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Papierherz

Bleistiftspuren bleiben
von

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Kolja

So, hier ein sehr kurzer Prolog, der mir im Kopf herum schwebte und nieder geschrieben werden wollte. Das nächste Kapitel spielt vor der Zeit dieses Prologs. Jeder, der einen Kommentar hinterlässt, bekommt für das folgende Kapitel eine Benachritigung per ENS.

Liebe Grüße :)

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»Hör mal, ich bin wirklich sehr geschmeichelt, aber ich stehe nicht auf-«
 

»Das kannst du doch gar nicht wissen, wenn du es nicht mal ausprobiert hast!«
 

Seine Nerven waren ohnehin arg strapaziert. Und nun stand da dieser Grünschnabel von einem Erstsemester und offenbarte ihm, dass er ihn daten wollte. Daten. Was für ein schreckliches Wort! Er hatte nie viel dafür übrig gehabt, für all diese Dinge, mit denen sich viele seiner Mitstudenten liebend gern beschäftigten.
 

Ganz abgesehen davon, dass er nichts von Dates hielt, hielt er noch weniger von Dates mit Männern. Und gerade das wollte man ihm aufschwatzen. Besser gesagt: Genau das wollte Kolja ihm aufschwatzen. Strahlend und bestens gelaunt, eine Zigarette hinters Ohr geklemmt und mit einem lässig aus der Hose hängenden Hemd. Womit hatte er das verdient? Er hatte doch wirklich nur voller Engagement dieses Tutorium führen wollen. Jetzt bekam er die Quittung dafür.
 

»Ich brauche das nicht auszuprobieren. Ich bin nicht schwul, ok?«
 

»Ja, das sagen sie alle«, winkte Kolja ab und spielte gut gelaunt an seinem Lederarmband herum, »Komm schon, Jannis! Ich beiße nicht. Nur mal abends Billard spielen oder so!«
 

»Nein!«
 

In der Hoffnung, dass seine Stimme möglichst autoritär geklungen hatte, wandte er sich ab und stapfte von dannen, ließ den elenden Nervbeutel zurück und schob seine Hände missmutig in die Taschen seiner ausgeblichenen Jeans. Ungeheuerlich war das alles. Kolja war ungeheuerlich! Sicher kam er nur ins Tutorium, um ihn zu ärgern! Vermutlich brauchte er das Tutorium gar nicht! Das musste es sein. Und überhaupt, Kolja. Wer hieß denn bitteschön Kolja?
 

»Wir könnten auch Eislaufen gehen«, ertönte eine gut gelaunte Stimme neben ihm. Jannis verdrehte die Augen. Die größte Nervensäge unter der Sonne, die hieß Kolja. So viel war sicher.

Der Anfang vom Ende

Noch mal zur Erinnerung: Dieses Kapitel spielt vor dem Prolog. Danke für die lieben Kommentare, die ihr hinterlassen habt :)

Viel Spaß beim zweiten Kapitel!

Liebe Grüße :)

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Die Eieruhr auf seinem Küchentisch piepte eindringlich, um ihm mitzuteilen, dass sein Mittagessen fertig war. Jannis fischte nach einem sehr lädiert aussehenden Topflappen, drehte den Ofen aus und zog behutsam eine brutzelnde Tiefkühllasagne aus dem Ofen. Ein leises Maunzen hinter ihm ließ ihn lächeln.

»Du kriegst keine Lasagne, Lana«, sagte er amüsiert, stellte sein Essen auf einem Teller ab, der bereits auf dem Küchentisch stand und legte den ausgeleierten, schmuddeligen Topflappen beiseite. Seine Augen suchten nach der weißen Katze, die irgendwo unter einem der Stühle lauern musste, um etwas von seinem Essen zu ergattern.

Lana kam aus ihrem Versteck und strich ihm schmeichelnd um die Beine. Sie war ziemlich klein und zierlich für eine ausgewachsene Katze, hatte weißes Fell und hier und da einen braunen Fleck. Er fragte sich, wie sie es schaffte, ihre schlanke Linie zu halten, obwohl sie immer und überall Hunger hatte.
 

Er griff nach seinem Besteck und ließ sich an seinem kleinen Küchentisch nieder.

Die Küche war klein, makellos sauber und aufgeräumt. Er mochte es, wenn alles geordnet und aufgeräumt war. Das sah man an seiner ganzen Dachgeschosswohnung. Er war froh, dass er nicht in einem Wohnheim leben musste, bei Gemeinschaftsduschen und einer Küche für zwanzig Leute wäre er aus dem Saubermachen vermutlich gar nicht mehr heraus gekommen.

Lana blieb unter seinem Stuhl sitzen und begann sich zu putzen. Irgendwo im Wohnzimmer lag Hermes, sein dunkelgrauer Kater, sicherlich faul und dösend auf dem Sofa.

Es war kurz nach eins und er hatte um drei das erste Mal sein Tutorium, dessen Leitung er in diesem Semester übernommen hatte.

Sein Literaturwissenschaftsprofessor war mit dieser Bitte an ihn herangetreten, da Jannis einer seiner besten Studenten war.
 

Während er seine Lasagne aß und Lana sich unter seinem Stuhl putzte, ging er noch einmal die letzte Vorlesung durch, die er besucht hatte, um Notizen für sein Tutorium zu machen. So weit er wusste, hatten sich ungefähr zwanzig Leute für seinen Tutoriumstermin in die Liste eingetragen und er hoffte inständig, dass er nicht einen Haufen fauler Banausen abbekommen hatte, die einfach nur jemanden brauchten, der ihnen alles noch einmal vorkaute.

Es war ein klarer Oktobertag mit azurblauem Himmel und herrlich bunt gefärbten Blättern, die unter seinen Füßen raschelten, während er mit seiner Umhängetasche am Park vorbei schlenderte, um die Universität zu erreichen. Er fuhr nicht gern Fahrrad und ein Auto brauchte er selten, da er mitten in der Innenstadt wohnte und alles bequem zu Fuß erreichen konnte.
 

Er schob seine Brille auf der Nasenwurzel nach oben, bog nach links in eine stark befahrene Straße ein und sah schon von weitem die hohen Gebäude der Universität, die er nun seit mehr als zwei Jahren besuchte.

Wie zu erwarten, war er der erste in dem schönen, neu renovierten Seminarraum mit all den Holztischen und dazu passenden Stühlen.

Umsichtig packte er seine Unterlagen aus, seinen dicken und säuberlich in einen Umschlag gewickelten Band ‚Literaturgeschichte’, seine Metallbox mit den Stiften darin und seine Plastikflasche, die mit Orangensaft gefüllt war. Er nahm seine Armbanduhr vom Handgelenk, legte sie sorgfältig vor sich auf den Tisch und ging dann hinüber zu einem der Fenster, um frische Luft in den Raum zu lassen.
 

»Bin ich hier richtig beim Literaturwissenschaftstutorium?«, keuchte eine Stimme an der Tür. Jannis drehte sich um und blickte einem jungen Mann entgegen, der einen merkwürdigen Haarschnitt hatte. Eine Zigarette klemmte hinter seinem Ohr.

»Ja, das ist richtig«, erwiderte er und schaffte ein aufmunterndes Lächeln. Der Fremde seufzte erleichtert, betrat den Raum und ging hinüber zu einem Platz in der ersten Reihe. Jannis beobachtete, wie er seine Tasche vor sich auf den Tisch warf, sich auf den Stuhl setzte und seine dunkelblonden Haare aus der Stirn schob.

»Ich dachte schon, ich find den Raum nicht«, sagte er grinsend, öffnete die Schnallen seiner scheinbar uralten Ledertasche und kramte nach einer Flasche Cola.

»Jetzt bist du ja hier und weißt Bescheid«, gab Jannis zurück und wandte sich zur Tafel. Gerade fragte er sich, ob er seinen Namen und seine Emailadresse anschreiben sollte, als der Neuankömmling ihn in seinen Gedanken störte.
 

»In welchem Semester studierst du?«, erkundigte er sich aus heiterem Himmel. Jannis drehte sich zu ihm um.

»Im Fünften«, gab er zurück. Der Blonde saß mittlerweile auf dem Tisch, baumelte mit den Beinen und spielte mit einem Lederarmband an seinem linken Handgelenk.

»Ich bin nur durchs Nachrückverfahren reingerutscht. Ich hoffe mal, dass ich den Stoff packe. Hast du diese Wahnsinnsliste auch, wo über zweihundert Bücher drauf stehen, die man gelesen haben muss?«, fragte er.

Jannis seufzte innerlich. Er konnte mit gesprächigen Menschen wenig anfangen. Und dieser Erstsemester schien ausgesprochen redselig zu sein.

»Ja, die Liste hab ich damals auch bekommen. Ich hab sie bereits durch«, gab er zur Auskunft, nahm sich schließlich doch ein Stück Kreide und begann sorgfältig seinen Namen und seine Emailadresse an die Tafel zu schreiben.

»Du bist wohl richtig gut, was? Jannis«, sagte der Erstsemester.
 

Einen Moment lang fragte sich Jannis, woher der Kerl seinen Namen kannte, bis ihm bewusst wurde, dass er genau diesen eben gerade sehr groß an die Tafel geschrieben hatte. Er verkniff sich eine Erwiderung und zu seiner Erleichterung tröpfelten in diesem Moment mehrere Mädchen in den Raum und suchten sich angeregt schwatzend einen Platz.

Zehn Minuten später war der Raum voll mit Erstsemesterstudenten, die sich unterhielten oder ihn erwartungsvoll anblickten. Jannis spürte, dass sein Hals ein wenig trocken geworden war. Das waren nicht zwanzig Studenten, das waren mindestens doppelt so viele. Einige saßen hinten auf den Fensterbänken.

Direkt neben dem gesprächigen Blondschopf saßen zwei Mädchen, die sich leise kichernd über etwas unterhielten. Sie warfen dabei hin und wieder Blicke hinüber zu ihrem Tischnachbarn. Jannis räusperte sich.

»Also, ich denke, wir sind langsam vollzählig… hoffentlich«, sagte er und die Stimmen erstarben.
 

»Ja… ich bin Jannis«, er deutete auf die Tafel hinter sich, »das da ist meine Emailadresse. Ich gebe gleich eine Liste rum, in die ihr euch eintragen könnt. Wer Infomails haben will, falls es mal Unterlagen zum Rumschicken gibt, oder falls das Tutorium ausfällt, der kann seine Emailadresse auch mit drauf schreiben.«

Er setzte sich an den Tisch, auf dem er all seine Sachen bereits drapiert hatte und räusperte sich erneut.

»Das hier ist mein erstes Tutorium, falls es also Wünsche, Anmerkungen oder Kritik gibt, dann sagt mir einfach Bescheid… Gibt es irgendwelche organisatorischen Fragen, sonst fange ich gleich mit der ersten Vorlesung an.«

Ein Schweigen antwortete ihm, dann hob der Blondschopf in der ersten Reihe die Hand.

»Ja?«, sagte Jannis und griff nach seiner Flasche mit Orangensaft, um sich einen Schluck gegen die Nervosität zu nehmen. Der Fremde grinste.

»Ich hab eine Frage. Hast du eine Freundin?«

Fast hätte Jannis die Flasche in seinen Schoß fallen lassen. Er starrte den Fragensteller an, während alle anfingen zu lachen oder zu tuscheln.
 

»Ich glaube nicht, dass das hier her gehört«, sagte er schließlich und bemühte sich dabei, möglichst gelassen zu klingen. Trotzdem spürte er, wie ihm unangenehme Hitze in die Wangen kroch. Was war mit diesem Kerl los? Erst quatschte er ihn voll, dann fragte er ihn solche Sachen? Und das auch noch vor allen anderen, vermutlich wollte er sich über ihn lustig machen…

Zu seiner Erleichterung meldete sich weiter hinten ein blondes Mädchen.

»Bis zu welchem Semester sollen wir diese Liste gelesen haben?«, erkundigte sie sich mit einem beinahe panischen Unterton.

»Niemand zwingt euch, alle Werke auf der Liste zu lesen. Es ist natürlich empfehlenswert. Und es ist sicherlich nicht allzu schlecht, sie bis zum Anfang des sechsten Semesters gelesen zu haben. Wahrscheinlich stehen auch einige Sachen drauf, die ihr schon mal irgendwann in der Schule gelesen habt«, erklärte er und genehmigte sich nun endlich einen Schluck Orangensaft. Dann schlug er seine Vorlesungsnotizen auf, sah sich noch einmal um, ob jemand Fragen hatte, dann blickte er auf seine Notizen hinunter. Er hatte das deutliche Gefühl, dass der Blonde aus der ersten Reihe ihn anstarrte.
 

Dann begann er, die Vorlesung durchzugehen. Er stellte Fragen, forschte nach, ob es Schwierigkeiten im Stoff gab, nannte einige Zusatzinformationen, empfahl gute Nachschlagewerke. Die Nervosität am Anfang verflog relativ rasch und er war froh zu sehen, dass immerhin ein Drittel des Kurses gut mitarbeitete.

»Wenn ihr in der Vorlesung Fragen habt«, sagte er am Schluss, während alle ihre Unterlagen zusammen packten, »dann schreibt sie immer auf, ich beantworte sie, so gut ich kann.«

Er fischte nach der Namens- und Emailliste, die eines der Mädchen aus der ersten Reihe ihm reichte, und steckte sie zu seinen anderen Unterlagen in die Tasche. Der Großteil der Studenten war bereits aus dem Raum geströmt, als er gerade seinen Orangensaft in die Tasche schob. Neben ihm tauchte ein Paar Beine auf.
 

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte eine Stimme neben ihm. Jannis holte tief Luft, dann richtete er sich auf und sah dem aufdringlichen Erstsemester entgegen.

»Es geht dich wirklich nichts an, ob ich eine Freundin habe«, sagte er kühl.

»Ich heiße Kolja. Und wahrscheinlich heißt das, dass du keine Freundin hast«, sagte er breit grinsend und fischte die Zigarette hinter seinem Ohr hervor.

Jannis war so verdattert von so viel Dreistigkeit, dass ihm nicht einmal eine Antwort einfiel.

»Find ich gut. Das heißt, du bist zu haben!«

Und mit diesen rätselhaften und empörenden Worten hob Kolja seine Hand zum Gruß und verschwand durch die offene Tür aus dem Seminarraum. Jannis starrte ihm nach. Er konnte es nicht fassen. Was genau hatte das nun bedeuten sollen? Er war überhaupt nicht zu haben! Für niemanden! Er hatte zwei Katzen und seine Bücher. Mehr brauchte er nicht.

Während er den Seminarraum verließ, wurde ihm unangenehm bewusst, dass er Kolja nun jeden Dienstag um drei Uhr beim Tutorium sehen würde.

Erdbeermilchshake und Thunfischbaguette

Hier kommt also Nebencharakter Nr. 1: Jannis' bester Freund, für dessen Namen ich gestern schnell eine Umfrage gestartet habe. Ich hoffe, dass ihr ihn und das Kapitel mögt ;) Ich steh auf Subway (seit ich mich reingetraut habe :D).

Danke für die lieben Kommentare bisher.

Viel Spaß beim Lesen,

Liebe Grüße :)
 

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»Also bedeutet das, dass du bald mit ihm ausgehst?«
 

»Nein! Das bedeutet, dass er… unverschämt ist!«
 

Mareks Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, als er scheinbar angestrengt über diese neue Entwicklung der Dinge nachdachte.

»Aber er sieht gut aus?«, sagte er dann. Er rollte das ‚R’ leicht, wenn er sprach. Jannis starrte seinen besten Freund an, der in einem schwarzen Mantel steckte und an einem Erdbeermilchshake nuckelte. Seine dunkelbraunen Augen sahen nachdenklich aus, so als wäre das, was Jannis ihm gerade geschildert hatte, ein großes, spannendes Rätsel.

»Das hat doch damit gar nichts zu tun«, erwiderte Jannis völlig verwirrt und schnappte Marek den Milchshake weg.

»Du solltest weniger davon trinken, das Zeug bekommt dir nicht«, fügte er hinzu. Marek war vollkommen unbeeindruckt davon. Er griff nach dem Becher und nahm ihn sich zurück.
 

»Du solltest die Schuld an alledem nicht meinem Milchshake geben«, verkündete Marek sachlich. Jannis’ bester Freund war kleiner als er, hatte undefinierbar gefärbtes Haar und meistens sah sein Gesicht verträumt aus, als wäre er mit den Gedanken in einer anderen Welt. Manchmal redete er auch so, als wäre er in einer anderen Welt. Insgeheim hatte Jannis schon öfter vermutet, dass sein bester – und einziger – Freund ein Außerirdischer war. Vielleicht war das auch der Grund, dass Jannis sich mit ihm verstand. Denn abgesehen von Marek hielt er von Menschen nicht besonders viel.

»Du kannst nicht behaupten, dass das nicht dreist war, mich vor allen anderen zu fragen, ob ich vergeben bin«, entrüstete er sich von Neuem. Die Antwort darauf war ein Schlürfen des Strohhalms.
 

Sie waren in der Innenstadt unterwegs. Der Himmel war mit einigen, weißen Wolken übersät, es war angenehm mild und in der Fußgängerzone herrschte reges Treiben.

»Aber du bist nicht vergeben. Außer vielleicht an mich«, sagte Marek und ein Schmunzeln breitete sich auf seinem gebräunten Gesicht aus. Jannis spürte, wie ihm Hitze ins Gesicht stieg.

»Ich bin überhaupt nicht an dich vergeben. Du bist ja selber vergeben. Sebastian würde mir den Kopf abreißen, wenn du ihm gegenüber solche Scherze machst«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie saßen auf einer Bank am Rande des Getümmels. Jannis hatte einen wahnsinnigen Hunger, aber Marek nuckelte schon seit Ewigkeiten an seinem Milchshake und wollte ganz genau erläutert haben, was denn nun genau beim ersten Tutorium passiert war.
 

Marek machte gern Späßchen darüber, dass Jannis noch nie an irgendjemanden vergeben gewesen war. Weder an eine Frau, noch an einen Mann. Marek selbst war überzeugt homosexuell und er ließ keine Gelegenheit aus, Jannis davon überzeugen zu wollen, dass auch in ihm eine ‚schwule Ader’ steckte.

»Du bist entzückend, wenn du rot wirst, weißt du das? Bist du beim Tutorium auch rot geworden? Dann kann ich es deinem neuen Verehrer wirklich nicht übel nehmen, dass er dich angebaggert hat«, erklärte Marek gelassen und lächelte ihn verschwommen über seinen Milchshake hinweg an.

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, empörte sich Jannis mit heißem Gesicht. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Marek ihm Komplimente machte. Hauptsächlich deswegen, weil er nie wusste, ob sie ernst gemeint waren, oder nur dazu dienten, ihn verlegen zu machen.
 

»Ach, ich muss mich für eine Seite entscheiden? Das hättest du mir gleich sagen sollen. Du weißt doch, ich brauche immer so lange, um mich zu entscheiden…«, entgegnete Marek unverbindlich, stand auf und warf seinen leeren Milchshake- Becher in den Mülleimer neben der Bank. Jannis atmete tief durch, dann erhob er sich ebenfalls und sah Marek missmutig an. Sein bester Freund zupfte an seinen grauen Handschuhen herum, dann strich er sich durch die kinnlangen, dunklen Haare und lächelte Jannis aufmunternd an. Wozu er ihn ermuntern wollte, wusste Jannis nicht so genau.

»Ich möchte zu Subway«, verkündete Marek, »ich hab Lust auf Thunfisch.«

Jannis verdrehte die Augen, konnte ein leichtes Schmunzeln jedoch nicht verhindern.

»Erdbeermilchshake und Thunfisch. Das passt zu dir«, sagte er nur kopfschüttelnd und wandte sich nach links, um den Weg zu Subway einzuschlagen.
 

Auf dem Weg dorthin berichtete Marek von seinem letzten Treffen mit Sebastian. Die beiden waren erst seit wenigen Wochen zusammen und auch wenn Marek einige Zeit lang einen ziemlichen Verschleiß an Männern gehabt hatte, schien es ihm mit dem Fotographen- Azubi doch ziemlich ernst zu sein.

»Ich glaube, wenn man mich früher zum Sternegucken im Garten eingeladen hätte, dann wäre ich eilends von der Bildfläche verschwunden«, sagte Marek nachdenklich, »ich steh nicht so auf dieses romantische Zeug. Aber Basti war schon ziemlich niedlich dabei. Ich hätte nichts gegen Sex unterm Sternenhimmel gehabt, aber ich glaube, mit dem Thema Sex ist er noch ein wenig überfordert.«

Jannis räusperte sich verlegen und schob sich die Brille auf der Nasenwurzel nach oben. Das Thema Sex gehörte nicht unbedingt zu seinen Favoriten.

»Ich frage mich, ob es besser wäre, wenn er unten oder oben liegt. Was meinst du?«

Und er wandte sich mit ehrlichem Interesse zu Jannis, dessen Kopf mittlerweile vermutlich einer überreifen Tomate glich.
 

»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung«, gab er etwas knatschig zurück. Marek wusste genau, dass er sich nicht für Sex interessierte…

»Ich weiß, dass du keine Ahnung hast«, belehrte Marek ihn und pustete sich eine seiner dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht, »weißt du noch damals, als du mit Jess…«

Jannis streckte die Hand aus und hielt seinem besten Freund den Mund zu.

»Fang bloß nicht davon an!«, ermahnte er den Kleineren. Marek kicherte gegen seine Hand und hob seine eigene, um mit zwei Fingern zu schwören.

Sie erreichten Subway und Marek hatte Gott sei Dank das Thema Sex fallen lassen. Gut gelaunt stieß er die Tür auf, Jannis folgte ihm und schon im nächsten Moment packte er Marek am Kragen und zog ihn rückwärts aus dem Laden.

»Thunfisch!«, klagte Marek lauthals.

»Pscht!«, zischelte Jannis und zog seinen besten Freund hastig um eine Ecke. Marek sah ihn vorwurfsvoll an.
 

»Dir ist hoffentlich klar, dass du einen sehr guten Grund brauchst, um mich rechtmäßig und ohne schreckliche Folgen noch länger von meinem Thunfischbaguette fernzuhalten?«, fragte er bedächtig und hob seine schmalen Augenbrauen. Jannis warf einen Blick über die Schulter.

»Der Typ hinter dem Tresen«, flüsterte er und kam sich vor wie ein Verbrecher, oder noch schlimmer, wie ein Spion, »das ist er. Der dreiste Erstsemester aus meinem Tutorium!«

Mareks Augen weiteten sich interessiert und er wandte den Kopf, um einen Blick durchs Fenster zu werfen, doch der wurde ihm wundersamerweise von einer großen Speisekarte, die an der Scheibe klebte, verwehrt.

»Du meinst er ist da drin und verkauft Thunfischbaguettes?«, fragte Marek unverhohlen begeistert und gespannt. Jannis gab ein undefinierbares Geräusch zwischen einem Stöhnen und einem Knurren von sich.

»Er verkauft sie nicht nur, er belegt sie auch. Wir müssen wo anders essen gehen!«

Mareks begeisterte Miene verfinsterte sich sogleich.
 

»Oh nein, mein Lieber. Das kommt nicht in Frage. Sei ein Mann und stell dich deinen Ängsten, ich will mein Thunfischbaguette. Sofort!«

Und mit diesen Worten bugsierte sein bester Freund ihn zurück in die Subwayfiliale, in der der nervtötende Erstsemester stand und gerade ein junges Mädchen mit Cookies und Fanta bediente.

Als er das Bimmeln der Tür hörte, hob er den Kopf mit der komischen Frisur und setzte zu einem ‚Guten Tag!’ an. Dann erkannte er Jannis und ein Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Hallo!«, sagte er und sah aus, als würde er sich wie ein Schneekönig freuen. Jannis bemühte sich, eine professionell distanzierte Miene zu wahren.

»Guten Tag«, sagte er abweisend. Marek neben ihm betrachtete den Blondschopf interessiert.

»Ich mag diese Frisur«, erklärte er unverblümt. Der aufdringliche Erstsemester wandte sich erstaunt zu Marek um.

»Danke«, sagte er und musterte Marek gespannt, als würde er versuchen, ihn einzuschätzen.
 

»Ich muss jetzt dringend ein Thunfischbaguette haben«, erklärte Marek sachlich, als wäre es das Normalste auf der Welt einem wildfremden Menschen zu sagen, dass man seine Frisur mochte, »sonst sterbe ich.«

Jannis grübelte darüber nach, wie der Kerl noch mal hieß. Kristian? K… Nico…? Nein. Er hatte ihm seinen Namen gesagt, da war er ganz sicher. Aber kein Wunder, dass er ihn wieder verdrängt hatte.

»Ein Halbes oder ein Ganzes?«, erkundigte sich der Nervsack grinsend.

»Ein Ganzes, Cheese & Oregano, gebacken und mit Extra- Käse!«, erklärte Marek mit leuchtenden Augen.
 

Jannis sah zu, wie der Blonde gut gelaunt und ausgesprochen beschwingt – so als würde ihm diese leidige Arbeit wirklich Spaß machen – das Baguette belegte und in den Ofen schob. Dann wandte er sich mit leuchtenden Augen und einem leichten Schmunzeln an Jannis.

»Und was nimmst du?«

»Ein halbes Vegetarisches, Sesam, auch gebacken und ohne Extrakäse«, brummte Jannis ungehalten und verschränkte die Arme vor der Brust.

Jannis warf einen Blick auf das Namensschild. Den Nachnamen konnte er auf die Schnelle nicht lesen, aber der Vorname begann mit K. Also doch Kristian?

»Alles an Salat drauf?«
 

»Keine Oliven und keine grüne Paprika. Peperoni können ruhig ein paar mehr drauf«, sagte Marek und beobachtete, wie Jannis’ persönliche Tutoriumsnervensäge mit Plastikhandschuhen bewährten Fingern Salat auf dem Thunfisch verteilte.

»Sweet Onion«, sagte sein bester Freund, noch bevor der andere nach der Soße fragen konnte.

Jannis grübelte immer noch über den Namen nach, als sich der Blondschopf an ihn wandte.

»Keine Oliven und Peperoni, auch Sweet Onion«, sagte er und blickte Marek hinterher, der glücklich summend mit seinem Baguette hinüber zu einem der Tische ging. Resigniert stellte Jannis fest, dass der Tisch in Blickweite des Tresens lag.

»Wenn ich dir ein Getränk spendiere, sagst du mir dann, ob der Typ da drüben dein Freund ist?«, fragte die personifizierte Dreistigkeit. Jannis starrte ihn an.

»Nein!«
 

Marek packte unterdessen in aller Seelenruhe sein Baguette aus.

»Nein, du sagst es mir nicht, oder Nein, er ist nicht dein Freund?«, erkundigte sich der Andere unvermindert grinsend, während er Jannis’ Baguette in Papier einwickelte.

»Nein, ich sage es dir nicht und Nein, er ist nicht mein Freund!«, empörte sich Jannis und fragte sich einen Moment lang, wieso der andere lachte, bis ihm auffiel, dass er die Frage gerade beantwortet hatte. Unwirsch schnappte er dem Vollidioten das Baguette aus der Hand und zahlte beide Bestellungen. Er und Marek luden sich meistens abwechselnd zum Essen ein und die letzte Pizza hatte Marek gezahlt.

»Guten Appetit«, sagte K., dessen Namen Jannis vergessen hatte und er schnaubte nur, wandte sich ab und stapfte hinüber zu Marek, wo er seine Jacke auszog und sie über den Stuhl hängte.

»Du hast mich verleugnet, ich hab’s gehört«, meinte Marek amüsiert.

»Wir sind nicht zusammen! Und ihn geht das sowieso gar nichts an! Sehe ich etwa schwul aus?«, fragte er leicht aus dem Zusammenhang gerissen.
 

Marek biss mit Unschuldsmiene in sein Baguette und schloss genießerisch die Augen.

»Er sieht tatsächlich gut aus«, entgegnete er mampfend, ohne auf Jannis’ Frage zu antworten.

»Ich kann mich nicht mal an seinen Namen erinnern«, schnaubte Jannis, um Marek zu verdeutlichen, wie wenig ihn dieser aufdringliche Kauz interessierte. Marek biss erneut in sein Baguette und wischte sich mit dem Daumen etwas Soße aus dem Mundwinkel.

»Das kommt schon noch wieder, keine Sorge. Dir ist doch klar, dass Desinteresse das Gegenteil von deiner Empörung ist, oder?«

Manchmal, dachte Jannis und wickelte energisch sein Baguette aus, manchmal wollte er seinen besten Freund knebeln und in irgendeinen Besenschrank sperren, damit er nicht ständig in seinen Gedanken herumdümpelte und sie ihm anschließend vorhielt. Hinter dem Tresen schmunzelte K. immer noch.

Schlechtes Gedächtnis

Ich hoffe, ihr nehmt mir die Länge Kürze der Kapitel nicht allzu übel. Ich muss erstmal ein wenig in Fahrt kommen. Man kennt das ja von mir *hust* Danke für die lieben Kommentare und die Favoriteneinträge bisher, ich versuche mich immer für alle Kommentare zu bedanken, aber manchmal mangelt's an Zeit. Ich hoffe, das seht ihr mir nach.

Viel Spaß beim Lesen und einen schönen Abend wünsche ich!

Liebe Grüße :)

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»…Hermann Brochs Schlafwandler…«
 

»…Nietzsches Zarathustra…«
 

Jannis massierte sich die Schläfen. Wenn er gewusst hätte, dass diese Liste dermaßen einschlagen würde, dann hätte er es sich mit dem Tutorium vermutlich anders überlegt. Drei Viertel aller ‚organisatorischen’ Fragen am Anfang des Tutoriums drehten sich um die Bücherliste.

»Wie ich schon sagte, verbindlich von den deutschen Titeln aus dem Mittelalter bis 1945 sind nur 30…«

»Aber wir müssen zwischendurch doch sicher auch noch mal englische Bücher lesen, oder nicht?«
 

Wenn dieses blonde Küken ihm noch eine Frage zu der Bücherliste stellen würde, dann musste er sie womöglich erwürgen. Er atmete zweimal tief durch und räusperte sich, um möglichst ruhig zu antworten, aber…

»Wenn du die ganze Zeit nur am Rumheulen bist, weil du zu viel zu lesen hast, dann solltest du dir vielleicht einen anderen Studiengang suchen.«

Jannis starrte K. an. Er hatte den Namen immer noch nicht in den Tiefen seines Gedächtnisses entdeckt.

Die junge Frau schien einigermaßen entrüstet darüber zu sein, dass K. sie dermaßen offen kritisierte, gleichzeitig war sie aber offensichtlich zu perplex, um etwas antworten zu können.
 

Jannis beschloss, dass dies genau der richtige Moment war, um einfach mit dem Stoff zu beginnen und die elende Diskussion über all die zu lesenden Werke abzuhaken.

»Hat denn jemand Fragen zur letzten Vorlesung?«, erkundigte er sich und augenblicklich schossen fünf Hände in die Höhe.

Er nahm sich einen Schluck Orangensaft, dann rief er den ersten auf und begann Frage um Frage zu beantworten. Er freute sich schon nach einer Viertelstunde auf das Ende des Tutoriums. Zu Hause konnte er sich mit einem guten Buch und seinen beiden flauschigen Mitbewohnern ins Wohnzimmer setzen und die Stille genießen.

K. hob die Hand, um eine Frage zur Vorlesung zu stellen.

Jannis fragte sich, ob er zu Hause wirklich die Ruhe haben würde, um zu lesen. Es fehlte nur noch, dass K. jetzt wieder mit diesen nervigen Fragen zu seinem Privatleben aufwaten würde.
 

»Bei dem vorletzten Punkt von seiner Powerpoint- Präsentation stand ich irgendwie ziemlich auf dem Schlauch. Kannst du das noch mal erklären?«

Wahnsinn. Keine Fragen zu seinem Privatleben. Vielleicht würde der Tag doch noch besser werden.

Also erklärte er. Er schrieb an die Tafel, zeigte seine eigene Powerpoint- Präsentation, die er gestern Abend zu Hause angefertigt hatte und teilte Handouts aus. Er stellte sich vor, wie Marek ihm verkündete, dass er sich zu viel Arbeit für dieses Tutorium machte. Aber das war Jannis’ Art. Wenn er etwas anpackte, dann gab er sich auch alle Mühe dabei.

Marek war da anders. Er fing eine seiner Matheaufgaben an, hatte dann auf der Hälfte der Strecke keine Lust mehr und widmete sich der nächsten spannenden Aufgabe. Wenn alle Mathematikstundenten so arbeiten würden, dann wäre dieser Berufszweig sicherlich auf dem absteigenden Ast.
 

Es war nicht so, dass Marek diese Aufgaben, die er nicht zu Ende machte, nicht hätte lösen können. Marek konnte jede Matheaufgabe lösen. Er konnte Pi auf 34 Stellen hinter dem Komma aufsagen und die Quadratwurzeln von allen möglichen fünfstelligen Zahlen im Kopf ausrechnen. Jannis fragte sich dunkel, ob die Freundschaft zwischen einem Germanisten und einem Mathematiker wirklich so eine gute Idee war. Andererseits war genau dieser Mathematiker der einzige Mensch, den Jannis länger aushalten konnte. Es war schon ein merkwürdiger Wink des Schicksals.

Seine Gedanken schweiften ab, während die Erstemester- Studenten fleißig die Handouts abhefteten und die Notizen von der Tafel abschrieben. Als er sich aus seiner Gedankenwelt zurück zwang, bemerkte er, dass K. ihn anstarrte. Na toll.
 

»Auf dem Handout unten stehen ein paar Fragen zur Wiederholung. Wenn ihr die bis nächstes Mal machen könntet, damit wir damit arbeiten können… und ich habe ein paar vertiefende Texte in den Vorlesungsordner in der Bibliothek gepackt, die ihr euch kopieren könnt…«

Jannis ignorierte die teils panischen und teils unwilligen Blicke angesichts mehrerer Texte und Aufgaben zum nächsten Mal, dann stand er auf, um die Tafel zu wischen.

Er hörte, wie hinter ihm alle den Raum verließen. Gerade wollte er den Schwamm sinken lassen, als ihn eine Stimme zusammen zucken ließ.

»Wusstest du, dass die Milch, die Kühe geben, rosa wird, wenn die Kuh zu viele Karotten gegessen hat?«

Jannis ließ vor Schreck den Schwamm fallen und starrte K. an. Was genau wollte er ihm damit sagen?

»Und das sagst du mir… wieso noch mal?«, gab er zurück und bückte sich nach dem Schwamm, doch K. war schneller. Er legte den staubigen Schwamm in die dafür vorgesehene Ablage und grinste.
 

»Ich versuche ein Gespräch mit dir anzufangen«, erklärte er schlicht. Jannis starrte den Kuhmilchexperten vollkommen perplex an.

»Und wie kommst du auf den Gedanken, dass mich Kuhmilch interessiert?«, wollte er wissen, wandte sich ab und begann seine Sachen zu packen. Denk an das Buch und deine Katzen, ermahnte er sich.

»Weiß nicht. Ich dachte, ich fang mit irgendwas Belanglosem an und frage dich dann, ob du nicht Lust hast, mit mir was Essen zu gehen«, erklärte K.

Jannis war sich ziemlich sicher, dass er jetzt aussah wie Mareks geliebter Erdbeermilchshake.

»Nein, habe ich nicht«, erwiderte er ungehalten, stopfte seine halbleere Flasche Orangensaft in die Tasche und klappte den Deckel zu.

»Aber warum nicht? Du siehst aus, als hättest du Hunger. Ich lad dich auch ein«, fuhr K. fort. Jannis widerstand der Versuchung, wieder seine Schläfen zu massieren.
 

»Sieh mal, K.«, meinte er dann und bemühte sich möglichst sachlich zu klingen, »ich habe wirklich kein-«

»K.?«, wiederholte sein Gegenüber und begann zu lachen. Jannis genehmigte sich ein kurzes Streichen über die Schläfen.

»Ich habe ein schlechtes Namensgedächtnis«, sagte entnervt. K. lachte immer noch.

»Kolja. Mein Name ist Kolja«, erklärte er dann und schien sich kein Stück darüber zu ärgern, dass Jannis ihn mit einem Buchstaben betitelt hatte.

»Dann eben Kolja«, gab Jannis ungehalten zurück und schob sich den Träger seiner Tasche über die Schultern, »ich habe keinen Hunger und selbst wenn ich Hunger hätte, dann würde ich nicht mit dir Essen gehen.«
 

Kolja gab sich nicht einmal die Mühe, irgendwie enttäuscht auszusehen.

»Hast du was gegen mich, oder gegen Menschen im Allgemeinen?«, erkundigte er sich und schlenderte neben Jannis aus dem Seminarraum.

»Ich muss mich vor dir sicherlich nicht rechtfertigen«, brummte Jannis ungnädig, schob seine Brille auf der Nasenwurzel ein Stück nach oben und stieg die Treppen hinunter. In diesem Augenblick fand er die lindgrün gestrichenen Wände noch schrecklicher als sonst.

»Musst du auch nicht. Aber der Mensch lügt an die 200 Mal am Tag, wusstest du das? Das bedeutet, dass du keinen Hunger hast, war sicher auch eine Lüge«, argumentierte Kolja. Jannis hatte nicht übel Lust, ihn kopfüber die Treppe hinunter zu schubsen.

»Ich lüge so gut wie nie«, brummte er.

»Nur weil du so gut wie nie mit jemandem redest«, gab Kolja zu bedenken.
 

Jannis schob die Tür auf und trat hinaus in die angenehm frische Luft eines Herbstnachmittags.

»Es geht dich nichts an, mit wem ich rede und mit wem nicht«, sagte er unfreundlich, schob erneut seine Brille ein Stück nach oben und stapfte in Richtung Innenstadt über den Campus davon. Kolja schien von seiner unfreundlichen Art nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Er ging weiterhin neben ihm her, zog eine Flasche Cola aus seiner Umhängetasche und nahm sich einen Schluck. Jannis hasste Cola. Er vertrug kein Koffein und wurde immer ganz hibbelig davon. Alkohol vertrug er auch nicht. Allgemein trank er eigentlich gar nichts anderes als Orangensaft und Milch.

»Also redest du nur mit deinem Freund von neulich?«, erkundigte sich Kolja schmunzelnd und schob die Cola wieder zurück in seine Tasche.
 

»Er ist nicht mein Freund, sondern ein Freund. Der Freund, um genau zu sein«, sagte er ungehalten. Er beschloss, Umwege zu gehen, nur für den Fall, dass Kolja vorhatte, ihm bis nach Hause zu folgen. Jannis fand die Idee von einem Stalker, der seinen Wohnort kannte, nicht sonderlich verlockend.

»Der war nett. Aber er hatte eine ziemlich spleenige Ausstrahlung«, erklärte Kolja. Jannis fragte sich, wieso ihn der andere die ganze Zeit von der Seite ansah. Als wäre sein Gesicht so spannend, dass man es pausenlos ansehen musste.

»Sag mal, musst du hier nicht irgendwo dringend abbiegen?«
 

»Gehst du gern ins Kino?«
 

»Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?«
 

»Wenn du mal was mit mir trinken gehst…«
 

»Nein, verdammt!«

Jannis stapfte um eine Ecke. Er war kaum mehr zweihundert Meter von seiner Wohnung entfernt, aber Kolja schien nicht geneigt zu sein, ihn in Frieden zu lassen. Dann hörte Jannis ein Klingeln und im nächsten Moment zog Kolja ein Handy hervor, um den Anruf entgegen zu nehmen. Jannis wartete nicht, bis der andere fertig mit Telefonieren war. Stattdessen wandte er sich um und hastete die Straße entlang zurück, bog in seine Straße ein und ertappte sich dabei, wie er die letzten zwanzig Meter zu seiner Haustür rannte, um es auch ja nicht zu riskieren, dass K…

Er runzelte die Stirn, während er die Tür aufschloss. Eilig drückte er sie hinter sich zu und als er die Treppe bis ins vierte Geschoss hinauf stieg, hatte er den Namen schon wieder vergessen.

Schlafende Delphine

Danke für 62 Favoriteneinträge und 59 Kommentare :) Das Kapitel ist für LOA, auch wenn sie das hier vermutlich nicht liest ;)

Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen!

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Eigentlich hatte er Spaß an seinem Tutorium. Der zusätzliche Papierkram, all die Vorbereitung und die Organisation, das war sein Ding. Wenn er bei alledem noch etwas weniger Kontakt mit Menschen gehabt hätte, wäre der Job ideal gewesen. Aber Jannis wusste, dass man im Leben nicht alles haben konnte. Seine Ruhe zum Beispiel. Die konnte man nicht haben, wenn ein aufdringlicher Erstsemester einem auf Schritt und Tritt folgte und offenbar alles über einen wissen wollte. Und es waren nicht einmal normale Fragen, die K. stellte, wenn er ihn gerade wieder bedrängte. K. hatte die Angewohnheit, entweder mit völlig abstrusen Informationen aufzulaufen:
 

»Wusstest du, dass Delphine beide Hirnhälften abwechselnd abschalten, um zu schlafen?«
 

»Hast du gewusst, dass in Norwegen jeder Kuh gesetzlich eine Matratze zum Schlafen zugesichert ist? «
 

Oder aber er stellte ihm Fragen, die ihm noch nie in seinem Leben irgendein Mensch gestellt hatte. Zugegebenermaßen kam es nicht oft vor, dass ihn überhaupt irgendjemand etwas fragte, – abgesehen einmal vom Tutorium und von Marek – aber falls dies doch einmal der Fall war, dann waren es normale Fragen. Fragen wie:
 

»Wie geht es dir?«
 

»Welche Note hast du auf die Klausur bekommen?«
 

»Ist der Sitzplatz hier noch frei?«
 

K. scherte sich nicht um die Maßstäbe anderer Menschen. Er bombardierte Jannis mit Fragen, auf die er manchmal spontan keine Antwort fand und dann saß er ewig lang zu Hause, versuchte zu lesen und kam nicht mit seinem Buch weiter, weil die unsinnigen Fragen des Erstsemesters ihm durch den Kopf spukten.
 

»Hast du lichte Träume?«
 

»Ich zerbrech’ mir manchmal stundenlang den Kopf über Fragen nach dem Huhn – Ei Prinzip, kennst du das? Das macht einen wahnsinnig, sag ich dir. Ich bin übrigens der Meinung, dass das Huhn zuerst da war, was ist mit dir?«
 

»Kannst du dir vorstellen, wie es wäre, nicht zu sein? Eine knifflige Frage, ich kann es nicht, glaub ich. Deswegen glaub ich auch an ein Leben nach dem Tod. Wie steht’s mit dir?«
 

Jannis wollte all das nicht über K. wissen und trotzdem tummelten sich in seinem Kopf nun hunderte von Informationen, auch wenn er sich den Namen seines Stalkers immer noch nicht hatte merken können. Aber er nahm das als gutes Zeichen. Das bedeutete, dass er sich immer noch gegen K.s’ Eindringen von außen wehrte. Wenn ihn schon die nervtötenden Fragen vom Lesen abhielten, dann hatte er wenigstens noch die Genugtuung, dass K. ihm dermaßen egal war, dass er seinen Namen einfach nicht behalten konnte.
 

Während das Semester dahin glitt, wurde das Wetter schlechter, K. blieb gleich bleibend nervig und Marek gruselte ihn zusehends. Er war immer noch mit Sebastian zusammen und normalerweise beliefen sich Mareks ‚Beziehungen’ auf eine Nacht oder aber höchstens zwei Wochen.

»Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«, erkundigte sich Jannis leicht besorgt, als Marek an einem Mittwoch leise summend auf Jannis’ Wohnzimmerboden saß, Hermes im Schoß und gerade damit beschäftigt, einen Kranich aus einem Stück Papier zu falten.

Marek sah verdutzt auf und legte sein papiernes Meisterwerk kurz beiseite. Hermes schnurrte behaglich und streckte sich, was Marek dazu veranlasste, ihn sachte zu kraulen.

»Was sollte denn nicht in Ordnung sein?«, fragte er und sah Jannis aus großen, dunklen Augen an.
 

»Na ja…«, begann Jannis und kam sich ein wenig dumm vor, jetzt da er es aussprach, »du bist mit Sebastian jetzt seit fünf Wochen zusammen. Das gab es noch nie.«

Auf Mareks schmalem Gesicht breitete sich ein verschwommenes Grinsen aus und Jannis bereute es sofort, nach Sebastian gefragt zu haben.

»Bist du eifersüchtig?«, wollte Marek amüsiert wissen und legte den Kopf schief, wobei ihm seine dunklen Haare ins Gesicht fielen.

Hermes gähnte und schnurrte weiter.

Jannis spürte, wie ihm ziemlich heiß wurde. Wie zur Hölle machte sein bester Freund das? Sie kannten sich seit Ewigkeiten und trotzdem lief Jannis bei jeder zweideutigen Bemerkung rot an.

»Nein!«, protestierte er augenblicklich, was Mareks Grinsen noch ein wenig breiter werden ließ.

»Also ja«, stichelte er zärtlich. Jannis seufzte resigniert und gab einen weiteren Widerspruch auf. Marek hatte diese irritierende Angewohnheit, in seiner eigenen Realität zu leben, wo alles genau so war, wie er es gern hätte.
 

»Sebastian ist… süß«, sagte Marek dann langsam und schien über seine Worte nachzudenken, »und irgendwie lässt es sich mit ihm ganz gut aushalten.«

Jannis schnaubte.

»Klingt unglaublich romantisch«, sagte er und lehnte sich in seinem Sessel ein wenig nach hinten, die Augen hinter der Brille immer noch auf seinen besten Freund gerichtet.

»Seit wann legst du wert auf Romantik?«, fragte Marek und klang ausgesprochen interessiert. Jannis starrte ihn an.

»Ich lege keinen Wert auf Romantik«, gab er zurück. Marek gluckste leise und spielte gedankenverloren mit Hermes’ Ohren. Der Kater hieb mit der Pfote spielerisch nach Mareks Fingern, doch der wich den sachten Schlägen aus, ohne hinzusehen.
 

»Wie läuft es mit dem hübschen Subway- Verkäufer?«, erkundigte sich Marek, ohne auf Jannis’ Statement zum Thema Romantik einzugehen. Jannis schnaubte empört.

»Was soll denn da laufen? Er nervt. Rennt mir ständig nach und stellt blöde Fragen und erzählt mir, dass Kühe in Norwegen gesetzlich eine Matratze zum Schlafen zugesichert bekommen«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Marek sah beeindruckt aus.

»Tatsächlich? Wie interessant«, erwiderte er und schien es auch wirklich so zu meinen. Jannis verdrehte die Augen.

»Vielleicht solltet ihr beiden euch kennen lernen. Dann kannst du ihn mit deinen mathematischen Fähigkeiten beeindrucken und er kann dir erzählen, wie Delphine schlafen…«

Marek gluckste erneut. Dann wurde er augenblicklich ernst und sah Jannis gespannt an.

»Wie genau schlafen Delphine?«

Jannis stöhnte und schüttelte den Kopf. Es konnte doch nicht wirklich Menschen geben, die diese sinnlosen Informationen spannend fanden.
 

Die nächste Vorlesung, die er für das Tutorium besuchte, lief ab wie immer. Er saß ganz vorne im Hörsaal, sprach vor Beginn der Lesung mit Herrn Dillmann und machte sich dann daran, mitzuschreiben. Er hatte K. schon ausfindig gemacht. Er saß irgendwo mittig in der achten Reihe, das hieß, Jannis konnte schnell entfliehen, bevor K. ihm wieder Dinge über schlafende Delphine erzählen konnte. Doch das Glück war nicht auf seiner Seite. Herr Dillmann wollte sich nach der Vorlesung unbedingt mitteilen, was den Stoff für die kommenden Veranstaltungen betraf und Jannis nickte, notierte und flehte, dass K. noch einen dringenden Termin hatte. Aber das Glück war ihm nicht hold. Als er das Gebäude verließ, stand K. am Geländer neben der Tür und schien auf jemanden zu warten. Jannis hoffte, dass er nicht derjenige war, der erwartet wurde und so ging er möglichst unauffällig an seinem Stalker vorbei. Doch der strahlte und winkte. Jannis stapfte weiter und wartete schon darauf, dass K. ihm nachlief, doch nichts dergleichen passierte.
 

Jannis konnte nicht umhin irritiert zu sein. Er wandte sich um, als er drei Meter gegangen war und sah ein junges Mädchen bei K. stehen. Sie hatte blondes Haar, genau wie er und sie war wild am Gestikulieren. Jannis blinzelte verwirrt, als K. dasselbe tat und es dauerte einige Momente, bis ihm klar wurde, dass das Mädchen, das dort stand, taubstumm sein musste. Gerade wollte er sich wieder abwenden und die Chance nutzen, sich aus dem Staub zu machen, als K. ihn entdeckte und das junge Mädchen in seine Richtung zog. Jannis wog schnell ab, ob es sich noch lohnte, davon zu rennen, doch da standen die beiden bereits vor ihm. Das Mädchen war kleiner als er und hatte ein ungewöhnlich strahlendes Lächeln, blaue- grüne Augen und Grübchen. Im nächsten Augenblick deutete sie auf ihn, strich sich mit dem Daumen über die Stirn und sah ihn fragend an, wobei sie die Handflächen nach oben hielt und die Finger spreizte. Jannis hob fragend die Brauen und sah K. an, der grinste.

