eine Giraffe sein. Und die da..." Es deutete mit dem Finger nach oben. "Die ist sooo groß, das ist bestimmt ein Wal. Ein Wolkenwal." Es kicherte.
"Das Impfen war überhaupt nicht schlimm", fuhr das Mädchen fort. "Ich hab sogar einen Lutscher bekommen. Und Kathi, die spinnt jetzt total." Es machte eine dramatische Kunstpause und setzte ein bedeutungsvolles, ernstes Gesicht auf. "Die will sich die Haare pink machen. Ich weiß nicht genau, wie, aber sie sagt, es geht. Ich glaube nicht, dass das schön aussieht. Pink ist nur an Kleidern und an Luftballons schön, aber nicht an Haaren. Papa sagt, sie repelltriert... äh, oder so. Ich weiß nicht. Er benutzt immer so komische Wörter. Aber das hat wohl auch mit ihrer Puhbär-Krankheit zu tun."
Zwei Menschen näherten sich, deshalb schwieg das Mädchen für eine Weile und hörte lieber zu. Die beiden Frauen, eine alte und eine junge, gingen ganz dicht an ihm vorbei, und als es sicher war, dass sie außer Hörweite waren, stand es auf und schulterte ihre Schultasche wieder.
"So, Mami. Ich muss nach Hause. Bis morgen, ja?"
Es wartete und lächelte schließlich. Dann winkte es, machte kehrt und hopste den Weg hinunter. Die Frauen schauten dem Mädchen hinterher.
"Wer war das?"
"Das war die Kleine von Hoffmanns. Die kommt jeden Tag nach der Schule her, setzt sich an das Grab ihrer Mutter und redet mit ihr."
"Ach, das arme Kind. Was ist passiert?"
"Ein Unfall."