»Sie fragt, wie du heißt«, sagte er.
 

Jannis grummelte leise.

»Und wie soll ich das beantworten? Ich kann keine Gebärdensprache«, sagte er unangenehm berührt. Das Mädchen lachte. Erneut folgte eine Reihe Gesten, dann hielt sie ihre rechte Hand hoch und begann, ihre Finger nacheinander in verschiedene Positionen zu bringen.

»Das ist das Fingeralphabet«, erklärte K., »sie heißt Marit.«

Marit wandte sich an K. und sah ihn fragend an, ehe sie erneut eine Gestenabfolge sehen ließ, so schnell, dass Jannis kaum folgen konnte. K. antwortete und sie lachte schon wieder, als sie sich erneut Jannis zuwandte.

»Sie sagt, sie freut sich, dich endlich mal kennen zu lernen«, sagte K. scheinheilig. Jannis funkelte ihn säuerlich an.

Dann zeigte er auf sich, streckte die Hand aus und deutete in die Ferne, womit er verdeutlichen wollte, dass er nun gehen musste. Er wandte sich ab und stapfte davon. Dunkel fragte er sich, ob er gerade die Mutter des Mädchens beleidigt hatte, oder ob sie verstanden hatte, was er sagen wollte.
 

Sicher war das K.s Freundin und damit hatte Jannis unstrittig bewiesen, dass der andere ihn die ganze Zeit nur hatte lächerlich machen wollen. K. hatte ihr sogar schon von ihm erzählt. Jannis versuchte sich vorzustellen, wie so ein Gespräch ausgesehen hatte.
 

»Da ist dieser Tutor, der denkt, ich steh auf ihn. Ich hab ihm erzählt, wie Delphine schlafen!«
 

»Ach echt? Wie peinlich. Den muss ich unbedingt mal kennen lernen.«
 

Entnervt schüttelte er den Kopf und machte sich auf den Weg nach Hause, während der Herbstwind ihm entgegenpeitschte. Der Himmel war grau, verhangen und es sah stark nach Regen aus. Er hoffte, dass er noch trocken nach Hause kam, doch gerade als er das dachte, begann es auf seine Brille zu tropfen und Jannis hätte am liebsten laut geflucht. Stattdessen legte er einen Schritt zu und zog sich seine Jacke über den Kopf. Es war bald halb fünf und er hatte ziemlich großen Hunger.

Vielleicht sollte er einfach eine Pizza bestellen, ehe er sich daran machte, die gehörte Vorlesung nachzuarbeiten.

Als er nach Hause kam, zog er sich die nasse Jacke und seine Schuhe aus, dann drückte er auf einen Knopf an seinem Anrufbeantwortet, der ihm blinkend mitteilte, dass Jannis eine neue Nachricht erhalten hatte.

»Hallo Schatz, hier ist deine Mutter. Wie du sicher weißt, hat dein Vater in einer Woche Geburtstag. Wir feiern mit der ganzen Familie am 28., es wäre schön, wenn du auch kommst. Die ersten Gäste kommen um 15:00 Uhr. Bis bald!«
 

Jannis seufzte, schüttelte kaum merklich den Kopf und kniete sich auf den Boden, als seine beiden Mitbewohner ihm entgegen schlichen. Lana maunzte leise und Hermes strich um seine Füße.

»Familienfeier«, murmelte er leise und strich den beiden über den Rücken, »wir lieben Familienfeiern, oder?«

Keiner der beiden antwortete ihm, aber Jannis wusste auch so, dass er Familienfeiern hasste, genauso wie die Gespräche über die Unzulänglichkeit seines Studiengangs. Vermutlich musste man sich solche Dinge anhören, wenn man aus einer Familie kam, die hauptsächlich aus Anwälten und Steuerberatern bestand und sich trotzdem nicht für ein Jura- sondern für ein Germanistikstudium entschied. Während er in die Küche ging, fragte er sich dumpf, was seine Verwandten sagen würden, wenn er ihnen davon erzählte, wie Delphine schliefen.

Museumsausreden

In diesem Kapitel sind wir mit der Zeitlinie des Prologs wieder gleichauf. Vielen Dank für die lieben Kommentare zum letzten Kapitel :)

Das Kapitel ist für Armaterasu, weil sie mit ihrem letzten Kommentar meine Pläne komplett über den Haufen geworfen hat ;)

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen,

liebe Grüße :)

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Jannis vergrub sich über das Wochenende hinweg in Büchern und Unterlagen. Er bereitete das nächste Tutorium vor, möglichst ohne dabei an K. zu denken. Allerdings erschien es ihm noch akzeptabler an K. zu denken, als an die kommende Familienfeier am nächsten Wochenende. Familienfeiern waren noch nie sein Ding gewesen. Seit er denken konnte, hatte er diese Veranstaltungen gehasst, das grässlich noble Essen und all die Leute in ihren Anzügen und mit dem künstlichen Lächeln, die sich über Aktien und Geld und Immobilien oder Steuern unterhielten.

Seine Mutter war Rechtsanwältin, sein Vater Steuerberater. Beide hatten mehrere Geschwister, die ebenfalls ein erfolgreiches Jura- Studium hinter sich gebracht hatten und nun Notare, Richter oder wiederum Anwälte und Steuerberater waren. Und am schlimmsten war es, wenn er mit seinen Cousins und Cousinen verglichen wurde – er hatte neun davon, wovon fünf noch zur Schule gingen und vier, wie konnte es anders sein, bereits mit ihrem Jurastudium begonnen hatte. Es war Familientradition. Und Jannis hatte diese Tradition mit Füßen getreten.
 

Er blätterte durch einen Stapel Kopien zum Thema Literaturkritik und heftete einiges davon in einen neuen Ordner ab – er musste in etwa fünfzig Ordner in einem hohen Regal haben, allesamt nur mit Studiumsstoff gefüllt – als er eine Seite weiter blätterte und innehielt. Da stand ein Name.

Kolja Mensing.

Ein Literaturkritiker. Aber wieso kam ihm der Name so bekannt vor, abgesehen davon, dass er diesen Kritiker aus dem Studium kannte?

K.

Jannis stöhnte, packte den Haufen Papier beiseite und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihm war es lieber, wenn K. auch K. blieb und wenn er nicht plötzlich Kolja hieß. Jannis war sich nicht ganz sicher, ob dies der richtige Name war, aber immerhin kam er ihm bekannt vor und fing mit K an. Wunderbar.
 

Er fuhr zusammen, als er das Telefon klingeln hörte. Zwei Menschen unter dieser Sonne hatten seine Telefon- und seine Handynummer. Und das waren Marek und seine Mutter. Wobei er bei zweiterem gern darauf verzichtet hätte, dass sie anrief. Marek rief ihn ohnehin nie an. Meistens schrieb er SMS, oder aber er tauchte einfach auf. Selbst wenn er eine SMS schrieb, konnte man nie sicher sein, was die SMS bedeutete.

»Gerade habe ich eine Wolkenformation gesehen, die wie dein Gesicht aussah. Ich muss mich davon überzeugen, ob ich richtig geguckt habe.«

Und dann konnte Jannis nur warten. Entweder es klingelte innerhalb der nächsten halben Stunde, oder Marek hatte beschlossen, dass er diesen Umstand irgendwann anders überprüfen wollte. Da Jannis aber ohnehin entweder zu Hause oder in der Uni war, gab es kaum einmal Gelegenheiten, in denen sie sich verpassten.
 

Dann sprang sein Anrufbeantworter an.

»Sag mal, bist du eigentlich nie zu Hause? Ich wäre wirklich sehr dankbar für eine Rückmeldung bezüglich der Feier am Samstag!«

Jannis verdrehte die Augen und schnaubte, stand nicht auf und griff wieder nach seinen Unterlagen. Er würde sich beizeiten eine Ausrede einfallen lassen. Ein Blockseminar oder so etwas.

Dann fuhr er fort, seine Unterlagen abzuheften und sich in seinen geliebten Papierkram zu vertiefen. Eine halbe Stunde später dachte er nicht mehr an seine Mutter oder Kolja Mensing, oder gar an dessen Namensvetter.
 

Als er am Dienstag zur Uni kam, um sein Tutorium abzuhalten, fühlte er sich ausgesprochen angespannt. Seine Mutter hatte noch dreimal angerufen, Jannis hatte nicht abgenommen. Außerdem hatte er Marek seit einigen Tagen nicht mehr gesehen und immer, wenn er Stress hatte oder schlecht gelaunt war, dann war Marek meist der einzige, der ihn ablenken und seine Laune verbessern konnte.

Als er K. bereits auf seinem Platz sitzen sah, als er den Seminarraum betrat, sank seine Laune noch ein wenig. Unweigerlich musste er an das taubstumme Mädchen denken, mit dem K. ihn konfrontiert hatte. Ihren Namen hatte er auch schon wieder vergessen.

»Hallo«, sagte K. strahlend, als er eintrat. Jannis brummte nur ungehalten, ging zum Pult vor der Tafel und begann seine Sachen auszupacken.

»Marit fand dich nett«, erklärte K. Jannis hob die Brauen und sah ihn kurz an, antwortete jedoch nicht. Marit also.
 

»Ich hab’ nichts gemacht«, gab er unwirsch zur Antwort und klatschte seinen Ordner mit den Vorlesungsnotizen fürs Tutorium etwas heftiger als nötig auf das Pult vor sich.

»Sie hat eine gute Menschenkenntnis«, gab K. schmunzelnd zurück.

»Sie ist taubstumm«, gab Jannis bissig zurück. K. hob die Augenbrauen.

»Ist sie nicht. Sie ist gehörlos«, erklärte er. Jannis runzelte die Stirn und sah den anderen halb fragend und halb entnervt an.

»Stumm wäre sie, wenn sie sich nicht verständigen kann. Kann sie aber. Deswegen sag ich ihr immer wieder, dass sie nicht stumm ist, nur weil sie nicht reden kann«, fuhr er fort. Jannis starrte ihn an. Er wusste nicht, ob diese Erklärung poetisch oder kleinlich finden sollte.

Er sagte nichts dazu, wandte sich um und fing an, einigen Fragen an die Tafel zu schreiben, während mehrere andere Erstsemester den Raum betraten.
 

K. sparte sich während des Tutoriums seine blöden Fragen, die Jannis jedes Mal zur Weißglut brachten und er hatte schon die Hoffnung, dass er heute auch nach dem Tutorium seine Ruhe haben würde. Aber leider Gottes schien K. immer noch nicht geneigt zu sein, von seinen Bemühungen abzulassen. Was auch sein Ziel sein mochte.

Kaum waren die meisten Studenten aus dem Seminarraum verschwunden, stand K. schon neben seinem Pult.

»Wusstest du«, begann er und Jannis stöhnte innerlich auf, »dass Schmetterlinge ihren Geschmackssinn in den Beinen haben?«

Jannis starrte ihn an. Wieso musste er Gespräche immer auf diese Art und Weise beginnen, das machte ihn sicherlich bald wahnsinnig!
 

»Woher sollte ich solche Sachen wissen?«, brummte er ungnädig und stopfte seinen Ordner in seine Tasche zurück, ehe er sich umwandte, um die Tafel abzuwischen. K. lachte leise.

»Ich finde so was spannend. Marit freut sich immer, wenn ich ihr solche Sachen erzähle. Ich wüsste zu gerne, was du interessant findest«, meinte K. und betrachtete ihn von der Seite. Jannis putzte die Tafel etwas energischer, als er es für gewöhnlich getan hätte. Dann warf er den Schwamm ins Waschbecken, wusch sich die Hände und zog sich seine Jacke an.

»Und wieso willst du das wissen, K.?«, gab er mürrisch zurück. K. grinste breit und unterdrückte offensichtlich ein Lachen.

»Kolja«, gab er zurück.

Kolja Mensing, dachte Jannis unweigerlich und dummerweise hatte er das Gefühl, dass er den Namen nun nicht mehr wirklich verdrängen konnte. Ein Schritt in die eindeutig falsche Richtung.

»Von mir aus auch das. Wieso willst du das wissen?«, wiederholte er gereizt, nahm seine Tasche vom Tisch und warf sie sich über die Schulter.
 

»Ich finde dich halt interessant. Am liebsten würde ich alles über dich wissen«, gab Kolja freimütig zu und Jannis spürte, wie ihm heiß wurde. Musste dieser Kerl solche peinlichen Sachen sagen? Das grenzte ja fast an Mareks zweideutige Anspielungen.

»Über mich gibt’s nichts zu wissen«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Kolja hörte nicht auf zu grinsen.

»Das würde ich gerne selbst entscheiden. Wir könnten uns mal treffen…«

Jannis atmete tief ein und aus. Gleich würde er Kolja aus dem Fenster werfen, soviel stand fest.

»Hör mal, ich bin wirklich sehr geschmeichelt, aber ich stehe nicht auf-«, begann er, doch Kolja unterbrach ihn – immer noch wunderbar gelaunt.
 

»Das kannst du doch gar nicht wissen, wenn du es nicht mal ausprobiert hast!«
 

Seine Nerven waren ohnehin arg strapaziert aufgrund von Koljas blöden Fragen und der bevorstehenden Familienfeier. Und nun stand da dieser Grünschnabel von einem Erstsemester und offenbarte ihm, dass er ihn daten wollte. Daten. Was für ein schreckliches Wort! Er hatte nie viel dafür übrig gehabt, für all diese Dinge, mit denen sich viele seiner Mitstudenten liebend gern beschäftigten.
 

Ganz abgesehen davon, dass er nichts von Dates hielt, hielt er noch weniger von Dates mit Männern. Und gerade das wollte man ihm aufschwatzen. Besser gesagt: Genau das wollte Kolja ihm aufschwatzen. Strahlend und bestens gelaunt, eine Zigarette hinters Ohr geklemmt und mit einem lässig aus der Hose hängenden Hemd. Womit hatte er das verdient? Er hatte doch wirklich nur voller Engagement dieses Tutorium führen wollen. Jetzt bekam er die Quittung dafür.
 

»Ich brauche das nicht auszuprobieren. Ich bin nicht schwul, ok?«
 

»Ja, das sagen sie alle«, winkte Kolja ab und spielte gut gelaunt an seinem Lederarmband herum, »Komm schon, Jannis! Ich beiße nicht. Nur mal abends Billard spielen oder so!«
 

»Nein!«
 

In der Hoffnung, dass seine Stimme möglichst autoritär geklungen hatte, wandte er sich ab und stapfte aus dem Seminarraum, ließ den elenden Nervbeutel zurück und schob seine Hände missmutig in die Taschen seiner ausgeblichenen Jeans. Ungeheuerlich war das alles. Kolja war ungeheuerlich! Sicher kam er nur ins Tutorium, um ihn zu ärgern! Vermutlich brauchte er das Tutorium gar nicht! Das musste es sein. Und überhaupt, Kolja. Wer hieß denn bitteschön Kolja?
 

»Wir könnten auch Eislaufen gehen«, ertönte eine gut gelaunte Stimme neben ihm. Jannis verdrehte die Augen. Die größte Nervensäge unter der Sonne, die hieß Kolja. So viel war sicher. Gerade wollte er Kolja verkünden, dass er weder Billard spielen noch Eislaufen konnte, als es in seiner Tasche zu klingeln begann. Er blieb wie angewurzelt stehen und kramte zwischen all dem Papierkram nach seinem uralten Handy. Er hoffte inständig auf dem Display Mareks Namen zu sehen, doch seine Gebete wurden nicht erhört. Es war seine Mutter. Einen Moment lang überlegte er, ihren Anruf einfach wegzudrücken, aber er konnte ja nicht ewig davon laufen und so nahm er das Gespräch schließlich an.

»Ja?«
 

»Na endlich erreicht man dich mal«, giftete seine Mutter am anderen Ende und Jannis seufzte leise. Das fing ja herzerwärmend an.

»Ich war ziemlich mit dem ganzen Unikram beschäftigt«, sagte er matt. Ein Schnauben am anderen Ende antwortete ihm und er wusste sehr genau, dass seine Mutter sich innerlich gerade wieder über die Sinnlosigkeit eines Germanistikstudiums mokierte.

»Wie auch immer. Ich wüsste jetzt gerne, wann du am Samstag kommst«, erklärte sie spitz und Jannis sah sich panisch um. All seine zurecht gelegten Ausreden schienen ihm entfallen zu sein, er war schon immer ein schlechter Lügner gewesen. Sein Blick fiel auf Kolja.

»Ich komme nicht«, platzte es aus ihm heraus, »ich hab schon was vor…«

Einen Moment herrschte Stille. Und bevor seine Mutter loswettern konnte, sagte er es:

»Ich hab ein Date.«
 

Koljas Augen weiteten sich ein wenig und er legte den Kopf schief, ohne den Blick von Jannis abzuwenden.

»Ein Date?«, echote seine Mutter ungläubig, »Mit wem?«

»Mit…K… K… Karina«, sagte Jannis und wollte sich am liebsten die Zunge abbeißen. Ein Skandal wäre es gewesen, wenn ihm Koljas Name heraus gerutscht wäre. Erneut herrschte Stille.

»Du könntest sie einfach mitbringen«, sagte seine Mutter ungnädig und Jannis verdrehte die Augen.

»Nein. Kann ich nicht. Es ist das erste Date, ich hab sie… ins Museum eingeladen.«

Kolja lachte leise und Jannis hätte ihm am liebsten ans Schienbein getreten.
 

»Dein Vater wird sehr enttäuscht sein, ich hoffe, das ist dir klar«, sagte seine Mutter, doch Jannis hatte keine Lust mehr auf diese Unterhaltung.

»Ich muss auflegen, ich hab jetzt eine Vorlesung! Bis bald«, sagte er und ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf und schob das Handy erleichtert in seine Hosentasche. Er war um das Familientreffen herum gekommen.

»Wir gehen also ins Museum, ja?«, sagte Kolja breit grinsend, »Und seit wann heiße ich Karina?«

Jannis stöhnte entnervt und wandte sich ab. Er war um die Feier herum gekommen, aber zu welchem Preis.
 

»Ich mag Museen. Aber du musst mich nicht einladen«, fuhr Kolja immer noch amüsiert fort und Jannis warf ihm einen resignierten Seitenblick zu.

»Du kriegst so viel Zeit, wie ich auf der Familienfeier verbracht hätte. Mehr nicht«, schnauzte er und Kolja strahlte ihn an, fischte die Zigarette hinter seinem Ohr hervor und nickte begeistert.

»Ich hol dich Samstag um halb drei ab, du musst mir noch deine Adresse geben«, meinte er. Jannis schüttelte hastig den Kopf. Im Leben würde er Kolja seine Adresse nicht verraten.

»Ich hole dich ab«, protestierte er und Kolja zuckte mit den Schultern, gab ihm ohne Umschweife seine Adresse und verabschiedete sich dann immer noch freudestrahlend von Jannis. Na wunderbar. Er hatte ein Museums- Date mit der größten Nervensäge unter der Sonne.

Kleiner als Drei

Achtung: Dieses Kapitel spielt lange vor Jannis' Studiumszeit. Er ist in diesem Kapitel etwa 13 Jahre alt.

Viel Spaß beim Lesen und nochmals danke für all die lieben Reviews!

Liebe Grüße :)

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»Herr und Frau Clemens kommen zum Tee, ich möchte, dass du dich anständig anziehst.«
 

Jannis saß auf seinem Bett und starrte auf den sterilen Dielenboden. Seine Brille hatte er abgenommen und – auf Wunsch seiner Mutter – gegen Kontaktlinsen getauscht. Er trug eine schwarze Stoffhose und ein kurzärmliges, weißes Hemd. Wenn er in den Spiegel sah, kam er sich vor wie verkleidet, als würde er zum Fasching als Bürgermeister gehen. Es fehlte nur noch die Fliege. Lustlos stand er auf und trat hinüber zum Balkon, der von seinem Zimmer hinaus in Richtung Garten führte. Draußen konnte er Frank erkennen, ihren Gärtner. Er war gerade dabei, die Rosenbüsche zu beschneiden und Jannis meinte einen besonders konzentrierten Ausdruck auf seinem Gesicht zu sehen. Seiner Mutter waren die Rosen heilig und Jannis fühlte sich bei diesem Aspekt jedes Mal an die Herzkönigin aus Alice im Wunderland erinnert – die er nie gemocht hatte.
 

»Jannis! Es ist fünf vor drei, kommst du bitte runter?«, hörte er die Stimme seines Vaters von unten herauf rufen. Jannis seufzte leise, wandte sich von dem sonnigen Garten ab und durchquerte sein großes, sorgfältig aufgeräumtes Zimmer, öffnete die Tür und schlüpfte in seine Hausschuhe, ehe er die Marmortreppe hinunter ins Wohnzimmer ging. Der Tisch war bereits sorgfältig gedeckt.

»Sie bringen ihre Tochter mit«, sagte sein Vater, der ebenfalls ein Hemd trug und eine geschäftliche Miene aufgesetzt hatte, »sei nett zu ihr. Sie ist in deinem Alter, ihr versteht euch sicher gut.«

Jannis hatte nie verstanden, was das Alter damit zu tun hatte, inwiefern man sich mit einem anderen Menschen gut verstand. Er verstand sich gut mit Frank und der war mindestens dreißig Jahre älter als er. Mit den meisten Leuten in seinem Alter verstand sich Jannis überhaupt nicht. Eigentlich mit allen. Menschen lagen ihm nicht.

Jannis seufzte innerlich.

»Wie heißt sie denn?«, wollte er wissen. Sein Vater warf ihm einen Seitenblick zu.

»Jessika«, entgegnete er knapp.
 

Wie sich fünf Minuten später herausstellte, war Jessika gar nicht so übel. Sie war auch nur ein Mensch und Jannis kam mit Menschen einfach nicht gut aus, aber sie war nicht so hochnäsig wie ihre Eltern und sie schien genauso wenig Lust auf Schwarzwälderkirschtorte und schwarzen Tee zu haben wie er selbst. Also ging er mit ihr in den Garten und erntete dafür einen zufriedenen Blick von seinen Eltern. Diese Blicke bekam er selten. Beinahe nie. Gute Noten in Deutsch wurden natürlich gut geheißen, aber seine miserablen Noten in Mathe und die durchschnittlichen Noten in Politik, Sport und den anderen Naturwissenschaften konnten dadurch scheinbar nicht genügend ausgebügelt werden.

Jessika und er und ließen sich auf den blitzblanken Gartenmöbeln auf der Terrasse nieder.

»Ihr habt ein ziemlich großes Haus«, stellte Jessika fest. Sie hatte langes, hellbraunes Haar, trug ein gelbes, sommerliches Kleid und weiße Sandalen.

»Ja. Ihr doch sicher auch, oder?«, entgegnete er leicht abwesend und beobachtete, wie Frank sorgfältig Unkraut hinten am weiß- gestrichenen Zaun jätete.
 

»Ja, aber es ist nicht ganz so schön und hat auch nicht so einen tollen Garten«, erklärte Jessika. Sie hatte einen frechen Unterton in der Stimme. Jannis kannte diesen Ton von vielen Mädchen in seinem Alter. Die meisten, die in diesem Ton sprachen, wollten immer die Aufmerksamkeit von Jungs, sie kicherten und lachten schrill und wurden es nicht müde, sich hübsch zu machen, damit die Jungs dumme Sprüche über ihren Körper machten. Jannis schien das ein befremdlicher Lebensinhalt zu sein.

»Der Garten ist das schönste daran«, murmelte er. Er mochte den Garten. Eigentlich war der Garten wirklich das einzige, was er an diesem Haus mochte.
 

Der Nachmittag zog sich hin wie zähes Kaugummi – oder wie eine besonders anstrengende Mathestunde. Jessika und er verbrachten die meiste Zeit draußen im Garten. Sie redete, er hörte zu – oder er schaltete auf Durchzug. Sie schien ziemlich begeistert von ihm zu sein. Wahrscheinlich, dachte Jannis sich dunkel, weil Jungs ihr sonst nie solange zuhörten.

Schließlich mussten sie doch eine Tasse Tee trinken und Jannis zwang sich dazu, die Schwarzwälderkirschtorte zu probieren. Er fand sie furchtbar, verzog aber keine Miene, während er sein Stück aß.

»Ich denke, das ist ziemlich gut gelaufen«, sagte sein Vater zufrieden, als Jessika und ihre Eltern gegangen waren.

»Habt ihr euch gut verstanden?«, wollte er dann wissen und in seinen Worten lag der Nachsatz ‚Das will ich doch hoffen!’. Jannis nickte nur. Er wollte sich gerade umdrehen und in sein Zimmer verschwinden, um ein wenig zu lesen, als seiner Mutter etwas einfiel.

»Wir wollten noch mit dir über dein letztes Zeugnis reden«, sagte sie. Jannis erstarrte. Die Fünf in Mathe prangte wie eine Leuchtschrift über seinem Kopf. Eine Fünf in Mathe war unentschuldbar. Mathe war schließlich wichtig. Genauso wie Politik und Wirtschaft.
 

»Es wird wirklich Zeit, dass du dir mehr Mühe gibst«, sagte sein Vater tadelnd. Jannis hatte ihm schon gefühlte vierhundert Mal erklärt, dass er sich wirklich bemühte. Er verstand es einfach nicht. Nüchterne Zahlen und steife, unausweichliche Lösungswege waren nichts für ihn. Er liebte es, in Bücher und Geschichten und Gedichte abzutauchen und zu vergessen, dass er jemand war, an den unerfüllbare Erwartungen gestellt wurden. Er liebte den Deutschunterricht mehr als alles andere und dass er gut in Englisch und Geschichte und in Philosophie war, das interessierte alles nicht vor der einen Tatsache: Nämlich, dass er als Junge der schlechteste in Mathe war.

»Ich bemühe mich«, sagte er resigniert. Er hasste diese Gespräche. Sie brachten ohnehin nie irgendetwas.

»Anscheinend nicht genug. Die vier in Physik ist auch nicht viel besser«, fuhr seine Mutter fort und stemmte die Hände in die Hüften, wie sie es immer tat, wenn sie eine pädagogisch wertvolle Wirkung erzielen wollte. Diese Taktik war bisher noch jedes Mal fehlgeschlagen.
 

»Und die Drei in Chemie-«, begann sein Vater.

»Ich kenne mein Zeugnis«, fuhr Jannis dazwischen und sah trotzig zu seinen Eltern auf. Er kannte sein Zeugnis besser als die beiden. Sie schauten immer nur auf die schlechten Noten.

»Sei nicht so frech«, zeterte seine Mutter sofort. Jannis zwang sich mit aller Macht dazu, nicht die Augen zu verdrehen und einfach zu gehen.

Er hasste dieses Haus und er hasste diese Gespräche. Er hasste den Druck und Mathe und er hasste einfach alles an seinem Leben. Außer seine Bücher.

Es hatte ihm schon immer gefallen, sich sein Herz als ein Stück Papier vorzustellen, wie eine Buchseite. Und Menschen kamen und gingen und schrieben mit Tinte etwas in sein Herz. Tinte verblasste schnell. Er hatte sich schon oft bei der Hoffnung ertappt, dass eines Tages jemand kam, der mit einem Bleistift etwas schrieb, das ihm erhalten blieb und nicht mehr verblasste.
 

Zwei Tage später – ungefähr eine Woche nach Beginn der Sommerferien – kamen seine Eltern mit einer erschreckenden Erkenntnis zu ihm ins Zimmer. Sie hatten erkannt, dass er allein nie besser in Mathe werden konnte. Und damit man die Zeugnisse den Verwandten auch vorzeigen konnte und damit Jannis später einmal einen Durchschnitt von mindestens 1,3 auf seinem Abiturzeugnis schaffte, musste Nachhilfe her. Das musste selbstredend ein Geheimnis bleiben, dass der einzige Sohn von Herrn und Frau Hofstetter Nachhilfe in Mathe bekam.

»Wir haben uns mit deinem Mathelehrer abgesprochen«, erklärte seine Mutter mit strengem Blick und ebenso strenger Frisur, »und er hat uns einen jungen Mann aus deinem Jahrgang empfohlen. Er soll ein wahres Genie sein.«

Jannis konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mathegenie ein Mensch sein sollte, mit dem er besser auskam als mit ‚normalen’ Menschen. Aber es gab keinen Weg aus diesem Dilemma und so sah er seine Sommerferien, die er fürs Lesen hatte nutzen wollen, verdorben von beinahe täglicher Mathenachhilfe. Entweder das unbekannte Mathegenie hatte keine Hobbys, keine Freunde, oder akuten Geldmangel.
 

Wie sich bald herausstellte, war es keine dieser drei Möglichkeiten.

Es war an einem Donnerstag, als es unten an der Tür klingelte. Jannis wusste, dass es das Mathegenie war und dass von ihm erwartet wurde, dass er hinunter ging, um ihn zu begrüßen. Also schlich er unmotiviert die Treppen hinunter und sah seine Mutter unten im Flur stehen. Neben ihr stand ein hagerer Junge mit dunklen Haaren und einem so verträumten Blick, dass es aussah, als wäre er zufällig hereingeschneit.

Seine Mutter sah eindeutig sehr skeptisch aus. Der Junge trug verblichene Jeans und ein ausgeleiertes T-Shirt. Alles in allem war er das Merkwürdigste, was dieses Haus jemals betreten hatte.

»Ich bin Jannis«, sagte er immer noch verwundert über diese unerwartete Erscheinung. Der Junge wandte ihm den Blick zu und musterte ihn interessiert.

»Schöner Name«, sagte der Fremde und betrachtete ihn von oben bis unten. Jannis spürte, wie er rot wurde. Der Fremde hatte einen osteuropäischen Akzent. Er rollte das ‚R’ beim Sprechen.

»Viel Erfolg«, sagte seine Mutter irritiert. Jannis wusste, dass sie sich fragte, ob dieser Junge überhaupt ein Fünkchen Intelligenz in sich barg.
 

Während sie ins Wohnzimmer verschwand, zog der Junge seine durchgelaufenen Turnschuhe aus und stellte sie sorgfältig neben die Pumps seiner Mutter.

»Das Haus ist groß. Wenn man den Boden einfrieren würde, dann könnte man Schlittschuhlaufen«, erklärte er und schritt an Jannis vorbei, sich neugierig umsehend. Jannis starrte ihm nach, dann folgte er ihm.

Völlig unbegreiflicherweise ging er die Treppe hinauf, ohne zu wissen, wo es eigentlich lang ging.

»Hey, woher weißt du, wo mein Zimmer ist?«, fragte er verwirrt. Der Junge lachte leise.

»Weiß ich nicht. Aber ich will den Garten von oben sehen«, entgegnete er, betrat Jannis’ Zimmer und ging hinüber zum Balkon.
 

Jannis wusste nicht, was er sagen sollte, also schloss er die Tür, setzte sich einfach auf sein Bett und beobachtete seinen neuen Nachhilfelehrer dabei, wie er in den großen Garten hinaus sah.

»Rosen erinnern mich immer an Alice im Wunderland«, sagte er verträumt, wandte sich um und setzte sich auf den Dielenboden. Er zog eine zerschlissene Tasche von seiner Schulter und packte Papier, Stifte und ein ziemlich zerfleddertes Buch aus.

Jannis starrte ihn an.

»Mich auch«, sagte er vollkommen perplex. Der Junge lächelte ihm verschwommen zu und klopfte vor sich auf den Boden. Jannis zögerte, dann stand er auf und ließ sich ihm gegenüber nieder. Er hatte noch nie zum Lernen auf dem Fußboden gesessen und hatte auch keine Ahnung, wozu das gut sein sollte, wenn er doch einen Schreibtisch hatte.
 

»Magst du Mathe?«, erkundigte sich sein Gegenüber interessiert und griff nach einem Bleistift.

»Ich hasse Mathe«, gestand Jannis. Der Junge gluckste leise.

»Ich heiße Marek«, entgegnete sein Nachhilfelehrer. Jannis nickte. Marek verwirrte ihn immer mehr. Er war so ziemlich der seltsamste Mensch, den Jannis je gesehen hatte.

»Mathe ist schön. Es ist leicht, weil es immer nur richtig oder falsch gibt. Wenn das Leben schon so kompliziert sein muss, dann kann man doch froh sein, wenn wenigstens manche Sachverhalte so eindeutig sind«, sagte Marek gut gelaunt, klappte das Buch auf und schob es Jannis hin.

»Rechne das da«, sagte er. Jannis blinzelte und starrte die Aufgabe an.

»Ich kann das ni-«

Marek streckte blitzschnell die Hand aus und legte sie Jannis auf den Mund.

»Du willst nicht«, sagte er nickend. Jannis hatte keine Ahnung, wohin ihn diese Nachhilfe führen sollte, wenn Marek ihm nicht erklärte, was er eigentlich tun sollte.
 

Auch in den nächsten Nachhilfestunden machte Marek keine Anstalten, Jannis irgendetwas zu erklären. Jannis war schon so weit zu glauben, dass Marek es selbst nicht konnte. Anstatt ihm Mathe zu erklären, erzählte Marek ihm Geschichten, stellte ihm Fragen und legte sich auf seinen Balkon, um die Wolken zu betrachten.

Während Jannis sich mit den Aufgaben plagte und mühsam eine nach der anderen rechnete, döste Marek bei ihm in der Sonne. Wenn Jannis mit den Aufgaben fertig war, dann zog Marek den Block zu sich und betrachtete die Aufgaben. Er verbesserte Jannis nie, sondern strich die Lösungen durch, die falsch waren. Dann musste Jannis von vorn beginnen. Zwischenzeitlich übte Marek Kopfrechnen mit ihm. Jannis war miserabel im Kopfrechnen, vor allem, weil Marek unerhört große Zahlen von ihm multipliziert oder dividiert haben wollte.
 

»Als könnte irgendwer solche Zahlen im Kopf rechnen«, sagte Jannis an einem Dienstagnachmittag, als er gerade einen neuen Zettel mit Kopfrechenaufgaben von Marek bekommen hatte. Marek lächelte kaum merklich und sah Jannis auffordernd an. Mittlerweile wusste Jannis genau, was Marek von ihm wollte, auch wenn er nicht sprach.
 

»76895 – 6419?«

»70476.«
 

»384 * 27?«

»10368.«
 

»44907 / 53?«

»Ungefähr 847,3.«
 

Und zum ersten Mal begriff Jannis, was genau sein Mathelehrer gemeint hatte, wenn er Marek als Mathegenie betitelte. Marek sah nicht so aus, als wären diese Aufgaben für ihn etwas Besonderes und Jannis konnte ihn nur anstarren. Marek war ein merkwürdiger Junge mit einer ungewöhnlichen Begabung für Zahlen, Rechnungen und logisches Denken. Und da lag er auf seinem Dielenboden und lächelte ihn an. Jannis bemerkte, dass er es nicht schlimm fand, neben Marek auf dem Boden zu liegen und Matheaufgaben zu rechnen. Wenn er mit Marek hier in diesem Zimmer saß und Mathe lernte, dann ließ ihn das ebenso alles um ihn herum vergessen, wie seine Bücher. Er hatte Mathe immer gehasst. Einfach weil von ihm erwartet wurde, dass er es konnte. Aber Marek stellte keinerlei Erwartungen an ihn. Jannis hatte zum ersten Mal in seinem Leben einen Menschen gefunden, mit dem er zusammen sein konnte. Und beinahe ließ Marek ihn in diesen Mathenachhilfestunden vergessen, dass er nie wirklich eine richtige Familie gehabt hatte oder jemals haben würde. Während seine Eltern ihm mit Tinte immer nur ihre $- und §- Zeichen ins Papierherz gezeichnet hatten, war Marek mit einem Bleistift gekommen und hatte still und heimlich ein ‚kleiner als Drei’ daneben gesetzt.
 

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Falls die 'Metapher' nicht richtig rüber gekommen ist: Kleiner als Drei = <3
 

:)

Interessant, interessanter, Jannis

Für Usagi91 und Laniechan, die in letzter Zeit so fleißig alles Mögliche von mir gelesen und kommentiert haben :)

Und natürlich wieder einmal vielen Dank für all die lieben Kommentare!

Ich wünsche euch einen schönen Abend und noch frohe Rest- Ostern :)

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Er konnte es immer noch nicht recht fassen, dass er das wirklich tat. Marek hatte all das natürlich unglaublich komisch gefunden.

»Ich wusste doch, dass du noch mit ihm ausgehen wirst«, hatte er gesagt und genüsslich an seinem Milchshake genuckelt. Jannis hatte nicht einmal den Elan gehabt, etwas Barsches zu erwidern. Mit Kolja ins Museum zu gehen würde – hoffentlich – etwas weniger nervenaufreibend werden, als eine Familienfeier, die den ganzen Tag dauern konnte.

Am Samstagvormittag hatte er bei seinem Vater angerufen und ihm zum Geburtstag gratuliert. Sein Vater hatte diese Gelegenheit genutzt, um ihm zu verkünden, dass er es immer noch nicht gut fand, welchen Studiengang Jannis gewählt hatte, dass er keine Zukunftsperspektiven hatte und dass Erik – einer von Jannis’ Cousins – gerade ins Referendariat in der Kanzlei seines Onkels gegangen war.
 

Jannis ließ diese Vorträge immer über sich hinweg plätschern. Um alledem die Krönung aufzusetzen, hatte sein Vater ihm Glück mit ‚diesem Mädchen’ gewünscht und die Hoffnung geäußert, dass sie etwas Anständiges studierte und hübsch war und dass er dann ja vielleicht doch noch auf Enkelkinder hoffen durfte.

Spätestens an dieser Stelle war sich Jannis mehr als sicher gewesen, dass das Museumsdate sehr viel besser werden musste, als es eine Familienfeier je hätte sein können.

Enkelkinder… er konnte Kinder nicht ausstehen, genauso wenig wie die meisten anderen Menschen. Einen Teufel würde er tun und später Kinder haben.
 

Als er am Samstag schließlich um viertel vor zwei sein Mittagessen hinter sich hatte, ging er ins Schlafzimmer. Es war ziemlich egal, was er anzog. Am besten zog er sich möglichst schlampig an, damit Kolja – er konnte es immer noch nicht fassen, dass er den blöden Namen nun doch konnte! – ihn weniger spannend fand. Er öffnete seinen Kleiderschrank, zog sein ältestes Hemd und eine Jeans hervor, die am Knie ein Loch hatte. Normalerweise lief er nicht so herum und die Jeans hatte er eigentlich nur noch, falls es in seiner Wohnung etwas zu tun gab und er sich mit Sicherheit dreckig machen würde.

Ein besseres Outfit gab es also gar nicht. Er kraulte Lana und Hermes noch einmal ausgiebig und versicherte ihnen, dass er nicht lange fortbleiben würde. Vielleicht schafften sie einen Rundgang in einer halben Stunde und dann konnte Jannis sich rasch verabschieden. Das wäre wahrhaft wundervoll.
 

Auf dem Weg zu Koljas Adresse beschloss Jannis, so wenig wie möglich zu reden und so wenig wie möglich zuzuhören, damit Kolja ihn am Ende ihres Dates als langweiligsten, schrecklichsten Menschen abstempeln würde, den er je in seinem Leben getroffen hatte. Er bog in eine Straße ein, die von Reihenhäusern gesäumt wurde und nur ein Haus fiel aus dem Rahmen. Es hatte nicht so wie die anderen Häuser eine kleine Vortreppe, die hinauf zur Eingangstür führte. Der Vorgarten war größer als bei den anderen Häusern und als Jannis einen Blick auf die Hausnummer warf, stellte er fest, dass dies Koljas Haus war.

Am Gartentor hing ein gelbes Schild mit der Aufschrift: »Achtung: Wachhund!«
 

Na das fing ja wunderbar an. Er war noch nie der Hundemensch gewesen. Kaum hatte er die Hand auf die Klinke des Gartentürchens gelegt und einen winzigen Gedanken daran verschwendet, dass der wild wuchernde und blühende Garten etwas Idyllisches für sich hatte, da kam ein Hund laut bellend um die Ecke geprescht und Jannis schloss hastig das Gartentor vor sich.

Das fing ja ganz hinreißend an. Er wurde von einem kläffenden Köter angegriffen und kam gar nicht erst bis zur Haustür. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals. Er sollte vielleicht wieder gehen…

Die Haustür öffnete sich und Jannis wollte Kolja gerade erklären, dass er eine schreckliche Hundehaarallergie hatte und das Date daher leider ausfallen müsse… aber es war gar nicht Kolja, der die Tür geöffnet hatte.
 

Ein Mann mittleren Alters mit schmutzig blonden Haaren und Grübchen in den Wangen blickte ihm interessiert entgegen. Er saß im Rollstuhl, was das Fehlen einer Treppe und eines zweiten Stockwerks erklärte. Jannis überprüfte noch einmal die Hausnummer. 23. Er war also richtig. Aber das da war definitiv nicht Kolja.

Der Hund schnüffelte am Gartentor herum, als könnte er Jannis durch die Gitterstäbe erreichen. Es war ein großer Hund mit goldfarbenem Fell. Die Augen, die eigentlich braun sein sollten, waren milchig weiß und Jannis war sich ziemlich sicher, dass dieser Hund blind war.

»Penny, komm her!«, rief der Mann und der Hund hob den Kopf, wandte sich hechelnd um und lief hinüber zur Haustür. Jannis seufzte, zögerte einen Moment und öffnete das Tor dann erneut.

Penny saß nun schwanzwedelnd und friedlich neben dem Mann im Rollstuhl, der Jannis grinsend entgegen sah.

»Du musst Jannis sein. Kolja redet schon seit Tagen nur noch von eurem Date.«

Jannis starrte ihn an. Dann spürte er, wie ihm Hitze ins Gesicht kroch. Dafür würde er Kolja den Hals umdrehen, es überall breit zu treten!

»Ja… der bin ich«, sagte er matt und schüttelte dem Fremden die Hand.

»Ich werd ihn mal suchen. Komm ruhig rein. Dürfte nicht lange dauern, bis ich ihn geholt hab, er ist der einzige in der Familie, der gehen und hören kann!«

Er lachte dröhnend über seinen eigenen Witz und rollte zurück ins Haus. Der Hund folgte ihm und Jannis schloss die Haustür hinter sich.
 

Jannis fragte sich, wo er hier eigentlich gelandet war. Ein Vater im Rollstuhl, ein blinder Hund…

Das junge Mädchen, mit dem Jannis Kolja neulich gesehen hatte, huschte durch den Flur, erblickte ihn und winkte ihm freudig zu, ehe sie in einem anderen Zimmer verschwand.

Wo war er stehen geblieben? Ein Vater im Rollstuhl, ein blinder Hund, eine taubstumme Schwester…

Jannis sah sich im Eingangsbereich um. Es war hell und schlicht eingerichtet und über einer niedrigen Kommode hing ein großes, gerahmtes Bild der Familie mitsamt Hund.

Kolja und Marit trugen weiße T-Shirts, auf denen ‚Daddy’s girl’ und ‚Daddy’s boy’ stand. Beide strahlten, ebenso wie ihr Vater, in die Kamera und selbst der Hund schien zu grinsen. Unweigerlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass es von seiner Familie – wenn man es denn so nennen mochte – kein solches Foto gab. Er war drauf und dran gewesen, Koljas Familie als tragisch zu bezeichnen, doch zeigte ihm dieses Foto ziemlich deutlich, dass es eigentlich eine ganz normale Familie war. So wie es sein sollte.
 

»Du bist zu früh!«, riss ihn Koljas Stimme aus seinen Gedanken. Sein persönliches Unheil kam mit nassen Haaren und Zahnbürste in der Hand aus einer nun offen stehenden Tür gehastet und Jannis hob die Brauen.

»Lieber zu früh, als zu spät«, erwiderte er und fragte sich, was genau Kolja für einen Aufwand im Bad betrieb, nur weil sie ins Museum gingen.

»Du kannst dich ins Wohnzimmer setzen«, sagte Kolja, wedelte mit der Hand in die Richtung, in der sich der Eingangsbereich in ein weiteres Zimmer öffnete, und schob sich die Zahnbürste wieder in den Mund, »if komm gleif.«

Dann verschwand er eilends zurück ins Bad und Jannis ging langsam in das große, helle Zimmer, das eine Glastür direkt hinaus in den Garten hatte. Jannis ließ sich zögerlich auf das knautschige Sofa fallen.
 

Die Möbel standen ziemlich weit auseinander, vermutlich, damit der Rollstuhl zwischen ihnen hindurch passte. Draußen war angenehmes Wetter mit nur ein paar Wolken am Himmel und einem lauen Herbstwind.

»Möchtest du was trinken?«, ertönte eine Stimme hinter ihm und Jannis zuckte leicht zusammen, als Koljas Vater ins Wohnzimmer gerollt kam und ihn schmunzelnd ansah.

»Nein, danke«, sagte er. Das hier war nicht geplant gewesen. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Dinge nicht nach Plan verliefen! Und jetzt lernte er auch noch Koljas komplette Familie samt Hund kennen. Wo er gerade an den Hund dachte, kam er auch schon um die Ecke.

»Sie beißt nicht«, erklärte Koljas Vater amüsiert, als er Jannis misstrauischen Blick auf den Hund bemerkte.

»Dann ist sie kein richtiger Wachhund?«, fragte Jannis verwirrt.

»Doch. Sie kann sehr unangenehm werden, wenn es zum Beispiel darum geht, auf Marit aufzupassen. Aber bisher hat sie erst einmal jemanden gebissen und der wollte tatsächlich bei uns einbrechen«, erwiderte Koljas Vater und kraulte den blinden Hund zärtlich an den Ohren.
 

Jannis hatte keine Ahnung, was er dazu sagen sollte. Auf die Blindheit des Hundes sprechen zu kommen, schien ihm irgendwie unpassend und so schwieg er.

»Ich bin fertig!«

Kolja kam ins Wohnzimmer geschlittert, machte kurz vorm Rollstuhl seines Vaters Halt und grinste Jannis begeistert zu. Seine Haare waren mittlerweile trocken. Jannis stand auf.

»Ich wünsche euch viel Spaß«, sagte Koljas Vater grinsend. Kolja beugte sich zu ihm hinunter und nahm ihn leicht in den Schwitzkasten.

»Den zweideutigen Unterton kannst du dir sparen«, tadelte Kolja ihn lachend und sein Vater röchelte gespielt. Dann ließ Kolja ihn los, schob Jannis in Richtung Flur und schnappte sich seine Jacke von der Garderobe.

»Bis später!«

Und dann waren sie schon aus dem Haus, durch den Garten und auf die Straße getreten.
 

»Du magst keine Hunde, oder?«, erkundigte sich Kolja bestens gelaunt, während sie nebeneinander hergingen. Jannis warf ihm einen ungnädigen Seitenblick zu.

»Ich habe zwei Katzen. Die passen besser zu mir«, erwiderte er sachlich. Kolja lache leise.

»Ja, da hast du wohl Recht. Wie heißen die beiden?«, wollte er wissen.

»Lana und Hermes«, antwortete Jannis und betrachtete ausgesprochen interessiert den Gehweg vor ihm. Er musste Kolja nicht noch dazu ermutigen, ihn irgendwie anzusehen. Aber aus dem Augenwinkel sah er, dass seine ‚Sieh ihn nicht an’- Taktik nichts brachte, da Kolja ihn trotzdem von der Seite musterte. Schließlich kramte er in seiner Hosentasche herum und zog eine Schachtel Zigaretten daraus hervor.

»Stört es dich, wenn ich rauche?«

»Ja«, gab Jannis brummend zurück und schob seine Hände in die Tasche seiner zerlöcherten Jeans.

»Oh«, sagte Kolja, sah ihn einen Moment lang erstaunt an, dann schob er zu Jannis’ Überraschung die Zigarettenpackung zurück in seine Hosentasche.
 

»Wie wäre es mit einem Deal? Ich höre nach der Schachtel auf zu rauchen«, sagte Kolja gut gelaunt. Jannis wandte ihm das Gesicht zu und starrte ihn vollkommen perplex an.

»Wieso?«, fragte er verständnislos. Kolja lachte.

»Wenn ich dich irgendwann mal küssen möchte, dann soll keine Zigarette dazwischen kommen«, sagte er scheinheilig. Jannis spürte, wie er augenblicklich knallrot anlief.

»Sehr witzig!«, knurrte er ungehalten, wandte das Gesicht ab und stapfte weiter die Straße entlang.

Kolja folgte ihm grinsend.

»Das war kein Witz«, meinte er mit ruhiger Stimme. Jannis schnaubte ungehalten und fragte sich, ob er nicht besser an Ort und Stelle umkehren und nach Hause gehen sollte.

»Ach nein? Was dann?«, wollte er mürrisch wissen.

»Ich versuche zu flirten«, erklärte Kolja ihm ernsthaft. Jannis blieb stehen und funkelte ihn wütend an.
 

»Wenn du vor hast, dich den ganzen Tag über mich lustig zu machen, dann geh ich gleich wieder«, sagte er wütend. Kolja sah ernstlich überrascht aus.

»Ich mache mich nicht lustig! Freu dich, dass ich auf diese Art mit dir flirte und nicht so, wie Frauen in Nordsibirien. Die bewerfen den Mann ihrer Wahl mit Feldschnecken!«

Jannis stöhnte, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und fühlte sich für den Moment sprachlos. Wie viele von diesen sinnlosen Informationen waren in Kolja eigentlich verborgen?

»Ich hab mich noch nie mehr gefreut«, murrte Jannis sarkastisch und schwieg eisern, bis sie schließlich das historische Museum erreichten und drinnen an den Schalter im Eingangsbereich traten. Kolja drängelte sich prompt vor und zahlte für sie beide zusammen ritterliche fünf Euro, dann stapfte er Jannis gut gelaunt voran den Pfeilen nach.
 

Zu Jannis grenzenloser Überraschung konnte Kolja nicht nur sinnlose Fakten und dumme Witze spucken. Jannis hätte nicht einmal die Hälfte von dem gewusst, was Kolja ihm zu den verschiedenen Ausstellungsstücken erzählte, als wäre das sein Job. Es kam Jannis ein wenig so vor, als wäre Kolja ein historisches Lexikon. Gerade als Kolja ihm einige Informationen über die französische Revolution unterbreitete, konnte Jannis sich nicht mehr zurückhalten.

»Woher weißt du das alles?«

Kolja sah ihn erstaunt an, dann lächelte er ein wenig stolz.

»Mein Zweitfach ist Geschichte. Aber ich interessiere mich schon länger für Geschichte. War in der Schule mein Lieblingsfach.«

Kolja strahlte ihn dermaßen freudig an, als gäbe es nichts Schöneres auf dieser Welt, als von Jannis eine – mehr oder weniger – persönliche Frage gestellt zu bekommen. Jannis verstand einfach nicht, was genau an ihm diesen komischen Kauz ständig zum Strahlen brachte. Die meisten Menschen fanden seine Gesellschaft wenig erheiternd. Und Jannis war das gerade recht. Allerdings galten für Kolja offenbar andere Regeln, als für ‚normale’ Menschen.
 

Jannis’ Vorhaben, Kolja möglichst wenig zuzuhören, war also gescheitert, weil er die Dinge, die der andere ihm erklärte, wirklich interessant fand.

Als sie den Rundgang beendet hatten, hätte Jannis das Gefühl, dass er mehr gelernt hätte, als im Geschichtsunterricht der Oberstufe.

»Und? Gehen wir noch was essen?«, fragte Kolja gut gelaunt, schob die Hände in die Hosentaschen und sah Jannis gespannt an. Jannis hatte über all diese geschichtlichen Erklärungen hinweg ganz vergessen, dass dies hier so eine Art ‚Date’ sein sollte.

»Ich hab keinen Hunger«, schwindelte er, um ein Knurren seines Magens zu übertönen. Kolja lachte. Offensichtlich hatte er das Rumoren von Jannis’ Magen gehört.

»Nur ’ne Pizza oder so was. Komm schon, danach bist du entlassen«, sagte er freundlich, zwinkerte Jannis zu, zog seine Hände wieder aus den Taschen und griff nach seinem Handgelenk.
 

Jannis starrte irritiert hinunter auf Koljas Finger, die sein Handgelenkt umfassten. Dann entzog er es ihm.

»Aber nur eine kleine«, sagte er ungnädig und ging neben Kolja her zum Ausgang des Museums. Kolja lachte erneut und spielte gedankenverloren an dem Lederarmband herum.

»Warum trägst du das immer?«, fragte Jannis ungnädig. Kolja sah ihn einen Augenblick lang erstaunt von der Seite an, dann lächelte er.

»Das gehörte meiner Ma. Ich hab’s bekommen, kurz bevor sie gestorben ist«, erklärte er dann unumwunden. Jannis hatte das Gefühl, dass seine Eingeweide sich ein wenig verkrampften. Er konnte mit Menschen einfach nicht umgehen. Kaum stellte er eine Frage, entpuppte sich die Antwort als ein Fettnäpfchen. Offensichtlich konnte Kolja seine Gedanken lesen, denn er schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht so tragisch, wie es sich anhört. Ich war sechs, als sie gestorben ist, das ist also schon ziemlich lang her«, erklärte er. Jannis nickte nur.

Es war wohl besser, wenn er keine Fragen mehr stellte. Nachher sprang er mit Anlauf noch in drei weitere Fettnäpfchen.
 

»Und, hast du dich vorhin gewundert?«, wollte Kolja wissen, während sie in eine größere Straße einbogen. Es wurde bereits dämmerig draußen. Die Straßenlaternen leuchteten, es waren immer noch viele Autos unterwegs. Jannis mochte die Innenstadt lieber, wenn nicht so viel Verkehr war.

»Worüber? Über den blinden Hund?«, fragte er ein wenig verwirrt. Kolja grinste.

»Fast blind. Aber ja, über den auch. Und darüber, dass mein Vater im Rollstuhl sitzt? Und dass meine kleine Schwester gehörlos ist?«

Jannis hob die Brauen.

»Wieso sollte mich das wundern?«, gab er zurück. Er kannte Marek, der ganz ohne Eltern im Waisenhaus aufgewachsen war. Und sich selbst. Koljas Familie schien ihm so heil zu sein, wie er es noch nie vorher kennen gelernt hatte.
 

»Na ja, viele Leute sind geschockt und finden das alles sehr tragisch«, meinte Kolja nachdenklich. Er spielte schon wieder mit seinem Lederarmband. Bei näherem Hinsehen war es tatsächlich schon ziemlich abgewetzt, so als hätte Kolja es seit Jahren nicht abgenommen.

»Wenn ihr als Familie glücklich seid, ist nichts Tragisches daran«, gab Jannis schlicht zurück. Kolja sah auf und lächelte.

»Wenn du so was sagst, hast du sicher selbst nicht die coolste Familie, oder?«, wollte er wissen. Jannis sah ihn kurz und ungnädig an. Er hatte keine große Lust, mit Kolja darüber zu reden, was in seiner Familie alles schief gelaufen war.

»Ich ziehe es vor, das, was auch immer es sein mag, nicht als Familie zu bezeichnen«, erwiderte er leise. Kolja schwieg daraufhin und sagte nichts mehr. Wenigstens etwas Taktgefühl schien er ja zu haben.
 

»Deswegen musste ich wohl auch als Ausrede für die Familienfeier herhalten, wie?«, sagte Kolja nach einer Weile schmunzelnd. Jannis grummelte ungnädig. Hätte er vor Kolja doch bloß nicht mit seiner Mutter telefoniert…

»Juristen- Familienfeiern sind anstrengend. Nicht, dass du nicht auch anstrengend wärst, aber…«

Jannis unterbrach, weil Kolja schon wieder lachte. Er antwortete nicht auf Jannis’ Beleidigung, sondern schob ihn nur in eine kleine Nebenstraße, wo ein grün-rot-weißes Schild mit der Aufschrift ‚Bella Italia’ hing.

»Meine Lieblingspizzeria«, schmachtete Kolja, zog voller Elan die Tür auf und trat ein.

Jannis folgte ihm und warf beiläufig einen Blick auf die Uhr. Er hatte Kolja um zehn vor halb drei abgeholt. Jetzt war es halb sechs. Er konnte es nicht fassen, dass er schon drei Stunden mit diesem Kasper ausgehalten hatte.
 

Ein kleiner, dicker Kellner kam auf sie zu gewackelt und strahlte ihnen entgegen.

»Buonasera«, sagte er und klopfte Kolja mehrere Male kräftig auf den Rücken. Jannis verdrehte die Augen. Na wunderbar. Kolja kannte vermutlich jeden Kellner hier und Jannis war sein offizielles ‚Date’. Er konnte sich nichts Tolleres vorstellen.

Sie wurden von dem kleinen dicken Kellner hinüber zu einem besonders lauschigen Tisch in der Ecke geführt und Jannis setzte sich widerwillig auf den Stuhl nahe der Wand.

»Hast du eine Lieblingspizza?«, erkundigte sich Kolja bei ihm und griff nach einer der Speisekarten. Jannis sah sich in dem kleinen, voll gestopften Lokal um. Die Tapeten sahen aus, als kämen sie aus den 50er- Jahren, die Möbel waren allesamt sehr rustikal und auf den Tischen standen kleine Teelichter. Im Hintergrund dudelte italienische Musik.

»Quattro Formaggio«, gab er zurück, während er das Spitzendeckchen auf dem dem Tisch betrachtete.
 

»Isst du kein Fleisch?«

»Nein.«

Kolja nahm diese neue Information scheinbar sehr gespannt auf. Es schien ganz so, als würde er jede noch so winzige Information über Jannis aufsaugen wie ein Schwamm. Jannis war sich nicht sicher, ob das gut war. Er selbst fand sich keineswegs bemerkenswert, Kolja schien da anderer Meinung zu sein.

Als der Kellner zu ihrem Tisch kam, bestellten die etwas zu trinken und ihre Pizza und Jannis schob sich etwas nervös die Brille höher auf die Nase. Im Museum hatte Kolja die ganze Zeit gesprochen, jetzt plötzlich gab es keine historischen Reliquien mehr, über die er fachsimpeln konnte. Worüber redete man mit so einem nervigen Stalker?
 

»Ich würde ja sagen, der Tag war ein voller Erfolg«, sagte Kolja gut gelaunt und fummelte erneut an seinem Armband herum.

»Wieso?«, erwiderte Jannis verwundert.

»Ich habe rausgefunden, dass alle in deiner Familie Juristen sind, dass deine Katzen Lana und Hermes heißen und dass du Vegetarier und Nichtraucher bist. Ich sammele, weißt du?«

Jannis seufzte resigniert. Er hatte es ja gewusst.

»Ich bin kein Puzzle, ok?«, brummte er und starrte hinüber zur Bar, hinter der eine junge Frau stand, die sie interessiert beobachtete.

»Stimmt. Du bist viel interessanter«, sagte Kolja strahlend und Jannis stöhnte. Wohin sollte das alles noch führen?

Dreist, dreister, Kolja

Entschuldigt bitte, dass ihr so lange auf das nächste Kapitel warten musstet. Ich hoffe, dass es euch gefällt :)

Viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße :)

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Die Pizza war sehr lecker. Aber leider Gottes hielt sie Kolja nicht davon ab, munter mit ihm zu reden, ihm unmögliche Informationen mitzuteilen und immer wieder breit zu grinsen, wenn er gerade ein Stück seiner Pizza herunter geschluckt hatte.

»Hörst du eigentlich irgendwann mal auf zu grinsen?«, erkundigte sich Jannis entnervt, während er mit dem Zeigefinger den Glasrand seines Orangensafts entlangfuhr. Kolja lachte leise.

»Nur selten. Du schaust immer so ernst. Ein Lächeln würde dir sicherlich gut stehen«, erklärte Kolja unerschütterlich und schob sich sein letztes Stück Pizza in den Mund. Jannis hatte für diese Vermutung nur ein Schnauben übrig. Dann widmete er sich wieder seiner Pizza.
 

Als er schließlich aufgegessen hatte, schob er den Teller ein wenig beiseite und sah hinüber zu der Kellnerin hinter der Theke, die einige Gläser polierte und ab und an zu ihnen herüber schaute.

»Wieso guckt die immer so?«, fragte Jannis murrend und nahm einen Schluck Orangensaft. Kolja zuckte mit den Schultern.

»Sie hat mich mal nach einem Abendessen gefragt, aber ich hab ihr gesagt, dass ich schwul bin. Vielleicht denkt sie, du seiest mein Freund«, erklärte Kolja freiweg und Jannis verschluckte sich prompt an seinem Saft. Er hustete kläglich und sah Kolja mit tränenden Augen an.

»Du würdest das der ganzen Welt erzählen, oder?«, fragte er schließlich leicht krächzend. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Koljas Vater betitelte ihn als Koljas Date und eine Kellnerin dachte, sie seien ein Paar. Sah man denn nicht, dass er und Kolja so wenig ein Liebespaar waren, wie… sie waren jedenfalls so wenig ein Liebespaar wie nur möglich!
 

»Wieso auch nicht? Stört es dich, dass ich schwul bin?«, wollte Kolja gespannt wissen. Jannis sah ihn ungehalten an.

»Darum geht’s gar nicht. Ist das nicht was Privates? Ich würde das nicht jedem erzählen«, meinte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Kolja lächelte ihn an, als fände er diesen Umstand ziemlich… gut.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, entgegnete Kolja, ohne auf Jannis’ Bemerkung einzugehen. Jannis grummelte.

»Mein bester Freund ist schwul. Das reicht jawohl als Antwort«, murmelte er und trank seinen Orangensaft aus.

Der kleine dicke Kellner kam zu ihnen herüber und räumte ihre Teller mit einem freundlichen Lächeln ab. Jannis warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach sechs.
 

»Du willst wohl weg von mir, was?«, erkundigte sich Kolja schmunzelnd. Jannis sah ihn kurz und streng durch seine Brille an.

»Was dachtest du denn?«, giftete er über den Tisch hinweg. Kolja legte den Kopf schief.

»Ich dachte, dass du mich vielleicht ein bisschen leiden kannst«, gab er zurück. Jannis verdrehte die Augen und winkte dem Kellner.

»Wir würden gern zahlen«, sagte er verbissen und kramte nach seinem Portemonnaie. Wieso musste eigentlich ausgerechnet ihm das passieren? Wieso um alles in der Welt hatte gerade er Kolja als persönlichen Stalker abbekommen? Er konnte Menschen nicht leiden, nicht mit ihnen umgehen und schon gar nicht hatte er irgendetwas mit Dates am Hut! Und hier saß er nun in einem italienischen Restaurant bei Kerzenlicht und furchtbarer Musik und musste zusehen, wie Kolja ihm beim Zahlen zuvor kamen. Er wurde eingeladen. Von einem Kerl. Noch schlimmer: Von Kolja!
 

Sie verließen das Lokal mit einem letzten Blick der starrenden Kellnerin und traten hinaus in die kühle Abendluft.

»Ich wollte das selber bezahlen«, sagte er säuerlich und hörte selbst, dass er sich wie ein kleines Kind anhörte. Kolja lachte. Und zu Jannis’ Entsetzen streckte er die Hand aus und wuschelte ihm durch die Haare! Blut schoss ihm in die Wangen und er schlug Koljas Hand weg, doch der andere schien sich davon nicht beirren zu lassen. Er schlenderte bestens gelaunt die Straße entlang und Jannis wollte ihm am liebsten den Hals umdrehen.

»Aber ich wollte nicht, dass du es bezahlst«, sagte Kolja grinsend und schob seine Hände in die Hosentaschen. Wenigstens konnte er ihn dann nicht mehr begrabbeln, dachte Jannis wütend. Am liebsten wäre er irgendwo heimlich abgebogen, aber Koljas Blick ruhte die meiste Zeit auf ihm. Es war kalt, feucht und dunkel und das bleiche Licht der Straßenlaternen schimmerte auf dem feuchten Asphalt. Es musste in der Zwischenzeit geregnet haben.

»Und wieso nicht?«, fragte Jannis entnervt und schob seine Hände nun ebenfalls in seine Hosentaschen. Koljas Grinsen verblasste ein wenig.
 

»Na ja, du hattest doch eigentlich gar keine Lust, mit mir auszugehen. Ich dachte, es wäre unhöflich, wenn du für etwas, was dir keine Freude macht, auch noch Geld bezahlen musst.«

Da war er. Der Satz, der Jannis zu seinem Missfallen ein dermaßen schlechtes Gewissen bereitete, dass er sich selbst am liebsten in den Hintern getreten hätte.

Kolja hatte Recht! Er hatte keine Lust auf dieses Treffen gehabt. Wieso also fühlte er sich plötzlich so mies? Weil Kolja nicht mehr grinste, sondern ihn nur ernst von der Seite musterte? Er sollte besser wieder dümmlich grinsen, dann konnte Jannis in Ruhe wütend auf ihn sein.

»Pf«, war alles, was ihm dazu einfiel. Ja, im Museum war es eigentlich ganz interessant gewesen. Und die Pizza hatte geschmeckt. Aber Koljas Gebrassel und sein anhaltendes Grinsen und einfach alles an ihm machte Jannis irgendwie sauer.
 

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, Jannis war ganz und gar mit dem schlechten Gewissen beschäftigt, das in ihm tobte wie ein Herbststurm. Es war zum Kotzen. Wenn die Menschen ihn nur in Frieden lassen könnten, dann müsste er sich nicht mit solchen lästigen Emotionen herumschlagen. Gefühle hatte er noch nie sonderlich gemocht. Sie machten alles so viel schwerer. Am liebsten waren sie ihm auf Papier, wenn sie erfundenen und fremden Leuten gehörten, wenn er sich nicht näher mit ihnen beschäftigen musste. Denn, Gott verdammt noch mal, er hatte einfach keine Ahnung, wie man mit Gefühlen umging! Weder mit denen anderer Menschen, noch mit seinen eigenen. Aber das interessierte Kolja vermutlich nicht.
 

Zu seinem Missfallen bemerkte er, dass Kolja ihn offensichtlich nach Hause bringen wollte. Er war kein Mädchen, zur Hölle noch mal!

»Du musst mich nicht bringen«, sagte er frostig. Kolja antwortete nicht, sondern lächelte kaum merklich. Dieses Schweigen war merkwürdig. Er war Koljas Geplapper gewöhnt.

»Wieso redest du nicht mehr?«, erkundigte sich Jannis widerwillig. Kolja lachte leise.

»Ich warte drauf, dass du vielleicht mal redest«, entgegnete er gerade heraus. Jannis wollte ihm den Hals umdrehen! Auf der Stelle!

»Ich will aber nicht reden«, gab er zurück und klang schon wieder wie ein trotziger Junge, der sein Zimmer nicht aufräumen wollte. Kolja zuckte die Schultern und schwieg weiterhin. Jannis hasste dieses Schweigen noch mehr als Koljas Gerede. Als sie um eine weitere Ecke bogen, hielt er es schließlich nicht mehr aus.
 

»Also schön, worüber soll ich reden?«, herrschte er Kolja von der Seite an und Kolja verkniff sich ein Schmunzeln, ehe er antwortete.

»Über dich vielleicht?«, schlug er scheinheilig vor und Jannis schnaubte.

»Über mich gibt es nichts zu wissen. Ich bin zweiundzwanzig, was ich studiere, weißt du schon und dass ich nicht gern rede, weißt du auch!«

Kolja gluckste heiter.

»Du hast ja doch Humor«, sagte er leise und seine Stimme klang merkwürdig. Es war Jannis schon oftmals aufgefallen, dass Menschen sich im Dunkeln veränderten. Im Dunkeln veränderten sich die Menschen mitsamt ihren Gedanken.

»Nein, habe ich nicht. Ich bin humorlos, verstockt, menschenscheu, ein Bücherwurm und durch und durch langweilig!«, entgegnete Jannis entnervt. Wann begriff Kolja endlich, dass es zu nichts führte, sich mit ihm zu beschäftigen?
 

Kolja ging darauf nicht ein. Stattdessen fing er mit etwas anderem an.

»Hattest du mal was mit deinem besten Freund? Weil du gesagt hast, dass er schwul ist«, wollte er plötzlich wissen. Jannis starrte ihn entgeistert an und wäre beinahe gegen einen Laternenpfahl gelaufen.

»Was geht dich das an?«, fragte er und unweigerlich spürte er, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Kolja zuckte schon wieder mit den Schultern.

»Ich wollte es nur wissen. Einfach so. Du weißt schon, weil ich dich interessant finde«, gab er zurück und kickte eine Bierdose vor sich her, die auf dem Fußweg lag. Der Lärm, den sie machte, ließ Jannis entnervt aufstöhnen.
 

»Reite nicht ständig auf Marek rum«, brummte Jannis schließlich und bog in die Straße ein, in der seine Wohnung lag. Endlich war er zu Hause, bei seinen Katzen, die ihn nicht von der Seite anlaberten und bei seinen Büchern, die ihn in Ruhe ließen, wenn er es wollte und die ihm Gesellschaft leisteten, wenn er welche brauchte.

»Du magst ihn«, sagte Kolja unverblümt. Jannis starrte ihn an.

»Wie kommst du darauf?«, entgegnete er und hätte sich selbst am liebsten auf die Zunge gebissen, weil die Frage so hastig kam, dass sie eindeutig verräterisch wirkte.

»Du kannst Menschen nicht leiden und er ist offenbar der einzige Mensch, den du in deiner Nähe duldest. Und du hast ihn so angesehen...«, sagte Kolja schlicht. Jannis kramte fahrig nach seinem Schlüssel und blieb vor seiner Haustür stehen.

»Wir sind nur befreundet. Er hat einen Freund. Und wenn er keinen hat, dann hat er… anderes. Und das alles geht dich einen Scheißdreck an«, sagte Jannis abweisend und wollte gerade den Schlüssel ins Schlüsselloch rammen, als Kolja sich plötzlich zu ihm vorbeugte und ihn schlicht und ergreifend auf den Mund küsste.
 

Jannis war so perplex, dass er für einen Wimpernschlag nichts sagen, tun, oder denken konnte. Sein Körper brannte vor Scham. Dann stieß er Kolja von sich weg und schloss mit zittrigen Fingern die Tür auf.

»Noch einmal… und… ich bring dich um!«, zischte er und drehte sich im Hausflur zu Kolja um. Der hatte den Kopf schief gelegt.

»Danke für den schönen Tag. Ich mag dich wirklich, weißt du?«, sagte Kolja. Jannis schäumte vor Wut.

»Du kennst mich überhaupt nicht! Lass mich endlich in Ruhe!«, fauchte er und schlug die Tür hinter sich zu.

Seine Lippen brannten immer noch.

Regen auf der Haut

Ich muss ehrlich sagen, ich liebe diese Kapitel. Die, die in der Vergangenheit spielen ;) Und genau mit so einem belästige ich euch jetzt wieder. Es geht nach Koljas dreistem Kuss mal wieder um Marek und Jannis ;)

Viel Spaß damit!

Liebe Grüße :)

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Draußen regnete es.

Er saß über sein Mathebuch gebeugt und tippte mit der Spitze seines Bleistifts auf das Blatt Papier, das vor ihm lag. Zwei Teilaufgaben hatte er bereits gelöst. Aber die dritte bereitete ihm Schwierigkeiten.

Als es an der Tür klopfte, brummte er unwillig und runzelte die Stirn, als er die Fragestellung noch einmal durchlas.

»Was machst du auf dem Boden?«, fragte die Stimme seiner Mutter ein wenig pikiert.

»Mathehausaufgaben«, entgegnete er abwesend und schrieb nachdenklich die Formel auf das Blatt, von der er sich sicher war, dass er sie brauchen würde. Seine Mutter schwieg einen Moment und Jannis hoffte beinahe, dass sie wieder gehen würde. Natürlich tat sie ihm den Gefallen nicht.

»Wieso machst du deine Hausaufgaben auf dem Boden?«, wollte sie wissen. Jannis verkniff es sich, die Augen zu verdrehen und blickte auf. Seine Mutter trug eines ihrer chicen Kostüme und hatte ihre Haare hochgesteckt. Wenn er Glück hatte, gingen seine Eltern aus. Wenn nicht, dann bekamen sie Gäste und er musste sich wieder einmal verkleiden und den Mustersohn spielen.
 

»Weil ich mich hier besser konzentrieren kann«, gab er zur Antwort und legte den Bleistift unwillig beiseite. Seine Mutter hob eine ihrer nachgezogenen Augenbrauen, schien aber nicht weiter auf diese Bodensitzsache eingehen zu wollen.

»Wir haben heute Abend Geschäftsessen. Herr und Frau Clemens kommen wieder mit ihrer Tochter her, du wirst dich dann ein bisschen um sie kümmern, nicht wahr?«

Jannis stöhnte innerlich. Sie waren ja in einem Alter. Deswegen musste er sich mit Jessika beschäftigen. Und das musste er jedes Mal, wenn Herr und Frau Clemens zu ihnen kamen. In letzter Zeit passierte das häufiger und jedes Mal brachten sie ihre Tochter mit. Jannis konnte nur vermuten, dass ihre und seine Eltern sich irgendetwas daraus erhofften. Etwas, das dann in fünf oder sechs Jahren zu einer Verlobung und später zu Enkelkindern führen würde. Aber Jannis hatte keinerlei Interesse an Jessika. Sie war ganz nett, erträglicher als manch anderes Mädchen, aber er wollte sich nicht mit ihr anfreunden und schon gar nicht wollte er mehr von ihr. Sie schien ihn zu mögen und manchmal setzte sie sich etwas näher zu ihm, als es eigentlich nötig gewesen wäre, aber Jannis wusste schon seit geraumer Zeit, dass er und Mädchen einfach nicht füreinander geschaffen waren.
 

»Von mir aus«, sagte er resigniert, griff wieder nach seinem Bleistift und warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach halb zwei und in genau einer Stunde hatte er Mathenachhilfe. Die Nachhilfestunden waren seine Lichtblicke in diesem Haus. Eigentlich überhaupt in seinem ganzen Leben. Er freute sich auf diese Stunden mit Marek, er genoss sie genauso sehr wie stundenlanges Lesen in seinen geliebten Büchern. Seine Leistungen hatten sich drastisch verbessert, was sein Vater jedem erzählte, den es eigentlich nicht interessierte. Endlich hatte er einen Sohn, der gut in Mathe war. Und mit seinen Mathenoten hatten sich merkwürdigerweise auch die anderen Naturwissenschaftsnoten verbessert. Es war, als hätte Marek eine gewisse Barriere in ihm eingerissen. Er hatte jetzt nicht mehr das Gefühl, für seine Eltern gut sein zu müssen. Wenn er Marek erzählte, dass er eine gute Arbeit geschrieben hatte, dann umarmte er ihn meistens. Und so lächerlich es auch sein mochte, allein dafür strengte Jannis sich an. Dass seine Eltern plötzlich unglaublich stolz auf ihn waren und er ihr Vorzeigesohn geworden war, interessierte ihn kein bisschen. Der einzige Mensch, der ihn interessierte, war Marek.
 

Er lebte nur noch für seine Bücher und für die Stunden mit Marek. Seine Woche gliederte sich nach den Nachhilfestunden, er zählte jedes Mal die Tage, bis es wieder so weit war. Manchmal erfand er irgendwelche Tests, nur damit sie einmal zusätzlich üben konnten. Vor jeder Arbeit lernten sie jeden Tag zusammen, deswegen freute er sich richtig auf die Klausuren. Dunkel fragte er sich, ob er nicht regelrecht besessen von Mathe und Marek geworden war. Aber was machte das schon? Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Jannis nicht mehr das Gefühl, nur für seine Eltern zu funktionieren. Zum ersten Mal hatte er jemanden, an den er sich wenden konnte. Zum allerersten Mal in seinem Leben war er nicht allein. Er hatte einen Freund gefunden. Und es freute ihn jedes Mal, wenn Marek ihm zu verstehen gab, dass es ihm genauso ging.
 

Als es um halb drei klingelte, hatte er die vertrackte dritte Teilaufgabe endlich gelöst und er spurtete aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und durch den Eingangsbereich, ehe er die Tür öffnete.

Da stand Marek, die Haare wie immer zerzaust, sein verträumtes Lächeln auf den Lippen und in den uralten Klamotten, die er jedes Mal trug. Er war pitschnass.

»Hast du keinen Regenschirm?«, fragte Jannis entgeistert, während Marek eintrat und den ganzen Steinboden voll tropfte.

»Ich mag Regen. Auch wenn er traurig ist. Stell dir vor, der Himmel weint«, meinte Marek scheinbar bestens gelaunt und zog sich die Schuhe aus, ehe er die Treppe hinauf huschte, um in Jannis’ Zimmer zu verschwinden. Jannis folgte ihm und er spürte, wie sein Herz aufgeregt hüpfte. Es war jedes Mal das gleiche. Er war fünfzehn, er sollte sich für Mädchen interessieren. Stattdessen bekam er Herzklopfen, wenn er Marek nur ansah. Er war sich ziemlich sicher, dass er nicht normal war.
 

»Oh, du hast sie schon ganz allein gerechnet«, sagte Marek zufrieden und legte sich klatschnass auf seinen Dielenboden, wo er interessiert das Stück Papier zu sich heran zog und die Aufgaben überflog.

»Ja… ich dachte, dann können wir noch was Neues machen«, sagte Jannis ein wenig verlegen und setzte sich Marek gegenüber.

Eine Sache, die wunderbar war, wenn Marek hier bei ihm war: Seine Eltern kamen nie herein. Sie fanden Marek merkwürdig und Jannis wusste, dass der einzige Grund, wieso sie keinen anderen Nachhilfelehrer anheuerten, der war, dass sich seine Leistungen dermaßen verbessert hatten.

»Bist ja richtig eifrig«, sagte Marek gut gelaunt und strich sich die nassen Haare aus der Stirn. Jannis spürte, wie ihm warm wurde. Er räusperte sich.

»Ist es denn richtig?«, wollte er wissen. Marek sah zu ihm auf. Seine dunklen Augen funkelten immer so. Er dachte an all die Bücher, in denen Augen mit Edelsteinen verglichen wurden. Eins war sicher: Mareks Augen waren sehr viel schöner als jeder Edelstein, den er je gesehen hatte.

»Vielleicht«, sagte Marek und schmunzelte amüsiert.

»Komm, wir stellen uns auf den Balkon«, sagte er dann, stand auf und ging wirklich hinüber zu Jannis’ Balkontür, um sie zu öffnen und nach draußen zu treten. Auf Socken.

»Aber es regnet!«, rief Jannis und hechtete zu Marek hinüber, aber es war schon zu spät. Marek war aus seinen Socken geschlüpft und barfuß in den Wolkenbruch getreten. Jannis seufzte ergeben, zog sich ebenfalls die Socken aus, nahm seine Brille ab und folgte ihm.
 

Der Regen war nicht besonders kalt, trotzdem schauderte Jannis, als er ihm den Nacken hinunter rann und seine Kleider durchweichte. Er sah hinüber zu Marek, der das Gesicht dem Regen entgegen hielt und die Augen geschlossen hatte. Jannis atmete tief ein und aus und wandte rasch den Blick ab. Sein Herz hämmerte heftig gegen seine Rippen. Wo hatte er sich da wieder hinein geritten?

Als Marek die Augen schließlich öffnete, drehte er den Kopf zu Jannis herum und sah ihn aufmerksam an. Dann streckte er die rechte Hand aus und wischte ein paar Regentropfen aus Jannis’ Gesicht.

»Stell dir mal vor…«, sagte er leise und wandte sich nun ganz zu ihm um, »stell dir vor, die Regentropfen sind Fingerspitzen.«

Jannis spürte, wie sein Herz noch einen Takt schneller schlug, als Marek sehr sorgfältig einige Linien nachfuhr, die die Regentropfen auf seiner Haut hinterlassen hatten.

Marek hatte eine viel zu blühende Fantasie. Und Jannis’ Haut brannte im Regen, weil plötzlich jeder Tropfen einer von Mareks Fingern war.
 

Er spürte kaum, wie er seine Hand hob und ganz sachte, als wäre Marek aus Glas und der Moment aus Porzellan, über Mareks Wange strich. Sie waren beide vollkommen vom Regen durchweicht.

»Und stell dir mal vor«, sagte Marek noch leiser und kam einen Schritt näher. Es passte kaum noch ein Stück Papier zwischen sie, »stell dir vor, jeder Regentropfen ist ein Kuss.«

Jannis konnte nicht mehr denken. Wenn er sich das vorstellte, dann würde er sicherlich gleich explodieren. Sein Herz jedenfalls war kurz davor zu zerspringen.

Und dann küsste Marek ihn. Einfach so, mitten auf den Mund und seine Lippen brannten, als stünde er in Flammen.

Er war noch nie geküsst worden. Und er war sich sicher, dass er nie wieder geküsst werden wollte, nur damit die Erinnerung an Mareks Lippen immer und immer auf seinem Mund haften blieb.
 

Marek kam ihm noch ein Stück näher, nahm Jannis’ Gesicht behutsam in beide Hände und nichts auf der Welt hatte sich jemals so gut angefühlt. Er dachte an nichts mehr, nur noch an Marek. Und als er seine Lippen unsicher und garantiert schrecklich unbeholfen gegen die seines besten Freundes bewegte, da fragte er sich erneut, wo er sich nur wieder hinein geritten hatte. Aber er konnte Marek nicht loslassen. Also zog er ihn näher. Und hielt ihn fest. Und Marek presste seine Lippen auf seinen Mund und ließ ihn innerlich aufkeuchen. Der Regen fühlte sich heiß auf seiner Haut an und jeder Tropfen war ein Kuss und eine Berührung von Marek. Sein Papierherz stand in Flammen. Er würde das nie wieder vergessen. Diesen Kuss. Alle Küsse, die er hatte, gehörten Marek. Und es fühlte sich so an, als würden sie ihm immer gehören. Als wäre da kein Platz für andere Küsse. Und als würde da niemals Platz für andere Küsse sein.

Geküsst, benutzt, geliebt

Die beiden nehmen zur Zeit einen großen Teil meiner Grübeleien ein. Ich bin froh, dass ich mich ihnen jetzt voll und ganz widmen kann. Das Kapitel hier ist etwas aus den Fugen geraten, aber ich bin sehr zufrieden. Es gefällt mir, so wie es jetzt ist, auch wenn sich der Storyverlauf dadurch etwas verändert und sich alles noch mehr in die Länge zieht.

Ich hoffe, ihr reißt mir nach diesem Kapitel nicht den Kopf ab.

Viel Spaß beim Lesen,

liebe Grüße!
 

PS: Danke wie immer für die lieben Kommentare! Die Musik zu diesem Kapitel ist von Hodges - My side of the story.

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Er konnte es immer noch nicht fassen. In ihm tobte es seit zwei Tagen. Wie hatte diese vollidiotische Ausgeburt der Aufdringlichkeit es wagen können, ihn zu küssen? Kannte Kolja überhaupt keine Grenzen? Das war seine Privatsphäre! Er küsste nicht jeden und schon gar nicht küsste er Kolja! Küsse waren – zum Teufel noch mal – etwas Besonderes. Ganz davon abgesehen, dass seine Küsse ohnehin vergeben waren. Irgendwie. Das führte zwar dazu, dass er wohl nie wieder jemanden küssen würde, aber was machte das schon? Es gab nur einen Menschen in seinem Leben. Und das war Marek. Marek war es gewesen, schon seit damals, als er das erste Mal das Haus von Jannis’ Eltern betreten hatte. Jannis tigerte durch die Wohnung. Zu allem Überfluss regnete es draußen, was ihn unweigerlich daran erinnerte, was damals passiert war. Auf dem Balkon.
 

Das Gefühl war immer noch da. Die Erinnerung an Mareks Lippen auf seinen. Damals hatte er gewusst, dass er niemals ein Mädchen lieben konnte. Und er hatte immer gedacht, dass er gut darin war, das zu verstecken. Und nun kam dieser Armleuchter daher und baggerte ihn an, fragte ihn nach Dates und küsste ihn, als wäre es absolut offensichtlich, dass Jannis… dass er nicht hetero war. Kein kleines bisschen. Aber das wusste niemand, nicht einmal Marek hatte er es wirklich gesagt. Für Marek war das nur ein Kuss gewesen. Einfach so, weil er Jannis mochte. Aber Jannis hatte diesen einen, einzigen Kuss niemals vergessen und es war für ihn niemals einfach nur ein Kuss gewesen. Sein erster und letzter und einziger Kuss. Mit Marek im Regen auf dem Balkon.

Alles strömte wieder auf ihn ein und er ließ sich aufs Sofa sinken, vergrub das Gesicht in den Armen und fluchte lautlos auf Kolja und seine Dreistigkeit und er schimpfte auf sich selbst, weil da immer noch Gefühle für seinen besten Freund waren, die zwar nicht mehr so schlimm waren wie damals… aber immer noch vorhanden. Immer noch wurde er rot, wenn Marek zweideutige Späßchen machte. Immer noch wurde Jannis missmutig, wenn Marek ihm von seinen Bettgeschichten erzählte. Und immer noch fühlte er sich taub bei dem Gedanken, dass Marek vielleicht wirklich verliebt war in diesen Sebastian, mit dem er seit längerer Zeit etwas hatte.
 

Marek war ein Schmetterling. Er flog rastlos von Blüte zu Blüte, er blieb nie allzu lang und bevor man sich noch fragen konnte, woher diese sachte Berührung im Herzen kam, da war er schon wieder verschwunden.

Jannis hob den Kopf und starrte hinaus in den Regen, der auf seine Dachfenster prasselte. Der Regen erinnerte ihn an den einen Kuss, der immer noch an seinen Lippen haftete. Und jetzt klebte irgendwo auf Mareks Kuss der von Kolja. Es fühlte sich falsch an. Und Jannis hatte eine derartige Wut auf Kolja, dass er sich selbst kaum wieder erkannte. Er war sonst eher gleichgültig, desinteressiert, abweisend. Aber etwas an Kolja machte ihn rasend. Vielleicht war es der Umstand, dass Kolja scheinbar sehr deutlich erkannt hatte, dass Jannis so wenig heterosexuell wie kontaktfreudig war. Niemand hatte es je gemerkt. Marek hatte diesen Kuss als Spaß zwischen Freunden gesehen. Für Marek war immer alles nur Spaß.
 

Jannis legte seine Brille beiseite. Es war Montag. Morgen hatte er Tutorium. Morgen sah er Kolja wieder. Und Herrgott, er wollte ihn nicht sehen. Er wollte nicht mit ihm reden und er wollte seine Stimme nicht hören. Einen Moment lang blieb er sitzen, dann stand er auf und ging in sein Schlafzimmer, schaltete seinen Laptop an und schrieb Herrn Dillmann eine Email, dass das Tutorium leider ausfallen musste, weil er krank war. Eine abgeänderte Form dieser Mail ging an alle Teilnehmer des Tutoriums. Finster starrte er auf kolja.reichenau@gmx.de. Dann schickte er die Email ab und lehnte sich seufzend auf seinem Stuhl zurück. Lana kam herein und strich schnurrend um seine Knöchel. Er bückte sich, hob sie auf seinen Schoß und sah ihr dabei zu, wie sie sich auf seinem Schoß zusammen rollte. Abwesend kraulte er sie hinter den Ohren und sie schloss genießerisch die Augen und versenkte ihre Krallen in seiner Hose.
 

Er hatte noch nie die Uni geschwänzt. Er ließ die Uni sausen, weil ein verdammter Erstsemesterstudent ihn geküsst hatte. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Jannis hob Lana von seinem Schoß und sie sah ihn vorwurfsvoll an, dann verschwand sie schmollend aus dem Zimmer.

Nachdem er aufgestanden war, ging er hinüber zum Telefon und betrachtete es einen Moment lang. Er dachte darüber nach, Marek anzurufen und ihm davon zu erzählen. Aber dann war er sich fast im selben Augenblick sicher, dass er es kaum ertragen könnte, darüber mit Marek zu reden, weil für Marek Küsse nur ein Spaß waren. Also schnappte er sich seinen Schlüssel und verließ die Wohnung.
 

Er hatte keine Jacke an und fror erbärmlich, während er kopflos durch den Regen irrte. Es war so was von nicht normal, dass ein zweiundzwanzigjähriger Student sich wegen eines Kusses dermaßen aufregte. Aber er war immerhin auch nicht irgendein Student. Er war überhaupt komisch. Immer schon hatte er das Gefühl gehabt, nicht dazu zu gehören.

Der Regen rann über sein Gesicht. Ohne seine Brille sah er alles nur verschwommen. Die kalten Tropfen liefen ihm den Nacken hinunter, über die Hände und durchweichten seine Haare. Jeder Tropfen war eine von Mareks Fingerspitzen und jeder Tropfen sollte ein Kuss von ihm sein. Aber dem war nicht so. Weil da ein anderer Kuss war.

Jannis hätte am liebsten geschrieen. Der Regen küsste ihn nicht mehr. Er hatte Mareks Kuss verloren!
 

Als er nach zwei Stunden komplett durchgefroren, nass und bibbernd vor Kälte zu seiner Wohnung zurückkehrte, saß Marek vor seiner Wohnungstür und sah ihm mit schief gelegtem Kopf entgegen. Jannis hielt einen Moment den Atem an, dann wandte er den Blick ab und kramte mit zittrigen Fingern nach seinem Schlüssel. Woher wusste Marek immer, wie es ihm ging? Das war unheimlich.

»Du hast blaue Lippen«, sagte Marek nachdenklich und erhob sich, als Jannis die Wohnungstür aufgeschlossen hatte.

»War spazieren«, sagte Jannis abweisend, trat in den Flur und schloss die Tür hinter ihnen. Dann schlüpfte er aus den Schuhen. Unter ihm bildete sich bereits eine Wasserlache. Er wich Mareks Blick aus und ignorierte das Stechen in seiner Brust. Unweigerlich dachte er daran, wie er sich sein Herz früher vorgestellt hatte. Wie Papier. Mareks Name stand quer darüber geschrieben und ließ keinen Platz für einen anderen Namen. Das war für ihn immer in Ordnung gewesen. Jetzt wünschte er sich zum ersten Mal, er hätte noch jemanden anderen, mit dem er über Marek reden konnte. Denn das war das einzige Thema, über das er mit seinem besten Freund nicht sprechen konnte.
 

»Du hast rote Augen«, erklärte Marek. Jannis antwortete nicht. Nach und nach schälte er sich aus den nassen Klamotten, hob das tropfende Bündel vom Boden auf und ging nur noch in Boxershorts bekleidet ins Bad, um die Sachen in die Dusche zu werfen. Marek folgte ihm beharrlich.

»Was machst du hier?«, fragte Jannis schließlich, als er fast nackt vor seinem Kleiderschrank stand und sich dicke Klamotten herausnahm.

»Nach dir sehen«, erwiderte sein bester Freund. Es gab selten Gelegenheiten, in denen Marek so ernst redete. Normalerweise sprach er verträumt, war mit den Gedanken immer irgendwo anders.

»Es gibt nichts zu sehen«, antwortete Jannis, ging wieder ins Bad und schloss die Tür, ehe Marek ihm wieder folgen konnte. Er zog sich trockene Shorts an, rubbelte sich die Haare trocken und schlüpfte in die warmen Klamotten, ehe er die Badetür wieder öffnete. Marek stand direkt davor und beinahe wäre Jannis mit ihm zusammen gestoßen.
 

»Ich glaube schon, dass es etwas zu sehen gibt. Außerdem wollte ich dir sagen, dass ich Schluss gemacht habe. Mit Sebastian«, sagte er. Jannis spürte augenblicklich einen übermächtigen Hoffnungsfunken in sich aufkeimen, sofort erstickt von dem unpassenden Bedürfnis zu lachen. Natürlich hatte Marek Schluss gemacht. Er machte immer irgendwann Schluss. Und die Hoffnung war lächerlich. Das predigte er sich selbst schon seit über sieben Jahren.

»Natürlich hast du Schluss gemacht«, sagte er ziemlich schroff und ging immer noch frierend in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Hermes kam schnurrend in den Flur getapst, doch weder Marek noch Jannis beachteten ihn.

»Ich habe nicht Schluss gemacht, weil ich einen Neuen habe«, erklärte Marek sehr leise und Jannis hielt in seinen Bewegungen inne, legte den Teebeutel beiseite und wandte sich zu seinem besten Freund um. Er sah traurig aus. Jannis hasste es, wenn Marek traurig aussah.

»Was hat er gemacht?«, fragte er unverhofft wütend auf denjenigen, der Mareks Gesicht so traurig aussehen ließ.
 

Marek kam zu ihm herüber und fuhr damit fort, Jannis einen Tee zu kochen. Jannis starrte ihn die ganze Zeit von der Seite an.

»Er hat nichts gemacht. Er… liebt mich nur. So richtig«, fuhr Marek zögerlich fort, während der Wasserkocher rauschte und der Regen auf das Dachfenster in der Küche prasselte. Jannis seufzte.

»Das ist doch… gut…«, entgegnete er matt. Marek schüttelte den Kopf.

»Du weißt, dass das nicht stimmt. Außerdem ist das nicht das Schlimmste«, meinte er und Jannis sah, wie Marek nervös am Bund seines Pullovers herum spielte. Marek war nie nervös. Jannis spürte, wie etwas auf ihn zukam und ihn umzuwerfen drohte. Natürlich konnte er es nicht aufhalten, es war unausweichlich gewesen. Er wusste, was Marek gleich sagen würde…

»Noch schlimmer ist, dass ich mich in ihn verliebt habe.«
 

Jannis’ Küchenboden löste sich in Luft auf und Jannis fiel, fiel und versank in Dunkelheit. Mareks Gesicht sah irgendwie flehend aus, so als wollte er, dass Jannis dieses Gefühl abschaltete. Aber wie sollte er das tun? Er konnte ja nicht einmal seine eigenen Gefühle abschalten und das seit sieben Jahren!

»Aber wenn ihr ineinander verliebt seid, dann…«, meinte er matt und griff nach dem Wasserkocher, der sich automatisch ausschaltete. Jannis wünschte, er könnte das mit seinen Gefühlen genauso tun.

»Du weißt es doch. Du kennst mich. Ich kann das alles nicht. Nähe macht mir Angst.«

Mareks Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Jannis seufzte, schob seinen aufgegossenen Tee beiseite und machte einen Schritt auf Marek zu. Zögerlich streckte er die Arme aus.

»Ja, ich weiß«, nuschelte er. Marek lehnte sich an ihn. Er war kleiner als Jannis. Er konnte seinen Kopf ganz wunderbar auf Jannis’ Schulter legen.
 

Es war nie körperliche Nähe gewesen, vor der Marek Angst gehabt hatte. Es waren Gefühle gewesen. Sie waren so unterschiedlich und doch in diesem einen Punkt so gleich. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass sie so eng befreundet waren. Jannis wusste, dass er der einzige Mensch war, mit dem Marek emotionale Nähe teilte. Das hatte ihn immer stolz gemacht. Aber viel eingebracht hatte es ihm angesichts seiner unerwiderten Gefühle anderer Art auch nicht.

»Ich hab nicht versucht, ihm das zu sagen. Ich hab nur gesagt, dass ich ihn nicht mehr bei mir haben will.«

Jannis konnte Marek kaum verstehen. So leise sprach er sonst nie. Es war kaum mehr ein Hauch an Jannis’ Hals, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Behutsam strich er über Mareks Rücken.

»Was hat er dazu gesagt?«, fragte Jannis. Wollte er es wirklich wissen? Und war er ein miserabler Freund, weil er es vermutlich nicht wissen wollte?

»Er hat… er hat geweint«, murmelte Marek.
 

Jannis schloss die Augen. Normalerweise machte es Marek nichts aus, Menschen mit gebrochenem Herzen zurück zu lassen. Er sagte jedem, mit dem er sich einließ, dass er keine Beziehung wollte. Er war immer ehrlich. Aber meistens erhofften sich die Jungs, mit denen er schlief, trotzdem mehr. Und sie wurden immer enttäuscht.

»Und du bist gegangen?«, fragte er weiter. Er griff nach der Teetasse und streichelte mit der anderen Hand sachte Mareks Rücken. Seine Finger brannten angesichts der Berührung.

»Hab ’n Taxi genommen und bin zu dir gefahren. Und dir geht’s auch schlecht. Ich wollte nicht allein sein«, kam es zusammenhangslos. Jannis schob Marek behutsam in Richtung Wohnzimmer und drückte ihn aufs Sofa. Dann rührte er kurz in seinem Tee und legte den Teebeutel auf den Unterteller. Marek hatte sich zu einer Kugel zusammen gerollt und Jannis konnte sein Gesicht nicht sehen. Aber er hatte das schreckliche Gefühl, dass gerade etwas falsch lief.

»Marek… weinst du?«, fragte er heiser.
 

Marek schüttelte den Kopf, aber das lautlose Schluchzen, das seinen Körper leicht erzittern ließ, strafte ihn Lügen.

Jannis zog ihn in eine sitzende Position und starrte seinen besten Freund an. Seine Augen waren gerötet, Tränen liefen ihm über die blassen Wangen.

»Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, mir ging’s noch nie so dreckig. Ich will nicht verliebt sein, ich will, dass es verschwindet«, brachte er abgehackt hervor und Jannis fühlte einen schweren Kloß im Hals. Er stand hastig auf, um nach Taschentüchern zu suchen.

Als er sich wieder gesetzt und Marek sich die Nase geputzt hatte, drückte er seine Hand auf Jannis’ Brustkorb, da wo das Herz schlug. Jannis schluckte.

»Da tut’s weh… da hat es nie wehgetan«, flüsterte er.

»Ich weiß…«, gab Jannis zurück. Es war ein ‚Ich weiß’ für beide Teile des Satzes. ‚Ich weiß, dass es da bei dir noch nie wehgetan hat’ und ‚Ich weiß, wie sich das anfühlt’.
 

»Ich vermisse ihn. Ich will ihn umarmen. Aber ich kann das alles nicht. Sobald ich merke, wie mein Herz hämmert, wenn ich ihn ansehe, will ich weglaufen. Dann zieht sich alles in mir zusammen. Ich konnte nächtelang nicht schlafen, als ich gemerkt habe, was mit mir los ist.«

Jannis konnte es kaum ertragen, Marek derart aufgelöst zu sehen und ihn so schluchzen zu hören. Es war nicht einfach so, dass Marek traurig war und sich schlecht fühlte. Jannis sah in den Augen seines besten Freundes, dass er eine wahnwitzige Angst hatte. Vor sich selbst und seinen Gefühlen. Jannis kannte das Gefühl, aber er hatte es schon hinter sich. Er war schon verliebt gewesen und Reste davon waren immer noch übrig.

»Warum geht’s dir schlecht?«, wollte Marek erstickt wissen und wischte sich die Tränen fort.

»Wegen nichts«, sagte Jannis leise und griff nach seinem Tee. Er hörte, wie Marek sich erneut schnäuzte.

»Du kannst mich nicht anlügen«, sagte sein bester Freund und klang beinahe ein wenig trotzig. Jannis hätte fast gelächelt. Dann erinnerte er sich daran, weswegen der Regen ihn nicht mehr küsste.
 

»Kolja hat mich geküsst«, sagte er brummend. Marek schwieg einen Moment lang.

»Bist du verknallt?«, fragte er dann. Jannis runzelte die Stirn.

»Nein! Er nervt mich, er ist aufdringlich, ich wollte überhaupt nicht von ihm geküsst werden!«, erwiderte Jannis heftig und Marek lächelte.

»Sieh mal… du bist sauer«, flüsterte sein bester Freund und Jannis schaffte es, ihm in die verweinten Augen zu sehen.

»Ja, ich weiß. Ich weiß auch, dass das ungewöhnlich ist. Aber ich will ihn nicht sehen. Es hat nichts mit Verknalltsein zu tun«, sagte er und er meinte es auch so. Er wusste immerhin, wie sich so etwas anfühlte. Marek nickte leicht.

»Jannis…?«, murmelte er dann und blickte aufs Sofa. Jannis hob die Brauen.

»Ja?«
 

Marek schwieg eine ganze Weile lang.

»Du weißt, dass ich dich liebe. Als besten Freund«, sagte Marek dann nach einiger Zeit. Jannis spürte, wie sein Herz sich leicht zusammen zog, aber er nickte.

»Und ich würde nie wollen, dass da irgendwas zwischen uns ist«, fuhr Marek fort. Jannis runzelte erneut die Stirn. Er hatte keine Ahnung, worauf Marek hinaus wollte, aber schon im nächsten Moment wurde es ihm klar.

»Darf ich dich benutzen?«, wisperte Marek. Jannis’ Herz setzte aus und sein Gehirn stellte sämtliche Denkprozesse ein.

»Ich… ich weiß nicht«, krächzte er. Marek war so nah. Er war viel zu nah.

»Ich weiß, dass das nicht richtig ist«, flüsterte Marek gegen seine Lippen, »aber du bist der Einzige, der mir jetzt helfen kann…«
 

Jannis zitterte. Und diesmal nicht aus Kälte.

»Ich weiß nicht, ob ich… das kann«, sagte er heiser.

»Ich liebe dich«, murmelte Marek. Und Jannis wusste, wie er es meinte. Trotzdem begann sein Herz wie verrückt zu schlagen und alles in ihm kribbelte.

»Ich dich auch«, gab er zurück und es war das erste Mal, dass er Marek das sagte. Natürlich war es rein freundschaftlich und so sollte es bei Marek auch ankommen. Jannis wusste, was passieren würde, wenn er nicht Stopp sagte.

Aber Mareks Lippen waren so dicht an seinen. Vielleicht konnten sie Koljas Kuss wieder überdecken…?
 

Mareks Mund presste sich auf seinen. Sie kippten nach hinten und Jannis landete unter Marek. Das Gewicht seines Körpers war viel zu leicht. Marek schmiegte sich an ihn, strich ihm die Seite entlang, hielt Jannis’ Wange mit der anderen Hand umfangen und küsste ihn. Küsste ihn so wundervoll zärtlich und fordernd und liebevoll, dass sein Herz zerspringen wollte.

Mareks Körperwärme war ansteckend. Ihm war so heiß, seine Lippen bewegten sich fiebrig gegen Mareks, seine Finger huschten rastlos über Mareks Rücken, zogen seinen Pullover nach oben. Er hatte nicht gewusst, dass so viel Leidenschaft in ihm steckte, geschweige denn das Verlangen, das plötzlich in ihm aufflammte.

Mareks Zunge, die über seine Lippen strich, ließ ihn aufkeuchen. Bereitwillig öffnete er den Mund, spürte das erste Mal, wie Mareks Zunge an seiner sich anfühlte. Sein Körper erbebte, als er Mareks tastende Fingerspitzen unter seinem Pullover spürte. Mareks warme, weiche Haut unter seinen Händen machte ihn beinahe verrückt vor Sehnsucht.
 

Dunkel keimte in ihm der Gedanke auf, ob es nur die Sehnsucht nach Marek war. Oder ob es die allgemeine Sehnsucht nach Nähe war, die er immer vermied und niemals gehabt hatte? Dieser Gedanke machte ihm Angst. Genauso wie er Marek auch Angst gemacht hatte.

Aber die weichen Lippen küssten ihm den Gedanken wieder fort, wanderte über seine Wange, seine Schläfe, tupften sich auf seine Augenlider und Mareks Mund wanderte weiter abwärts, knabberte an seinem Hals…

Jannis spürte, wie es in seiner Hose unangenehm eng wurde. Er biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht aufzukeuchen. Sein ganzer Körper zitterte.

Mareks Zunge kitzelte ihn am Ohrläppchen, glitt tiefer, strich über sein Schlüsselbein, nachdem Mareks Hand den Pullover ein Stück nach unten gezerrt hatte. Diese Hitze fühlte sich so gut an. Mareks Lippen auf seiner Haut waren der vorübergehende Himmel.

Und dann klingelte es.

Ohne Kurs übers Meer

Wah, so viele Kommentare... Vielen Dank dafür! Es tut mir Leid, dass ich im Moment nicht dazu komme, alle Kommentare persönlich zu beantworten, ich war übers Wochenende arbeiten und muss mich nebenbei noch mit einer blöden Hausarbeit beschäftigen.

Ich wünsche euch viel Spaß mit dem neuen Kapitel, das ich diesmal Armaterasu widmen möchte, weil sie ihr halbes Wochenende damit verbracht hat, mir Kommentare zu schreiben.

Liebe Grüße :)

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Dumpf fragte er sich, ob er sich verhört hatte. Mareks Lippen an seinem Bauch trugen nicht dazu bei, dass er sich besonders gut konzentrieren konnte. Aber schließlich richtete er sich halb auf und schob Marek von sich weg. Der schien davon nicht allzu begeistert. Seine Lippen fanden Jannis’ und er küsste ihn erneut halb beduselig. Jannis wollte nicht wirklich aufstehen, aber dann löste er sich von seinem besten Freund und floh förmlich vom Sofa.

Er hatte gerade mit Marek geknutscht. Er war gerade im Inbegriff gewesen, mit seinem besten Freund zu schlafen. Und jetzt klingelte es.

Er war vollkommen durch den Wind, er sah nur verschwommen, weil er seine Brille noch nicht wieder aufgesetzt hatte. Seine Haare mussten aussehen, als hätte er in die Steckdose gefasst, ganz zu schweigen davon, dass seine Lippen rot geküsst waren, wie er bei einem raschen Blick in den Spiegel neben der Kommode im Flur bemerkte. Wunderbar. Sein Herz hämmerte immer noch rasend schnell und das Problem in seiner Hose verlangsamte seine Denkprozesse. Er fühlte sich, als wäre er betrunken…
 

Dann wurde er schlagartig nüchtern. Ein gewisser blonder Undercut erschien am Treppenabsatz und Jannis’ Augen verengten sich zu Schlitzen. Er hatte die Tür schon halb wieder zugeschlagen, als Koljas Hand sich dagegen stemmte und seine Wohnungstür wieder aufdrückte.

»Du hast das Tutorium abgesagt«, sagte Kolja und stand plötzlich in seinem Flur. Jannis konnte es nicht fassen. Erst küsste er ihn und jetzt beging er Hausfriedensbruch! Wo endete die Dreistigkeit dieses Menschen?

»Na und?«, fauchte er und versuchte sich vergeblich das Haar zu glätten.

»Wegen mir?«, wollte Kolja wissen. Wenigstens grinste er nicht dümmlich. Nein, er sollte dümmlich grinsen, damit Jannis wieder so richtig wütend auf ihn werden konnte. Noch wütender, als er es jetzt schon war.

»Nein! Denk nicht immer, dass du wichtig wärst! Und jetzt raus hier!«, zischte er und deutete mit der Hand zur Tür. Kolja machte keine Anstalten, sich zu bewegen.
 

»Du hast es abgesagt, weil ich dich geküsst hab«, meinte er und es klang wie eine Feststellung.

»Ich sagte doch schon-«, fing Jannis an.

»Du hast auch gesagt, dass du nicht auf Männer stehst«, versetzte Kolja, »ich bin nicht blöd und blind bin ich auch nicht! Selbst wenn es vielleicht ein bisschen dreist war, warum hat dich das so sauer gemacht, dass du gleich das Tutorium sausen lässt?«

Jannis fehlten angesichts von so viel Unverfrorenheit wirklich die Worte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss er ihn wieder, nur um ihn im nächsten Moment noch einmal zu öffnen und einen zweiten Sprechversuch zu wagen.

»Ich küsse nun mal nicht jeden!«, entgegnete er heftig. Kolja setzte gerade zum Antworten an, als Marek im Flur erschien. Seine Haare sahen nicht minder zerzaust und seine Lippen nicht weniger geküsst aus. Er musterte Kolja nachdenklich.

»Du küsst nicht jeden«, sagte Kolja und seine Augen huschten über ihre Gesichter und die zerwühlten Haare.

»Verstehe«, fügte er knapp hinzu.

»Ich hab ihn geküsst. Er wollte gar nicht«, sagte Marek bedächtig.

»Doch, wollte ich«, rief Jannis aufgebracht. Hatte sich eigentlich die ganze Welt gegen ihn verschworen?

»Wieso darf er dich küssen?«, fragte Kolja und ruckte mit dem Kopf in Richtung Marek. Jannis riss der Geduldsfaden.
 

»Ich kenne ihn seit acht Jahren, du Vollidiot! Und dich kenne ich überhaupt nicht und ich will dich auch nicht kennen! Und es geht dich einen Scheißdreck an, mit wem ich knutsche und mit wem nicht! Und jetzt raus aus meiner Wohnung oder ich zeige dich wegen Hausfriedensbruch an!«

Kolja stand da wie vom Donner gerührt. Marek allerdings tat etwas, das Jannis nicht erwartet hatte.

Er zog sich die Schuhe an.

»Ich werd dann mal gehen«, sagte er leise, »und du kannst das mit Kolja klären.«

Ihm blieb der Mund offen stehen. Auch Kolja war offenkundig vollkommen verwirrt von dieser Reaktion.

»Marek, ich-«

»Es war gut, dass du geklingelt hast«, sagte Marek zu Kolja ohne auf Jannis zu achten. Er schaffte ein mattes Lächeln.

»Ich hätte sonst eine Riesendummheit gemacht.«
 

Und dann war er plötzlich fort und die Tür ging hinter ihm zu. Jannis’ Wut verpuffte und er stand einen Moment lang nur da und starrte die geschlossene Tür an. Dann funkelte er Kolja an.

»Du hast gesagt, du wärst nicht mit ihm zusammen«, sagte Kolja, aber seine Stimme klang nicht mehr vorwurfsvoll. Sie klang behutsam. Als wollte er Jannis trösten. Aber Jannis musste überhaupt nicht getröstet werden…

»Du sollst gehen«, sagte er und zu seinem Entsetzen hörte er, dass seine Stimme brüchig klang. Aber Kolja ging nicht. Natürlich nicht, was hatte er denn erwartet.

»Jannis… du weinst«, erwiderte Kolja und machte einen Schritt auf ihn zu. Lana kam in den Flur, um zu sehen, was da los war. Sie betrachtete Kolja misstrauisch und strich um Jannis’ Beine, als wollte sie von ihm beruhigt werden, dass dieser Fremde ihr nichts tun würde.

»Ich weine nicht!«, gab Jannis mit zittriger Stimme zurück, »Das ist nur… Wasser…«

Er wischte sich über die Augen und wandte sich ab. Lana huschte ihm voran ins Wohnzimmer.

»Geh einfach«, sagte er matt.
 

Als Marek hier gewesen war, war er zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihn zu trösten und darauf zu achten, dass er kein Quäntchen seiner Gefühle zeigte, die er für Marek hegte. Jetzt, wo Marek weg war und es als Fehler bezeichnete, dass er beinahe mit ihm geschlafen hätte, da brach alles in sich zusammen. Er hatte seit sieben Jahren nicht mehr geweint.

Vor sieben Jahren war er beim Weinen allein gewesen. Und jetzt sank er auf seinem Sofa zusammen und plötzlich saß Kolja neben ihm. Jannis konnte aus dem Augenwinkel sehen, dass er vollkommen erschüttert wirkte. Dann reichte er ihm die Taschentücher, die vorhin noch für Marek gewesen waren.

Jannis nahm eines. Er wollte Kolja anschreien und ihn rauswerfen. Und nicht Taschentücher von ihm gereicht bekommen. Sein Tee, der immer noch auf dem Tisch stand, war vermutlich nur noch lauwarm. Plötzlich fror er wieder.
 

»Ich lass dich hier doch nicht allein sitzen, wenn du… weinst«, murmelte Kolja.

»Ich weine nicht«, fauchte Jannis ungehalten und wischte sich erneut über die Augen.

»Ok, ok. Das ist nur Wasser«, sagte Kolja beschwichtigend.

»Du könntest mir sagen, woher das Wasser kommt«, fuhr er dann sachte fort. Jannis schnaubte.

»Wieso sollte ich das tun?«, gab er unwirsch zurück, griff nach seiner Teetasse und stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass der Tee noch warm war.

»Du bist traurig wegen deinem besten Freund. Und er ist offensichtlich dein einziger Freund. Also kannst du mit ihm nicht reden. Aber man muss über solche Sachen reden«, erklärte Kolja bestimmt. Jannis nahm noch einen Schluck Tee und stellte die Tasse dann wieder ab.
 

Endlich hatten seine Augen aufgehört, zu heulen. Das war ja schrecklich.

»Ich hab dir doch schon gesagt, dass es dich nichts angeht«, sagte er. Plötzlich war er furchtbar müde. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Irgendwo hörte er Hermes schnurren.

»Ist das der Kater?«, fragte Kolja.

»Ja. Der Dicke«, gab Jannis matt zurück und Kolja lachte leise. Jannis hörte, wie Hermes aufs Sofa sprang und wie sein Schnurren lauter wurde. Offenbar ließ er sich streicheln.

Eine Weile lang sagte Kolja nichts und Jannis saß einfach nur da und wünschte sich, dass er an nichts mehr denken müsste. Aber leider Gottes funktionierte das nicht. Er fragte sich, ob Marek nun allein in seiner Wohnung saß und weiterweinte. Weil er verliebt war. Dieser Gedanke tat immer noch weh und unweigerlich spürte er, wie seine Augenwinkel wieder brannten. Er hatte immer gewusst, dass eines Tages einer kommen würde, bei dem Marek bleiben wollte. Aber er konnte sich nicht selbst belügen, insgeheim hatte er immer gedacht, dass er es vielleicht sein konnte. Aber lag das womöglich nur daran, dass Marek überhaupt der einzige Mensch war, den Jannis für sich hatte? Hatte er vielleicht einfach nur Angst, ihn an einen anderen zu verlieren?
 

»Erzähl mir von ihm«, bat Kolja leise und Jannis spürte eine Hand auf seiner Schulter. Jannis zuckte zusammen und riss die Augen auf.

»Nicht anfassen«, giftete er sofort und Kolja zog die Hand zurück.

»Als er gesagt hat, er hätte sonst eine Dummheit gemacht… meinte er da, dass er… dass ihr…«, fragte Kolja und Jannis wandte den Blick wieder von ihm ab. Das schien Kolja Antwort genug zu sein.

»Dann bin ich froh, dass ich geklingelt habe«, murmelte er.

»Wieso?«, fragte Jannis abweisend. Kolja schwieg erneut eine Weile lang und Jannis nahm noch einen Schluck Tee.
 

»Ich hab’s dir gestern doch gesagt… ich mag dich«, sagte er leise. Jannis grummelte.

»Und ich hab dir gesagt, dass du mich gar nicht kennst«, gab er ungehalten zurück.

»Hattest du das noch nie? Dass du jemanden ansiehst und du denkst, dass du ihn magst?«, erkundigte sich Kolja und nach dem leisen Rascheln zu urteilen hatte er sich ebenfalls im Sofa zurückgelehnt. Hermes schnurrte immer noch laut und behaglich.

Jannis dachte unweigerlich an damals, an das erste Mal, dass er Marek gesehen hatte. Es war nicht wie bei anderen Menschen gewesen, die er von Anfang an nicht gemocht hatte. Aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass jemand ihn auf den ersten Blick mögen würde. Er wusste sehr wohl, wie er für gewöhnlich auf Menschen wirkte. Kolja wäre der Erste, der ihn nicht als unnahbar und langweilig einstufte.

»Vielleicht… einmal«, brummte er schließlich ungnädig. Er wollte gar nicht wissen, wie Koljas Gesicht im Moment aussah.

»Bei Marek?«, wollte Kolja wissen. Herrgott, er sollte aufhören, mit dieser unsicheren Stimme zu fragen! Das war ja nicht zum Aushalten.
 

»Ja, wenn du es unbedingt wissen musst. Ich bin ein vereinsamter, menschenscheuer, unsensibler Volltrottel«, gab Jannis entnervt zurück und nahm noch einen Schluck Tee. Dann leerte er die Tasse in einem Zug Er hatte das absurde Bedürfnis, sich zu betrinken, obwohl er sonst nie Alkohol trank.

»Und hat dich das nie gestört? Dass mit dem Einsamsein?«

Jannis hob den Blick und sah Kolja an.

»Gerade vorhin hat es mich das erste Mal gestört«, sagte Jannis. Er erinnerte sich wieder an den Gedanken, den er gehabt hatte. Dass er sich vielleicht schon die ganze Zeit nach Nähe gesehnt hatte. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass Kolja blaue Augen hatte. Seine Augen waren hell und irgendwie offen. Ein bisschen wie das Meer.

»Du kannst mir jetzt von Marek erzählen. Dann bist du nicht mehr so einsam«, sagte Kolja und er hatte eine samtweiche Stimme. Jannis spürte förmlich, wie sein Widerstand dahinschwand. Und das, obwohl er es eigentlich gar nicht wollte. Er schloss die Augen wieder und versuchte das Brennen in seiner Kehle zu ignorieren.
 

»Er hat mir Mathenachhilfe gegeben. Mein damaliger Lehrer hatte ihn meinen Eltern empfohlen. Ich hab noch nie so einen Menschen getroffen wie Marek. Es war die merkwürdigste Nachhilfe, die man sich vorstellen kann. Aber es hat geholfen. Ich hab nur noch gute Noten nach Hause gebracht, auch in anderen Fächern, in denen ich sonst schlecht war. Das war der einzige Grund, wieso meine Eltern keinen anderen Nachhilfelehrer für mich gesucht haben. Sie mochten ihn nie besonders, weil er nicht chic genug angezogen war…«

Jannis schwieg einen Moment, nicht sicher, ob er das wirklich alles erzählen wollte. Aber jetzt, wo er einmal angefangen hatte, drängte es ihn fast automatisch weiter, so als hätte er in seinem Unterbewusstsein immer darauf gewartet, mit jemandem darüber reden zu können.

»Wir waren vierzehn und beide Außenseiter. Er ist bei seiner Oma aufgewachsen, bis sie gestorben ist, mit acht kam er ins Waisenhaus. Er war nie in einer Pflegefamilie und ich glaube auch nicht, dass er das wollte. Marek ist ein Mathegenie. Am Anfang dachte ich, er kann die Aufgaben, die er mir stellt, selber nicht. Aber er hat eine unglaubliche Begabung für Zahlen und logisches Denken. Ich war immer der Bücherwurm, er der Mathematiker und Träumer. Wir waren so unterschiedlich und sind es immer noch. Aber wir haben diese Sache gemeinsam… diese… Unfähigkeit mit anderen Menschen auszukommen, Gefühle zu verstehen und zuzulassen. Vielleicht liegt das bei ihm daran, dass er keine Eltern hat. Oder dass seine Oma gestorben ist. Er versteht sich zwar mit mehr Menschen gut als ich, aber eigentlich hat er noch viel mehr Angst vor Gefühlen als ich…«
 

Jannis schwieg eine Weile und Kolja brach die Stille nicht. Geistesabwesend kraulte er Hermes, der dem Besucher nun seinen flauschigen Bauch entgegenstreckte.

»Vorhin kam er her, um mir zu sagen, dass er sich verliebt hat. Und deswegen hat er mit seinem Freund Schluss gemacht. Weil er eine Riesenangst davor hat… und dann wollte er… dann hast du geklingelt«, meinte er und spürte, wie er rot wurde.

»Bist du in ihn verliebt?«, fragte Kolja leise. Jannis starrte auf seine leere Teetasse, dann blickte er auf und sah Kolja an. Sein Gesicht wirkte angespannt, als würde er hoffen, dass Jannis diese Frage verneinte.

»Ich war jahrelang verliebt in ihn. Aber ich denke, dass… ach, ich kann mich so schlecht ausdrücken«, grummelte er verlegen, spürte, wie er rot anlief und wandte das Gesicht ab. Kolja sagte nichts. Er wartete offensichtlich darauf, dass Jannis die richtigen Worte fand.

»Es ist wohl mehr ein Echo meiner alten Gefühle. Irgendwie. Er war immer der einzige Mensch auf der Welt, den ich hatte. Und ich muss ihn das erste Mal teilen. Nicht körperlich oder so. Er hat da jetzt noch jemanden anderen, dem er emotional nah ist…«, murmelte er und fuhr sich mit den Fingern gedankenverloren über die Lippen.
 

»Und warum hat dich… mein Kuss so wütend gemacht?«, fragte Kolja zaghaft. Jannis warf ihm einen sauren Blick zu.

»Für manche Menschen sind Küsse halt was Besonderes«, grummelte er. Kolja sah erstaunt aus.

»Wer hat behauptet, dass es nichts Besonderes war? Ich hab dir gesagt, dass ich dich mag. Ich küsse nicht jeden einfach so aus Lust und Laune«, erklärte er. Es klang so entrüstet, dass Jannis beinahe gelächelt hätte. Sofort wollte er sich auf die Unterlippe beißen. Wenn er jetzt lächelte, würde Kolja das am Ende noch als Aufforderung oder Ermutigung zu irgendetwas ansehen!

»Und du fragst vorher nie nach, ob der andere irgendwas dagegen hat?«, knurrte er möglichst grimmig. Kolja schwieg einen Moment lang. Als er antwortete, klangen seine Worte überraschenderweise ziemlich kleinlaut und fast ein wenig nervös.

»Doch schon. Aber ich dachte, dass du ohnehin nein sagst. Und… irgendwie wollte ich unbedingt wissen, wie es sich anfühlt, dich zu küssen. Außerdem weiß ich jetzt, dass ich mich nicht geirrt habe.«
 

Jannis hob die Brauen und sah Kolja verwirrt an.

»Wobei hast du dich nicht geirrt?«

Koljas blaue Augen huschten für eine Sekunde hinunter zu Jannis’ Mund, dann blickte er ihn wieder direkt an und räusperte sich verhalten. Jannis konnte kaum glauben, dass diese Ausgeburt der Dreistigkeit mit dieser verwegenen Frisur und dem permanenten Grinsen wirklich unsicher sein konnte. Aber hier war der Beweis.

»Dass es gelohnt hat, mit dem Rauchen aufzuhören. Und dass ich dich wirklich mag.«

Jannis spürte, wie er rot anlief und wandte den Blick wieder ab.

»Du hörst doch nicht wirklich mit dem Rauchen auf!«, brummte er abwehrend.

»Klar. Ich hab seit unserem Weg zum Museum keine Kippe mehr angerührt«, gab er zurück. Jannis schnaubte nur.

»Ja, ok. Nachdem ich dich geküsst habe, hab ich mir eine angesteckt, weil ich so durch den Wind war«, gab Kolja zu und Jannis’ Herz machte einen verlegenen Hüpfer. Wieso sagte dieser Volltrottel diese Dinge einfach so? Und überhaupt, es war ja noch nicht einmal ein richtiger Kuss gewesen.
 

Sie schwiegen eine ganze Weile lang und Jannis konnte es wirklich nicht fassen, dass Kolja da wirklich auf seinem Sofa saß und Hermes voller Hingabe kraulte. Der Kater war offensichtlich begeistert.

»Jannis…?«, murmelte Kolja irgendwann. Aus irgendwelchen Gründen, die er selbst nicht kannte, ließ ihn der Klang seines Namens zusammen zucken. Er spähte hinüber zu Koljas Gesicht, doch dessen Augen waren auf Hermes gerichtet.

»Hm?«, gab er brummig zurück.

»Ich würde dich wirklich gern besser kennen lernen«, sagte er behutsam und Jannis spürte, wie ihm warm wurde. Er wandte das Gesicht ab und sagte eine Weile lang nichts. Wollte er das wirklich? Was, wenn er sich damit erst recht auf die Nase legte? Was, wenn Kolja sich doch nur über ihn lustig machen wollte? Aber hatte er nicht vorhin festgestellt, dass er sich vielleicht einfach allgemein nach Nähe sehnte… und wer bemühte sich schon sonst darum, ihm nah zu sein? Die Antwort war leicht: Niemand.
 

Und wenn sich herausstellte, dass Kolja sich doch nur über ihn lustig machte, dann konnte er immer noch sagen, er habe lediglich etwas ausprobieren wollen. Sein Herz schlug schmerzhaft schnell, als er es erneut wagte, Kolja anzusehen. Die blauen Augen blickten ihm direkt entgegen und sie wirkten ziemlich hoffnungsvoll.

»Tse«, machte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Auf Koljas Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. Jannis konnte es nicht fassen. Er hatte nicht nein gesagt.

»Ich würde dich ja jetzt gerne umarmen…«

»Wag es ja nicht!«, fauchte Jannis mit hochrotem Kopf und Kolja lachte. Dann wurde er schlagartig ernst.

»Vielen Dank für die Chance. Ich freu mich wirklich sehr darüber«, sagte Kolja.

Ob es eine gute Idee war, sich dem blauen Meer anzuvertrauen, einfach so, ohne Kurs und Ziel? Jannis hatte keine Ahnung von diesen Dingen. Also musste er das Meer wohl erst einmal ohne Kurs bereisen.

Die Abmachung

Grayfox wird dieses Kapitel hassen, aber ich widme es ihm trotzdem ;) Viel Spaß beim Lesen wünsche ich euch und danke wie immer für die lieben Kommentare und all die Favoriteneinträge!

Liebe Grüße :)

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Im Nachhinein wunderte Jannis sich, dass Kolja überhaupt freiwillig gegangen war. Jannis hatte ihm nicht noch einmal mit einer Anzeige drohen müssen. Die ganze Nacht lag er wach und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Gegen zwei Uhr stellten sich Halsschmerzen ein und verkündeten ihm, was für eine schlechte Idee es gewesen war, mitten im November ohne Jacke durch den eiskalten Regen zu laufen. Morgens um sechs gab er es schließlich auf, einschlafen zu wollen . Er hatte ohnehin den ganzen Tag Zeit, da er sich krankgemeldet hatte. Und so wie es aussah, war das im Nachhinein keine Lüge gewesen.

Die ganze Zeit musste er darüber nachdenken, was am vorigen Tag geschehen war. Mareks Küsse, Mareks Gefühle für Sebastian, Koljas Auftauchen, Koljas Wunsch, ihn besser kennen zu lernen. Und er hatte nicht nein gesagt.
 

Wenn er jetzt darüber nachdachte, kam ihm das alles wie eine absolut idiotische Idee vor. Kaum war er ein wenig durch den Wind und kaum regnete es draußen und wurde früh dunkel, da drehte er vollkommen durch. Aber er wollte jetzt nicht über Kolja nachdenken. Es gab etwas viel Wichtigeres. Nämlich Marek. Und der hüllte sich seit ihrem Beinahe- Sex in Schweigen. Was sollte er sagen, wenn sie sich wieder sahen? Marek hatte nie gewusst, dass Jannis in ihn verliebt gewesen war. Sein bester Freund hatte einfach alle Schotten dicht gemacht und das einzige getan, was er immer getan hatte: Gefühle mit Körperlichkeit überdeckt.

Vielleicht war das der Grund, wieso Sebastian ihn so berührt hatte. Außer ein paar Küssen war von Körperlichkeiten bei den beiden keine Rede gewesen. Soweit Jannis wusste – aus Mareks Erzählungen, die ab und an zu ausführlich für seinen Geschmack waren – war Sebastian noch Jungfrau. Und bis Marek in sein Leben getreten war, hatte er wohl auch nicht gewusst, dass er überhaupt auf Männer stand.
 

Jannis legte sich am frühen Mittag auf seine Couch und schlief ein. Er träumte wirres Zeug und wachte mit dröhnenden Kopfschmerzen und viel zu hoher Körpertemperatur auf. Wundervoll, jetzt hatte er sich auch noch eine ausgewachsene Erkältung eingefangen, nur weil Kolja meinte, er müsste ihn unbedingt küssen.

Bei dem Gedanken daran wurde er unweigerlich wieder sauer. Er kochte sich Tee, nahm sich eins seiner Bücher und wickelte sich in eine seiner Wolldecken ein. Hermes und Lana kamen zu ihm und legten sich zu ihm aufs Sofa, um ihm beim Lesen Gesellschaft zu leisten.

Aber wirklich lesen konnte Jannis mit seinen Kopfschmerzen nicht. Und außerdem musste er die ganze Zeit daran denken, dass Marek vielleicht heulend in seiner Wohnung saß. Also klappte er das Buch nach zehn Minuten wieder zu, ignorierte das Hämmern hinter seiner Stirn und griff zum Telefon.
 

»Ja?«
 

»Hallo, ich bin’s.«
 

Stille am anderen Ende. Jannis war sich sicher, dass dies kein gutes Zeichen war. Er hielt einen Moment die Luft an und presste die Augen angesichts der heftigen Kopfschmerzen zusammen. Er sollte nachsehen, ob er noch irgendwo Kopfschmerztabletten herumliegen hatte.

»Jannis?«, fragte Marek leise und Jannis seufzte kaum merklich.
 

»Hm?«
 

»Es tut mir wirklich Leid.«
 

Er seufzte erneut. Ja, er hatte schon geahnt, dass Marek diese Sache nicht auf sich würde beruhen lassen. Aber Jannis hatte nicht besonders viel Lust, darüber zu reden. Immerhin hatte er gestern tatsächlich deswegen geheult. Das passierte eben, wenn man sich auf Gefühle einließ. Sieben Jahre klappte alles ganz wunderbar ohne Tränen und dann…

»Bist du noch dran?«, wollte Marek wissen und er klang ziemlich besorgt.

»Ja, wieso sollte ich auflegen?«, gab Jannis verwirrt zurück.

»Weil du sauer bist? Weil du mich hasst? Weil ich dich fast… flachgelegt hätte…«

Man hörte Marek selten so kleinlaut. Aber er klang im Moment wirklich so, als wäre er sich nicht im Klaren darüber, ob Jannis ihm nicht die Freundschaft kündigen wollte.

»Und hat es sich für dich so angefühlt, als hätte ich besonders viel dagegen gehabt?«, murmelte Jannis verlegen und spürte, wie ihm Hitze ins Gesicht stieg.
 

»Nein, eigentlich nicht…«, gab Marek zögerlich zurück. Jannis atmete einmal tief durch und beschloss dann, dass es an der Zeit war, wenigstens ein kleines Stück der Wahrheit vor seinem besten Freund einzugestehen.

»Das liegt vielleicht daran, dass ich… nicht auf Frauen stehe«, sagte er und spürte, wie sein Herz nervös stolperte. Marek schwieg eine Weile lang.

»Das hab ich mir schon gedacht«, sagte er dann. Jannis lächelte matt.

»Na also. Ich… nehm’s dir nicht übel«, entgegnete er. Marek schwieg erneut eine ganze Weile lang.

»Du klingst heiser«, meinte er schließlich, so als wäre es ihm ebenfalls lieber, nicht weiter über das Thema zu sprechen. Und jetzt, da er sicher war, dass Jannis es ihm nicht übel nahm, schien er durchaus gewillt, wieder über andere Dinge zu reden.

»Ja, ich hab wohl auch Fieber. Da bahnt sich eine Erkältung an«, antwortete er erleichtert angesichts der Tatsache, dass er nicht mehr über ihren Kuss reden musste. Aber Marek war schließlich immer für eine Überraschung gut.

»Ach so, was ich noch sagen wollte«, erklärte er und klang vollkommen beiläufig, »du küsst gut.«
 

Jannis’ Herz machte einen übergroßen Satz und sein Kopf fühlte sich so heiß an, als wollte er gleich explodieren.

»Aha«, sagte er peinlich berührt und wünschte sich, Marek hätte das Thema einfach unter den Tisch fallen lassen. Dunkel erinnerte er sich daran, dass er eigentlich über etwas ganz anderes hatte reden wollen.

»Hast du noch mal mit Sebastian geredet?«, wollte er wissen. Schon wieder ein Schweigen. Ein langes diesmal.

»Nein, hab ich nicht. Ich hab seine Handynummer gelöscht und… ja«, endete Marek ziemlich leise und Jannis fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Seine Stirn fühlte sich tatsächlich kochend heiß an.

»Marek, ich will dir da ja nicht reinreden… aber wenn ihr beide so verliebt ineinander seid, wäre es da nicht… glaubst du nicht, dass du ihm eine Chance geben solltest?«

Jannis hatte gut reden. Er ließ genauso wenig irgendjemanden an sich heran und selbst wenn er Kolja am vorigen Abend keine Abfuhr erteilt hatte… Jannis konnte sich einfach nicht vorstellen, ausgerechnet diesem Menschen sein Innerstes anzuvertrauen. Bei dem Gedanken wurde ihm richtig schlecht.
 

»Du hast gut reden… du lässt Kolja ja auch nicht an dich ran«, beklagte sich Marek. Jannis brummte ungehalten.

»Das ist was anderes. Wir sind nicht verliebt ineinander. Er findet mich nur irgendwie spannend und ich finde ihn bloß nervtötend. Sonst nichts. Aber ihr beide seid verliebt und… du warst noch nie verliebt. Irgendwann musst du doch mal anfangen, Nähe zuzulassen!«

Was predigte er hier eigentlich? Sachen, die er selbst nicht einhalten konnte? Das wirkte sicherlich sehr überzeugend auf Marek, der ihn schließlich besser kannte, als Jannis sich selbst.

»Aber mir reicht meine Nähe zu dir! Ich mag es nicht, wenn Leute alles über mich wissen… und je mehr ich jemanden leiden kann, desto… weniger will ich in seiner Nähe sein. Du bist doch auch nicht anders!«

Marek klang jetzt wieder wie ein trotziges Kind und obwohl es ein ernstes Thema war, über das sie sprachen, musste Jannis lächeln.

Ja, ihm reichte die Nähe zu Marek auch. Oder besser: Sie hatte ihm immer gereicht. Seit diesem verhängnisvollen gestrigen Tag war alles irgendwie komisch.

»Ja, aber ich bin ja auch nicht verliebt«, sagte Jannis abwehrend. Insgeheim dachte er sich, dass er dieses Geheimnis, so lange in Marek verliebt gewesen zu sein, womöglich mit ins Grab nehmen würde.
 

Unweigerlich hatte er Angst, dass Marek ihn gleich fragen würde, ob er denn noch nie verliebt gewesen war. Denn Marek anzulügen war ihm eigentlich noch nie gelungen. Dafür kannte sein bester Freund ihn einfach zu gut.

»Ich hasse die Vorstellung, dass er wegen mir weint«, murmelte Marek. Jannis tigerte mit seinem Telefon durch den Flur und massierte mit der freien Hand seine Schläfe.

»Dann geh zu ihm hin und erklär ihm, dass du Angst hast. Wahrscheinlich wäre er sehr verständnisvoll und würde sich einfach nur freuen dich wieder zu haben«, sagte Jannis müde. Aus Mareks Erzählungen schloss er zumindest, dass Sebastian so ziemlich alles für seinen besten Freund tun würde.

»Das kann sein. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich nicht doch wieder einen Rückzieher mache und noch einen und noch einen… und dann tu ich ihm immer wieder weh und bevor das passiert, sehe ich ihn besser gar nicht…«
 

Jannis seufzte. Er redete ohnehin gegen eine Wand. Also beließ er es dabei.

»Ich glaub, ich leg mich noch mal ins Bett. Ich fühle mich total erschlagen«, sagte er und suchte in Gedanken bereits nach Kopfschmerztabletten.

»Was war eigentlich noch mit Kolja?«, wollte Marek wissen, ohne auf Jannis’ Ankündigung zu achten. Jannis hatte gehofft, dass er sich um dieses Thema eventuell herumschiffen konnte, aber natürlich konnte er das nicht. Immerhin unterhielt er sich mit Marek. Ein Brummen verließ seine Kehle.

»Was soll da gewesen sein? Er wollte partout nicht verschwinden und dann hat Hermes sich auch noch in ihn verliebt«, berichtete Jannis und wurde unweigerlich genervt, als er an Kolja dachte. Das war garantiert keine gute Voraussetzung dafür, sich von dem anderen besser kennen lernen zu lassen.

»Hermes verliebt sich in jeden, der ihn krault. Hat er nichts gesagt? Ich fand, er wirkte ziemlich aufgelöst«, bohrte Marek nach.
 

»War er auch. Aber es geht ihn wirklich nichts an, wen ich küsse. Und dann rückt er mir ständig auf Pelle und sagt mir, dass er mich mag. Vollkommener Blödsinn«, grummelte Jannis ungehalten und ließ sich aufs Sofa im Wohnzimmer sinken. Lana lag unter dem Tisch und putzte sich, Hermes hatte sich auf dem Sessel eingerollt.

»Aber wieso ist das Blödsinn? Ich mag dich doch auch«, erwiderte Marek und klang, als wäre das eine mathematisch unbestreitbare Gleichung. Ich mag dich, als können auch alle anderen dich mögen. Jannis fand, dass diese Logik auf allen Beinen hinkte.

»Ja, aber du bist auch… anders. Und er kennt mich überhaupt nicht und behauptet, er würde mich interessant finden. Ich bin nicht interessant«, versetzte Jannis entnervt und lehnte sich zurück. Er war so müde. Gerade war ihm noch kalt gewesen, jetzt hatte er das Gefühl, er müsste alles ausziehen, weil er beinahe zerkochte.
 

»Also ich finde dich sehr spannend. Fand ich dich schon damals. Es gibt nun mal Menschen, die gern Rätsel lösen«, sagte Marek und Jannis hörte deutlich, dass er lächelte, wenn er nicht sogar verschmitzt grinste. Er schnaubte.

»Ich bin kein Rätsel«, beschwerte er sich. Marek kicherte leise.

»Na, dann leg dich mal wieder hin. Und sei nicht so streng mit deinem Kolja. Er sah wirklich, wirklich nicht erfreut aus, als er gesehen hat, dass wir… du weißt schon«, sagte er und Jannis seufzte schon wieder tonnenschwer.

»Danke für deinen Rat. Aber ich würde sagen, erstmal bekommst du das mit deinem Sebastian wieder hin«, entgegnete er matt. Marek sagte nichts mehr dazu. Vermutlich zerbrach er sich ohnehin schon die ganze Zeit den Kopf darüber.

»Schlaf gut«, sagte sein bester Freund noch, dann legte er auf und Jannis warf das Telefon hinüber auf den Sessel und fuhr sich übers Gesicht.

Er raffte sich dazu auf, die Futter- und Wassernäpfe seiner beiden Mitbewohner aufzufüllen und wankte dann ins Schlafzimmer, warf sich einfach aufs Bett und schlief ein, ohne sich zuzudecken oder seine Klamotten loszuwerden.
 

Als er aufwachte, lag Lana bei ihm im Bett und döste offensichtlich behaglich direkt neben ihm auf dem Kopfkissen. Ein Blick auf seinen Wecker sagte ihm, dass es mittlerweile Abend war, aber er fühlte sich nicht dynamisch genug, um aufzustehen. Sein Kopf schmerzte immer noch, genauso wie sein Hals und er spürte, dass seine Klamotten sich ziemlich klebrig anfühlten, so als hätte er stark geschwitzt. Grummelnd richtete er sich auf und schälte sich aus seiner Kleidung, ließ alles neben das Bett fallen und rutschte ein Stück von Lana fort, damit sie sich nicht genötigt fühlte, von seinem Kopfkissen herunter zu steigen. Dann drehte er sich auf die andere Seite und schlief weiter.

Die Hoffnung, morgens aufzuwachen und sich besser zu fühlen, wurde ihm nicht erfüllt. Das hätte er sich denken können. Er hatte einen ganzen Tag verschlafen! Er hatte nichts für die Uni gemacht, nichts gelesen, war nicht einkaufen gewesen… er hasste es, nichts zu tun. Also schleppte er sich zum Arzt, obwohl ihm schwindelig war, weil er nichts gegessen oder getrunken hatte. Der schrieb ihn ganze anderthalb Wochen krank. Das musste seine persönliche Hölle sein. Er war seit Ewigkeiten nicht mehr krank gewesen und dann auch gleich so lange… ohne Uni! Sein Studium war sein Lebensinhalt! Er konnte sich dank der Kopfschmerzen und des Fiebers nicht wirklich konzentrieren. Er schrieb Marek eine SMS, dass er krankgeschrieben war, dann schrieb er seinen Dozenten eine Email.
 

Er schob sich die letzte Mozarellapizza in seinem Tiefkühlfach in den Ofen und kochte sich einen Tee. Marek schickte ihm gute Besserungsgrüße per SMS. Draußen regnete es schon wieder. Jannis mochte den November im Gegensatz zu den meisten Menschen, die warmes Wetter vorzogen. Oder Schnee. Aber Jannis hatte Regen schon immer gemocht. Während er sich dazu zwang, die Pizza zu essen, obwohl sein Hals bei jedem Schlucken schmerzte, dachte er darüber nach, wie es wäre, wenn Marek wirklich mit Sebastian zusammen käme. So richtig. Ohne Angst vor Nähe und für länger.

Er hatte Marek noch nie mit irgendjemandem teilen müssen. Sie waren immer füreinander da gewesen. Würde sich das ändern, wenn Marek einen festen Freund hatte?

Er räumte den Teller in die Spülmaschine und schlürfte an seinem Tee. Das Geräusch des Regens, das normalerweise beruhigend auf ihn gewirkt hatte, schien ihn nur immer noch nervöser und unruhiger zu machen.

Schließlich zwang er sich dazu, ein paar Texte auszudrucken, die in den kommenden Seminaren gebraucht wurden und begann zu lesen. Den ganzen Tag lang nichts zu tun, das würde ihn innerhalb von wenigen Tagen wahnsinnig machen.
 

Auch die nächsten Tage verbrachte er damit, die Dinge nachzuarbeiten, die er verpasste. Er vergrub sich hustend und mit Schnupfen in seinem Schlafzimmer, schlief oftmals mit Fieber über den Unterlagen ein und trank literweise Erkältungstee. Marek und er telefonierten ab und an, sein bester Freund erwähnte Sebastian nicht mehr und Jannis fragte ihn nicht danach. Er wusste, dass es ohnehin nichts bringen würde, Marek deswegen zu drängen. Sein bester Freund hatte seinen eigenen Kopf. Und das war immer schon so gewesen.

Er hörte wunderbare fünf Tage nichts von Kolja, allerdings fand er am Wochenende einen grünen Zettel in seinem Briefkasten, auf dem ‚Gute Besserung’ stand.

Es war komisch, etwas anderes als Rechnungen und Werbung im Briefkasten zu haben, doch er warf den Zettel sofort in den Müll, nachdem er wieder in seiner Wohnung angekommen war. Wenigstens wurde das Fieber mit der Zeit weniger und die Kopfschmerztabletten halfen ihm dabei, endlich wieder anständig lesen zu können.
 

Und ehe er es sich versah, rückte Weihnachten immer näher. Jannis hasste Weihnachten wie die Pest. Immer schon war Weihnachten eine dieser Gelegenheiten gewesen, an denen sich die Familie zusammen rottete und ihm auf die Nerven ging. Er hasste das Truthahnessen und den schlechten Apfelstrudel seiner Tante, er hasste die geheuchelte Schenkerei und all die bunten, kitschigen Lichter.

Die Geburtstage seiner Eltern, sein eigener Geburtstag und Weihnachten. Das waren die Anlässe im Jahr, an denen er seine gesamte Familie treffen musste. Immerhin, um eines der Treffen war er herum gekommen. Durch Kolja. Und leider Gottes konnte Jannis diesen Gedanken nicht beiseite schieben, vor allem nicht, weil Kolja am Dienstag – einen Tag, bevor er wieder zur Uni gehen konnte – bei ihm auftauchte und ihm einen riesigen Berg Unterlagen brachte.

»Ich hab deine Kommilitonen ausgequetscht und die meisten deiner Veranstaltungen rausgefunden«, sagte er scheinbar bestens gelaunt, nachdem er sich die Schuhe ausgezogen hatte, ohne dass Jannis ihn überhaupt hereingebeten hätte.
 

Nun stand er da mit einem Berg Papier und starrte Kolja an, der leise summend seine Jacke an einen der Garderobenhaken hängte und ihn dann anstrahlte.

»Du entwickelst dich zu einem Stalker«, brummte Jannis ungehalten und ging ins Wohnzimmer, um den Stapel Papier dort abzulegen und durchzusehen. Kolja folgte ihm zu seinem Leidwesen.

»Ich dachte mir, jetzt, da wir uns besser kennen lernen werden-«

Jannis wedelte mit der Hand und sah Kolja missmutig an.

»Ich hab es mir anders überlegt«, unterbrach er den anderen. Kolja blinzelte verwirrt.

»Was hast du dir anders überlegt?«, wollte er wissen und Jannis sah zufrieden, dass das Grinsen in sich zusammen fiel. Es war anstrengend mit jemandem zu reden, der andauernd nur grinste.

»Diese Sache mit dem Kennenlernen. Ich hab da keine Lust drauf«, sagte er. Kolja schwieg und Jannis spürte die blauen Augen auf sich gerichtete, während er hustend nach den Unterlagen griff und sie durchsah. Einiges davon hatte er sich schon ausgedruckt, aber es waren sogar kopierte Notizen dabei. Von wem auch immer die sein mochten.
 

»Hab ich was falsch gemacht?«, fragte Kolja leise und nun war es an Jannis verwirrt zu blinzeln. Er hob den Kopf und sah Kolja an, dessen Gesichtsausdruck richtig niedergeschlagen aussah. Jannis hasste sein Leben. Konnte der Schwachkopf nicht einfach verschwinden? Es war wie damals, als Kolja ihm gesagt hatte, dass er nicht wollte, dass Jannis zahlte, weil er doch ohnehin keine Lust auf das Date gehabt hatte.

Er hatte ein schlechtes Gewissen.

»Nein. Ja. Ach, was weiß ich, ich bin einfach nicht der Typ für so was, ok? Du hast sicher genug Freunde, die sich über deine Anwesenheit freuen«, meinte Jannis entnervt angesichts dieser unerfreulichen Gefühlsregung.

»Ja, ich hab genug Freunde. Aber das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass ich gern Zeit mit dir verbringen würde«, sagte er leise. Jannis hasste es, wenn Kolja so ernst daher redete. Er hätte ihn am liebsten erwürgt.

»Ich werd mich einfach nie ändern. Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte Jannis abweisend und wandte den Blick von Koljas enttäuschtem Gesicht ab.
 

»Jannis…«

Er hasste es, wenn Kolja seinen Namen sagte! Er sollte ihn J. oder irgendwie so nennen. Der Klang seines Namens brachte sein Herz merkwürdigerweise dazu, sich zusammen zu ziehen.

»Nichts da, Jannis«, blaffte er und erhob sich.

»Ich hab dich weinen gesehen. Du hast mir von Marek erzählt. Du kannst dich doch nicht ewig einigeln, oder hat es sich etwa schlecht angefühlt, nicht allein zu sein, als es dir schlecht ging?«

Jannis fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Hör doch einfach auf mit diesen Fragen und nimm es hin, dass ich keine Lust auf all das habe!«, sagte Jannis aufgebracht und kramte in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch, um sich die Nase zu putzen.

»Was würdest du tun, wenn ich dich jetzt küsse?«, fragte Kolja und machte einen Schritt auf ihn zu. Jannis konnte es nicht fassen! Aber unweigerlich huschten Bilder durch seinen Kopf, Bilder von Marek, der ihn küsste, die Hitze, die er gespürt hatte, die Gedanken, dass er Nähe wollte. Aber das hier war Kolja und nicht Marek.
 

»Dich rauswerfen«, knurrte er warnend. Aber er hätte sich denken können, dass Kolja diese Warnung wenig beeindruckte.

»Ein richtiger Kuss und ich geh dir nicht mehr auf die Nerven, wenn du es nicht willst«, bat Kolja und seine Stimme war schon wieder so samtweich. Jannis schluckte und schüttelte den Kopf.

»Vergiss es«, krächzte er und er hasste sich dafür, dass seine Stimme plötzlich so heiser klang und sein Herz wie verrückt hämmerte.

»Sonst werd ich dich ewig weiter nerven«, murmelte Kolja und stand nun direkt vor ihm. Jannis nahm das erste Mal seinen Geruch wahr. Er roch ganz anders als Marek…

»Ich kann dich immer noch wegen Hausfriedensbruch anzeigen«, sagte Jannis und machte noch einen Schritt rückwärts, aber Kolja folgte ihm, bis Jannis mit dem Rücken gegen seinen Wohnzimmerschrank stieß.

»Du hasst Anwälte«, gab Kolja zu bedenken.

Jannis konnte nicht mehr denken. Er hatte keine Ahnung, was das hier alles werden sollte, wenn es vorbei war. Aber er konnte sich immer noch einreden, dass die Vorstellung, von Kolja in Ruhe gelassen zu werden, einfach zu verlockend war. Er konnte so tun, als hätte all dies mit dem Bedürfnis nach Nähe überhaupt nichts zu tun.
 

Sein Herz hämmerte wie verrückt und er schluckte schwer, als Kolja sich zu ihm herunter beugte. Die meerblauen Augen bohrten sich in sein Innerstes und dann schlossen sie sich und Jannis spürte ein warmes, nachgiebiges Paar Lippen auf seinem Mund.

Nähe war nichts für ihn. Er hasste Körperkontakt. Er konnte Kolja nicht ausstehen.

Aber egal, wie sehr er es auch versuchte, er konnte sich nicht selbst belügen. Zum ersten Mal verstand er wirklich, wieso Marek sich ständig auf andere Männer einließ. Das Gefühl von körperlicher Nähe konnte die innere Leere betäuben. Er hatte das nie gewusst, bis zu Mareks Kuss. Und jetzt…

Jetzt küsste Kolja ihn, drückte sich an ihn mit seinem warmen Körper, der viel muskulöser war als der von Marek. Kolja war größer als er, seine Hände waren nicht so samtig wie die von Marek. Aber gleichwohl strichen sie ihm so zärtlich durchs Haar, dass Jannis eine Gänsehaut bekam.
 

Sein Gehirn schaltete sich aus und sein jahrelang vernachlässigter, ungeliebter Körper schaltete sich ein, als Koljas Lippen sich gegen seine bewegten und als eine schmeichelnde Zunge die Konturen seines Mundes nachzeichnete. Seine Augen schlossen sich flatternd, Koljas Wärme erhitzte seinen Körper, die Hand, die sich in seinen Nacken schob und ihn dort sachte streichelte, schickte heiße und kalte Schauer über seinen Rücken. Undeutlich spürte er, wie sein Körper sich selbstständig machte, sich den Berührungen entgegen schmiegte und wie seine Lippen den Kuss erwiderten, wie sie sich öffneten und wie Koljas Zunge nach Jannis’ tastete.
 

Er zog Jannis fest in seine Arme und strich ihm über den Rücken. Jannis meinte, Koljas Hände leicht zittern zu spüren. Aber alles war egal. Er konnte ohnehin nicht mehr denken. Alles in ihm kribbelte, kochte, bog sich der körperlichen Nähe und der Wärme entgegen. Plötzlich fühlte er sich wieder fiebrig und wackelig auf den Beinen. Seine Knie waren Wackelpudding, aber Kolja hielt ihn fest, küsste ihn und küsste ihn und küsste ihn… Als sie sich voneinander lösten, war ihm so schwindelig, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Koljas Augen blickten ihn aus nächster Nähe an und Jannis räusperte sich. Sein Herz drückte scheinbar auf seinen Kehlkopf, denn das Sprechen fiel ihm schwer.

»Also dann«, sagte er und schob Kolja von sich. Sein Körper schrie nach mehr.

»Dann erfüll deinen Teil der Abmachung und geh jetzt«, meinte er und bemühte sich, seine Stimme so fest und gleichgültig wie möglich klingen zu lassen. Koljas Augen weiteten sich seine Spur. Jannis wandte den Blick ab, weil er Koljas Gesicht nicht sehen wollte. Seine Lippen brannten von dem innigen Kuss. Mareks Lippen auf seinen waren verschwunden.

»Ok…«, murmelte Kolja kaum hörbar und ehe Jannis noch etwas anderes sagen konnte, war er in den Flur gegangen und im nächsten Augenblick fiel die Wohnungstür ins Schloss.

Unerwarteter Besuch

Eigentlich sollte in diesem Kapitel noch was anderes passieren, aber dann wäre mir das Ding zu lang geworden.

Dieses Kapitel ist für Myrin, weil sie Sebastian so mag :) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und morgen einen guten Start in die Woche!

Liebe Grüße :)

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»Das war nicht nett von dir«, tadelte Marek ihn, als sie sich am Donnerstag zum Mittagessen in der Stadt trafen. Sie saßen in einem chinesischen Restaurant und Jannis hatte sich einen großen Berg gebratener Nudeln auf den Teller geladen. Jetzt, wo er die Erkältung zum größten Teil losgeworden war, hatte er ziemlich großen Hunger.

»Na und? Er hat gesagt, er lässt mich dann in Ruhe! Wieso schlägt er so was vor, wenn er dann am Ende aussieht, als wäre seine Welt untergegangen?«, sagte Jannis brummig und schnappte mit seinen Stäbchen nach ein paar Nudeln. Marek verspeiste unterdessen gebackene Schweinebällchen mit Currysoße.

»Er hat sicher gehofft, dass er dich mit dem Kuss umstimmen kann. War der Kuss denn gut?«, wollte Marek interessiert wissen und schob sich noch ein Bällchen in den Mund. Jannis fielen die Nudel von den Stäbchen und er spürte, wie er rot anlief. Na toll.

»Nein«, log er nicht sonderlich überzeugend. Marek schmunzelte und spießte ein weiteres Bällchen auf seine Gabel. Marek konnte nicht mit Stäbchen essen. Sie frustrierten ihn.
 

»Also ja. Er sieht aber auch so aus, als könnte er gut küssen. Wahrscheinlich laufen ihm die Männer und Frauen scharenweise nach«, gab Marek zu bedenken und wedelte mit seinem Bällchen vor Jannis’ Nase herum. Der blickte finster zurück.

»Na bitte, dann soll er sich an seine fünfhundert Verehrer ranmachen und mich in Ruhe lassen«, antwortete er und schob sich eine neue Portion Nudeln in den Mund. Marek kicherte leise.

»Man kann es sich leider nicht aussuchen, wer einem gefällt, mein Lieber«, belehrte er ihn und verspeiste sein letztes Bällchen. Dann stand er auf, um sich Nachschub vom Buffet zu holen.

Jannis seufzte und starrte die hässliche Tischdecke an, die unter seinem Teller dunkelrot hervorlinste. Nächste Woche Dienstag hatte er wieder Tutorium und diesmal konnte er sich nicht drücken. Würde Kolja ihn nun wirklich in Ruhe lassen? Wer wusste das schon.
 

Die nächsten Tage blieb er lange in der Uni, arbeitete in der Bibliothek und lieh sich bergeweise Bücher aus, um sie nach Hause zu schleppen und zu lesen. Lesen lenkte ihn ab. Wenn er in die Welt von Büchern abtauchte, dann musste er nicht darüber nachdenken, ob Kolja wirklich so niedergeschlagen war, wie er ausgesehen hatte. Dann musste er nicht die ganze Zeit an diesen Kuss denken, der seinen Körper in ein loderndes Inferno verwandelt hatte.

Es stellten sich Träume ein, die er nicht einmal von Marek gehabt hatte. Rein körperliche Träume. Er wachte morgens auf mit Problemen, die er sonst eher selten hatte. Er war wütend auf sich selbst und seinen Körper und auf Kolja, weil das alles seine Schuld war. Wenn er nur nie in Jannis’ Leben aufgetaucht wäre, dann wäre jetzt alles beim Alten und er würde nicht beinahe jeden Abend… diese Dinge tun, mit denen er sich sonst nicht beschäftigte.
 

Der Dienstag kam viel zu schnell, mit Schneeregen und Wind und grauem Himmel. Es war wenig ermutigend, dass es immer näher auf Weihnachten zuging und Jannis wartete eigentlich nur noch auf den Anruf seiner Mutter, bei dem sie ihn zum Truthahnessen einlud. Ihm graute es davor. Vielleicht sollte er einfach beizeiten all seinen Mut zusammen nehmen und sich endgültig von seiner so genannten Familie lossagen. Er fühlte sich ohnehin nicht dazu gehörig, es fühlte sich an, als hätte er nie eine wirkliche Familie gehabt.

Als er mit finsteren Gedanken und durchnässten Klamotten – der Regenschirm war auf dem Weg zur Uni kaputt gegangen – den Seminarraum betrat, war er sehr erleichtert, dass Kolja noch nicht da war. Er packte seine Sachen aus, nahm einen Schluck Orangensaft und beobachtete eine Weile lang das Schneetreiben draußen vorm Fenster. Als die ersten Studenten eintrudelten, ertappte sich Jannis bei jedem Neuankömmling dabei, wie er den Kopf hob, um nachzusehen, ob es Kolja war. Das ärgerte ihn maßlos.
 

Zum ersten Mal war Kolja einer der Letzten, die kamen. Ganz ungewohnt setzte er sich in die letzte Reihe. Er sah ziemlich blass um die Nase aus und nach zwei Minuten war Jannis klar, woran das lag. Kolja war ziemlich dick erkältet. Er hustete immer wieder und hatte mehrere Packungen Taschentücher vor sich ausgepackt. Jannis wollte bissig daran denken, dass Kolja selbst Schuld war, immerhin hatte er ihn nicht küssen müssen! Aber gleichzeitig fiel ihm ein, dass Kolja ihm die ganzen Unterlagen zusammen gesucht hatte… Manchmal hasste er sein Leben.

Er bemühte sich, sich auf das Tutorium zu konzentrieren. Kolja stellte keine Fragen, er saß nur hinten, sah aus dem Fenster, machte sich einige Notizen und verbrauchte innerhalb der anderthalb Stunden Tutorium zwei Packungen Taschentücher. Wieso Jannis das überhaupt registrierte, wollte er gar nicht wissen.
 

Als er nach dem Tutorium seine Sachen zusammen packte, hörte er, wie Kolja mit einem der Anderen sprach.

»Sag mal, kannst du mir den Rest der Woche die Skripte aus den Vorlesungen mitnehmen? Ich werd morgen zum Arzt gehen«, sagte Kolja und er klang ziemlich heiser. Jannis stopfte seine Unterlagen in die Tasche. Bloß schnell weg, damit Kolja nicht auf dumme Gedanken kommen konnte.

»Tut mir Leid, man. Aber ich geh nie in die Vorlesungen«, sagte der andere und grinste, als wäre es unglaublich cool, alle Vorlesungen zu schwänzen. Tutorium, lassen wir doch einfach andere für uns arbeiten! Er hasste diese Sorte Studenten.

»Oh… na, dann muss ich sehen, wie ich dran komme«, sagte Kolja und verlor sich in einem kräftigen Hustenanfall. Und dann war er plötzlich aus dem Seminarraum verschwunden, ohne Jannis ein einziges Mal anzusehen.
 

Einen Moment lang stand er vollkommen perplex da. Dann verfluchte er sich selbst, immerhin hatte er genau das gewollt und es war ganz wunderbar, dass Kolja sich an die Abmachung hielt. Er schnappte sich seine Tasche, warf einen Blick nach draußen und stöhnte angesichts der Tatsache, dass sich das Wetter nicht gebessert hatte.

Er schaffte es einen Regenschirm aus der Bibliothek zu ergattern, wo immer mehrere Schirme in einem Ständer neben der Tür standen. So kam er nur halb durchnässt nach Hause, schloss die Tür auf und stieg die Treppe hinauf. Oben angekommen blieb er wie angewurzelt stehen.

Ein junger Mann saß auf dem Boden neben seiner Wohnungstür. Er war pitschnass und sah einigermaßen erfroren aus. Jannis hatte ihn noch nie gesehen.

»Ähm… kennen wir uns?«, fragte er verwirrt, als der Fremde sich hastig aufrichtete und sich scheinbar nervös die Haare aus dem Gesicht strich.

»Hi!«, sagte er und hielt ihm eine zitternde Hand hin, »Ich bin Sebastian.«
 

Jannis blinzelte verwirrt. Was machte Sebastian hier? Und noch viel wichtiger: Woher wusste er, wo Jannis wohnte?

Zögerlich streckte er die Hand aus und schüttelte die eiskalten Finger seines Gegenübers. Eigentlich würde er Sebastian jetzt wegschicken. Aber irgendwie schien es ihm herzlos zu sein, also schloss er die Wohnungstür auf und ruckte mit dem Kopf, um Sebastian zu bedeuten, dass er eintreten sollte.

Da stand er nun zitternd und nass in Jannis’ Flur und sah sich unsicher um. Jannis seufzte.

»Das Bad ist da drüben«, sagte er und deutete mit der Hand auf die geschlossene Badezimmertür, »ich such mal was Trockenes zum Anziehen raus.«

Sebastian schien vollkommen perplex zu sein, schaffte aber ein dankbares Lächeln und huschte ins Bad. Jannis kramte in seinem Kleiderschrank nach irgendetwas zum Anziehen. Sebastian war größer als er und um einiges dünner. Jannis kramte einen uralten, schlabbrigen Schlafanzug aus dem Schrank und ging zum Bad. Einen Moment lang zögerte er, dann klopfte er.
 

Die Tür wurde hastig aufgerissen und er sah ungewollt Mareks Herzblatt in Boxershorts. Räuspernd wandte er sich ab und hielt dem Besucher den Schlafanzug hin.

»Meine Klamotten werden dir nicht passen. Aber wir können deine Sachen in den Trockner schmeißen«, sagte er und spürte, wie ihm der Schlafanzug aus der Hand genommen wurde.

»Tut mir echt Leid«, sagte Sebastian, »und vielen Dank!«

Jannis nickte nur, drehte sich um und marschierte in die Küche. Er hatte Mareks Exfreund halbnackt in seinem Badezimmer. Warum musste sein Leben so komisch sein?

Er kochte Tee für sie beide und brachte die Tassen ins Wohnzimmer. Lana und Hermes lagen kuschelnd auf dem Sessel.

Jannis rührte nachdenklich in seinem Tee und blickte auf, als Sebastian unsicher den Kopf herein steckte.

»Komm rein«, sagte Jannis und sah dem anderen entgegen, der sich nun zögerlich auf Jannis’ Sofa niederließ. Er war schlaksig, blass und hatte aschblonde, kurze Haare. Alles in allem wirkte er auf Jannis ziemlich unscheinbar. Der Schlafanzug hing an ihm wie ein blauer Leinensack, weil er so dünn war.
 

»Ah, deine Katzen«, sagte Sebastian und lächelte zu Jannis’ Mitbewohnern hinüber. Jannis schob ihm die Teetasse hin und Sebastian sah ihn verlegen an.

»Danke, wirklich. Ich wollte eigentlich mit Schirm kommen, aber der ist kaputt gegangen, weil es so windig ist«, sagte er entschuldigend. Jannis brummte.

»Ja, genau das Problem hatte ich heute Morgen auch schon«, entgegnete er und warf unweigerlich einen Blick zum Fenster. Seine Dachluken waren schlierig vom matschigen Schneeregen.

Sie schwiegen eine Weile lang und tranken ihren Tee. Jannis versuchte sich unterdessen zu erklären, was genau Sebastian von ihm wollte. Er hatte so viel von dem Jungen gehört und da saß er nun, neunzehn Jahre jung, unscheinbar und Tee trinkend. Das da war der Junge, in den Marek sich verliebt hatte. Jannis war sich nicht sicher, ob er das wirklich realisiert hatte, oder ob sein Gehirn noch in einem ungläubigen Traumzustand schwebte.

»Ich bin hier wegen… na ja, du kannst es dir sicherlich denken«, sagte Sebastian und sein blasses Gesicht gewann an Farbe, als er einen übermäßig großen Schluck Tee nahm.
 

Jannis verkniff sich ein Seufzen und räusperte sich stattdessen.

»Ich ahne es«, sagte er. In seinem Gehirn tobte unterdessen ein unerbittlicher Kampf. Wollte er mit Sebastian über Marek reden und sich wie ein Verräter fühlen, weil Marek das vermutlich nicht wollen würde? Oder sollte er Sebastian ermutigen und ihm alles erzählen, damit die beiden am Ende doch noch zusammen kamen? Er hasste sein Leben. Wieso mussten Gefühle derartig kompliziert sein? Wenn in Büchern darüber geschrieben wurde, konnte er meistens ganz distanziert entscheiden, was er selbst tun würde. Aber wenn man als unerfahrener Außenstehender mitten drin steckte, dann waren solche Entscheidungen überhaupt nicht mehr so einfach und von rationalem Denken konnte ohnehin nicht die Rede sein.

»Es ist wegen… wegen Marek. Er redet nicht mehr mit mir. Gar nicht mehr. Er ist einfach abgehauen und reagiert nicht auf meine Anrufe, er macht nicht auf, wenn ich klingele und ich hab ihm sogar schon mehrere Briefe geschrieben, aber… ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll«, sprudelte es plötzlich aus Sebastian heraus, so als habe er das schon seit längerer Zeit loswerden wollen. Jannis hatte keine Ahnung, wie man Menschen Ratschläge gab oder sie tröstete. Er war einfach nicht an Situationen dieser Art gewöhnt.
 

»Ich dachte, vielleicht… weil du doch sein bester Freund bist… Und er hat immer so viel von dir erzählt und ihr scheint euch wirklich nahe zu stehen und ich weiß, dass ihr euch schon so lange kennt…«, fuhr Sebastian fiebrig fort und starrte Jannis hoffnungsvoll an. Er sah so verliebt und verzweifelt aus, dass Jannis Marek am liebsten sofort angerufen und sich bei ihm beschwert hätte, weil er diesen Jungen so traurig gemacht hatte.

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich dir helfen kann«, sagte er schließlich und fischte den Teebeutel aus seiner Tasse, »Marek und ich sind uns recht ähnlich… was diese Beziehungskisten angeht.«

Sebastian sackte in sich zusammen und fuhr sich mit der Hand durch das noch feuchte, aschblonde Haar.
 

»Ich will ihn… unbedingt wieder haben«, murmelte Sebastian und wandte den Blick ab. Jannis wollte am liebsten aufstehen und sich im Bad einschließen. Es fehlte nur noch, dass Sebastian jetzt in Tränen ausbrach. Das hatte ihm schon bei Marek gereicht, noch schlimmer wäre es bei einem Wildfremden.

»Was ich jetzt sage, hast du nie gehört und schon gar nicht von mir«, sagte Jannis schließlich, verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf in den Nacken, um Sebastians feuchte Augen nicht sehen zu müssen.

»Er will dich eigentlich auch zurück. Er hat nur Angst vor all diesem Gefühlskram. Du solltest einfach nicht aufgeben, ob er nun abnimmt oder nicht. Marek ist…«, er brach ab.

»Marek ist wie ich«, hatte er sagen wollen. Ein Bild schob sich vor sein inneres Auge und er verkniff sich ein Brummen. Wunderbar. Er riet Sebastian nicht aufzugeben. Und er hatte genauso einen hartnäckigen Kerl an der Backe. Wobei sich das ja offenkundig erledigt hatte. Und außerdem war das etwas ganz anderes, immerhin war Marek in Sebastian verliebt und Jannis war überhaupt nicht in Kolja verliebt.
 

Als er den Kopf wieder hob und Sebastian ansah, stellte er fest, dass Sebastian sich das Weinen offensichtlich verkniffen hatte. Er sah halb erleichtert und halb verzweifelt aus.

»Wie hast du das damals angestellt? Ich meine, ihr habt euch doch auch kennen gelernt und euch verstanden und ihr seid beste Freunde. Bei dir lässt er Nähe doch auch zu. Wieso dann nicht bei mir?«, fragte er kläglich. Darauf wusste Jannis keine Antwort. Aber Sebastian hatte Recht. Bei Marek und ihm war es kein Problem gewesen. Sie hatten sich einfach angefreundet und seither waren sie einander emotional nahe.

»Ich hab keine Ahnung. Vielleicht liegt es daran, dass wir beide nicht viel von Gefühlen… halten«, sagte er und räusperte sich. Sebastian fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Offenbar hatte er seinen Tee bereits ausgetrunken.

»Es ist ja nicht so, dass Marek und ich uns nicht ähnlich wären«, murmelte er leise und betrachtete seine schmalen Finger. Jannis überlegte unterdessen, ob er jemals in einer befremdlicheren Situation gewesen war – abgesehen von damals, als Marek auf der Abiturzeugnisausgabe auf der Bühne verkündet hatte, dass er an dieser Schule nichts Nennenswertes gelernt hätte und nur dafür dankbar sei, dass er den tollsten Nachhilfeschüler der Welt zugewiesen bekommen hatte.
 

Jannis wusste noch, wie er damals knallrot angelaufen war und seiner Mutter versehentlich sein Glas Orangensaft über ihren teuren Rock gekippt hatte. Sie war darüber wenig erfreut gewesen.

»Ich meine… wir haben uns schließlich im Waisenhaus kennen gelernt…«

Ja, das wusste Jannis natürlich. Marek hatte ihm von dem verschlossenen, schüchternen Fotographen erzählt, der besondere Freude an Marienkäfern und Löwenzahn hatte. Selbstverständlich war das einer der Umstände gewesen, die Marek für Sebastian eingenommen hatte…

»Ja, die Geschichte hat er mir erzählt«, sagte Jannis und sah zu, wie Lana sich streckte und vom Sessel herunter sprang. Schnurrend kam sie zu ihm herüber gestrichen und sprang neben ihm aufs Sofa, um sich kraulen zu lassen.
 

»Also meinst du, dass ich vielleicht doch noch eine Chance habe?«, fragte Sebastian schließlich hoffnungsvoll. Jannis nickte nachdenklich.

»Aber bei Marek weiß man nie so genau. Er könnte schon morgen verkünden, dass er unbedingt nach Australien auswandern will«, sagte Jannis. Sebastian sah entsetzt aus.

»Das war ein Scherz«, beeilte sich Jannis zu sagen. Sebastian schien tatsächlich sehr durch den Wind zu sein.

»Ich würde vermutlich erst durchdrehen… und dann hinterher reisen«, gab Sebastian zu und lächelte verlegen. Jannis stellte sich vor, wie Marek um die halbe Welt reiste, um seinen Gefühlen zu entkommen und wie Sebastian sie ihm hinterher trug wie ein treudoofer Hund seinem Herrchen die Zeitung.

»Ich denke, das wird nicht nötig sein… woher wusstest du eigentlich, wo ich wohne?«, wollte Jannis schließlich wissen. Es konnte doch nicht sein, dass jetzt schon zwei Leute, die er kaum kannte, seine Adresse hatten…

»Ich hab Marek mal zu dir gefahren… und er hat immer gemeckert, weil er sich im Bad an deinen Dachschrägen stößt. Daher… dachte ich mir, dass du wohl ganz oben wohnst«, sagte er peinlich berührt. Jannis nickte ergeben.
 

Sebastian sah ein wenig unschlüssig aus, so als wüsste er nicht genau, was jetzt zu tun war. Jannis wusste das noch viel weniger. Also stand er auf.

»Ich tu mal deine Sachen in den Trockner«, meinte er und verschwand aus dem Wohnzimmer.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, nicht allein zu sein und dabei nicht Marek bei sich zu haben. Aber Sebastian war ein angenehmer Gast. Er saß auf dem Sofa, streichelte Hermes und trank den zweiten Tee, den Jannis ihm gekocht hatte. Jannis hatte ihm ein Buch angeboten, bis seine Klamotten getrocknet waren und nun las Sebastian abwesend in einem Sammelband von Shakespeare.

Jannis unterdessen war damit beschäftigt, eine Gemüselasagne zu machen. Wenn Kolja genauso unkompliziert wäre wie Sebastian, dann hätte er ihn eventuell nicht rausgeworfen, überlegte er sich grimmig, während er Sahne und Mehlschwitze in den Topf mit kochendem Gemüse kippte. Und jetzt hatte sich der Dummkopf auch noch bei ihm angesteckt. Geschah ihm recht. Was knutschte er ihn auch? Wer kam überhaupt auf solche dämlichen Abmachungen, wenn nicht ein totaler Volltrottel?
 

Sebastian bedankte und entschuldigte sich gefühlte einhundert Mal, als Jannis mit zwei Tellern Gemüselasagne ins Wohnzimmer kam und sie vor ihnen auf den Tisch stellte.

»Ruhe«, brummte er schließlich und schob seinem Gast Besteck zu. Sebastian verstummte augenblicklich und starrte den Teller Lasagne an, als hätte noch nie jemand für ihn gekocht. Vielleicht stimmte das sogar. Marek konnte nämlich überhaupt kein bisschen kochen. Selbst Tiefkühlpizza brannte ihm hin und wieder an, weil er sich so leicht ablenken ließ.

Sie aßen schweigend und Jannis ignorierte geflissentlich Hermes’ Bettelei angesichts des dampfenden Essens. Sein Kater war schon dick genug, da brauchte er nicht auch noch Lasagne.

»Schmeckt wirklich gut«, sagte Sebastian schließlich mit hochrotem Kopf, bevor er sich eine weitere Gabel in den Mund schob.

»Freut mich«, erwiderte Jannis und schob Hermes mit dem Fuß ein Stück vom Tisch weg. Der Kater maunzte jämmerlich, als wäre er dem Verhungern nahe. Jannis blieb steinhart.

»Er sieht aus wie der gestiefelte Kater aus Shrek, wenn er einen so anschaut«, meinte Sebastian und starrte zu Hermes hinüber. Jannis schnaubte.

»Lass dich bloß nicht erweichen. Er frisst Lana schon immer fast alles weg. Eigentlich müsste ich ihn auf Diät setzen«, brummte er und warf seinem Kater einen tadelnden Blick zu, den sein Mitbewohner geflissentlich unbeachtet ließ.
 

Nachdem sie schließlich aufgegessen hatten, fischte Jannis Sebastians Klamotten aus dem Trockner und nachdem sich sein Gast umgezogen hatte, standen sie im Flur und sahen sich an.

»Ich fühl mich jetzt nicht mehr ganz so scheiße wie vorher«, sagte Sebastian und schaffte ein Lächeln. Jannis brummte verlegen.

»Schon ok«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Sebastian griff nach der Türklinke und fuhr sich verlegen durchs Haar.

»Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder«, meinte er und streckte Jannis seine Hand hin. Jannis löste seine Arme wieder aus der Verschränkung und schüttelte Sebastians mittlerweile warme Finger.

»Vielleicht«, gab er zurück.

»Danke noch mal!«, rief Sebastian ihm zu, dann war er schon die Treppe hinunter verschwunden. Als Jannis zurück ins Wohnzimmer kehrte und einen Blick aus dem Fenster warf, fiel ihm auf, dass es aufgehört hatte zu regnen.

Sturz ins Fieber

Für meine Lisa, die mir bei dem Kapitel so schön Gesellschaft geleistet und es Korrektur gelesen hat :)

*anlieb*

Viel Spaß beim Lesen wünsche ich euch und einen schönen Sonntag!

Liebe Grüße :)

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Er hatte es getan.

Jannis konnte es nicht fassen. Er fragte sich, was zum Henker in seinem Gehirn schief gelaufen war, als er sich dazu entschlossen hatte. Es schneite, aber der Schnee blieb nicht liegen und machte die Straßen nass und glänzend. Jannis hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen und unglaublich schlechte Laune im Gepäck. Nicht wegen des Schnees, sondern auch wegen des Inhalts seiner Tasche. Da waren nicht nur sein Ordner drin, sein Orangensaft und seine Stifte mitsamt Portemonnaie.

Unfasslicherweise waren da auch noch Unterlagen, die er nicht für sich selbst besorgt hatte. Nein, er mutierte ebenfalls zum Stalker. Kolja hatte ihn angesteckt. Jannis hatte Kolja die Erkältung übertragen und Kolja hatte Jannis sein Stalker- Gen mitgegeben.

Er war die letzte Woche durch die Uni getigert, hatte Unterlagen eingesammelt, nachdem er herausgefunden hatte, welche Pflichtveranstaltungen die Erstsemesterstudenten hatten. Dann war ihm eingefallen, dass Kolja ja nicht nur Germanistik studierte, sondern auch noch Geschichte.
 

Es hatte ihn jeden Tag an die zwei Stunden gekostet, auch noch die Geschichtssachen zu besorgen, von denen er nicht nur wenig Ahnung hatte, sondern von denen er sich nicht einmal sicher war, dass Kolja sie überhaupt brauchte. Es war bereits dunkel und Jannis hatte normalerweise sehr viel bessere Dinge zu tun, als zu Koljas Haus zu gehen und…

Innerlich fluchte er.

Am besten wäre es, wenn Koljas Vater aufmachen würde. Mit dem konnte er sich verständigen und dann würde er ihm einfach die Unterlagen in die Hand drücken und wieder verschwinden. Mit ein wenig Glück hatte der Typ seinen Namen vergessen und würde nicht in der Lage sein, Kolja zu erzählen, wer die Sachen gebracht hatte. Rein hypothetisch klang das wunderbar.
 

Praktisch gesehen war es allerdings nicht machbar. Jannis hatte zum Beispiel vergessen, den Hund mit in seine Berechnungen einzubeziehen, der seine Ankunft derartig laut ankündete, dass Jannis sich gewundert hätte, wenn nicht die gesamte Straße es gehört hatte. Allerdings war es diesmal scheinbar ein freudiges Bellen, da der Hund ihn auf wundersame Weise erkannte. Jannis wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte.

Während Penny um ihn herumwuselte und an seiner Tasche schnupperte, ging Jannis auf die Haustür zu und blieb einen Moment davor stehen. Er konnte immer noch umdrehen und die Unterlagen in die nächstbeste Altpapiertonne werfen. Aber gerade, als er sich entschlossen hatte, dass dies womöglich die beste Idee war, wurde die Tür geöffnet und Jannis sah sich Koljas Vater gegenüber. Immerhin, dieser Teil des Plans hatte geklappt.

»Ah, Jannis!«, sagte Herr Reichenau scheinbar bestens gelaunt, rollte zur Seite und Penny hechtete an ihm vorbei ins Haus. Er hatte Jannis’ Namen also nicht vergessen. Wie viel Pech konnte ein Mensch eigentlich haben?
 

»Hallo«, sagte er etwas steif und wühlte in seiner Tasche herum, »ich wollte nur ein paar Unterlagen vorbeibringen.«

Er hielt Koljas Vater den fein säuberlich sortierten Zettelwust hin. Der war einen Moment lang überrascht, dann winkte er Jannis ins Haus.

»Komm doch rein, es ist kalt«, sagte er und es klang nicht wie eine Frage. Jannis kämpfte mit sich. Vielleicht war Kolja zu krank, um aufzustehen und dann könnte er ganz unbemerkt wieder von hier verschwinden…?

Er trat ein, schloss die Tür hinter sich und zog sich die Schuhe aus. Herr Reichenau wartete hinten im Flur.

»Willst du die Jacke nicht auch noch ausziehen?«, wollte er freundlich wissen. Jannis hätte gern ‚Nein’ erwidert, aber das erschien ihm doch zu unhöflich. Also pellte er sich aus seiner Jacke und seinem Schal und folgte Koljas Vater mit seiner Tasche und den Unterlagen ins Wohnzimmer.
 

Aus einem Zimmer weiter hinten im Haus dröhnte laute Musik. Jannis setzte sich auf die äußere Sofakante und umklammerte die Unterlagen in seiner Hand.

Herr Reichenau lenkte seinen Rollstuhl zurück in Richtung Flur.

»Willst du was trinken?«, erkundigte er sich. Jannis seufzte und ergab sich seinem Schicksal.

»Orangensaft?«, gab er matt zurück und Koljas Vater nickte lächelnd und verschwand in Richtung Küche. Jannis starrte hinaus in den Garten und beobachtete, wie die Flocken vom dunklen Himmel regneten und auf der beleuchteten Terrasse landeten und sofort schmolzen. Gerade als er sich fragte, ob Kolja eventuell mit hohem Fieber im Bett lag und nicht mitgekriegt hatte, dass jemand gekommen war, da wurde die Musik noch etwas lauter, so als hätte jemand eine Tür geöffnet und dann…

»Jannis?«

Er zuckte zusammen, als er Koljas Stimme vernahm. Dies war sein Ende. Alles war vorbei. Wie war er nur auf den schwachsinnigen Gedanken gekommen, hier her zu gehen und Kolja Unterlagen vorbei zu bringen? Er hasste sein Leben. Er hätte einfach gleich wieder gehen sollen.
 

»Hallo«, sagte er abweisend und spürte zu seinem Ärger, dass sein Gesicht heiß wurde.

»Ah, Kolja«, sagte Herr Reichenau in diesem Augenblick und kam mit einem Glas Orangensaft zu Jannis herüber gerollt, »Jannis ist hier, um dir Unterlagen zu bringen.«

Mit diesen Worten drückte er Jannis das Glas in die Hand, strahlte kurz von seinem Sohn zu Jannis und verschwand dann im Flur.

Schweigen machte sich breit, während Kolja ihn anstarrte und Jannis wiederum eisern in den Saft hinunter blickte, der ihm gerade gereicht worden war.

»Willst du kurz mit in mein Zimmer kommen?«, fragte Kolja zögerlich und Jannis verfluchte sich selbst und Koljas Vater und Kolja. Dann stand er auf und balancierte den Saft und die Unterlagen hinüber zu Kolja. Der ging ihm voraus zu der Tür, hinter der die laute Musik hervor dröhnte. Jannis erkannte Queen.

»…Don’t stop me now, I’m having such a good time…«
 

»Du hörst Queen? Ich dachte die Jugend von heute steht auf Techno und HipHop«, sagte er matt. Kolja stutzte einen Moment, die Hand am Lautstärkeregler einer uralt aussehenden Stereoanlage. Dann lachte er und drehte die Lautstärke herunter.

»Die Jugend von heute? Du bist doch nur zwei Jahre älter als ich«, sagte er amüsiert, kam zu Jannis herüber und schloss die Tür hinter ihm. Jannis stand etwas verloren inmitten von Koljas Zimmer. Ihm wurde erst einen Augenblick später klar, dass er hier das erste Mal Koljas Privatsphäre betreten hatte. Unweigerlich schaute er sich um.

Es war ein großes, helles Zimmer mit Ahornparkettboden und zwei breiten Fenstern. Über dem zerwühlten Bett hing ein übergroßes Poster von Queen, am Kopfende prangte ein riesiges Aquarellbild, das wie ein Abbild des Familienfotos im Flur aussah. Jannis starrte es an.

»Hat Marit gemalt«, erklärte Kolja beiläufig und ließ sich auf ein quietschgrünes Sofa sinken, das vor einem ziemlich ramponiert wirkenden Holztisch stand.

»Sieht gut aus«, sagte Jannis und konnte nicht umhin, beeindruckt zu klingen.
 

Die Regale waren voll gestopft mit Büchern aller Art. Bildbände, Sachbücher, Biographien, historische Atlanten, Sammelbände von bekannten Schriftstellern… Jannis kam sich vor wie in einer Mini- Bibliothek. Er hätte nie gedacht, dass Kolja so viele Bücher besaß.

»Willst du dich nicht setzen?«, fragte Kolja und deutete auf den Platz direkt neben sich. Jannis kam zögernd zu ihm herüber. Kolja trug eine graue, ausgeleierte Jogginghose und einen dicken Wollpulli. Seine Nase war etwas gerötet, aber ansonsten sah er ziemlich gesund aus.

Nachdem Jannis sich schließlich gesetzt hatte, stellte er das Glas umsichtig auf dem Tisch ab und fragte sich dunkel, was er eigentlich in diesem Zimmer zu suchen hatte. In einem fast bis zur Decke reichenden Regal standen abgesehen von weiteren Büchern ein alter Plattenspieler und eine Sammlung von uralt aussehenden Schallplatten.

»Pa meinte irgendwas von Unterlagen?«, sagte Kolja in einem beiläufigen Ton. Er klang ein wenig heiser, so als hätte er die letzten Tage ständig husten müssen. Jannis spürte, wie sein Gesicht eine garantiert dunkelrote und sehr auffällige Farbe annahm und er warf die geordneten Unterlagen schnaubend in Koljas Schoß, sodass sie alle auseinander flatterten und teilweise auf dem Boden landeten.
 

Kolja sammelte jedes Blatt sorgsam ein und blätterte dann mit einem Gesichtsausdruck ungläubiger Dankbarkeit durch die Unterlagen.

»Da sind ja sogar Skripte aus meinen Geschichtsvorlesungen dabei«, sagte er verwundert und blickte auf. Jannis grummelte nur, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf sein unberührtes Glas Orangensaft. Unpassenderweise musste er an die letzte Begegnung denken, die in seinen eigenen vier Wänden stattgefunden hatte. Ein Kribbeln machte sich in seinem Körper breit und der durchdringende Blick, den Kolja ihm aus meerblauen Augen zuwarf, half ihm nicht besonders, den Gedanken daran zu vertreiben.

»Ja. Hat lange gedauert, das alles zusammen zu suchen«, brummte er und wagte einen Blick hinüber zu Kolja. Der sah aus, als würde er sich mit aller Macht davon abhalten, jetzt sehr breit zu strahlen.

»Das hättest du nicht… also… vielen Dank«, sagte Kolja leise, als wüsste er nicht genau, wie er sich verhalten sollte. Jannis konnte sich denken wieso. Immerhin hatte er versprochen, Jannis nicht mehr auf den Keks zu gehen. Plötzlich kam ihm diese ganze Abmachung unglaublich dämlich vor.

»Kein Problem«, sagte er abweisend. Kolja schwieg eine Weile lang und Jannis griff endlich nach seinem Orangensaft, um zwei Schlucke zu trinken.
 

Jannis dachte daran, wie sie sich geküsst hatten. Wie Kolja ihn festgehalten hatte. Plötzlich fühlte sich sein Hals sehr trocken an und seine Finger schlossen sich zu Fäusten. Sein Körper erinnerte sich an all die letzten Nächte, in denen er… er sollte nicht daran denken! Aber ihm wurde unweigerlich heiß und er spürte deutlich, wie ein Teil seines Körpers sich wünschte, dass es noch einmal passierte. Dass noch mehr passierte.

»Ich wollte mich noch mal bei dir entschuldigen«, sagte Kolja dann plötzlich und legte seine Unterlagen auf den Tisch, »weil ich dir so oft auf den Schlips getreten bin. Ich wollte dich wirklich nur besser kennen lernen und dachte… ach na ja… es tut mir jedenfalls Leid, wenn ich dich zu sehr bedrängt hab.«

Jannis starrte ihn an. Koljas Augen waren direkt auf ihn gerichtet, aber er sah eindeutig verlegen aus. Jannis war auf einmal empört darüber, dass Kolja sich entschuldigte. Erst mischte er sein ganzes Leben auf, brachte alles durcheinander und jetzt tat es ihm Leid? Hätte er sich das nicht vorher überlegen können?
 

»Das fällt dir ja früh ein«, sagte er aufgebracht. Kolja wirkte ziemlich betreten.

»Na ja… du hast deine Grenzen überschritten und mich geküsst, nur damit ich dich in Frieden lasse. Da ist mir klar geworden, dass ich vielleicht etwas… übertrieben habe«, sagte er und klang irgendwie niedergeschlagen. Als würde er es wirklich bereuen, dass er es verbockt hatte. Jannis’ Kopf kämpfte mit aller Macht gegen seinen Körper an. Der schrie nach Berührung und Küssen und Festgehaltenwerden.

»Ach so? Dann tut es dir also Leid, dass du mich geknutscht hast?«, fragte er aufgebracht. Kolja blinzelte erstaunt und legte den Kopf schief. Die blauen Augen wirkten offen. Ehrlich verwundert. Wieso musste dieser Volltrottel ihn so ansehen, als würde er ihn wirklich mögen? Als wäre er wirklich interessiert an ihm? Jannis wollte sich die Haare raufen, wollte Kolja küssen, wollte aufstehen und gehen und sich von der nächstbesten Brücke stürzen, damit dieses Gefühlschaos aufhörte. Sein Körper hatte nichts zu sagen. Das hatte er noch nie gehabt. Wieso sollte es jetzt anders sein?
 

»Nein. Es war… ein toller Kuss«, murmelte Kolja und senkte zum ersten Mal den Blick. Jannis spürte, wie ihm noch heißer wurde. Seine Finger krallten sich einen Moment lang in seine Hose.

Dann richtete er sich halb auf und beugte sich mit hämmerndem Herzen hinüber zu Kolja, dessen Kopf nach oben ruckte.

»Bist du noch ansteckend?«, brummte Jannis. Sein Herz sprengte ihm fast die Rippen. Sein Körper seufzte hingerissen, als er Koljas Geruch wahrnahm. Kolja schüttelte den Kopf und sah Jannis an, als wäre er hypnotisiert.

»Hab Antibiotikum genommen«, nuschelte er. Jannis wusste, dass es absolut wahnsinnig war, was er hier gerade tat. Dass er so etwas noch nie getan hatte. Er hatte noch niemals jemanden aus freien Stücken von sich aus geküsst. Aber dann war es auch schon zu spät und er hatte seine Lippen auf Koljas Mund gelegt. Es war mehr ein Fragen als ein Kuss. Jannis hatte die Augen geschlossen, weil er sich nicht traute, in Koljas Gesicht zu sehen. Sein Körper schrie nach mehr. Seine Gedanken überschlugen sich.
 

Koljas Lippen waren weich und nachgiebig und warm. Er schmeckte nach Cola. Jannis hasste Cola. Und er hasste Kolja. Ja, abgrundtief hasste er diesen jungen Mann, der ihn in diese körperliche Verwirrung gestürzt hatte. Er hasste diesen jungen Mann, der ihn so behutsam küsste, dass Jannis’ Körper schier wahnsinnig wurde vor Verlangen. Und dann war es plötzlich wieder vorbei.

»Meinst du, dass das eine gute Idee ist?«, wisperte Kolja sehr heiser. Jannis hätte ihm zu gern seine Faust ins Gesicht geschlagen. Stattdessen rückte er näher, brummte ungehalten und presste seine Lippen verlangend auf die seines Gegenübers. Kolja schien das als ‚Ja’ zu deuten, denn plötzlich schlang er die Arme um Jannis, zog ihn näher zu sich, strich mit den Fingern fahrig über Jannis’ Rücken.
 

Sie küssten sich so heftig, dass Jannis beinahe in Koljas Armen zerschmolz. Seine Hose wurde eng und ein Keuchen entfloh seiner Kehle, als er Koljas Zunge an seinen Lippen fühlte. Koljas Finger stahlen sich unter seinen Pullover, die Fingerspitzen huschten über Jannis’ erhitzte Haut, die bei der tastenden Berührung aufseufzte. Sein Denken schaltete sich aus. Er spürte Koljas Zunge, die nach seiner suchte, spürte, wie ihre Körper sich aneinander schmiegten und wie Kolja ihn Stück für Stück noch näher zu sich zog. So als wollte er ihn nicht mehr loslassen. So als würde es ihm wirklich etwas bedeuten.

Jannis’ Herz überschlug sich. Er wusste nicht wohin mit all seinen Empfindungen. Eine Hand stahl sich in seinen Nacken, zwang ihn tiefer in den Kuss. Seine Lippen brannten, sein ganzer Körper stand in Flammen.
 

Koljas andere Hand glitt über seinen Bauch, fuhr den Hosenbund entlang. Jannis schnappte nach Luft, als Koljas Finger kaum merklich über seinen Schritt huschten. Doch dann war die Hand wieder verschwunden, vergrub sich in Jannis’ Haaren, streichelte ihn im Nacken. Koljas Atem ging sehr schnell, Jannis spürte den Herzschlag des anderen an seiner eigenen Brust. Koljas Herz hämmerte genauso sehr wie Jannis’.

Sie küssten sich und küssten sich… und Jannis wollte nicht mehr aufhören. Nie mehr. Die Wärme, die ihn durchflutete, das leichte Zittern, die betäubten Gedanken…

Jannis hatte keine Ahnung, wie lang er halb auf Kolja lag und wie lang sie sich küssten. Im Hintergrund sang Freddie Mercury »Oh, love, oh lover boy…«.

Irgendwann wagte Jannis es, sich von Kolja zu lösen und seine Brille abzunehmen. Die blauen Augen musterten ihn fiebrig. Koljas Gesicht war ganz heiß. Jannis räusperte sich verlegen und legte seine Handfläche auf Koljas Stirn.

»Hast du Fieber?«, fragte er krächzend. Kolja lächelte.

»So was Ähnliches vielleicht«, flüsterte er. Dann zog er Jannis erneut zu sich herunter und küsste ihn. Küsste ihn bis tief in die Nacht, bis Jannis’ Lippen beinahe wund geküsst waren, und bis sein Körper beinahe unerträglich kribbelig und sensibel wirkte. Wie sollte er so schlafen? Wie sollte er nach Hause kommen mit seinen Beinen, die sich anfühlten, als wären sie aus Gummi?
 

»Ich werd dann… langsam mal…«, krächzte er. Seine Stimme schien sich verabschiedet zu haben. Er hatte sie wohl zu lange nicht benutzt. Kolja grummelte.

»Kannst du nicht… bleiben?«, fragte er und tupfte seine Lippen auf Jannis’ Wangenknochen, seine Nasenwurzel und seine Stirn. Jannis’ Haut konnte sicher bald kein Kribbeln mehr vertragen. Womöglich würde sie sich jeden Augenblick in Brausetabletten auflösen.

»Nein«, murmelte er und setzte sich auf. Die CD war wieder bei »Don’t stop me now« angelangt. Jannis hatte keine Ahnung, zum wievielten Mal sie das Album durchgehört hatten. Aber ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es kurz vor elf war. Er konnte es nicht fassen. Er hatte fast drei Stunden am Stück hier gelegen und sich mit einem Kerl geküsst, den er nicht ausstehen konnte. Sein Leben hatte eine Macke.
 

Er stand auf und taumelte leicht zur Seite weg. Seine Knie waren Pudding. Soviel stand fest. Kolja rappelte sich ebenfalls auf und fuhr sich über das Gesicht. Seine Lippen waren ziemlich gerötet, die Augen immer noch glasig und Jannis’ Augen huschten unweigerlich zu Koljas Schritt hinunter und Jannis wurde sehr deutlich bewusst, dass er nicht der Einzige mit einem Problem in der Hose war. Kolja grinste verlegen.

»Du bist Schuld«, sagte er und kam zu ihm herüber. Jannis räusperte sich verlegen und bückte sich nach seiner Brille.

»Ich hab… überhaupt nichts gemacht«, grummelte er und spürte, wie seine Wangen erneut aufflammten. Seine Lippen kribbelten.

Kolja umarmte ihn von hinten und Jannis spürte überdeutlich Koljas Unterkörper, der sich leicht an ihn drückte. Ihm wurde leicht schwindelig. Vermutlich würde er die ganze Nacht davon träumen. Herrgott, wieso war er so anfällig?

Koljas Lippen strichen seinen Hals entlang, während Jannis versuchte, seine Brille wieder aufzusetzen, ohne sich einen der Bügel ins Auge zu rammen.
 

»Heißt das jetzt, dass ich doch eine Chance bekomme?«, flüsterte Kolja in seinen Nacken. Jannis bekam eine heftige Gänsehaut. Er konnte nichts anderes erwidern als ein klägliches, zittriges »Hm«.

Kolja drehte ihn zu sich herum und drückte ihm erneut einen Kuss auf den Mund, dann löste er sich von ihm und lächelte. Seine Augen funkelten wie die Mittagssonne auf dem Meer. Jannis fand diesen kitschigen Vergleich zum Kotzen.

»Danke noch mal für die Unterlagen«, nuschelte Kolja, »ich bring dich noch zur Tür.«

Jannis nickte benommen. Dann nahm er seine Tasche, warf einen letzten Blick auf das quietschgrüne Sofa, ehe er Kolja durch den Flur folgte, wo er sich seine Jacke und seine Schuhe anzog.

»Wann seh’ ich dich wieder?«, fragte Kolja. Jannis griff fahrig nach der Türklinke. Sein Herz überschlug sich beinahe. Was war das, wo er sich hinein geritten hatte? Wo steuerte er eigentlich hin?
 

»Weiß nicht«, gab er unsicher zurück. Er erwischte die Türklinke. Ein eisig kalter Wind und Schneeflocken schlugen ihm entgegen. Kolja ging rasch hinüber zu der Kommode, kramte in einer der Schubladen und schrieb etwas auf einen kleinen, grünen Post- It Zettel. Grün wie das Sofa.

»Meine Handynummer«, sagte Kolja und er sah schon wieder verlegen aus. Wenn er so verlegen war, konnte Jannis ihn kaum noch furchtbar finden.

»Du kannst mir… ja einfach schreiben, wenn dir danach ist. Oder, wenn du zu Hause angekommen bist«, meinte er und klang ungeheuer hoffnungsvoll. Jannis schluckte schwer, doch dann rang er sich ein Nicken ab, wandte sich ab und stapfte hinaus in den Schneesturm. Er wusste, dass es eisig kalt war, doch er fror einfach nicht. Sein Körper fühlte sich immer noch hitzig von all den Küssen an. Oder war es nur ein Kuss gewesen?

Er merkte kaum, wie er zu Hause ankam, wie er sich auszog und sofort ins Bett fiel. Den kleinen grünen Post- It Zettel hatte er zwischen den Fingern und er kramte schließlich sein Handy hervor. Zögernd tippte er die Nummer mitsamt Koljas Namen ein und speicherte sie. Jetzt hatte er drei Telefonnummern in seinem Adressbuch. Nachdenklich starrte er darauf. Beim Klang von Koljas Namen in seinem Kopf wurde ihm schon wieder heiß. Schließlich tippte er vier Worte und schickte die SMS ab, ehe er sein Handy auf den Nachtschrank legte.

»Bin zu Hause angekommen.«

Coca Cola und Osaft

Ich hab mir fast schon gedacht, dass ich nicht alles in dieses Kapitel kriege, was ich reinkriegen wollte. Jetzt werden aus einem geplanten Kapitel wahrscheinlich drei Kapitel. Typisch ich.

Ich wünsche euch viel Spaß mit dem Kapitel,

liebe Grüße :)

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Das Läuten seines Telefons riss ihn aus dem Schlaf. Benommen setzte er sich auf und tastete nach seiner Brille, die auf dem Nachtschrank lag. Sein Wecker sagte ihm, dass es zehn Uhr war. Er schlief sonst nie so lange und einen Augenblick lang fragte er sich, wieso es diese Nacht anders gewesen war. Dann fiel ihm wieder ein, was gestern passiert war und er stolperte beinahe über seinen Bettvorleger, als er versuchte, möglichst schnell zum Telefon zu gelangen.

»Ja?«, murmelte er in den Hörer und rieb sich die Augen.

»Es ist der zehnte Dezember, wann hattest du daran gedacht, dich wegen Weihnachten zu melden?«, quakte ihm die Stimme seiner Mutter unangenehm ins Ohr. Jannis stöhnte unterdrückt auf. Er war immer noch müde, doch die Erinnerung an gestern pumpte das Blut ungewöhnlich schnell durch seinen Körper und das ließ ihn wach werden.
 

»Gar nicht«, gähnte er und konnte es nicht fassen, dass er das wirklich laut gesagt hatte. Kolja hatte eindeutig einen schlechten Einfluss auf ihn. Vielleicht hatte er ihn doch wieder angesteckt und Jannis hatte eigentlich furchtbar hohes Fieber…

»Wie bitte?«, keifte seine Mutter ins Telefon. Jannis verdrehte die Augen. Hermes und Lana kamen durch den Flur getapst und strichen ihm um die Beine. Normalerweise bekamen sie früher ihr Frühstück. Jannis bückte sich, um die beiden kurz zu kraulen.

»Vergiss es einfach. Wann soll ich da sein?«, fragte Jannis resigniert und fuhr sich mit der freien Hand durch die abstehenden Haare. Er hatte stundenlang mit Kolja geknutscht. Was jetzt? Was bedeutete das? Waren sie jetzt irgendwie zusammen? Bei diesem Gedanken wurde ihm heiß und sein Magen verkrampfte sich.
 

»Du könntest schon am dreiundzwanzigsten vorbeikommen«, sagte seine Mutter schnippisch, »dein Vater hat noch ein Geschäftsessen, bei dem du anwesend sein könntest. Und am vierundzwanzigsten ist vormittags eine Weihnachtsfeier in der Kanzlei. Truthahnessen bei Anita ist wie immer am fünfundzwanzigsten.«

Jannis seufzte leise. Drei Tage bei seinen Eltern, das kam ihm vor wie seine persönliche Hölle. Aber da er schon nicht zum Geburtstag seines Vaters gekommen war, musste er es wohl oder übel aussitzen.

»Ja, ich schau mal, wie die Züge fahren und sag dir dann Bescheid«, meinte Jannis lustlos und sah Lana und Hermes nach, als sie hoffnungsvoll maunzend in die Küche schlichen, um auf ihr Essen zu warten.

»Hoffentlich sagst du noch vor Weihnachten Bescheid, Jannis«, sagte seine Mutter schlecht gelaunt. Jannis schüttelte entnervt den Kopf.

»Ich muss meine Katzen füttern. Ich ruf später noch mal an!«

Und dann legte er auf.
 

Weihnachten war nun wirklich sein geringstes Problem. Und das war es noch nie gewesen. Jedes Jahr war Weihnachten der Inbegriff seines persönlichen Horrors gewesen. Und dieses Jahr erschien ihm Weihnachten vollkommen mickrig angesichts der Tatsache, dass er gestern stundenlang mit Kolja geknutscht und ihm dann auch noch eine SMS geschrieben hatte, was bedeutete, dass Kolja nun der dritte Mensch auf der Welt war, der seine Nummer hatte. Er konnte es nicht fassen. Kolja hatte gesagt, dass er noch eine zweite Chance wollte. Aber wofür? Worin hatte Jannis eigentlich indirekt eingewilligt, als er nur »Hm.« gemacht hatte? Was war das, was sie da nun hatten? War das der Vorläufer einer Beziehung? Das konnte nicht sein, denn dafür sollten beide Teilnehmer ineinander verliebt sein und das war bei ihnen nicht der Fall. Hatten sie eine Affäre? Aber wieso war es Kolja dann wichtig zu wissen, dass er zu Hause angekommen war? Warum sagte Kolja ihm, dass er ihn mochte, wenn sie nur eine Affäre hatten? Jannis hatte keine Ahnung, ob es noch etwas anderes zwischen Affäre und Beziehung gab, das er nicht kannte. Denn immerhin kannte er sich wirklich kein kleines bisschen aus mit diesen Dingen.
 

Innerlich fluchend und sich das Hirn zermarternd stapfte er in die Küche und füllte den Fressnapf seiner beiden Mitbewohner auf, dann machte er sich Frühstück.

Er konnte vor sich selbst unmöglich leugnen, dass ihm dieses ganze Geknutsche gestern gefallen hatte, denn sonst hätte er es nicht fast drei Stunden lang getan. Ja, es hatte gut getan, es war schön gewesen. Aber was hatte das alles zu bedeuten? Das schlimmste an alledem war, dass er angefangen hatte. Diesmal hatte nicht Kolja ihn geküsst, oder ihn zu irgendwelchen blöden Abmachungen gezwungen. Nein. Diesmal hatte Jannis Kolja geküsst. So viel war sicher.

Während er sein Müsli löffelte, versuchte er sich klar darüber zu werden, was er für Kolja empfand. Die Antwort war einfach: Nichts. Nichts außer vielleicht körperlicher Anziehung. Ein wenig davon. Eventuell etwas mehr…

Jannis kam sich dumm vor. Jeder normale Mensch wüsste jetzt, was zu tun war. Nur er hatte keine Ahnung. Und wie immer, wenn er keine Ahnung hatte, tat er das einzige, was ihm dann einfiel. Er rief bei Marek an.
 

»Also… du hast ihm die ganzen Unterlagen zusammen gesucht und das hat ewig gedauert und dann bist du zu ihm nach Hause gegangen und ihr habt fast drei Stunden rumgemacht?«, erkundigte sich Marek zehn Minuten später, als wollte er nur noch ein paar letzte Feinheiten klären. Jannis brummte.

»Das sagte ich doch gerade«, gab er zurück. Marek schwieg einen Moment.

»Und du willst mir sagen, dass du ihn nicht gut leiden kannst?«, wollte Marek wissen.

»Ich kenne ihn doch gar nicht! Wir haben nicht geredet, wir haben geknutscht. Ich weiß nur, dass er aufdringlich ist, viel über Geschichte weiß und gern Queen hört. Das ist doch keine Grundlage«, beklagte sich Jannis. Für Marek war immer alles so leicht. Es sei denn natürlich, es ging um ihn selbst, dann wurde alles kompliziert.

»Du hast ihm ja auch nicht gerade das Gefühl gegeben, dass du dich für ihn interessierst«, gab Marek zu bedenken. Jannis sackte auf der Couch in sich zusammen. Warum musste Marek immer Recht haben?
 

»Du meinst also, ich habe ihm mit dem Knutschen das Einverständnis gegeben, dass wir uns besser kennen lernen, damit wir dann vielleicht… irgendwann…«

Er brach ab. Die Worte ›zusammen kommen‹ wollten nicht wirklich über seine Lippen kommen.

»Wenn ihr merkt, dass ihr euch nur körperlich anziehend findet, könnt ihr immer noch eine Affäre anfangen«, sagte Marek beiläufig, als wäre es nichts Besonderes. Jannis jedoch schoss die Röte ins Gesicht.

»Aber woher weiß ich, dass er das auch so sieht?«, wollte er wissen. Marek kicherte.

»So eine Frage kann nur von dir kommen«, sagte er und hörte sich recht amüsiert an. Jannis fand das überhaupt nicht witzig.

»Sehr lustig«, grummelte er.

»Frag ihn doch einfach«, schlug Marek scheinheilig vor.

»Und wie soll ich das bitte anstellen? ›Hey Kolja, wie sieht’s aus, wollen wir uns besser kennen lernen und dann entscheiden, ob wir…‹«
 

Er brach ab und raufte sich mit einer Hand die Haare.

»Das geht nicht«, schloss er dann.

»Wozu liest du eigentlich all diese Bücher? Da kommen doch ständig irgendwelche Gespräche über Liebe vor. Lad ihn zu dir ein, mach deine anbetungswürdige Gemüselasagne und rede einfach mal ein bisschen mit ihm. Erzähl auch mal was von dir. Er findet dich spannend, oder? Glaub doch einfach mal, dass es Menschen gibt, die dich nicht langweilig finden«, riet Marek ihm und klang bestens gelaunt. Jannis lag es auf der Zunge, Marek nach Sebastian zu fragen, aber er ließ es bleiben. Wenn er so etwas fragte, dann sollte er sich auf die Antwort auch konzentrieren können. Und dazu war er eindeutig nicht in der Lage.

»Also schön… ich werd’s versuchen«, murmelte er und war in Gedanken insgeheim schon bei der Frage, ob Kolja überhaupt Gemüselasagne mochte.
 

Jannis brauchte drei Tage, um sich darüber im Klaren zu sein, dass er es vermutlich wirklich so tun sollte, wie Marek gesagt hatte. Nachdem er das herausgefunden hatte, kostete es ihn zwei Stunden, um sich den Text für eine kurze SMS zu überlegen. Schließlich schickte er folgende Worte ab:

»Magst du Gemüselasagne? Wenn nicht, hast du Pech gehabt. Wenn doch, kannst du heut Abend zum Essen kommen. Jannis«

Marek hätte nun sicher gesagt, dass das ziemlich schroff klang. Aber Jannis war nicht gut mit lieben Worten und schon gar nicht war er gut darin, Kolja mitzuteilen, dass er ihn gern… sehen würde. Um zu reden. Er sollte am besten nicht daran denken, er sollte besser in die Küche gehen und sich daran machen, seine Lasagne vorzubereiten.
 

Als es klingelte, hielt er gerade geriebenen Käse in der Hand. Sein Herz begann augenblicklich wie verrückt zu hämmern. Er starrte in Richtung Flur, dann legte er langsam den Käse beiseite, schob seine Brille auf der Nase nach oben und drückte auf den Türöffner. Die Schritte, die im Treppenhaus ertönten, klangen, als würde jemand sehr schnell nach ganz oben kommen wollen. Und dann stand Kolja plötzlich leicht keuchend und strahlend wie eine aufgehende Sonne oder ein implodierter Stern vor ihm.

Einen Moment lang herrschte Schweigen, während Jannis Kolja ansah und Kolja wieder zu Atem kam.

»Danke für die Einladung«, sagte Kolja lächelnd und Jannis räusperte sich verlegen, dann ruckte er mit dem Kopf, damit Kolja herein kam. Jannis schloss die Tür hinter ihm und ging wieder in die Küche, um den Käse über die Lasagne zu streuen. Er hörte, wie Kolja leise in die Küche kam und ihn dann vom Türrahmen aus beobachtete.
 

»Du siehst ziemlich gut aus beim Kochen«, sagte Kolja und Jannis spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss, als hätte jemand heißes Wasser in ihn hinein geschüttet.

»Blödsinn«, brummte er und warf die leere Käsetüte in den Müll. Dann schob er die Auflaufform in den Ofen, ohne auf sein heftig polterndes Herz zu achten.

»Komplimente sind nicht so dein Ding, was?«, sagte Kolja schmunzelnd und Jannis legte die Topfhandschuhe, die er eben benutzt hatte, auf seine Arbeitsplatte. Dann stellte er eine Eieruhr und wandte sich zu Kolja um. Er würde solche Fragen einfach ignorieren.

»Willst du was trinken?«, erkundigte er sich.

Kolja lachte leise.

»Orangensaft«, meinte er lächelnd und Jannis wusste nicht genau wieso, aber irgendwie wurde ihm ziemlich warm, wenn Kolja ihn so anlächelte, als hätte Jannis irgendetwas… Nettes gesagt.

»Du trinkst doch sonst immer Cola. Seit wann magst du Osaft?«, fragte Jannis, ging hinüber zum Kühlschrank und öffnete ihn. Dann förderte er eine Flasche Cola zu Tage.

Kolja blinzelte.

»Wehe, du trinkst sie nicht aus! Ich trink dieses Ekelzeug nicht«, sagte Jannis peinlich berührt und schob Kolja die Flasche und ein Glas hin.
 

»Du hast extra für mich Cola gekauft? Ich hätte auch Orangensaft getrunken, ich weiß, dass du immer Osaft trinkst«, meinte Kolja und griff nach der Cola, als wäre sie das schönste, das er je gesehen hatte. Jannis verschränkte die Arme vor der Brust.

»Toll. Wir wissen, was der jeweils andere gern trinkt. Daran können wir anknüpfen«, sagte er spöttisch. Kolja lachte und kam zu ihm herüber. Jannis fühlte sich plötzlich ziemlich wackelig auf den Beinen. Das wurde auch nicht dadurch gebessert, dass Kolja seine Arme behutsam um Jannis’ Taille legte.

»Wir machen Fortschritte. Du reißt schon Witze in meiner Gegenwart«, sagte er schmunzelnd. Jannis’ Hals fühlte sich ziemlich trocken an.

»Ha…hast du eigentlich wirklich mit dem Rauchen aufgehört?«, fragte er vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Kolja grinste.

»Sonst würdest du mich doch nicht küssen, oder?«, murmelte er. Jannis wollte antworten, aber er konnte nicht, denn Kolja verschloss seine Lippen mit einem Kuss.
 

Das fühlte sich viel zu gut an. Eindeutig. Jemanden einfach so zu küssen, wann immer man wollte. Das war gruselig.

Jannis löste sich hastig.

»Wir müssen reden«, sagte er krächzend. Kolja schmunzelte, seine Nasenspitze berührte die von Jannis.

»Worüber? Darüber, dass du dir nicht sicher bist, was genau das ist, was wir haben?«, wollte er wissen und wanderte mit seinem Mund über Jannis’ Wangenknochen und hinunter zu seinem Hals. Jannis bekam eine Gänsehaut.

»Ganz… genau«, brachte er abgehackt hervor.

»Wie wäre es, wenn wir einfach Zeit miteinander verbringen, ohne uns das zu fragen? Und wenn einer von uns heraus gefunden hat, was genau er eigentlich will, dann sagt er das. Und dann reden wir darüber«, schlug Kolja vor und seine Lippen saugten sich sachte an Jannis’ Hals fest. Gleich würden seine Knie nachgeben, soviel war sicher.
 

Dann klingelte die Eieruhr. Jannis löste sich hastig von Kolja und schnappte sich die Topfhandschuhe.

»Kannst du zwei Teller aus dem Schrank neben der Mikrowelle nehmen?«, fragte er, während er die Lasagne aus dem Ofen holte und den Ofen ausstellte. Dann kramte er nach einem Schieber und Besteck.

»Und es geht weiter. Ich weiß, wo deine Teller stehen«, sagte Kolja und stellte die Teller vor Jannis auf die Arbeitsplatte. Jannis spürte, wie seine Mundwinkel zuckten.

»Na bitte. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen«, murmelte Jannis, während er Gemüselasagne auf beide Teller lud. Er erinnerte sich dunkel daran, dass Sebastian auch schon Lasagne bei ihm gegessen hatte. Bald konnte er Geld dafür verlangen.
 

»Wie kannst du dir diese Wohnung eigentlich leisten? Bekommst du so viel Bafög?«, wollte Kolja wissen und nahm seinen Teller gespannt dreinblickend von Jannis entgegen. Dann folgte er ihm ins Wohnzimmer und ließ sich neben Jannis auf die Couch sinken.

»Bafög ist für Leute, die sich das Studium nicht leisten können. Ich habe reiche Eltern, die mir zwar nichts zahlen, weil ich Germanistik studiere und nicht Jura, aber ich hab diese Wohnung von meinen Großeltern väterlicherseits bekommen, als sie zu alt wurden, um Treppen zu steigen. Abgesehen von der Wohnung hab ich noch eine Menge Geld bekommen und ich bekomme Geld für das Tutorium. Eigentlich bin ich reich«, sagte Jannis und warf Hermes einen ungnädigen Blick zu, als er maunzend zu Kolja kam, um nach Lasagne zu betteln.

»Gib ihm bloß nichts, er ist zu dick«, mahnte Jannis.

Kolja hob den Kopf und sah ihn an wie das achte Weltwunder.

»Du hast gerade was von dir erzählt«, sagte er vollkommen perplex. Jannis räusperte sich verlegen.

»Na ja… ich dachte… ach, vergiss es. Guten Appetit«, meinte er dann brummend. Immerhin ging es doch darum. Dass sie sich kennen lernten…
 

»Deine Eltern zahlen dir nichts, weil du nicht Jura studierst?«, fragte Kolja nach. Er klang ziemlich ungläubig.

»Sie haben sich immer einen Sohn gewünscht, der später die Kanzlei übernimmt. Stattdessen… lese ich. Das ist für sie so eine Art Verbrechen, das sie nicht ahnden können, deswegen sind sie frustriert, glaube ich«, meinte Jannis und er hörte selbst, wie verbittert er klang. Kolja schob sich eine sehr große Gabel Lasagne in den Mund und seufzte zufrieden.

»Du kannst ja kochen«, sagte er, nachdem er seinen Bissen herunter geschluckt hatte. Jannis zuckte mit den Schultern.

»Ich wohne allein. Ich esse auch oft genug Tiefkühlpizza«, gab er zu. Kolja nahm einen Schluck Cola.

»Wenn du finanziell nicht von deinen Eltern abhängig bist, wieso triffst du dich dann immer noch mit ihnen?«
 

Jannis stocherte ein wenig in seiner Lasagne herum und beachtete Hermes nicht, der neben ihm aufs Sofa gesprungen war und nun um seinen Rücken herum strich.

»Keine Ahnung. Vielleicht warte ich immer noch drauf, dass sie irgendwann mal… doch stolz auf mich sind«, sagte er schulternzuckend.

Es war gar nicht so schwierig über sich selbst zu reden. Und Kolja lachte nicht darüber. Jannis wurde zum ersten Mal richtig bewusst, dass Kolja nicht nur der dümmlich grinsende, aufdringliche, komische Kerl war.

Jannis warf ihm einen Blick von der Seite zu und griff nach Koljas Glas mit Cola. Kolja sah ihn verwirrt an, als Jannis einen Schluck nahm und das Glas wieder zurück stellte.

»Viel zu süß«, meinte er und schob sich noch Lasagne in den Mund. Kolja sah ihn fragend von der Seite an.

»Schmeckt wie du«, meinte Jannis schulternzuckend. Auf Koljas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

»Wolltest du mir gerade sagen, dass ich süß bin?«
 

»Wa… Nein! Das würde ich nie sagen!«
 

»Los, gib es schon zu!«
 

»Nein! Schau mich nicht so schlaumeierisch an, ich finde dich überhaupt nicht süß!«
 

Kolja lachte und nahm noch einen Bissen Lasagne.

»Gehst du nächste Woche mit mir Eislaufen?«, wollte er dann grinsend wissen und pustete sich die blonden Haare aus dem Gesicht.

»Ich kann nicht eislaufen«, gab Jannis zurück und fühlte sich immer noch leicht überfahren aufgrund der Tatsache, dass Kolja nun dachte, Jannis fände ihn süß.

»Du bist jung. Du bist lernfähig«, sagte Kolja, beugte sich zu ihm hinüber und drückte Jannis einen Kuss auf den Mund, gerade als er widersprechen wollte.

»Komm mit mir eislaufen«, bat er dann leise. Jannis schnaubte und nahm noch einen Bissen Lasagne.

»Na schön. Aber wehe du lachst. Ich bin ein absoluter Grobmotoriker!«

»Das ist ok für mich. Irgendwie finde ich das süß«, meinte Kolja scheinheilig. Jannis schoss augenblicklich die Röte in die Wangen.
 

»Ich bin nicht süß«, brummte er ungehalten.
 

»Sicher. Ich auch nicht. Und die Cola auch nicht.«

Fotos auf Eis

An dieser Stelle danke für all die Kommentare zum letzten Kapitel. Und an alle, die Kryptonit immer kommentieren: Danke auch für diese Kommentare. Ich habs einfach mal wieder aus Zeitgründen nicht geschafft, mich für jeden Kommentar zu bedanken. Das Kapitel ist für inkheartop & Myrin.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen, auch wenn draußen Frühling und nicht tiefster Vorweihnachtswinter ist :)

Liebe Grüße :)

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»Eislaufen… ich hab dich noch nie eislaufen gesehen«, sagte Marek halb erstaunt und halb interessiert. Jannis sah ihn missmutig an. Mittlerweile erschien ihm Koljas Idee geradezu halsbrecherisch.

»Ich bin auch noch nie eislaufen gewesen. Wahrscheinlich mache ich mich total zum Affen«, meinte er und seufzte abgrundtief. Marek schien das alles besonders amüsant zu finden, denn er schmunzelte stumm vor sich hin und schlürfte genüsslich an seinem Milchshake. Sie saßen zu allem Überfluss in der Subwayfiliale, in der Kolja arbeitete. Marek hatte auf sein obligatorisches Thunfischbaguette bestanden und Kolja stand hinter dem Tresen und grinste ab und an zu ihnen herüber. Jannis kam sich beinahe vor wie ein Stalker. Dabei war das sonst eher Koljas Masche.

»Nett von ihm, dass ich meinen Milchshake hier mit reinnehmen durfte«, entgegnete Marek ohne auf Jannis’ dunkle Prognose einzugehen. Er drehte sich auf seinem Stuhl zum Tresen um und strahlte zu Kolja hinüber, der ohne Umschweife winkte.
 

»Du könntest ein wenig… unauffälliger sein«, knirschte Jannis durch zusammen gepresste Zähne und verdrehte die Augen, als Marek ihn mit Unschuldsmiene ansah.

»Wie läuft es übrigens bei dir und Sebastian?«, fragte Jannis ungnädig. Mareks Gesichtsausdruck fiel in sich zusammen und Jannis bereute seine kleine Gemeinheit sofort.

»Was soll da laufen? Du weißt doch, dass ich keinen Kontakt mehr zu ihm habe«, murmelte Marek und schob sich den letzten Bissen Baguette in den Mund.

»Ich nehme mal an, dass er trotzdem noch nicht aufgegeben hat, oder?«, wollte Jannis wissen. Vielleicht würde er Marek irgendwann einmal erzählen, dass Sebastian bei ihm gewesen war und ihn um Rat gebeten hatte. Aber heute war eindeutig nicht der richtige Tag dafür. Womöglich würde Marek ihm die Freundschaft kündigen, wenn er erfuhr, dass Jannis hinter seinem Rücken mit Sebastian geredet und ihm zu allem Überfluss auch noch dazu geraten hatte, Marek nicht aufzugeben.
 

»Nein, hat er nicht. Ich kann’s nicht fassen, wie jemand so viel Ausdauer haben kann«, nuschelte Marek mit seinem rotweiß gestreiften Strohhalm im Mund. Sein Blick ging in die Ferne und Jannis war sich ziemlich sicher, dass Marek sich an die Zeit erinnerte, in der er noch mit Sebastian zusammen gewesen war. Er kannte seinen besten Freund gut genug, um zu erkennen, dass Marek den anderen vermisste. Denn so hatte er ihn noch nie gesehen. Normalerweise war Marek kein besonders gefühlsbetonter Mensch. Genauso wenig wie Jannis. Er linste hinüber zum Tresen, wo Kolja gerade einer Horde pubertierender Kerle Baguettes verkaufte. Kolja war nett zu jedem. Selbst zu diesem lärmenden Pulk. Er versuchte sich einen Beruf für Kolja vorzustellen, in dem er später nach dem Studium arbeiten könnte. Aber ihm wollte partout nichts einfallen, was zu seinen Studiengängen passen würde. Er sah Kolja eher in einem Altenheim oder in einem Kindergarten, wo er möglichst nett zu möglichst vielen Menschen sein konnte.

»Das zeigt dann wohl, dass er wirklich sehr verliebt in dich ist und es ernst meint«, entgegnete Jannis halb in Gedanken vertieft. Kolja bemerkte seinen Blick und strahlte ihn an, dass Jannis spürte, wie sein Magen leicht zu kribbeln begann. Das erschien ihm ein gruseliges und unheilschwangeres Zeichen zu sein.
 

Er nahm einen Schluck von seinem Wasser, das er zu seinem Baguette bestellt hatte und betrachtete nun lieber wieder Marek, bevor Kolja noch auf dumme Gedanken kam und am Ende noch dachte, dass Jannis ihn aus der Ferne anhimmelte. Grässliche Vorstellung.

»Ja…«, murmelte Marek. Er stocherte mit seinem Strohhalm in dem Milchshake herum und es sah nicht mehr so aus, als hätte er noch große Lust ihn zu trinken. Jannis bekam prompt ein schlechtes Gewissen, weil er mit Sebastian angefangen hatte.

»Du solltest ihm eine Chance geben«, meinte Jannis resignierend. Jetzt, wo sie schon einmal dabei waren das Thema durchzukauen, konnte es nicht noch schlimmer werden. Mareks Augen huschten hinauf zu Jannis’ Gesicht.

»Früher hätte ich einfach sagen können, dass du keine Ratschläge austeilen sollst, die du selbst nicht befolgst«, meinte er beinahe ein wenig kläglich und sah wieder hinüber zu Kolja, »aber mittlerweile geht das nicht mehr. Du hast Kolja eine Chance gegeben.«

Jannis räusperte sich peinlich berührt.

»Ja… irgendwie schon«, brummte er verlegen.
 

»Und? Hat es sich gelohnt?«, wollte Marek nachdenklich wissen und legte den Kopf schief, als er Jannis erneut musterte. Jannis blinzelte.

»Ähm…«, begann er und seine Augen streiften kurz Koljas Gesicht, ehe sie sich wieder Marek zuwandten, »bisher… bereue ich es nicht.«

Er würde jetzt sicherlich nicht sentimental werden und Marek von den Gefühlen erzählen, die sich in ihm breit machten, seit er sich nicht mehr so gegen Koljas Eindringen in sein Leben sperrte. Marek lächelte kaum merklich.

»Das heißt also, dass es sich absolut gelohnt hat«, antwortete er. Jannis grummelte. Wieso musste Marek immer seine Gedanken lesen, das war wirklich nicht zum Aushalten. Und Kolja konnte das auch, als würde er ihn schon ewig kennen. Das konnte dann wohl nur daran liegen, dass er entweder sehr leicht zu durchschauen war, oder daran, dass Marek und Kolja eine ziemlich gute Menschenkenntnis besaßen. Er hoffte inständig, dass zweiteres zutraf.
 

»Wollen wir?«, fragte Marek als nächstes und wieder einmal tat er so, als hätten sie sich vorher über nichts Besonderes unterhalten. Jannis war zunächst leicht verwirrt, dann nickte er.

»Ja, von mir aus.«

Sie nahmen ihre Tabletts und trugen sie hinüber zum Abstellwagen, dann hob Jannis zu Kolja gewandt die Hand. Kolja winkte ihn zu sich herüber. Jannis sah Marek an, der plötzlich großes Interesse an einem Werbeplakat für Studenten- und Schülerrabatte zeigte und ging hinüber zu Kolja.

»Krieg ich einen Kuss zum Abschied?«, wollte er grinsend wissen. Jannis spürte, wie sein Herz ihm in die Kehle sprang und sein Gesicht heiß wurde.

»Wir sind hier in der Öffentlichkeit!«, zischte er über den Tresen. Kolja gluckste heiter.

»Na und? Von mir aus kann ruhig jeder wissen, dass wir zueinander gehören«, gab er leichthin zurück.

»Wir gehören gar nicht richtig zueinander, wir… testen nur, wie es wäre, wenn wir zueinander gehören würden«, flüsterte Jannis eindringlich. Kolja schmunzelte.

»Na gut, dann eben kein Kuss. Wir sehen uns ja später, ich hol dich um halb fünf ab«, sagte Kolja bestens gelaunt. Jannis schauderte bei dem Gedanken daran, dass er sich nachher auf Schlittschuhen die Beine brechen würde.
 

Er drehte sich entschlossen um und stapfte hinüber zu Marek, der ihm grinsend die Tür aufhielt.

»Was wollte er?«, erkundigte er sich gespannt.

»Einen Abschiedskuss«, brummte Jannis ungehalten. Marek kicherte leise.

»Ich sehe, du musst noch ein wenig an dieser Beziehungssache arbeiten«, meinte er.

»Das ist keine Beziehung, klar? Das ist so was wie ein… Vorstadium zum Erproben von…«

Marek lachte und Jannis brach ab.

»Sehr witzig«, knurrte er verlegen. Marek legte ihm einen Arm um die Hüfte und sah ihn feixend an.

»Schreib Kolja eine SMS, er soll eine Kamera mit zum Eislaufen nehmen. Ich will Bilder davon sehen!«

Jannis fiel nichts dazu ein. Eislaufen. Das würde ein Desaster werden.
 

Als Kolja ihn um halb fünf abholte, war es draußen bereits fast ganz dunkel und klirrend kalt. Jannis hatte sich in seinen Wintermantel gehüllt, einen dicken Schal um den Hals gewickelt und seine Hände in den Manteltaschen vergraben. Kolja hatte eine Strickmütze auf und sah so begeistert aus, dass Jannis unweigerlich den Drang hatte, wieder zurück in seine Wohnung zu verschwinden. Wahrscheinlich hatte Kolja das schon vierhundert Mal gemacht und er stand neben ihm wie der letzte Trottel da. Ihr Atem stieg vor ihnen auf wie hastig verschwindender Nebel.

»Ich hab meine Digicam mitgenommen«, verkündete Kolja Jannis, kaum dass sich die Haustür hinter ihm geschlossen hatte. Jannis stöhnte auf. Er hatte Kolja extra nichts davon erzählt, was Marek gesagt hatte. Offenbar hatten die beiden in einigen Dingen die gleichen Gedankengänge.

»Ich warne dich! Wenn du mich knipst während ich auf dem Hintern über das Eis rutsche, dann erwürge ich dich«, warnte er Kolja und der lachte leise. Dann legte er tatsächlich den Arm um Jannis und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.
 

Sein Kopf stand garantiert in Flammen und seine Lippen brannten. Er räusperte sich und fuhr sich mit den Fingern über die Lippen.

»Keine Sorge. Aber ich will unbedingt ein Foto von uns beiden«, sagte Kolja enthusiastisch und sie gingen nebeneinander her die Straße hinunter.

»Am besten wäre es, wenn ich auf allen Vieren über das Eis krieche«, murmelte er und zog ein wenig die Schultern hoch. Es war wirklich sehr kalt. Vielleicht gab es an Weihnachten Schnee. Aber das würde ihn auch nicht darüber hinwegtrösten, dass er drei Tage lang mit seinen Eltern verbringen musste. Und es war bereits der neunzehnte Dezember…

»Ach Quatsch. Ich war auch erst einmal eislaufen. Wenn es dich beruhigt, ich hab mich damals ungefähr zwanzig Mal auf die Klappe gelegt«, meinte Kolja unbeschwert. Jannis fragte sich, wie jemand so gut gelaunt sein konnte angesichts der Tatsache, dass er sich bald extrem lächerlich machen würde.

»Das beruhigt mich nur mäßig. Dir scheint es ja nichts auszumachen, dich lächerlich zu machen. Mir macht das durchaus was aus«, sagte Jannis ungnädig. Kolja wiegte leicht den Kopf hin und her.

»Bleib kurz stehen«, sagte er dann. Jannis runzelte die Stirn und tat wie geheißen.
 

Im nächsten Moment fand sich Jannis an einer Hauswand wieder und Koljas Lippen pressten sich innig auf seine. Sofort schaltete sich sein Denken aus und er erwiderte den Kuss ungewollt verlangend. Er würde sich wohl nie daran gewöhnen. An diese körperliche Nähe, die immer und überall passieren konnte. Als Kolja sich von ihm löste, hatte Jannis ein deutliches Problem in der Hose und ein heftig bollerndes Herz in der Brust.

»So, Denken abgestellt. Jedes Mal, wenn du denkst, dass dir irgendwas peinlich sein muss, knutsche ich dich in Grund und Boden«, sagte Kolja und leckte sich kaum merklich über die Lippen. Jannis wollte antworten, aber seine Stimme hatte sich offenbar in Luft aufgelöst. Kolja war einfach ungeheuerlich. Das hatte er von Anfang an gewusst. Allerdings war sich Jannis beinahe sicher, dass es nur noch schlimmer mit ihm wurde. Leise grummelnd folgte er Kolja weiter die Straße hinunter.

»Was wünscht du dir eigentlich zu Weihnachten?«, wollte Kolja plötzlich wissen und sah ihn gespannt von der Seite an. Jannis blinzelte verwirrt.

»Wünschen? Zu Weihnachten? Nichts«, meinte er. Er und Marek schenkten sich nichts zu Weihnachten und seine Eltern kauften ihm ohnehin nichts. Jannis wollte nichts geschenkt bekommen.
 

»Wieso nicht? An Weihnachten macht man Menschen, die man mag, eine Freude«, gab Kolja zurück und schob seine Hände in die Hosentaschen. Jannis schnaubte.

»Weihnachten war nie dazu gedacht, sich gegenseitig mit Geschenken zu überhäufen«, sagte er. Kolja grinste.

»Bist du Christ?«, erkundigte er sich interessiert. Jannis zuckte die Schultern.

»Nicht so richtig. Wohl eher Agnostiker«, entgegnete er. Kolja lächelte stumm vor sich hin.

»Was ist daran so lustig?«, wollte er zerknirscht wissen.

»Ich finde nur, dass es zu dir passt. Feierst du Weihnachten bei deinen Eltern?«, fragte er dann und seine Stimme wurde behutsam, als wäre er nicht sicher, ob er Jannis darauf ansprechen durfte.

»Ja. Ich fahr am dreiundzwanzigsten mit dem Zug hin«, erwiderte er und bei dem Gedanken daran wurde ihm ziemlich elend zumute. Kolja blickte erstaunt drein.

»Kommst du da denn hin, mit dem Zug? Jetzt wo überall diese Baustellen sind?«, fragte er und Jannis runzelte die Stirn. Baustellen?

»Baustellen? Wieso weiß ich davon nichts?«
 

Sie bogen um eine Ecke und befanden sich auf der Hauptverkehrsstraße, an der auch die Eislaufbahn gelegen war. Viele Autos rauschten an ihnen vorbei, auf der anderen Straßenseite sah Jannis die bunten Lichter des Weihnachtsmarktes. Viele Leute waren unterwegs, einige kamen ihnen mit Schmalzkuchen oder Crêpes entgegen.

»Vielleicht weil du schon länger nicht mehr Zug gefahren bist?«, schlug Kolja schmunzelnd vor. Jannis stöhnte.

»Meine Mutter zerfleischt mich, wenn das mit Weihnachten nicht klappt«, sagte er. Nicht, dass er etwas dagegen hätte, nicht mit seiner Familie zu feiern. Aber da er schon den Geburtstag seines Vaters geschwänzt hatte, wollte er sich lieber nicht vorstellen, was seine Mutter sagen würde, wenn er auch Weihnachten verpasste. Eigentlich sollte es ihm wohl egal sein, was seine Eltern dachten. Aber irgendwie war er noch nicht so weit, sich von ihnen loszusagen. Dunkel fragte er sich, wann dieser Tag kommen würde.
 

»Du könntest bei uns Weihnachten feiern«, warf Kolja beiläufig ein. Er sah Jannis nicht an, aber Jannis erkannte aus dem Augenwinkel, dass Kolja verlegen aussah.

»Ehrlich, meine Mutter bringt mich um. Außerdem würde ich euch die Stimmung versauen. Ich hab mit Weihnachten nichts am Hut«, entgegnete er und betrat den Eingangsbereich der großen Eishalle. Viele junge Leute tummelten sich hier, Eltern mit Kindern und einige Pärchen. An der Kasse, wo man sich die Schlittschuhe ausleihen konnte, stand eine lange Schlange und sie reihten sich ein.

»War nur eine Idee. Wenn das mit dem Zug wirklich nicht klappt, dann könnte ich dich hinfahren. Solang es nicht geschneit oder geregnet hat«, schlug Kolja vor und kramte in seiner Hosentasche nach seinem Portemonnaie.

»Du hast ein Auto?«, erkundigte sich Jannis verwundert und zog ebenfalls sein Portemonnaie hervor.

»Ein Motorrad«, erwiderte Kolja grinsend. Jannis starrte ihn an.

»Du glaubst ich setze mich freiwillig auf so ein Mörderding?«, stieß er ungläubig hervor. Kolja lachte.

»Ich bin ein guter Fahrer«, versicherte er Jannis und zahlte der rundlichen Frau hinter der Kasse den Eintritt für sie beide. Jannis stopfte sein Portemonnaie grummelnd zurück in die Tasche. Er war der mit dem Geld. Wieso musste Kolja immer für ihn bezahlen? Er war doch kein Mädchen…
 

Nachdem sie ihre Schuhgröße genannt und die Schlittschuhe entgegen genommen hatten, betrachtete Jannis misstrauisch die glänzenden Kufen.

»Ich werde mir alles brechen«, murmelte er und stakste mit Kolja zusammen hinüber zur Eisfläche, auf der sich einige Menschen tummelten. Auf den Tribünen ringsum saßen Familien und aßen Brötchen oder Schokolade.

»Wenn wir fallen, dann werfe ich mich ritterlich unter dich, um dich aufzufangen«, feixte Kolja, setzte beherzt einen Fuß aufs Eis und zog Jannis mit sich. Jannis stolperte beinahe, dann stand er leicht schwankend und bemühte sich, seine Balance zu wahren. Es war wirklich sehr rutschig. Er sah sich um und beobachtete zwei Jungs, die wie der Blitz über das Eis rasten. Er atmete einmal tief durch und schob seine Füße vorwärts. Eigentlich ging es ganz gut. Kolja kam ihm nach und wedelte ab und an mit den Armen, wenn er das Gleichgewicht zu verlieren drohte.

»Du kannst das viel besser als ich«, klagte Kolja lachend und Jannis war ziemlich begeistert von sich selbst. Er konnte Schlittschuhlaufen. Langsam drehte er eine Runde und verkniff sich hin und wieder ein Schmunzeln, wenn Kolja stolperte und mit seinen Armen ruderte, als wäre er eine lebende Windmühle.
 

Als er das nächste Mal aufsah, hatte Kolja seine Kamera in der Hand und ehe er es sich’s versah, drückte Kolja auf den Auslöser und Jannis brummte.

»Lass das, ich bin unfotogen!«, meckerte er. Kolja grinste breit, kam zu ihm herüber und stellte sich neben ihn. Als er beinahe ausrutschte, hielt Jannis ihn unweigerlich fest. Sein Herz machte einen überdimensionalen Sprung.

»Lächel mal«, forderte Kolja ihn auf und Jannis schaffte tatsächlich ein halbes Lächeln, das sich jedoch in heillose Verlegenheit verwandelte, als Kolja ihm einen Kuss auf die Wange drückte und den Auslöser genau in diesem Moment betätigte. Dann schaute er sich das Bild auf dem Display der Kamera an und lachte leise. Jannis beugte sich vor und stöhnte. Er sah aus wie eine reife Tomate.

»Lösch das«, bat er kläglich. Kolja schüttelte grinsend den Kopf.

»Mach schon«, drängelte Jannis. Doch Kolja fuhr ihm davon und wedelte lachend mit der Kamera in der Luft herum. Jannis grummelte leise in sich hinein, dann folgte er Kolja über das Eis.
 

Es stellte sich heraus, dass er schneller war als Kolja und einen sehr viel besseren Gleichgewichtssinn hatte. Das rettete ihn allerdings nicht davor, von Kolja in die Tiefe gerissen zu werden, als dieser sich rücklings auf den Hintern setzte und sich an Jannis festhalten wollte.

»Danke«, brummte Jannis, aber dann musste er verdruckst lachen. Kolja sah ihn an, als wäre er der Weihnachtsmann.

»Du hast gelacht«, meinte er und seine Augen leuchteten Jannis an wie ein Atomkraftwerk. Jannis bemühte sich, sich das Grinsen zu verkneifen. Sein Hintern tat weh und er rappelte sich eilends wieder auf.

»Musst du dir eingebildet haben«, gab er möglichst würdevoll zurück, schnappte Kolja die Digicam, die der Blonde bei seinem Fall schützend in die Höhe gehalten hatte, aus den Händen.

»Hey! Gib das zurück!«, rief Kolja lachend und versuchte sich aufzurappeln, rutschte dabei beinahe wieder aus und Jannis fuhr breit schmunzelnd davon. Es fühlte sich beinahe so an, als wäre sein Gesicht eingerostet gewesen. Er schaltete die Kamera an, hob sie in die Höhe und schoss ein Bild von Kolja, der lachend und fluchend über das Eis rutschte, weil er es nicht schaffte aufzustehen. Eislaufen war doch gar nicht so schlecht, wie er gedacht hatte.

Fröhliche Weihnachten

So. Ein sehr kurzes, inhaltsträchtiges Kapitel, für das ihr mir alle den Kopf abreißen werdet. Ich wünsche trotzdem viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße und einen guten Start in die Woche :)

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»Die Züge fallen aus… Bis zum fünften Januar.«
 

»Und was soll das nun heißen?«
 

»Das soll heißen, dass ich mit dem Zug nicht kommen kann. Was denn sonst?«
 

Er konnte es nicht fassen. Seine Mutter tat gerade so, als hätte er selbst die Schienen manipuliert, damit die Züge auch bloß nicht dahin fuhren, wo er hinfahren musste. Nicht, dass er besonders traurig darüber wäre, dass überall Baustellen waren, aber dass seine Mutter nun so vorwurfsvoll mit ihm sprach, als wäre er verantwortlich… das nervte ihn gewaltig.

»Du warst schon zum Geburtstag deines Vaters nicht da«, erinnerte ihn seine Mutter frostig wie der Dezemberabend draußen.

»Ja, ich erinnere mich dunkel«, gab er ungehalten zurück, »wenn es am dreiundzwanzigsten nicht schneit, dann werde ich gefahren. Von einem… Freund.«
 

Seine Mutter schwieg einen Moment lang und Jannis hoffte beinahe schon, dass es am dreiundzwanzigsten richtig stürmen und schneien würde. Er war ohnehin skeptisch, was Koljas Motorrad anging, aber er war noch nie auf so einem Ding gefahren. Vielleicht war es ja nicht so schlimm, wie er es sich vorstellte. Eigentlich stellte er es sich hauptsächlich windig vor.

»Aha. Na hoffentlich kann dein Freund anständig fahren«, sagte seine Mutter schnippisch. Jannis beschloss, dass er auf dieses Gespräch keine Lust mehr hatte,

»Ich denke schon. Ich werd am dreiundzwanzigsten Bescheid sagen, wie das Wetter aussieht und ob ich kommen kann. Bis dann!«

Und er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
 

Er ging ins Schlafzimmer und setzte sich an seinen Laptop. Lana sprang auf seinen Schoß und bohrte ihre Krallen durch seine Hose. Er grummelte leise und warf ihr einen strengen Blick zu, doch sie schnurrte nur zufrieden und drückte ihre beiden Vorderpfoten abwechselnd in seinen Bauch.

Er fand drei neue Emails und runzelte leicht die Stirn. Eine davon war von Kolja und sie enthielt einen Anhang. Verwirrt öffnete er sie.

»Danke für den schönen Abend!«

Ausnahmsweise eine sehr kurze und prägnante Nachricht von Kolja. Normalerweise neigte er dazu, viel zu reden. Jannis öffnete den Anhang und lief im nächsten Moment scharlachrot an. Auf seinem Desktop öffnete sich das Foto, welches Kolja von ihnen beiden geschossen hatte. Seine Wangen waren auf dem Bild arg gerötet, Koljas Kussmund konnte sein Schmunzeln nicht ganz verbergen und seine blonden Haare schauten unter seiner grässlichen, grünen Strickmütze hervor. Jannis hatte den Mauspfeil schon auf ›löschen‹ geschoben, als er es sich doch anders überlegte. Außer ihm sah ja niemand, wie bescheuert er auf diesem Bild aussah…
 

Marek kam an diesem Abend zum Essen zu ihm. Er schnappte sich eine Wolldecke von Jannis, kuschelte sich in den Sessel und ließ sich von Jannis eine Tasse Tee reichen. Er sah nicht besonders gut gelaunt aus und Jannis wusste wieso. Es gab eine Zeit im Jahr, zu der Marek brummig wurde. Und das war Weihnachten. Seit er sieben Jahre alt war, hatte er niemanden mehr gehabt, mit dem er Weihnachten hätte feiern können. Selbst nachdem er Jannis kennen gelernt hatte, hatte sich das nicht geändert, da Jannis jedes Jahr dieses schreckliche Truthahnessen über sich hatte ergehen lassen. Meistens hatten er und Marek sich erst nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag sehen können. Und schon damals hatten sie abgemacht, sich nichts zu schenken, da sie beide nichts von all diesem Weihnachtsbrumborium hielten.
 

Er beobachtete Marek dabei, wie er schweigend seinen Tee schlürfte. Dann hatte er plötzlich den Drang etwas zu sagen, das ihm just in diesem Augenblick in den Sinn kam.

»Wie wäre es, wenn wir nächstes Jahr zu zweit Weihnachten feiern? Ich fahr nicht mehr zu meinen Eltern, da hab ich sowieso keine Lust drauf. Und wir kaufen einen Baum und schenken uns doch mal was…«

Marek blinzelte und sah ihn über den Rand seiner Teetasse hinweg an.

»Wir hassen Weihnachten«, erinnerte Marek ihn verwundert. Jannis zuckte mit den Schultern.

»Wir hassen es doch nur, weil wir nie richtig feiern konnten. Mit Familie oder Leuten, die wir mögen«, gab er zurück. Marek schwieg einen Moment, dann lächelte er kaum merklich und nahm noch einen Schluck Tee.

»Kolja hat ja einen ziemlichen Einfluss auf dich«, sagte er. Nun war es an Jannis zu blinzeln.

»Was hat das mit Kolja zu tun? Ich hab keine Lust auf meine Eltern und auf Anitas Truthahn, du bist immer schlecht drauf, weil du Weihnachten allein bist…«, sagte er. Marek kicherte leise und stellte seine Teetasse beiseite.
 

»Ja, ok. Das hat nichts mit Kolja zu tun«, meinte Marek, doch das amüsierte Funkeln in seinen Augen strafte die Aussage Lügen.

»Vielleicht wäre es wirklich nett mit dir zu feiern. Wir könnten Kekse backen. Oder Lebkuchen. Und Lichterketten aufhängen und Weihnachtslieder hören«, überlegte Marek laut. Jannis meinte ein ziemlich vorfreudiges Funkeln in Mareks Augen zu sehen, was ihn ungemein freute. Es war ohnehin Zeit, dass er sich von seinen Eltern löste. Sie würden niemals stolz auf ihn sein, soviel war sicher. Er hätte es schon früher tun sollen. Aber aus irgendwelchen seltsamen Gründen war ihm der Gedanke erst wirklich klar und vernünftig erschienen, seit er… ja. Seit er mehr mit Kolja zu tun hatte. Seit er gesehen hatte, wie eine richtige Familie sein sollte. Er hasste jedes Treffen mit seinen Eltern, er war froh über jede Möglichkeit, diesen Treffen zu entkommen. Dieses Weihnachten noch und dann war es genug.

»Danke, dass du das vorgeschlagen hast«, sagte Marek leise und lächelte zu ihm herüber, »ich freu mich grade das erste Mal auf Weihnachten.«

Jannis lächelte zurück. Ja, wenn er darüber nachdachte, dann gefiel ihm dieser Gedanke wirklich gut. Vielleicht würde er Weihnachten dann das erste Mal in seinem Leben genießen.
 

Wie es sich herausstellte, konnte das Wetter Jannis nicht besonders gut leiden. Der dreiundzwanzigste Dezember brach klar und sonnig und klirrend kalt an. Keine Spur von Schnee, Regen, oder auch nur dem leichtesten Hauch von Frost. Brummend frühstückte er, dann schrieb er Kolja eine SMS und fragte ihn, ob sein Angebot mit dem Motorrad noch stand. Natürlich tat es das… was hatte er auch anderes erwartet? Kolja war einfach zu nett. Wohl oder übel rief Jannis seine Mutter an und erklärte ihr, dass er nun tatsächlich kommen würde. Dunkel kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht tagelang bei seinen Eltern feststecken würde, wenn es nach Weihnachten schneite oder Kolja keine Zeit hatte, dann kam er nicht weg. Eine wirklich grausige Vorstellung, die seine Laune noch weiter in die Tiefe zog.
 

»Das Angebot steht noch«, erklärte Kolja, als sie sich mittags trafen. Jannis sah ihn verwirrt an, den Motorradhelm in den Händen und dick eingehüllt in mehrere Schichten Kleidung.

»Welches Angebot?«, fragte er und betrachtete den kobaltblauen Helm in seinen Händen. Damit würde er garantiert total bescheuert aussehen. Aber Gott sei Dank saß er hinter Kolja und niemand kannte ihn… Unschlüssig hob er den Helm und zog ihn sich über den Kopf. Es war ein wenig eng im Helm und seine Wangen wurden leicht zusammen gedrückt. Peinlicher konnte es kaum werden.

Kolja schmunzelte amüsiert, streckte die Hände aus und versiegelte den Verschluss des Helms unter Jannis’ Kinn.

»Dass du Weihnachten bei uns feiern kannst«, erwiderte Kolja und setzte seinen eigenen schwarzen Helm auf. Dann klappte er das Visier hoch und zog sich Handschuhe an. Jannis musste zugeben, dass Kolja in seiner schwarzen Motorradkluft ziemlich gut aussah. Der Helm verhinderte Gott sei Dank, dass Kolja seine errötenden Wangen sah, während er dies dachte.
 

»Danke, das ist nett. Aber ich hab gestern einen Deal mit Marek gemacht. Dieses Weihnachten ist das letzte mit meinen Eltern und nächstes Jahr feiere ich dann mit ihm zusammen«, sagte er und musterte nun das Motorrad, das passend zu Koljas Helm pechschwarz war und so aussah, als würde Kolja es regelmäßig putzen.

Kolja lächelte.

»Na ok. Dann drück ich dir schon mal die Daumen, dass deine Eltern diese Nachricht nicht allzu schlecht aufnehmen«, sagte er, setzte sich rücklings auf die Maschine und Jannis zögerte einen Moment, dann nahm er hinter Kolja auf dem Motorrad Platz.

»Danke. Aber ich glaube, dieses Daumendrücken ist vergeblich«, sagte er grimmig und schaute nach unten, wo er zwei kurze Stangen sah, auf denen er seine Füße abstellen konnte.

»Es gibt nichts, worauf du achten musst, außer einer Sache«, sagte Kolja von vorne und Jannis beugte sich leicht zur Seite. Seine Hände ruhten auf Koljas Hüften.

»Du musst dich in den Kurven mit mir zur Seite lehnen. Egal wie tief das Ding runtergeht, ok? Man kippt nicht um, aber wenn du dich in die andere Richtung lehnst, dann fliegen wir aus der Kurve«, erklärte Kolja. Jannis nickte seufzend.

»Das werd ich wohl grad noch schaffen«, sagte er und war in Gedanken schon wieder bei dem bevorstehenden Essen mit seinen Eltern.
 

Motorradfahren war nicht so schlecht, wie Jannis gedacht hatte. Es zog zwar ziemlich, aber durch seine dicke Kleidung drang kaum Kälte. Die Kurven, die sie fuhren, waren nicht so schlimm, wie er gedacht hatte. Als sie schließlich auf der Autobahn waren, ging es ohnehin nur noch geradeaus.

Jannis beobachtete, wie sich die Motorradfahrer gegenseitig grüßten, wenn sie aneinander vorbeifuhren. Kolja streckte dann eine Hand aus, als würde er beim Fahrradfahren abbiegen wollen. Jannis fand das merkwürdig, aber er hatte von diesen Dingen natürlich keine Ahnung. Jannis wusste, dass es kaum noch zehn Minuten waren, bis sie ankommen würde. Als Kolja sich in die Kurve der schneckenartigen Autobahnausfahrt legte, bemerkte Jannis das erste Mal, was Kolja gemeint hatte. Die Kurve war extrem eng und es ging ununterbrochen im Kreis, als würden sie in einer ewigen Spirale fahren. Die Maschine lag so tief auf der Seite, dass Jannis unweigerlich Angst in sich hochkochen spürte. Er bemerkte kaum, wie er sich gegen die Kurvenrichtung legte.
 

Das Motorrad schlingerte, Jannis sah noch das Ende der Ausfahrt auf sie zukommen. Dann spürte er nur noch, wie das Motorrad unter ihm wegsackte und er durch die Luft flog. Er krachte auf den Boden, dumpf hörte er von irgendwo ein lautes Krachen, ein Scheppern und ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Körper, als er noch ein Stück weiterrollte und mit dem linken Arm gegen einen Baum stieß.

Alles um ihn herum drehte sich, sein Herz hämmerte heftig und schmerzhaft. Vor seinen Augen verschwamm der Rasen, auf dem er gelandet war. Er wollte den Kopf heben, doch alles tat weh und er fühlte, wie sein ganzer Körper heftig zitterte. Der Schmerz in seinem Arm wurde beinahe unerträglich und er dachte benebelt ›Fröhliche Weihnachten‹, bevor ihm schließlich schwarz vor Augen wurde.

Heiligabend mit Schuldgefühlen

Für Aurea :)

Viel Spaß beim Lesen wünsche ich euch!

Liebe Grüße :)

_________________________
 

»You better watch out,

you better not cry,

you better not pout

I’m telling you why...«
 

Kalt glitzernder Christbaumschmuck. Geruch nach Truthahn. Künstlich lachende Stimmen, vermischt mit standardisierten Weihnachtsliedern…
 

»He sees you when you're sleeping

He knows when you're awake

He knows if you've been bad or good

So be good for goodness sake…«
 

Fragen über die Schule, über die Zukunftspläne. Lügen. Erwartungen.

»Noch ein Glas Punsch, Jannis?«

Nein. Nein, er mochte keinen Punsch. Und keinen Truthahn. Er war Vegetarier, seit er sieben war, wieso merkte sich das niemand?
 

»Geh und sag Onkel Rainer ›Hallo‹ und sag ihm, wie gern du später mal bei ihm arbeiten würdest.«

Er wollte nicht bei Onkel Rainer arbeiten. Er wollte allein sein, allein mit seinen Büchern und mit Marek. Wieso verstand das niemand?
 

»Santa's a busy man, he has no time to play

He's got millions of stockings to fill on Christmas day…«
 

Sein Körper fühlte sich schwer an, sein Kopf war wie betäubt. Er konnte kaum denken. Es war warm und weich und alles tat ihm weh. Wie durch einen Schleier aus dicker Watte hörte er, wie ein leises Stöhnen seine Lippen verließ. Er hatte vergessen, wie man die Augen öffnete. Wieso war er so müde? Ein leises, stetes Piepen drang an seine Ohren und endlich, unendlich langsam öffneten sich seine Augen und er sah verschwommen eine weiße, kalte Decke über sich. Er hatte keinen blassen Schimmer, wo er war. Sein Kopf brummte wie verrückt. Nur nach angestrengtem Nachdenken fiel ihm ein, wie er hieß und an was er sich als letztes erinnerte. Er erinnerte sich daran, dass er sich mit Kolja getroffen hatte, dass Kolja ihm angeboten hatte, mit ihm und seiner Familie Weihnachten zu feiern… aber danach war alles verschwommen. Weg. Verschwunden. Er wusste nicht, wie er hierher gekommen war.
 

Langsam drehte er den Kopf zur Seite, um mehr von dem Raum zu erhaschen, in dem er lag. Sein Nacken und sein Kopf protestierten lautstark, doch Jannis achtete nicht darauf. Sein Blick fiel auf einen dunklen Haarschopf und die schmächtige Gestalt eines jungen Mannes, den er sehr gut kannte.

Mareks Kopf lag auf seinen überkreuzten Armen. Seine dunklen Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Offensichtlich schlief er sitzend an dem Bett, in dem Jannis lag. Er wollte die Hand ausstrecken und durch Mareks Haare streichen, aber er konnte seinen Arm nicht bewegen. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass sein Arm in einen dicken Gips gewickelt war.

Er war offensichtlich in einem Krankenhauszimmer. Aber wieso? Und wieso war Marek da? Jannis drehte den Kopf langsam zur anderen Seite und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Seine Augen blieben an einem aschblonden Haarschopf hängen.
 

Auf einem sterilen Kunststoffstuhl, den Kopf an die Wand hinter sich gelehnt und ebenfalls schlafend, saß Sebastian. Er sah blass aus und hatte tiefe Augenringe. Jannis hatte keine Ahnung, wieso Sebastian hier war, bis ihm dämmerte, dass Marek kein Auto hatte. Vielleicht hatte Sebastian Marek hier her gefahren?

Er unterdrückte ein schmerzvolles Geräusch und schloss einen Moment die Augen, um sich zu erinnern. Sein Kopf tat weh. Das Denken tat weh. Undeutlich huschten Bilder durch seine Gedanken. Kolja, der ihm den Motorradhelm unter dem Kinn verschloss. Er war so müde, er wollte wieder einschlafen. Aber er konnte jetzt nicht einschlafen. Er hasste es, die Kontrolle zu verlieren, und in diesem Moment bestand er darauf, sich zu erinnern. Sich nicht zu erinnern war Kontrollverlust.

Er war mit Kolja gefahren. Auf Koljas Motorrad. Es war einen Tag vor Weihnachten und Kolja hatte ihn zu seinen Eltern fahren wollen. Und dann?
 

Jannis zermarterte sich das Gehirn, der Schmerz pochte von innen gegen seine Stirn und die Schläfen.

Und dann, ganz plötzlich, strömte der Gedanke klar und deutlich in sein Bewusstsein. Die Kurve. Koljas Stimme, die in seinem Kopf widerhallte.

»Du musst dich in den Kurven mit mir zur Seite lehnen. Egal wie tief das Ding runtergeht, ok? Man kippt nicht um, aber wenn du dich in die andere Richtung lehnst, dann fliegen wir aus der Kurve.«

Und sie waren aus der Kurve geflogen. Unnatürlich laut hörte Jannis das Krachen und das Scheppern, das sicher vom Motorrad verursacht worden war. Sein Kopf würde sicherlich gleich explodieren. Er musste wissen, was mit Kolja passiert war.

Unter größter Anstrengung wandte er sein Gesicht wieder Marek zu.

»Marek?«, krächzte er, doch seine Stimme war so brüchig und leise, er hörte sie selbst kaum, »Marek, wach auf…«
 

Augenlider flatterten, dann öffneten sich die dunklen Augen seines besten Freundes und ruckartig setzte er sich auf, starrte Jannis mit blassem Gesicht und unendlich besorgtem Gesichtsausdruck an.

»Du bist wach! Soll ich jemanden holen, tut dir was weh?«, fragte er und seine Augen huschten unruhig hinüber zu den Geräten, an die Jannis angeschlossen war.

»Wo ist Kolja?«

Mareks Blick verfinsterte sich und Jannis spürte, wie die Angst vor den kommenden Worten in ihm empor kroch wie ein unaufhaltsamer Nebel am frühen Morgen eines Wintertags.

»Als wir herkamen, war er noch im OP. Seither haben wir nichts mehr gehört, man bekommt ja keine Auskunft, wenn man kein Angehöriger ist«, sagte Marek behutsam. Ein Seufzen sagte ihm, dass Sebastian gerade erwacht war.

»Du bist wach«, sagte er und kam um das Bett herum, stellte sich neben Marek und betrachtete ihn unsicher.

»Ich will wissen, ob’s ihm soweit gut geht«, nuschelte Jannis. Jetzt, da er sich erinnerte, konnte er an nichts anderes denken.

»Ich geh noch mal vorn an der Rezeption nachfragen«, sagte Sebastian und verschwand aus Jannis’ Blickfeld.
 

»Du hast einen gebrochenen Arm und eine Gehirnerschütterung«, sagte Marek und seine Stimme klang ganz zittrig. Jannis interessierte es momentan herzlich wenig, was er für Wehwehchen abbekommen hatte, denn offensichtlich war es nichts Tragisches.

»Wie kommt’s, dass du hier bist?«, wollte er wissen. Das Sprechen war anstrengend, aber er musste wach bleiben. Wenigstens so lange, bis er wusste, was mit Kolja los war.

»Du weißt doch, dass du nur drei Nummern in deinem Handy gespeichert hast. Sie wussten, dass Kolja der Fahrer ist, also haben sie den nicht angerufen. Und deine Mutter steht ja nur unter ihren Initialen drin und nicht unter ›Mama‹ oder so etwas. Also haben sie mich angerufen…«, erklärte Marek mit immer noch brüchiger Stimme. Seine Hand tastete nach Jannis’ Fingern, die zur Hälfte aus dem Gips herausschauten. Mareks Finger fühlten sich eiskalt an.

»Willst du nicht… keine Ahnung. Einen Tee trinken? Du fühlst dich an wie ein Kühlschrank«, murmelte Jannis leise. Wieso war Sebastian so lange weg? Wieso wollte niemand Auskunft über Kolja geben?
 

Doch noch während er das dachte, öffnete sich die Tür und Sebastian kam wieder herein, dicht gefolgt von zwei in weiß gekleideten Krankenschwestern.

»Und?«, wollte er wissen, die Augen auf Sebastian gerichtet. Er beachtete die beiden Frauen nicht, die jetzt die piependen Geräte betrachteten, sich leise unterhielten und dann anfingen, an ihm herumzumachen.

»Also…«, begann Sebastian und sein zögerlicher Tonfall machte Jannis unmissverständlich klar, dass er keine guten Neuigkeiten mitbrachte.

»Sein Vater und seine Schwester sind jetzt bei ihm…«

Jannis sagte nichts, sondern starrte ihn nur an. Sebastian verknotete seine Hände miteinander.

»Sie sagen… na ja, er hat die Vollnarkose nicht gut vertragen. Er ist noch nicht wieder aufgewacht.«
 

Jannis’ Eingeweide verkrampften sich und sein Kopf fühlte sich an, als würde er mit tausenden, kleinen Nadeln durchbohrt. Das Piepen wurde unregelmäßiger.

»Beruhigen Sie sich«, sagte die eine Krankenschwester fachmännisch und fummelte an irgendeinem Schlauch herum.

»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte Jannis und schloss die Augen. Narkose nicht vertragen… noch nicht wieder aufgewacht. Was sollte das nun bedeuten? Koma? Das konnte doch alles nicht wahr sein.

»Welches Datum haben wir?«, wollte er von Marek wissen. Seine Stimme klang brüchig.

»Den… den vierundzwanzigsten«, entgegnete Marek zögerlich. Jannis atmete zittrig ein. Er hatte Kolja Weihnachten versaut. Er hatte ihn ins Koma befördert.

»Es ist Weihnachten«, murmelte Jannis erstickt und schluckte schwer, um das Brennen in seiner Kehle zu unterbinden. Die Krankenschwestern wuselten wieder hinaus und die Tür ging zu.

»Ich sollte derjenige sein, der nicht mehr aufwacht«, flüsterte er heiser, »ich war Schuld.«
 

»Sag so was nicht«, entgegnete Marek heftig und Jannis wagte es, die Augen zu öffnen und seinen besten Freund anzusehen. Mareks Augen sahen ziemlich feucht aus.

»Aber ich war Schuld… ich hab nicht…«

Er brach ab. Immer noch war er schrecklich müde. Aber er konnte jetzt nicht schlafen. Vielleicht wachte Kolja ja doch bald auf? Das wollte er auf keinen Fall verschlafen… Die Tür öffnete sich erneut und ein älterer Mann in weißem Kittel trat ein.

»Herr Hofstetter«, sagte er und kam zum Bett herüber geschritten. Jannis sah ihn nicht an. Er hatte keine Lust mit einem Arzt zu reden. Es sei denn, er wollte ihm sagen, dass Kolja wieder aufgewacht war.

»Zunächst einmal wollte ich mich erkundigen, ob sie Familie haben, die benachrichtig-«

»Nein. Habe ich nicht«, sagte Jannis kurz angebunden.

»Seine Eltern wüssten sicher gern Bescheid«, warf Marek ein und richtete seine Augen auf den Arzt, der nun einigermaßen verwirrt aussah.

»Aber sie sollen nicht kommen. Würden sie vermutlich sowieso nicht. Sagen Sie einfach, dass soweit alles ok ist und ich nicht kommen kann«, meinte Jannis abweisend.
 

Marek seufzte und kramte in seiner Hosentasche. Dann stand er auf, wohl um dem Arzt die Nummer von Jannis’ Eltern zu geben. Jannis hatte Marek die Nummer irgendwann gegeben. Für Notfälle, dachte er verbittert. Er hörte nicht zu, als Marek kurz mit dem Arzt sprach.

»Wie fühlen Sie sich?«, wollte der unbekannte Arzt wissen. Jannis schnaubte.

»Bestens«, sagte er ungehalten. Ein kurzes Schweigen antwortete ihm.

»Herr Reichenau und seine Tochter haben anfragen lassen, ob sie Sie sehen dürfen«, meinte er dann. Jannis starrte ihn an. Koljas Vater und seine Schwester? Wollten ihn sehen?

»Nein.«

Marek sah ihn missmutig an.

»Aber sie machen sich sicher auch Sorgen um dich«, meinte er. Jannis schnaubte.

»Erstens kennen sie mich nicht und zweitens bin ich Schuld daran, dass ihr Sohn im Koma liegt«, gab er zurück.

»Dass Herr Reichenau im Koma liegt, ist die Schuld der Narkose und nicht Ihre«, erklärte der Arzt und war schon wieder auf halben Weg durch das Zimmer.

»Ich werde ausrichten, dass es Ihnen noch nicht gut genug geht, um so viel Besuch auf einmal zu empfangen.«
 

»Die Schuld der Narkose… was für ein ausgemachter Schwachsinn. Wenn ich nicht zu blöd gewesen wäre, mich beim Motorradfahren anständig in die Kurve zu lehnen, dann wären wir gar nicht hier gelandet«, murmelte Jannis mehr zu sich selbst als zu Marek. Sebastian schwieg die ganze Zeit über. Er hatte sich wieder auf den Stuhl sinken lassen, auf dem er vorher geschlafen hatte. Jannis fragte sich dumpf, was seine Eltern sagen würden, wenn das Krankenhaus an Heiligabend bei ihnen anrief, um zu erklären, dass Jannis einen Motorradunfall gehabt hatte. Er stellte fest, dass es ihm völlig egal war, was seine Eltern dazu sagten.

»Du siehst müde aus«, sagte Marek leise und streckte die Hand aus, um Jannis sachte über die Wange zu streicheln. Jannis warf ihm einen kurzen Blick zu, dann wandte er den Kopf ab. Seine Augenwinkel brannten, aber er wollte jetzt nicht auch noch anfangen zu heulen. Also schloss er die Augen und im nächsten Moment wogten der Schlaf und die Erschöpfung über ihn hinweg und rissen ihn mit sich.
 

»Bin ich hier richtig beim Literaturwissenschaftstutorium?«

»Ich hab eine Frage. Hast du eine Freundin?«

»Wenn ich dir ein Getränk spendiere, sagst du mir dann, ob der Typ da drüben dein Freund ist?«

»Wusstest du, dass die Milch, die Kühe geben, rosa wird, wenn die Kuh zu viele Karotten gegessen hat?«

»Kolja. Mein Name ist Kolja.«

»Ich finde dich halt interessant. Am liebsten würde ich alles über dich wissen.«

»Wir gehen also ins Museum, ja? Und seit wann heiße ich Karina?«

»Wie wäre es mit einem Deal? Ich höre nach der Schachtel auf zu rauchen.«

»Wenn ich dich irgendwann mal küssen möchte, dann soll keine Zigarette dazwischen kommen.«

»Ich versuche zu flirten.«

»Danke für den schönen Tag. Ich mag dich wirklich, weißt du?«
 

Jannis schlug die Augen auf. Helles Licht flutete in das Krankenzimmer und kaum dass er erwacht war, hörte er wieder das leise Piepen. Sein Kopf tat immer noch weh, aber nicht mehr so schlimm wie nach seinem ersten Erwachen.

Er registrierte eine Krankenschwester im Zimmer, die gerade eine Spritze aufzog.

»Guten Mittag«, sagte sie freundlich und schlug die Bettdecke ein Stück zurück, um mit der Spritze an ihn heranzukommen.

»Wie lange hab ich geschlafen?«, fragte er und unterdrückte ein Gähnen. In seinem Kopf spukten Erinnerungen an Kolja und er hatte das Gefühl, während des Schlafens ununterbrochen von ihm geträumt zu haben. Ungerührt beobachtete er, wie sie ihm was auch immer in den Arm spritzte.

»Fast einen ganzen Tag lang, seit Sie gestern wach waren«, erklärte ihm die Schwester. Jannis sah sich um. Da standen immer noch zwei Stühle neben seinem Bett, doch von Marek und Sebastian war nichts zu sehen.

»Die beiden jungen Herren sind in der Caféteria und essen Mittag«, erklärte sie ihm, als sie seinen suchenden Blick bemerkte.
 

»Ich möchte aufstehen«, erklärte er ihr. Sie sah ihn blinzelnd an.

»Sie können noch nicht…«, begann sie, doch Jannis schnitt ihr das Wort ab.

»Ich mag Krankenhäuser nicht. Und wenn Sie es nicht erlauben, dann stöpsele ich mich eigenhändig ab und verziehe mich!«, sagte er unfreundlich und sah sie missmutig an, »Ich will Kolja sehen.«

Ihr Blick wurde milder, als er danach fragte.

»Er liegt auf der Intensivstation, wir können nur Angehörigen gestatten-«

»Hören Sie«, sagte er und setzte sich so plötzlich auf, dass die Schwester zusammenzuckte. Alles tat ihm nach dieser Bewegung weh.

»Ich bin Schuld, dass er überhaupt dort liegt. Und ich kenne seine Familie. Fragen Sie von mir aus dort nach, ob sie es mir gestatten. Aber ich will ihn sehen!«

Sie sahen sich einen Moment lang an, doch Jannis würde nicht nachgeben. Und wenn er sich nachts auf die Intensivstation schleichen musste, ihm war das völlig egal. Sie seufzte leise.

»Ich werde Dr. Mertens fragen, was sich machen lässt«, sagte sie und verschwand.
 

Eine Stunde später saß er in einem Rollstuhl und wurde von Schwester Anna – die sich nachträglich vorgestellt hatte – durchs Krankenhaus geschoben. Marek und Sebastian hatten nicht mitkommen dürfen, aber sie wollten in seinem Zimmer auf ihn warten. Jannis’ Herz hämmerte rasend schnell, als sie ihn durch eine Glastür schob, einen Gang entlang und schließlich bis vor eine Zimmertür, auf der in schwarzen Ziffern die Zahl 1013 prangte. Schwester Anna öffnete die Tür und Jannis sah sofort Herrn Reichenau - ebenfalls in einem Rollstuhl - an einem einzelnen Bett sitzen. Auf einem der Plastikstühle, wie Jannis sie ebenfalls in seinem Zimmer hatte, saß Marit. Herr Reichenau wandte sich um, als er die Tür gehen hörte, Marit blickte weiterhin in Richtung Bett.

»Jannis«, sagte er und drehte den Rollstuhl um, während Schwester Anna ihn ins Zimmer schob und die Tür schloss, »wie geht es dir?«

Jannis konnte seine ehrliche Besorgnis kaum ertragen. Verstand dieser Vater denn nicht, dass Jannis seinen Sohn beinahe umgebracht hatte?

»Es geht schon«, sagte er mit trockener Kehle und Marit wandte sich nun auch zu ihnen um. Sie lächelte Jannis an, als sie ihn sah, und machte eine grüßende Handbewegung, die er mit der linken Hand halbherzig erwiderte.
 

Dann fiel sein Blick auf Kolja. Sein blondes Haar lag auf dem weißen Kissen, die Augen waren geschlossen, die Haut blass. Alles in allem sah er aus, als würde er schlafen. Schwester Anna schob Jannis hinüber zum Bett, sodass sein Rollstuhl zwischen Marit und Koljas Vater zum Stehen kam. Er war sich nicht sicher, ob er es sich nur einbildete, aber es sah beinahe so aus, als würde Kolja lächeln. Es war nicht zu fassen. Selbst in so einer Situation hörte dieser Mensch nicht auf zu lächeln.

Jannis spürte, wie seine Augen erneut zu brennen begannen.

»Wir lassen euch beide mal kurz allein«, sagte Herr Reichenau neben ihm und Jannis konnte nicht antworten. Er starrte nur in Koljas Gesicht. Schritte ertönten und dann ging die Tür zu. Auch hier herrschte das stetige Piepen, doch in Koljas Zimmer standen noch mehr Geräte, an Kolja hingen noch sehr viel mehr Schläuche. Er hatte eine aufgeplatzte Augenbraue und eine Schürfwunde auf der linken Wange. Jannis streckte unter größter Anstrengung die linke Hand aus und strich über Koljas rechte, unverletzte Wange. Er wusste, dass Kolja ihn nicht hören konnte, aber Jannis hatte das Gefühl, er müsste es sagen, sonst würde er platzen. Undeutlich spürte er, wie ihm eine Träne über die Wange rollte.

»Es tut mir Leid.«

Familie selbst gewählt

So, hier melde ich mich mit dem nächsten Kapitel. Es ist zwar wieder recht kurz, aber was darin passiert, war mir sehr wichtig. Ich wünsche also viel Spaß beim Lesen und bedanke mich wie immer für all die lieben Kommentare zum letzten Kapitel!

Liebe Grüße :)

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Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er die ganze Nacht an Koljas Bett gesessen. Aber Schwester Anna war resolut, wenn es darum ging, dass Jannis noch Bettruhe brauchte. Ihn interessierte das herzlich wenig, immerhin hatte er lediglich Kopfschmerzen und einen gebrochenen Arm. Abgesehen von den blauen Flecken und Kratzern am Rest seines Körpers. Marek hatte die Erlaubnis bekommen, im Krankenhaus zu übernachten. Jannis hatte keine Ahnung, wie er das angestellt hatte, aber Marek hatte sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, dass er seinen besten Freund nicht allein lassen wollte.

Jannis wollte ihm danken und ihn fragen, was nun zwischen ihm und Sebastian war. Aber er konnte an nichts anderes denken als an Kolja.
 

Als er am sechsundzwanzigsten seine Visite hinter sich hatte, kam Marek zu ihm ins Zimmer geschlüpft und setzte sich auf die Bettkante. Er sah aus, als wollte er dringend etwas loswerden.

»Was gibt’s?«, fragte Jannis matt. Wenn es nichts über Koljas Zustand war, dann interessierte es ihn ohnehin nicht wirklich.

»Deine Eltern sind da… ich dachte nur, ich sag dir schnell Bescheid, bevor sie-«

Die Tür ging auf und Schwester Anna wuselte herein. Gefolgt von Herrn und Frau Hofstetter. Marek sackte ein wenig in sich zusammen und er schien ziemlich resigniert zu sein. Jannis starrte seine Eltern einen Augenblick lang an, dann wandte er den Blick zur Decke.

»Ich werd dann mal…«, murmelte Marek und wollte von Jannis’ Bett aufstehen, doch Jannis streckte seinen unverletzten Arm aus und hielt ihn fest.

»Du musst nicht gehen«, sagte er.

Schwester Anna verschwand aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

»Wie geht es dir?«, sagte seine Mutter, doch ihre Stimme klang weniger besorgt, als vorwurfsvoll. Jannis wollte die beiden nicht sehen und schon gar nicht mit ihnen sprechen. Trotzdem wandte er den Blick wieder zu ihnen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Marek eindeutig so dreinblickte, als würde er am liebsten im Boden versinken.
 

Seine Mutter trug ihre Haare wie so oft in einem strengen Knoten. Die Falten um ihren Mund sahen aus, als hätte sie jahrelang nicht gelacht. Sein Vater war frühzeitig ergraut, er trug eine rahmenlose Brille und einen Anzug, als würde er den Bürgermeister besuchen und nicht seinen eigenen Sohn.

»Gut«, sagte Jannis knapp. Sein Vater blickte sich suchend nach einem Stuhl um und zog ihn heran, ehe er sich setzte. Im Gegensatz zu Marek und Sebastian, die immer ganz dicht neben Jannis’ Bett saßen, war zwischen seinem Vater und ihm nun fast ein Meter Platz. Marek starrte interessiert auf die piependen Gerätschaften neben Jannis’ Bett.

Seine Mutter wollte gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als es leise klopfte und sich die Tür öffnete. Herr Reichenau kam in seinem Rollstuhl in den Raum gefahren.

»Oh, Verzeihung«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, »ich wollte nicht stören.«

»Sie stören auch nicht. Niemand stört hier«, brummte Jannis und sah, wie sein Vater eine Augenbraue hob.
 

»Ich bin Koljas Vater«, stellte Herr Reichenau sich vor und schüttelte Jannis’ Eltern die Hand.

»Kolja?«, erwiderte seine Mutter an Jannis gewandt.

»Der Freund, der mich fahren wollte«, erklärte Jannis abweisend. Er setzte sich auf und ignorierte seine immer noch anhaltenden Kopfschmerzen.

»Gibt’s was Neues?«, fragte er Herrn Reichenau und war sich nicht sicher, ob er eine negative Antwort ertragen konnte. Er schlug die Bettdecke zurück und setzte sich neben Marek.

»Deswegen bin ich gekommen«, sagte Koljas Vater und lächelte, »er hat die Augen aufgemacht.«

Jannis’ Herz machte einen überdimensionalen Sprung und er stand sofort auf.

»Ich muss weg«, sagte er ohne seine Eltern anzusehen und hastete an Herrn Reichenau und Marek vorbei aus dem Zimmer.

»Herr Hofstetter! Sie sollten in Ihrem Zustand nicht so schnell-«

Jannis ignorierte Schwester Annas Stimme und das Stechen in seinem Arm.
 

Marit saß an Koljas Bett, als Jannis die Tür aufriss. Ihm war ziemlich schwindelig, doch das machte nichts. Er trat neben Marit ans Bett und schaute hinunter in das blasse Gesicht von Kolja, dessen blaue Augen ihn müde, aber unverändert funkelnd ansahen.

»Hey«, krächzte Jannis und er spürte zu seiner grenzenlosen Verlegenheit, wie seine Augenwinkel schon wieder brannten. Er war wach. Kolja war aufgewacht.

»Hallo«, nuschelte Kolja. Seine Stimme klang brüchig, weil er sie tagelang nicht benutzt hatte.

Marits strahlte und ihre Augen waren ebenfalls feucht. Sie hielt Koljas Hand und sah ihren großen Bruder an wie das schönste Geschenk der Welt. Dumpf kroch in Jannis der Gedanke hoch, dass Geschwister etwas Tolles sein mussten.

»Meine Eltern sind grade zu Besuch gekommen«, sagte er völlig von der Rolle. Eigentlich wollte er frage, wie es Kolja ging, ob er ihm böse war, – natürlich musste er das sein – ob er ihm verzeihen konnte… aber all diese Fragen blieben ihm im Hals stecken.

»Und was machst du dann hier bei mir?«, fragte Kolja lächelnd. Er schloss die Augen und sah unglaublich erschöpft aus.

»Du bist…«

Wichtiger, hatte er sagen wollen. Sein Gesicht wurde heiß vor Verlegenheit, als ihm klar wurde, wie wichtig Kolja war.
 

»Weil du aufgewacht bist… ich wollte nur sehen, wie es dir geht…«, meinte er schließlich matt. Er spürte Marits Augen auf sich ruhen, doch er wagte es kaum, sie anzusehen. Vielleicht gab sie ihm doch die Schuld? Er wusste es nicht. Koljas Lächeln wurde ein bisschen breiter.

»Das ist nett«, nuschelte er und Jannis wusste, dass er schon wieder am Einschlafen war, »wenn ich richtig wach bin, kannst du mir erzählen, was sie gesagt haben.«

Jannis seufzte leise und betrachtete Koljas Gesicht noch einen Moment lang. Seine Gedanken überschlugen sich. Er wusste nicht, was er fühlen sollte. Natürlich war er erleichtert. Aber wenn Kolja auch Schwierigkeiten hatte, sich zu erinnern und ihm dann jemand sagte, dass es Jannis’ Schuld gewesen war? Würde er ihn dann noch so anlächeln, wie er es gerade getan hatte?

Jannis hob kurz die unverletzte Hand, um sich wieder von Marit zu verabschieden, dann ging er langsam und mit hämmerndem Herzen und pochenden Schläfen zurück in Richtung seines Zimmers. Schon am Anfang des Ganges hörte er laute Stimmen.
 

»…wegen eines Geschäftsessens?«

Jannis erkannte die aufgebrachte Stimme von Koljas Vater. Jannis hörte Wortfetzen wie »…geht Sie nichts an…« und »…Ihr Sohn…«. Er atmete einmal tief durch, dann stieß er seine Zimmertür auf. Sein Vater war vom Stuhl aufgestanden und seine Mutter funkelte Herrn Reichenau empört von oben herab an. Marek stand neben Koljas Vater und auch er wirkte zorniger als Jannis ihn je gesehen hatte.

»Was ist denn hier los?«, wollte er wissen. Er konnte es sich ungefähr vorstellen. Seine Eltern hatten durchblicken lassen, dass sein Unfall unpassend gekommen war und dass sie das Geschäftsessen nicht hatten ausfallen lassen können. Das hatte Koljas Vater und Marek sicherlich wütend gemacht. Und nun standen sie hier.

»Ihr seid hier in einem Krankenhaus«, sagte er kühl zu seiner Mutter, deren Augen nun zu ihm herüber blitzten.

»Das ist mir durchaus bewusst!«, schnappte seine Mutter, »Aber ich muss mich nicht belehren lassen, wie ich-«

»Es reicht jetzt!«
 

Jannis blinzelte verwundert und wandte sich um. Sein bester Freund sah aus, als würde er sich jeden Moment auf Jannis’ Eltern stürzen. Jannis hatte ihn noch nie so gesehen. Seine Fäuste waren geballt, seine Augen sprühten Funken. Marek war normalerweise durch nichts aus der Ruhe zu bringen, geschweige denn, dass er jemals laut wurde.

Doch da stand er nun und herrschte Jannis’ Eltern an, die vollkommen verdutzt schienen, dass so ein lotterig gekleideter, junger Mann es wagte, ihnen den Mund zu verbieten.

»Wieso sind Sie überhaupt hergekommen? Um Jannis Vorwürfe zu machen, weil er im Krankenhaus liegt? Haben Sie sich schon mal reden gehört? Wenn ich Sie ansehe, bin ich froh, keine Eltern zu haben!«

Und mit diesen Worten stürmte er aus dem Zimmer und Jannis sah ihm mit einem flauen Gefühl im Magen nach.

Dann wandte er sich seinen Eltern zu.

»Ich denke, ihr solltet jetzt gehen«, meinte er mit kalter Stimme. Er hätte nie gedacht, dass er es einmal schaffen würde, so mit seinen Eltern zu reden. Und das von Angesicht zu Angesicht und nicht nur übers Telefon.

»Und ich lege keinerlei Wert auf weitere Besuche von euch«, fügte er hinzu.
 

Herr Reichenau sah ziemlich betroffen aus, doch Jannis achtete kaum auf ihn. Er und sein Vater starrten sich beinahe zehn Sekunden lang schweigend an, dann rauschte Herr Hofstetter aus dem Zimmer und seine Frau folgte ihm, ohne Koljas Vater oder Jannis eines Blickes zu würdigen.

»Das tut mir Leid«, sagte Herr Reichenau und Jannis sah ihn erstaunt an.

»Was tut Ihnen Leid?«, wollte er verwirrt wissen.

»Ich habe sie gefragt, wieso man sie erst heute benachrichtigt hat und da sagten sie, man hätte es ihnen gestern schon erzählt, aber sie wären beschäftigt gewesen…«

Er brach ab und sah einigermaßen verstimmt aus. Jannis schaffte ein schiefes Lächeln.

»Ja, Truthahnessen bei Tante Anita. Jeden ersten Weihnachtsfeiertag«, erklärte er und fühlte sich merkwürdig bei dem Gedanken, dass Herr Reichenau sich für ihn bei seinen Eltern eingesetzt hatte.
 

»Entschuldigen Sie mich. Ich werde mal nach Marek sehen«, murmelte Jannis dann, um das Thema nicht weiter zu vertiefen. Er verließ das Zimmer und schob den Gedanken an seine Eltern beiseite. Er sollte sauer sein, vielleicht enttäuscht oder traurig. Aber er fühlte rein gar nichts. Es störte ihn nicht, dass sie nicht sofort gekommen waren. Er hatte nichts anderes von ihnen erwartet.

Jannis fand Marek auf der Terrasse der Caféteria.

»Tut mir Leid«, murmelte er leise und starrte hinauf in den grauen Himmel. Es war eisig kalt hier draußen, die Luft war feucht und der Asphalt noch nass. Es musste geregnet haben.

»Was tut dir denn Leid? Dass du die Wahrheit gesagt hast?«, fragte Jannis und zog Marek auf die Beine. Marek seufzte leise.

»Ach, ich weiß nicht. Aber es hat mich so wütend gemacht. Ich bin fast gestorben vor Sorge und die beiden essen Truthahn und trinken Punsch. So sollte Familie nicht sein«, meinte er, zögerte einen Moment lang und umarmte Jannis dann behutsam. Jannis wusste, dass Marek Angst hatte ihm wehzutun.
 

»Du bist ein Dummkopf«, murmelte Jannis und spürte, dass in ihm nichts anderes mehr als Freundschaft war, wenn Marek ihn umarmte. Er fragte sich, wann genau das passiert war. Wann war das alles verschwunden?

»Du bist meine Familie. Ich dachte, dass du das weißt«, nuschelte er. Marek löste sich von ihm und sah ihn mit schief gelegtem Kopf an.

»Ja… man kann sich die Familie nicht aussuchen, in die man geboren wird«, sagte er nachdenklich und folgte Jannis nach drinnen. Ihm wurde ziemlich kalt draußen.

»Aber ich bin froh, dass ich dich habe«, fügte er hinzu und Jannis musste lächeln.

»Willst du noch mal nach Kolja sehen?«

Jannis blinzelte und er spürte wie sein Herz bei der Erwähnung von Koljas Namen einen Satz machte.

»Ja… schon gern«, murmelte Jannis peinlich berührt und Marek lächelte kaum merklich.

»Wann gibst du zu, dass du ihn magst?«, erkundigte sich sein bester Freund, doch Jannis antwortete nur mit einem Brummen. Erstmal sollte Kolja wieder gesund werden, dann konnte Jannis sich immer noch darüber Gedanken machen, ob er ihn mochte.

Die Augen seiner Mutter

So! Die Klausuren sind rum und ich habe wieder Zeit und Muße mich meinen beiden Dramaqueens zu widmen :D Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefällt, auch wenn es nicht ganz so lang ist.

Viel Spaß beim Lesen und entschuldigt noch einmal die lange Wartezeit!

Liebe Grüße!

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»Herr Hofstetter, Sie sind ein sehr anstrengender Patient!«, klagte Schwester Anna zum ungefähr hundertsten Mal. Jannis sah sie halb missmutig und halb amüsiert an.

»Das weiß ich. Sie könnten mich einfach entlassen, dann haben Sie weniger Stress«, entgegnete er und ließ sich dazu herab, endlich stillzuhalten, damit die Krankenschwester seinen Gips erneuern konnte.

»Wenn sie so weiter machen, legen wir Sie und Herrn Reichenau einfach in dasselbe Zimmer, dann muss ich Sie nicht ständig suchen, wenn sie doch eigentlich Visite haben«, schlug sie resigniert vor. Jannis räusperte sich verlegen.

»Ich denke nicht, dass das nötig ist«, meinte er und wandte das Gesicht ab. Ja, er war eigentlich dauernd in Koljas Zimmer. Der andere schlief viel und Marit oder Herr Reichenau waren meistens mit ihm im Zimmer. Nur nachts nicht. Dann saß Jannis oft im Dunkeln in Koljas Zimmer und beobachtete ihn beim Schlafen. Er hatte keine Ahnung, warum er das tat, immerhin brachte es weder ihm noch Kolja irgendetwas, aber Jannis war einfach so froh, dass Kolja wieder aufgewacht war, dass er das Gefühl hatte, er müsste darauf aufpassen, dass Koljas Zustand sich nicht verschlechterte.
 

Schwester Anna musste ihn regelmäßig suchen. Er sträubte sich gegen die meisten Untersuchungen. Jannis mochte Krankenhäuser einfach nicht und er mochte es nicht, dass um ihn solch ein Wirbel veranstaltet wurde. Zwar tat sein Kopf ab und an weh, aber er hatte nur einen gebrochenen Arm. Was machte das schon? Marek hatte ihm erzählt, dass Lana und Hermes ihn vermissten und Jannis wollte gern in die Ruhe seiner vier Wände zurückkehren. Auch wenn er vermutlich ohnehin jeden Tag hierher kommen würde, um Kolja zu sehen.

Dunkel fragte er sich, was seine Eltern nun dachten. Es hatte unglaublich gut getan, ihnen endlich richtig die Stirn zu bieten und zu sagen, was schon so lange in ihm vorging.
 

Als der Gips endlich fertig war, erhob Jannis sich.

»Danke für den Gips«, sagte er und Schwester Anna warf ihm einen halb belustigten und einen halb verärgerten Blick zu.

»Gern geschehen, Herr Hofstetter«, sagte sie mit einer ordentlich Portion Sarkasmus in der Stimme. Jannis verkniff sich ein Schmunzeln und wandte sich ab.

»Sie wissen ja, wo Sie mich finden«, sagte er noch, ehe er das Zimmer schließlich verließ und sich auf den Weg zu Koljas Zimmer machte.

Er fand ihn sitzend im Bett mit einem Buch auf den Oberschenkeln und lesend.

»Hey«, sagte Kolja, als er ihn bemerkte, und klappte das Buch zu.

»Wie geht’s dir?«, wollte Jannis zögerlich wissen. Er stellte diese Frage ständig. Und Kolja sagte immer, dass es ihm gut ging.

»Gut, danke. Ich durfte mich endlich mal setzen…«, gab Kolja lächelnd zurück. Weder Marit noch Koljas Vater waren da.

»Wo sind Marit und dein Vater?«, fragte Jannis und setzte sich auf den Stuhl neben Koljas Bett.
 

»Sie reden mit irgendeinem Arzt«, sagte Kolja. Irgendein Unterton in Koljas Stimme brachte Jannis dazu, die Stirn zu runzeln.

»Was ist denn?«, wollte er wissen. Plötzlich war ihm kalt. Kolja schaffte ein Grinsen.

»Nichts. Ehrlich«, sagte er und strich sich mit einer Hand ein paar Haare aus dem Gesicht. Der untere Teil seiner Haare, die dort immer kurz rasiert gewesen waren, war mittlerweile länger worden. Alles in allem sah Kolja ziemlich wuschelig um den Kopf herum aus.

»Sag schon«, sagte Jannis und hatte das Gefühl, er würde in ein Loch fallen. Was war los? Was wollte Kolja verheimlichen? Einerseits wollte Jannis es nicht wissen, denn was immer es war, es würde seine Schuld sein. Aber andererseits musste er wissen, was mit Kolja los war.

»Nein, nein. Es ist nichts Tragisches, nichts, was nicht wieder in Ordnung kommen könnte.«

Jannis starrte ihn an. Gerade als er anfangen wollte sich bei Kolja zu beschweren, ging hinter ihm die Tür auf.
 

»…ein paar Tests und dann werden wir sehen, wie Ihr Sohn… oh, Herr Hofstetter.«

Dr. Mertens brach ab, als er Jannis entdeckte.

»Was ist nicht in Ordnung?«, fragte Jannis und stand hastig auf. Er starrte abwechselnd den Arzt, Koljas Vater und Kolja an, die sich nun alle einen Blick zuwarfen. Schließlich seufzte Kolja und nickte ergeben. Dr. Mertens räusperte sich.

»Herr Reichenau… zeigt keine Reaktion auf physische Reize an seinen Beinen.«

Jannis starrte den Arzt an.

»Sie wollen sagen… er spürt seine Beine nicht mehr?«, fragte er und seine Stimme drang wie durch Watte an seine Ohren. Der Boden unter ihm wollte wegsacken.

»Er leidet an einer Rückenmarksquetschung, die die entsprechenden Nervenbahnen blockiert. Aber die Chancen dafür, dass er wieder aufstehen wird, liegen immerhin bei 25% und –«

»25%?«, echote Jannis tonlos und starrte Kolja an, der aussah, als wollte er dieses Gespräch lieber nicht führen.
 

»Ich werd das schon schaffen«, sagte Kolja und die Zuversicht in seiner Stimme war beinahe mehr, als Jannis ertragen konnte. Wie konnte Kolja das sagen und dabei so klingen, als würde er es wirklich glauben? 25%, was war das schon? Nichts! Und es war seine Schuld… seine Schuld, dass Kolja nie wieder gehen würde. Genauso wie sein Vater. Er nahm nur noch Wortfetzen wahr.

»…Reha…«

»…Physiotherapie…«

»…weitere Operation…«

Jannis starrte in diese blauen Augen, die ihm keinen Vorwurf machten, die ihn nicht anklagten und ihm keine Schuld zuwiesen. Er blickte in diese glitzernden Augen, die hartnäckig und optimistisch und stark waren.

»Ich…«, brachte er mühsam hervor und seine Stimme klang wie Schmirgelpapier auf Holz, »es tut mir… so Leid…«
 

Kolja öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Jannis wollte es gar nicht hören. Er drehte sich um und hastete aus dem Zimmer. Fünfundzwanzig Prozent.

Kolja hatte es wohlmöglich schon vorher gewusst und er hatte es ihm nicht gesagt. Wieso hatte er es ihm nicht gesagt? Jannis kannte die Antwort. Kolja hatte gewusst, dass Jannis sich die Schuld geben würde. Aber was blieb ihm auch übrig? Immer und immer wieder hatte er sich diesen Tag ins Gedächtnis gerufen, war den Unfall im Kopf durchgegangen, er hatte Alpträume gehabt. Und es gab nur diese eine Erklärung für ihren Unfall. Er hatte sich nicht mit in die zu steile Kurve gelegt. Es war seine Schuld, dass Kolja ein paar Tage lang im Koma gelegen hatte und dass er nun querschnittsgelähmt war. Wie sein Vater.

Womit hatte diese Familie das verdient? Und wie konnte er das jemals wieder gut machen? Wieso hatte sich Kolja überhaupt mit ihm eingelassen, dann wäre all das nie passiert.
 

Er verkroch sich in seinem Zimmer, legte sich freiwillig ins Bett und begrub sich unter der weißen Bettdecke. Wenn er schlafen könnte, dann müsste er nicht mehr denken. Aber er konnte nicht schlafen. Immerzu huschten die Worte des Arztes durch seinen Kopf, immer wieder blickten ihn Koljas Augen an. Er hörte kaum, wie die Zimmertür aufging und sich wieder schloss.

»Jannis?«

Es war die Stimme von Herrn Reichenau, die da mit ihm sprach. Jannis überlegte einen Moment lang sich schlafend zu stellen, doch dann zog er die Bettdecke zurück und drehte sich um, um Koljas Vater anzusehen. Er hatte nicht dieselben Augen wie sein Sohn. Aber das verschmitzte Lächeln und die schmutzig blonden Haare, die Grübchen, wenn er lächelte. All das hatte Kolja von ihm geerbt. Vermutlich hatte er die Augen seiner Mutter.
 

»Kolja wird das schaffen«, sagte Herr Reichenau, ohne um das Thema herumzureden. Jannis konnte einfach nicht anders als ungläubig zu schnauben.

»25% sind so wenig. Sie wissen doch gar nicht, ob er es schafft«, sagte Jannis und er hörte, wie verbittert er dabei klang. Herr Reichenau schwieg einen Moment, dann kam er zu Jannis’ Bett herüber gerollt und blickte Jannis aus seinen grünbraunen Augen ernst an.

»Ich kenne meinen Sohn sehr viel länger als du, Jannis. Er ist immer schon wieder aufgestanden und er wird es auch jetzt wieder tun.«

Jannis starrte diesen Vater an. Sein Vater hatte garantiert niemals so von ihm gesprochen oder so über ihn gedacht. Trotzdem beruhigten ihn diese Worte nicht.

»Das ist doch keine Frage der Persönlichkeit«, sagte er matt. Nicht, dass er es nicht wollte, dass Kolja wieder aufstand. Aber man sollte sich auch keine falschen Hoffnungen machen.
 

»Doch, das ist es. Als ich meinen Unfall hatte und aufwachte und ich irgendwann bemerkt habe, dass ich meine Beine nicht mehr spüren kann, da hatte ich schon aufgegeben. Man sagte mir damals, ich hätte eine fünfzigprozentige Chance darauf, wieder gehen zu können. Aber ich habe selbst nie daran geglaubt. Und irgendwann ist es zu spät, wenn die Muskeln abgebaut sind und man es zu lange nicht versucht… ich habe meine Chance damals verspielt, obwohl sie viel größer war als die, die mein Sohn jetzt hat.«

Jannis schwieg. Er dachte darüber nach. Herr Reichenau betrachtete die Zimmerdecke. Einen Moment lang herrschte Stille im Raum, dann sprach er weiter.
 

»Als meine Frau gestorben ist, war es mein sechsjähriger Sohn, der mich wieder aufgebaut hat. Es hätte andersherum sein müssen. Kinder sollten nicht die Stützen für ihre Eltern sein müssen und schon gar nicht, wenn sie noch so jung sind. Kolja hat mir immer wieder gesagt, dass seine Mutter es nicht wollen würde, dass ich mich verkrieche. Er hat mir keine Ruhe gelassen. Er bestand darauf, jeden Tag Hausaufgaben mit mir zu machen, nach draußen zum Spielen zu gehen… Obwohl er selbst seine Mutter verloren hat, hat er sich so schnell aufgerappelt. Er muss sie schrecklich vermisst haben. Als Marit eine Phase hatte, in der sie sich gewünscht hat, wieder hören zu können, da hat er sie aufgemuntert. Er hat ihr immer gepredigt, dass sie nicht minderwertig ist, nur weil sie nicht hören kann. Kolja ist es nie müde geworden, Marit ihre Stärken zu zeigen und sie wieder aufzubauen. Als ich meinen Unfall hatte, hat mein Sohn sich um alles gekümmert. Er ging zur Schule, ging jobben, besuchte mich, machte Hausaufgaben mit seiner Schwester. Ich habe früher viel Basketball gespielt. Nach dem Unfall ging das natürlich nicht mehr. Kolja hat mich ermutigt, eine Mannschaft zu trainieren. Heute spiele ich selber nicht mehr, aber ich arbeite mit Jugendlichen und Kindern, die im Rollstuhl sitzen und trotzdem Sport machen wollen. Kolja wird wieder aufstehen. Nicht für sich selbst. Aber für mich und seine Schwester. Und für dich. Weil er nicht will, dass du dir die Schuld an irgendetwas gibst…«
 

Jannis spürte einen dicken Kloß im Hals. Er sah den kleinen, blonden Jungen vor sich, der seinen Vater aufmunterte, obwohl es ihm selbst schrecklich ging. Er sah einen jugendlichen Kolja, der für seine kleine Schwester Mittagessen kochte und ihr bei den Matheaufgaben half. Mit hämmerndem Kopf und tonnenschwerem Herzen schloss er die Augen.

Er hatte Kolja immer abgewiesen und plötzlich hatte er das Gefühl, den Jüngeren überhaupt nicht verdient zu haben.

»Sei einfach bei ihm… und dann wird er wieder aufstehen. Ok?«

Jannis öffnete die Augen und sah, dass Herr Reichenau wieder zur Tür gefahren war und sie nun öffnete.

»Ok«, murmelte Jannis heiser und dann ging die Tür zu und er blieb allein mit seinen Gedanken an Koljas Augen, die sein Leben lang schon so gefunkelt haben mussten.

Zwei Welten

Tadaa! Das ging ja wieder relativ flott :) Aber jetzt bin ich bei den beiden auch wieder richtig drin in der Materie und hoffe, dass euch das Kapitel gefällt! Ich wünsche euch ein schönes Restwochenende und viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße :)

_________________________
 

Als Jannis sich das nächste Mal in Koljas Zimmer traute, war eine Woche vergangen. Eine Woche, seit er erfahren hatte, dass Kolja seine Beine nicht mehr spürte. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis er sich endlich klar gemacht hatte, dass es Kolja nicht helfen würde, wenn Jannis sich vergrub und ihn… nun ja… im Stich ließ. Jannis hatte erfahren, dass Kolja seit vorgestern nicht mehr auf der Intensivstation lag. Allerdings entging ihm der Gedanke, dass dies bedeutete, dass Kolja nun auch anderen Besuch als seine Familie empfangen konnte. Er selbst hätte ja eigentlich gar nicht in Koljas Zimmer gehen dürfen, aber darüber hatte er sich stets galant hinweggesetzt.

Dass Kolja nicht wie er selbst war, merkte Jannis wieder einmal, als er sich nach dieser einen Woche Grübeln, Fluchen und Selbsthass vor die Zimmertür des Jüngeren traute und von drinnen Stimmen hörte. Er zögerte und wollte schon wieder umdrehen, doch dann überwog der Drang, Kolja zu sehen und herauszufinden, wie es ihm ging.
 

Also klopfte er und die Stimmen verstummten.

»Herein?«, hörte er Kolja sagen. Er klang munter und gut gelaunt. Jannis atmete einmal tief durch, dann öffnete er die Tür. In Koljas Einzelzimmer war das Fenster weit aufgerissen und kalte Dezemberluft strömte herein. Es war zwar erst halb fünf, aber draußen war es bereits dunkel.

»Oh, Jannis«, sagte Kolja und strahlte ihm entgegen. Er saß im Bett, auf dem Tisch neben ihm türmten sich Bücher, Blumen und Süßigkeiten. Um sein Bett herum saßen vier Menschen, zwei Mädchen und zwei Jungs, die ihn alle gespannt musterten.

»Schön, dass du da bist! Komm rein!«

Jannis trat ins Zimmer und schloss die Tür nervös hinter sich. Er konnte mit fremden Menschen nicht allzu gut umgehen und das mussten Koljas Freunde sein. Und vor denen wollte er ungern als verschlossener Menschenfeind dastehen. Wieso auch immer.
 

»Leute, das ist Jannis. Jannis, das sind Henning, Rike, Jan und Sylvie. Meine besten Freunde«, sagte er strahlend und Jannis reichte einem nach dem anderen die Hand. Er musterte Koljas Freunde. Henning war der Auffälligste von ihnen, denn er hatten einen grünen Iro, eine Menge Piercings und unter seinen kurzen Ärmeln – Jannis wäre das viel zu kalt bei diesem Wetter – schauten komplett tätowierte Arme hervor. Jan hatte einen langen Pferdeschwanz und grinste ihm freundlich entgegen. Sylvie hatte braune Locken, hielt Henning bei der Hand und selbst im Sitzen sah sie unglaublich klein aus. Rike hatte hellblondes, kurzes Haar, eine Brille und ihre Hand wühlte in einer Tüte Lakritzschnecken.

»Nimm dir einen Stuhl«, sagte Kolja freundlich und Jannis griff nach einem der drei weiteren Stühle, die Koljas Zimmer aussehen ließen wie ein Stuhllager. Er setzte sich Koljas Freunden gegenüber.
 

»Du bist also Koljas Tutor«, sagte Rike freundlich, »er hat uns schon von dir erzählt!«

Jannis sah, wie Kolja leicht rot anlief. Jannis selbst fühlte sich plötzlich ziemlich erhitzt, obwohl ihm gerade noch kalt gewesen war. Als könnte Kolja seine Gedanken lesen, bat er Jan, der dem Fenster am nächsten saß, es zu schließen.

»Tatsächlich«, sagte er unsicher und warf Kolja einen Seitenblick zu.

»Ja… ich hab nur erzählt, wie kompetent du bist und –«, begann Kolja hastig.

»Und wie heiß er dich findet«, fiel Henning ihm ins Wort und Jannis war sich sicher, gleich müsste er vergehen vor Scham.

»Du studierst also Germanistik?«, erkundigte sich Sylvie lächelnd und Jannis nickte dankbar für diese Ausflucht.

»Im fünften Semester«, gab er zurück, dann, unsicher, ob es nicht abgeschmackt klang, fragte er:

»Und was… macht ihr?«
 

Kolja strahlte wie ein Atomkraftwerk und Jannis spielte nervös mit seinen Fingern.

»Geschichte. Ich hab zwei Semester vor Kolja angefangen«, sagte Rike lächelnd.

»Theologie«, erklärte Jan, »auf Pfarramt.«

Jannis blinzelte ihn an. Er lachte.

»Kein Christ, wie?«, wollte er schmunzelnd wissen.

»Agnostiker«, sagte Kolja wie aus der Pistole geschossen und die Köpfe flogen zu ihm herum.

»Das hast du dir gemerkt?«, fragte Jannis verwirrt. Sylvie gluckste leise.

»Kolja hat ein erstaunliches Gedächtnis, wenn Sachen ihn interessieren«, meinte Henning grinsend.

»Ich bewerf dich mit Magneten, wenn du nicht gleich aufhörst«, grummelte Kolja, aber er schmunzelte verlegen. Jannis stellte sich vor, wie all die Magneten in Hennings durchstochenem Gesicht hängen blieben und verkniff sich ein Mundwinkelzucken.
 

»Henning studiert Philosophie und ich bin Kinderkrankenschwester«, fügte Sylvie schließlich hinzu.

»Ziemlich bunt gemischt«, murmelte Jannis.

»Bist du doch gewöhnt«, sagte Kolja amüsiert und wandte sich an seine vier Freunde, »sein bester Freund studiert Mathe.«

»Oh Gott! Mathe!«, rief Rike aus und Jan schauderte gespielt, »Er muss ein Alien sein!«

Nun musste Jannis doch schmunzeln.

»Das trifft es ziemlich gut«, gab er zurück.

Die anderen lachten.
 

Es war nicht einfach für Jannis in diesem Zimmer zu sitzen und sich auf fünf Menschen gleichzeitig zu konzentrieren. Aber er war bemüht, sich alles zu merken, was sie erzählten. Und sie redeten eine ganze Menge. Sylvie und Henning schienen Kolja schon seit dem Kindergarten zu kennen. Sie berichteten von Begebenheiten aus ihrer Kindheit, erzählten Geschichten von Partys und der Schulzeit und Jannis spürte widerwillig, wie er jede Information, die er über Kolja erhielt, in sich aufsog. Zum allerersten Mal fiel ihm auf, dass er eigentlich nichts über Kolja wusste. Kein Wunder, er hatte ja auch niemals gefragt.

Als die Vier schließlich gingen, fuhr sich Jannis nervös durch die Haare.

»Und? Wie findest du sie?«, fragte Kolja lächelnd. Jannis sah ihn unsicher an.

»Nett. Wirklich«, sagte er und brachte ein Lächeln zustande. Kolja streckte sich leicht und lehnte sich in die Kissen zurück.
 

»Mit Henning und Sylvie hab ich zusammen Laufen gelernt«, sagte er grinsend und betrachtete Jannis aufmerksam.

»Dann seid ihr ja so was wie Geschwister«, meinte Jannis. Er selbst hatte nie wirklich einen Kindergartenfreund gehabt.

»Ja, kann man sagen. Die beiden wissen so ziemlich alles von mir«, sagte Kolja und kratzte sich ein wenig verlegen am Hinterkopf.

»Was Henning vorhin gesagt hat…«, fuhr er dann zögerlich fort. Jannis legte den Kopf schief und sah Kolja fragend an.

»Dass… ich erzählt habe, dass ich dich heiß finde…«

Jannis’ Gesicht flammte auf wie eine Verkehrsampel. Kolja spielte mit dem Saum seiner Bettdecke.
 

»Ich will nicht, dass du das falsch verstehst. Also… du bist heiß, aber nicht nur… und bitte denk jetzt nicht, dass ich nur irgendwie rummachen wollte… oder will. Oder so. Ok?«

Jannis starrte ihn an. Das hatte er seltsamerweise nicht eine Sekunde lang gedacht. Er war seiner Ansicht nach einfach nicht der Typ, den man… heiß fand. Herrgott, wieso fand Kolja ihn heiß? Jannis hatte sich zwar auch schon eingestanden, dass Kolja durchaus nicht schlecht aussah, aber von heiß konnte doch keine Rede sein! Zumindest in seinem Wortschatz gab es diesen Begriff nur als unverfängliche Bezeichnung von übermäßig warmen Temperaturen.

»Ähm… daran hab ich nicht gedacht«, sagte er ehrlich und Kolja sah ungeheuer erleichtert aus.
 

»Dann ist ja gut.«

Sie schwiegen eine Weile lang und Jannis starrte die Blumen, die Bücher und all die Süßigkeiten an.

»Du warst… länger nicht mehr bei mir«, sagte Kolja schließlich leise. Jannis verkrampfte sich ein wenig, aber er hatte sich nach einer Woche Grübeln und Ermutigung vorgenommen, nicht mehr davon zu laufen und nicht mehr andauernd in Selbstmitleid zu versinken.

»Ich hab nachgedacht…«, meinte er schließlich und betrachtete seine verschränkten Finger, »und… ich hab mit deinem Vater geredet.«

Kolja sagte nichts. Er wartete nur darauf, dass Jannis weiter sprach.

»Er hat von früher erzählt. Als deine Mutter gestorben ist und von seinem Unfall und von Marit…«
 

Kolja lächelte leicht und schloss einen Moment die Augen.

»Wahrscheinlich hat er maßlos übertrieben«, sagte er schließlich und Jannis bemerkte, dass er die Luft anhielt. Was für ein Blödsinn! Aber er konnte nicht leugnen, dass er mittlerweile doch gern mehr über Kolja wüsste.

»Klang nicht so… eigentlich«, meinte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Meine Ma hat immer gesagt, man muss auf seine Familie aufpassen. Also hab ich das gemacht, als sie nicht mehr da war, um es zu tun. Ich hab sie so vermisst… und jede Nacht hab ich geflennt und mich gefragt, warum man sie uns weggenommen hat. Aber ich hab mir vorgenommen, nicht vor meinem Pa zu heulen, weil es ihm auch so schlecht ging und ich es ihm nicht noch schwerer machen wollte. Und nach der Sache mit seinem Unfall… ich hab’s kaum ertragen, wie er sich vergraben hat. Ich wollte unbedingt, dass er wieder lachen kann. Das war nicht nur für ihn, das war auch für mich. Zu Hause war ich immer am Werkeln und hab alles gemacht und versucht ihn aufzumuntern. Dafür hatte ich immer miese Laune, wenn ich erstmal aus dem Haus war. Ich bin schlechter in der Schule geworden, weil ich den Haushalt und Marit, meinen Vater und mich selbst mitsamt meinem Job kaum unter einen Hut kriegen konnte. Sylvie und Henning mussten ständig meine Launen ertragen, andauernd wurde ich wütend wegen irgendwelchen Kleinigkeiten. Es war nicht so leicht mit mir. Aber sie haben trotzdem zu mir gehalten. Ich bin echt ein Glückspilz.«
 

Jannis betrachtete Kolja. Auch wenn Kolja das so erzählte, als wäre es nichts Besonderes gewesen, fand Jannis immer noch, dass er ein unglaublich starker Charakter war. Viel stärker als er es selbst je gewesen war. Oder als er jemals sein könnte.

»Das hätte bestimmt nicht jeder durchgehalten«, murmelte Jannis. Kolja lächelte leicht.

»Du hattest es doch auch nicht leicht, oder?«, gab er zurück. Jannis zuckte die Schultern. Plötzlich kam ihm seine Kindheit richtiggehend behütet vor.

»Ich hatte halt einfach Eltern, die sich nie zufrieden geben wollten. Vielleicht bin ich deswegen heute so verkorkst. Aber eigentlich hab ich es gut überstanden und ich komme wunderbar allein zurecht, weil ich mich nie auf sie verlassen habe. Ich bin es gewöhnt keine richtige Familie zu haben.«

Kolja betrachtete ihn aus seinen meerblauen Augen. Jannis spürte, wie er ziemlich unruhig wurde.

»Ich finde nicht, dass du verkorkst bist«, sagte Kolja leise und Jannis spürte, wie sein Herz einen Zahn zulegte. »Ich finde, du bist genau richtig.«

Er könnte jetzt vehement widersprechen und sich künstlich darüber aufregen, dass Kolja solche Dinge einfach so sagte, aber er tat es nicht.

»Danke«, nuschelte er stattdessen und starrte wieder auf die Blumen.
 

»Du… Jannis?«
 

»Hm?«
 

»Krieg ich einen Kuss?«
 

Jannis blinzelte und spürte, wie seine Wangen aufflammten. Er öffnete den Mund, um Kolja zu erklären, wieso das gerade nicht ging, aber er fand keinen Grund. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann musste er zugeben, dass er Kolja unglaublich gern küssen würde. Also rutschte er mit seinem Stuhl näher zu Koljas Bett. Undeutlich fühlte er die unendliche Erleichterung und die Freude darüber, dass Kolja ihn überhaupt noch küssen wollte, nachdem…
 

Es war eine sachte Berührung von Lippen, so als hätten sie beide es ewig nicht mehr getan und müssten erst wieder neu herausfinden, wie es funktionierte. Koljas Hand schob sich in seinen Nacken und strich mit den Fingerspitzen behutsam über die feinen Härchen, die dort wuchsen. Jannis spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Er seufzte in den Kuss, als ihre Zungen sich berührten und in diesem Moment öffnete sich die Tür und Jannis zuckte so heftig zurück, dass ihm beinahe die Brille von der Nase fiel.

Marit kam herein und trug einen kleinen Tannenbaum, der in einem großen Blumentopf steckte. Er war mit Christbaumkugeln behängt und Marit strahlte über das ganze Gesicht, als sie den Baum auf dem kleinen runden Tisch abstellte, der im Zimmer stand. Dann machte sie ein paar Handzeichen in Koljas Richtung.

»Sie sagt, wir feiern Weihnachten nach«, meinte Kolja. Er sah ein wenig durch den Wind aus und Jannis konnte es gut nachvollziehen. Seine Lippen kribbelten noch und in seinen Eingeweiden brannte es. Hatte Marit gesehen, wie sie sich geküsst hatten?
 

Doch schon war Koljas Schwester wieder aus dem Zimmer gewuselt und Jannis erhob sich räuspernd.

»Na dann… werd ich mal…«, begann er.

»Unsinn! Du feierst mit!«, sagte Kolja entrüstet und richtete sich – offensichtlich mit einiger Mühe – wieder im Bett auf. Jannis blinzelte.

»Aber… Weihnachten… Familie?«, fragte er verwirrt. Kolja schnaubte.

»Stell dich nicht so an. Ich hab dir doch schon vor dem Unfall angeboten, mit uns zu feiern«, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung und bevor Jannis widersprechen konnte, kam Marit auch schon wieder herein, dicht gefolgt von ihrem Vater, der seinen ganzen Schoß mit Päckchen beladen hatte. Marit drapierte Teelichter auf der Fensterbank von Koljas Zimmer und machte sich mit Streichhölzern daran, sie anzuzünden.
 

»Ah, Jannis. Gut, dass du schon hier bist. Ich wollte grad zu dir und dir Bescheid sagen, dass wir Weihnachten feiern«, meinte Herr Reichenau und stellte die Päckchen unter den kleinen Weihnachtsbaum.

»Gibt’s Lebkuchen?«, fragte Kolja sehnsüchtig. Sein Vater lachte.

»Hast du je ein Weihnachten ohne Lebkuchen erlebt?«, fragte er. Kolja lachte.

»Ja! Vor drei Jahren, als du alles hast anbrennen lassen! Da hatte ich keinen Lebkuchen!«

Jannis sah zu, wie nach und nach Lebkuchen, noch mehr Kerzen und ein CD-Player ins Zimmer getragen wurden. Im Nachhinein fiel ihm ein, dass er vielleicht hätte helfen können, aber er war zu perplex, als dass er sich auch nur drei Zentimeter gerührt hätte.

Als schließlich leise Weihnachtslieder durch den Raum drangen und nur noch Koljas Nachttischlampe und die Kerzen brannten, fühlte Jannis sich merkwürdig weihnachtlich. Und er hatte sich noch nie weihnachtlich gefühlt.
 

Er bekam einen ganzen Teller voller Lebkuchen und starrte ihn an.

»Das kann ich doch nicht alles essen«, sagte er und Kolja lachte.

»Was du nicht schaffst, esse ich auf«, sagte er bestens gelaunt und biss in ein Lebkuchenmännchen, sodass es keinen Kopf mehr hatte.

Es war merkwürdig hier mit Koljas Familie zu sitzen, zu reden und Lebkuchen zu essen. Jannis hatte – wenn er es recht bedachte – nur zwei Mal in seinem Leben Lebkuchen gegessen und der war nicht selbst gebacken, sondern gekauft gewesen. Diese Lebkuchenmännchen hatten Gesichter aus Mandeln und mit ›Jingle Bells‹ im Hintergrund schmeckte er wohlmöglich noch besser.
 

Dann begannen die drei Reichenaus Geschenke auszutauschen und Jannis musste lächeln, als er sah, wie Kolja angesichts einer Queen- Schallplatte in Jubel ausbrach.

Marit tippte ihn von der Seite an und er wandte ihr das Gesicht zu. Sie lächelte ein wenig schüchtern und hielt ihm ein längliches, zylindrisches Päckchen hin. Er blinzelte. Sie deutete auf ihn und legte es ihm in den Schoß. Jannis öffnete den Mund, schloss ihn wieder, starrte zu dem grinsenden Kolja hinüber und betrachtete dann das Päckchen.

»Aber… ich wollte doch keine Geschenke«, sagte er matt und Kolja gluckste heiter. Marit sah ihn aufmerksam an, während er mit leicht fahrigen Fingern das Geschenkband löste und behutsam ein eingerolltes Blatt hervor zog. Er zog es auseinander und sein Gesicht fühlte sich plötzlich sehr heiß an.
 

Er erkannte sich selbst auf einem der Stühle in Koljas altem Zimmer, wie er mit dem Kopf auf den Armen auf dem Bett lag und schlief. Und im Bett lag Kolja und betrachtete ihn, die Hand offensichtlich in seinen Haaren. Jannis erinnerte sich, dass er einmal in Koljas Zimmer eingeschlafen war. Aber er hatte keine Ahnung gehabt, dass Kolja währenddessen aufgewacht und ihm dann auch noch die Haare gestreichelt hatte. Marit strahlte.

Es war eine wirklich gute Zeichnung.

»Danke«, sagte Jannis vollkommen perplex und Marit kicherte lautlos.

»Meins ist leider nicht so kreativ«, sagte Koljas Vater bedauernd und reichte Jannis einen Umschlag. Jannis wollte im Boden versinken. Wieso schenkten sie ihm etwas zu Weihnachten? Er hatte für überhaupt niemanden etwas besorgt, er hatte sich nicht einmal im Traum ausgemalt, Weihnachten überhaupt nachzufeiern.

Herr Reichenau hatte ihm einen Büchergutschein geschenkt und als Kolja ihm schließlich auch noch ein rechteckiges Päckchen hinhielt, hätte sich Jannis am liebsten in Luft aufgelöst.
 

»Aber ich hab für niemanden was und–«, begann er.

»Darum geht’s doch gar nicht«, sagte Kolja und schmunzelte, »du sollst nur endlich auch mal ein anständiges Weihnachten haben!«

Jannis wusste nicht, was er dazu sagen sollte und so packte er stattdessen Koljas Geschenk aus. Es war ein hübsches und schlichtes Fotoalbum, auf dem eine Weihnachtskarte lag. Jannis drehte sie unsicher um und las:

»Ich wünsche dir frohe Weihnachten und möchte bei dieser Gelegenheit loswerden, dass ich froh bin, dich kennen gelernt zu haben. Vielleicht können wir dein Geschenk zusammen noch etwas weiter füllen.«

Jannis schluckte und klappte das Album auf und von der ersten Seite sah ihm sein eigenes, rot angelaufenes Gesicht entgegen, das von Kolja einen Kuss auf die Wange gedrückt bekam. Er hob den Kopf und sah Kolja an, aber er brachte kein Wort über die Lippen. Koljas verhaltenes Lächeln sagte ihm jedoch, dass er ihn auch so verstand.

Feuerwerk und Seifenblasen

Die Winterstimmung bricht nicht ab xD' Aber bald haben wir es geschafft. In den Sommer kommen wir wohl nicht mehr, aber ich denke mal, bis zum Frühling schaffen wir es noch. Dieses Kapitel musste mal wieder ein wenig (viel) Freundschaftsfluff zwischen Marek und Jannis beinhalten. Man kann nie genug Freundschaftsfluff haben.

Viel Spaß beim Lesen und danke wie immer für all eure Unterstützung!

Liebe Grüße :)

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»Kommst du heute Abend her?«
 

»Wieso? Ist da was Besonderes?«
 

»Ach Jannis! Es ist Silvester!«
 

Er blinzelte und sah Kolja einen Moment lang verwirrt an. Dann erinnerte er sich daran, dass es dieses Fest gab, an dem sich Jugendliche betranken, laute Chinaböller durch die Gegend warfen und viel Müll in der Stadt verteilten.

»Ach ja. Da war was«, sagte er und schob sich die Brille auf der Nase nach oben. Er trug seine normalen Klamotten und eine kleine Reisetasche in der Hand. Seine Sachen waren gepackt und er war seit einer Stunde offiziell aus dem Krankenhaus entlassen. Er musste nur immer wieder zum Gipswechsel hier her kommen… aber vermutlich würde er ohnehin ständig hier sein, um Kolja zu besuchen.
 

Kolja lachte leise.

»Du bist so weltfremd, das gibt’s ja gar nicht«, sagte er grinsend und schob sich ein Stück Lebkuchen in den Mund. Seit dem gestrigen, nachgefeierten Weihnachtsfest hatte Kolja nichts anderes mehr gegessen.

»Dann komme ich nachher wieder«, sagte Jannis ohne auf Koljas Bemerkung einzugehen. Er wusste, dass er komisch war. Das musste Kolja ihm nicht erst sagen.

Er hob ein wenig unbeholfen die Hand, doch Kolja blickte ihn vorwurfsvoll an. Jannis räusperte sich. Mittlerweile war er recht gut darin, Koljas Blicke und seine Mimik zu deuten. In den letzten Wochen hatten sie sich einfach so häufig gesehen, dass es beinahe selbstverständlich geworden war, dass Jannis Kolja einfach ohne Worte verstand. Er war mittlerweile auch mit der Gebärdensprache ein wenig voran gekommen. Marit wurde es nicht müde, sich mit Jannis über ein Blatt Papier zu unterhalten und ihm einige wichtige Sätze in der Zeichensprache zu zeigen.
 

Jannis ging mit hämmerndem Herzen hinüber zu Koljas Bett, stellte zögerlich seine Tasche ab und beugte sich zu Kolja hinunter. Der schmunzelte leicht, dann schlang er seine Arme um Jannis’ Nacken und im nächsten Moment landete er auf Koljas Bett.

Jannis konnte nicht umhin erschrocken zu keuchen, doch der Schreck verschwand im nächsten Augenblick, als Kolja ihn innig auf den Mund küsste. So innig, dass Jannis’ Hose unweigerlich eng wurde, was ihm wiederum die Röte ins Gesicht trieb.

Koljas Zunge war unerhört frech und aufreizend und… Jannis schob seine Finger in Koljas Nacken, um den Kuss zu vertiefen. Jetzt lag er schon mit Kolja in einem Krankenhausbett und knutschte den anderen so heftig, dass er prompt Lust auf noch ganz andere Dinge bekam. Dann löste er sich schwer atmend und Kolja sah ihn aus glasigen Augen an.
 

»Gleich kommt wieder jemand rein«, nuschelte er gegen Koljas Lippen. Kolja presste seine Lippen wieder auf Jannis’ Mund, ohne auf diese Vermutung einzugehen.

»Mir… egal…«, flüsterte er zwischen zwei Küssen.
 

»Aber… deine Familie…«
 

»Die wissen schon… dass ich nicht… genug von dir… kriegen kann.«

Jannis spürte, wie er rot anlief, doch er hatte nicht viel Zeit, um verlegen zu sein, denn Koljas nächster Kuss vertrieb alle Gedanken aus seinem Kopf und hinterließ nur eine erregte Leere. Kolja neigte eindeutig dazu, solche Sachen zu sagen, nur um Jannis einen Herzinfarkt zu bescheren. Dann hörte er jedoch Schritte auf dem Gang und rappelte sich hastig auf. Kolja seufzte unwillig und sah ihn enttäuscht an, als Jannis beinahe aus dem Bett fiel, so eilig hatte er es, von Kolja herunter zu kommen. Und tatsächlich ging im nächsten Augenblick die Tür auf. Jannis erwartete einen Arzt oder eine Schwester und hatte schon halb den Mund geöffnet, um zu sagen, dass er jetzt gehen würde, da rauschte eine Gestalt an ihm vorbei und stürzte sich auf Kolja.
 

»Schatz, lass deinen Cousin am Leben!«

Jannis blinzelte. Ein kleines Mädchen hatte sich auf Koljas Bett geworfen. Sie mochte vielleicht sieben oder acht Jahre alt sein. Sie hatte schwarze Locken und dunkelbraune Augen, gebräunte Haut und ein rotes Wollkleid mit Strumpfhose und Strickjacke an. Jannis wandte sich verwirrt um und erblickte im Türrahmen zwei grinsende Frauen. Eine davon war schlank, groß, blond und hatte strahlend blaue Augen, die aussahen wie die von Kolja. Ihre Haare waren sehr kurz und sie trug einen übergroßen Wollpulli. Die Frau neben ihr war klein, ziemlich kurvig und sah eindeutig aus wie die Mutter der Kleinen, die Kolja gerade belagerte.

»Raquel, komm da runter«, sagte die kleinere Frau streng und kam zum Bett herüber. Die Blonde folgte ihr. Wieso musste Jannis immer in diesem Zimmer sein, wenn neuer Besuch kam?
 

»Was macht ihr denn hier? Ich dachte ihr wärt im Urlaub«, sagte Kolja breit grinsend und ließ sich von beiden Frauen im Sitzen umarmen.

»Waren wir auch. Aber dann hat Christoph angerufen und erzählt, dass du einen Unfall hattest und in Portugal kommt ohnehin keine richtige Silvesterstimmung auf«, erklärte die Größere der beiden Frauen lässig, dann drehte sie sich schwungvoll zu Jannis um und betrachtete ihn eingehend. Ihm war etwas unbehaglich unter ihrem Blick.

»Jannis«, sagte sie dann und er blinzelte verwirrt, »schön dich mal kennen zu lernen. Ich bin Silke, Koljas verdorbene Tante. Das ist Teresa, meine Freundin.«

Jannis reichte beiden die Hand. Die Reisetasche baumelte immer noch in seiner Hand. Wieso kannten ihn alle? Erzählte Kolja es der ganzen Welt, wenn er sich… mit jemandem traf?
 

»Tu nicht immer so als wärst du die Hölle auf Erden«, sagte Kolja lachend, während das kleine Mädchen sich halb hinter seiner Mutter versteckte, während sie Jannis von unten herauf ansah.

»Ich wollte gerade… ja…«, sagte Jannis matt. Doch offenbar gab es kein Entkommen.

»Wir dachten, wir könnten mit dir ein wenig Sylvester feiern«, sagte Teresa lächelnd und strich ihrer Tochter übers Haar.

»Wunderbar! Die Ärzte werden mich hassen. Henning und Sylvie wollten auch kommen!«, sagte Kolja begeistert und Jannis überlegte ernsthaft, ob er heute Abend noch einmal vorbei schauen wollte, wenn Kolja so einen Pulk zu Besuch hatte.

»Jannis hab ich auch eingeladen«, meinte Kolja in diesem Moment und er seufzte ergeben.

»Hoffentlich ist das ein Silvester ohne Chinaböller«, erwiderte er resigniert und Silke lachte ausgelassen. Dann zog sie einen Stuhl zu sich heran und setzte sich rücklings darauf.

»Keine Sorge. Kolja ist schreckhaft wie ein Mädchen, wenn es um lautes Geballer geht. Und weglaufen kann er ja jetzt erstmal nicht mehr«, scherzte sie. Jannis starrte sie an. Kolja, Teresa und Silke lachten ausgelassen. Jannis fragte sich, wie man über so etwas Witze reißen konnte, doch Kolja war offensichtlich der Typ, der selbst in ausweglosen Situationen noch lachen konnte.
 

Eine Stunde später kam Jannis schließlich in seiner Wohnung an. Gleich im Flur fand er einen Zettel von Marek.

»Kühlschrank ist voll. Hab auch neuen O- Saft gekauft. Lana & Hermes haben deinen Sessel zerstört, während du weg warst. Morgen zusammen Essen? Gute Besserung!«

Jannis musste lächeln. Dann warf er seinem dicken Kater einen bösen Blick zu, der durch den Flur gewackelt kam und freudig schnurrte.

»Du hast meinen Sessel ruiniert, Dicker«, sagte er vorwurfsvoll und kniete sich auf den Boden, um Hermes zu kraulen. Ein Maunzen hinter ihm sagte ihm, dass auch Lana gekommen war, um ihn zu begrüßen.

»Ich freu mich auch euch wieder zu sehen«, murmelte er und stellte seine Reisetasche ab. Trotzdem… zum ersten Mal kam ihm seine Wohnung leer und ein wenig einsam vor.
 

Er inspizierte seinen Kühlschrank und stellte fest, dass Marek sehr viel mehr Schokolade eingekauft hatte, als Jannis je essen konnte. Außerdem klebten überall in seiner Wohnung kleine bunte Post- It Zettelchen.
 

»Ich fürchte, ich habe deinen Kaktus ertränkt. Tut mir Leid.«
 

»Hab am Dienstag in deinem Bett geschlafen, nachdem ich dein Bad geputzt habe. Sehr gemütlich.«
 

»Seit wann hast du Cola im Kühlschrank?«
 

»Habe eins deiner Hemden geklaut, um darin zu schlafen.«
 

Jannis seufzte und konnte sich ein neuerliches Lächeln nicht verkneifen. Er sammelte die Zettel von Wänden, Schränken, Tischen und Spiegeln ein und pinnte sie alle sorgsam an seine Pinnwand über dem Schreibtisch, die ansonsten nur die Telefonnummer seines Haus- und des Tierarztes beherbergte. Nun hingen mindestens fünfzehn kleine Nachrichten von Marek hier. Es war, als hätte Marek genau gewusst, dass Jannis sich irgendwie komisch fühlen würde, wenn er in seine Wohnung zurückkehrte. Hierher, wo niemand war außer ihm und seinen Katzen.
 

Als er schließlich alle Zettelchen eingesammelt hatte, ging er in den Flur und hörte seinen Anrufbeantwortet ab.

»Gestern habe ich mir Seifenblasen gekauft. Ich würde sie dir gern beizeiten zeigen, aber sie wirken einfach bei blauem Himmel am besten, also musst du noch ein wenig warten. Übrigens schmeckt Thunfischbaguette und Erdbeermilchshake ohne dich nur halb so gut. Wenn du wieder zu Hause bist, könntest du mich anrufen. Ich muss dir noch was Wichtiges erzählen. Ich hoffe, dass dein Arm nicht allzu sehr wehtut. Eigentlich wollte ich gestern mit Milupa ins Bett gehen, weil ich mich irgendwie einsam gefühlt habe, aber wahrscheinlich wäre das keine gute Idee gewesen. Vielleicht darf ich ja diese Woche noch mal bei dir übernachten. Oder vielleicht gleich heute Abend? Es ist Silvester.«

Jannis biss sich auf die Unterlippe, um nicht leise in seine stille Wohnung zu lachen. Er stellte sich vor wie Marek mit seinem dicken, flauschigen Chinchilla Milupa ins Bett ging und morgens mit dem grauen Plüschball im Gesicht aufwachte – und mit einer Menge Exkrementen überall auf seinem Kopfkissen.
 

Er griff nach dem Telefonhörer und wählte Mareks Nummer.

»Bist du zu Hause?«, kam Mareks Stimme sogleich aus dem Hörer, nachdem Jannis es nur einmal hatte klingeln lassen.

»Ja, bin eben rein gekommen und hab deine ganzen Nachrichten gelesen«, erklärte er. Marek kicherte leise. Dann verstummte er.

»Kann ich vorbei kommen?«

Jannis blinzelte erstaunt.

»Klar. Kannst du was zu essen mitbringen? Vom Mexikaner oder so? Ich kann mit meinem Arm nicht kochen«, sagte er und dachte im Stillen daran, dass er Kolja für heute Abend absagen würde. Der hatte haufenweise Menschen um sich herum. Marek und er hatten niemanden.
 

»Aber sicher. Und ich bringe meine Seifenblasen mit. Die sind besser als Chinaböller«, sagte Marek und Jannis hörte, dass er strahlte.

»Ich dachte, sie wirken am besten bei blauem Himmel?«, fragte Jannis amüsiert. Marek kicherte erneut.

»Am besten wirken sie, wenn ich sie mit dir zusammen anschaue. Ich bin in einer Stunde da!« Und dann legte er auch schon auf und Jannis schüttelte leicht den Kopf, als er den Hörer auf die Gabel legte. Sein bester Freund war eindeutig verrückt. Und genau deswegen war er wohl sein bester Freund.
 

Marek brachte viel zu viel Essen für sie beide mit. Jannis schrieb eine SMS an Kolja, dass er heute Abend nun doch nicht mehr kommen und Silvester mit Marek ›feiern‹ würde, sofern bei ihnen beiden davon die Rede sein konnte. Schon um acht waren die Verrückten draußen auf den Straßen am Ballern und Feiern und Nerven. Aber Jannis und Marek saßen in Jannis’ Wohnzimmer, tranken Kakao und aßen viel zu viel Schokolade, bis ihnen beiden schlecht war. Bei voll aufgedrehter Heizung kuschelten sie sich unter eine Wolldecke, Lana und Hermes legten sich links und rechts neben sie und Marek zwang Jannis dazu, aus einem seiner Lieblingsbücher vorzulesen.

»Kann ich heut über Nacht bleiben?«, fragte Marek schläfrig. Er lehnte an Jannis’ Schulter.

»Sicher. Und du wolltest mir noch was Wichtiges erzählen«, meinte Jannis und legte das Buch beiseite. Marek lächelte kaum merklich und kuschelte sich noch etwas näher an Jannis.
 

»Ich versuch’s noch mal… mit Sebastian«, erklärte er dann und Jannis lächelte. Das hatte ja auch ewig lang gedauert.

»Und wie kam es zu dieser Anwandlung?«, erkundigte er sich. Marek öffnete seine dunklen Augen und blickte Jannis kopfüber von unten herauf an.

»Ich hab ihn in der Nacht angerufen, als sie mich benachrichtigt hatten… wegen eures Unfalls. Und die ersten Nächte hab ich ja im Krankenhaus geschlafen und dann… war ich über Nacht immer bei ihm, weil ich nicht allein sein wollte. Und dann… kam es irgendwie einfach so«, sagte Marek langsam und bedächtig. Jannis hörte deutlich, dass er immer noch unsicher klang und nicht so recht wusste, ob er das Richtige tat.

»Ich freu mich für euch. Er wird dich sicher nicht enttäuschen«, meinte Jannis ermutigend. Marek lachte leise.

»Ich kenn da auch jemanden, der dich sicherlich nicht enttäuschen wird«, gab er zurück. Jannis spürte, wie er rot anlief. Er lief in letzter Zeit eindeutig zu oft rot an.

»Ja… ja, da… kenn ich auch jemanden«, nuschelte er verlegen.
 

In diesem Moment ging draußen der übliche Radau los.

»Feuerwerk!«, sagte Marek und schob Lana von seinem Schoß. Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, gähnte und stolzierte von dannen. Marek und Jannis schälten sich aus der Wolldecke und gingen hinüber zu einem von Jannis’ Dachfenstern, um hinaus zu sehen. Der Himmel war übersät mit leuchtenden Funken in allen Formen und Farben. Marek tastete nach seiner Hosentasche und Jannis öffnete die Dachluke. Als sein bester Freund die Seifenblasen aufgedreht hatte, hielt er sich den Plastikring vor den Mund und pustete. Sie beobachteten, wie die Seifenblasen in den dunklen Himmel stiegen und kurz das Feuerwerk spiegelten, bevor sie zerplatzten. Marek füllte den Himmel und Jannis’ Wohnzimmer mit Seifenblasen und der träge Hermes hieb ab und an mit der Vorderpfote nach einigen davon.

»Frohes neues Jahr«, sagte Jannis leise und Marek, der die Seifenblasen behutsam wieder zuschraubte und zurück in seine Tasche steckte, umarmte ihn.

»Frohes neues Jahr«, antwortete er.
 

Sie standen einige Zeit in der Kälte, die von draußen hereinströmte, dann lösten sie sich voneinander und Jannis schloss das Fenster wieder. Draußen hörte man immer noch gedämpft das Singen und Grölen und das Feuerwerk.

»Bett?«, fragte Marek und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Jannis nickte. Er räumte das Geschirr in die Küche, füllte Hermes’ und Lanas Wassernapf noch einmal auf und ging dann ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Als er ins Schlafzimmer kam, lag Marek schon eingerollt auf seinem Bett, nur noch mit einer Shorts und einem älteren Hemd von Jannis bekleidet – wohl das, was er aus Jannis’ Schrank geklaut hatte. Jannis lächelte leicht, zog sich aus und warf einen Blick auf sein Handy, als es vibrierte. Eine Kurzmitteilung von Kolja.

»Frohes neues Jahr!«

Jannis legte das Handy immer noch lächelnd auf den Nachtschrank neben seine Brille, schaltete das Licht aus und legte sich behutsam hinter Marek ins Bett. Sein bester Freund seufzte leise, drehte sich zu ihm um und kuschelte sich an ihn.

»Schlaf gut«, flüsterte Jannis und betrachtete kurz Mareks Gesicht. Dann schloss auch er die Augen und lauschte dem dumpfen Feuerwerk draußen, bis er schließlich einschlief.

Drei Jahre, ein Ende, ein Anfang

Langsam aber sicher nähern wir uns dem Ende! Ich freue mich schon richtig :) Meine Schätzung steht bisher noch, es werden also auf keinen Fall mehr als 30 Kapitel. Viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße :)
 

PS: Der 500. Kommentar hat wieder einen Wunsch frei :) (Sofern der Wunsch mir machbar erscheint :P)

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Jannis kam nicht dazu, Kolja allzu bald ebenfalls ein frohes neues Jahr zu wünschen, da Kolja gleich am zweiten Januar seine nächste Operation hatte, bevor er schließlich zur Reha überging.

»Er ist dann hundertfünfzig Kilometer weg von hier?«, fragte Marek mit kugelrunden Augen und einem Strohhalm im Mund. Sie saßen auf einer Parkbank zehn Minuten von der Innenstadt entfernt und selbst bei der klirrenden Kälte hatte Marek auf seinen Erdbeermilchshake bestanden. Jannis hingegen hielt einen großen Pappbecher mit heißer Schokolade in den Fingern. Es hatte geschneit und überall um sie herum war der Boden weiß und mit Kinderfußspuren übersät. Ihr Atem kondensierte in der Luft und Jannis wünschte sich, er hätte Handschuhe angezogen.

»Ja. Einhundertundvierundfünfzig, um genau zu sein«, gab er leicht murrend zurück. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte. Aber es passte ihm kein bisschen in den Kram, dass er Kolja nicht würde besuchen können, wie er es gern wollte.
 

»Du hast es gegoogelt«, sagte Marek amüsiert schmunzelnd und schlürfte an seinem Strohhalm. Jannis grummelte leise.

»Ich hab nur nach der Zugverbindung geschaut«, gab er ungehalten zurück. Marek kicherte. Sie schwiegen eine Weile lang und beobachteten ein Pärchen mit einem Hund, das in ihrer Nähe im Schnee spielte.

»Glaubst du, dass er es schafft?«, wollte Marek nach einer Weile wissen, streckte den Arm aus und warf seinen leeren Pappbecher in den Mülleimer neben der Parkbank.

»Am Anfang war ich mir sicher, dass er es nicht schafft«, meinte Jannis nachdenklich und starrte hinunter auf seine heiße Schokolade, die ihm wenigstens ein kleines bisschen die eisigen Finger wärmte.

»Aber mittlerweile… hab ich keine Ahnung mehr. Er hat am Silvesterabend ein Rollstuhlwettrennen mit seinem Vater durch die Gänge gemacht und gewonnen. Und das, obwohl sein Vater schon jahrelang in diesem Ding hockt«, sagte Jannis mürrisch. Kolja hatte es ihm am Telefon erzählt. Er hatte angerufen, um Jannis von der Operation zu erzählen und natürlich hatte er nicht mit Erzählungen über den Silvesterabend gespart.
 

»Gestern hatte er seine OP, morgen gehe ich ihn noch mal besuchen und dann ist er erstmal weg«, meinte Jannis schließlich, nahm seinen letzten Schluck heiße Schokolade und beförderte den Becher Mareks Milchshake hinterher in den Mülleimer. Marek beobachtete ihn von der Seite, doch Jannis starrte stur geradeaus.

»Du wirst ihn vermissen, oder?«, fragte sein bester Freund leise. Jannis grummelte.

Er wollte diese Frage ungern beantworten. Aber die Vorstellung, dass er viele Wochen lang höchstens mit Kolja telefonieren könnte, war komisch. Am Anfang hatte es ihn genervt, dass Kolja immer und überall aufgetaucht war und dass sie sich so oft gesehen hatten. Doch jetzt… jetzt hatte er sich womöglich daran gewöhnt. Und er konnte nicht so tun, als wäre Koljas Anwesenheit nicht angenehm. Und seine Stimme zu hören und ihn lächeln zu sehen und von ihm geküsst zu werden…
 

Jannis hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Er war es nicht gewöhnt so anhänglich zu sein. Das war zum Verrücktwerden.

»Vielleicht ein wenig«, gab er ungehalten zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte hinauf in den eisgrauen Himmel. Marek lachte leise.

»Seid ihr nun eigentlich zusammen?«

Jannis drehte den Kopf und sah Marek stirnrunzelnd an.

»Nein. Wir… haben noch nicht wieder drüber geredet. Er meinte, bis einer von uns weiß, was er will, lassen wir das erstmal auf sich beruhen…«

Marek lachte schon wieder.
 

»Aber du weißt doch schon, was du willst«, meinte er gut gelaunt und erhob sich. Jannis seufzte. Marek hatte gut reden.

»Wie läuft es mit Sebastian?«, fragte Jannis, um vom Thema Kolja abzulenken. Auf Mareks Gesicht breitete sich ein Strahlen aus, das die Sonne hinter der Wolkendecke bestens ersetzen konnte.

»Toll! Du musst dich das auch trauen, Jannis, ehrlich! Ich bereu es kein bisschen. Und nachher nehmen wir uns an euch beiden ein Beispiel und gehen Eislaufen.«

Jannis sah Mareks begeistertes Gesicht an und seufzte. Wenn er morgen zu Kolja ins Krankenhaus ging, dann würde er versuchen, noch einmal mit ihm über dieses heikle Thema zu reden.
 

Kolja lag im Bett, als Jannis am nächsten Tag sein Zimmer betrat. Er lächelte ihm entgegen, sah aber eindeutig ziemlich müde aus.

»Alles ok bei dir?«, fragte Jannis ungewollt besorgt, während er sich dem Bett näherte und sich schließlich an Koljas Bett setzte. Kolja nickte und unterdrückte ein Gähnen.

»Ich hab grad noch anderen Besuch…«, meinte Kolja. Jannis zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich waren Koljas Freunde oder seine Tante wieder da. Und er konnte ja noch mit ihm reden, wenn der Besuch wieder verschwunden war.

»Bin noch ein bisschen müde. Narkosen sind offenbar einfach nichts für mich«, erklärte Kolja und gähnte erneut. Jannis schaffte ein Lächeln.

»Wie lange musst du bei dieser Reha bleiben?«, erkundigte sich Jannis möglichst beiläufig. Koljas Schmunzeln wurde ziemlich verschmitzt.

»Mindestens drei Monate. Je nachdem, wie die Fortschritte sind, eventuell auch länger. Wenn es gut läuft, kann ich danach zur normalen Physiotherapie gehen«, erklärte Kolja und betonte das letzte Wort. Jannis öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch in diesem Moment ging die Tür auf und Jannis wandte sich um.
 

»Ich konnte Cola ergattern und an der Rezeption vorbeischmu–«

Ein junger Mann mit dunklem Haar und Brille war hereingeschneit und hielt eine Flasche Cola in der Hand. Als er Jannis erblickte, brach er mitten im Satz ab und blinzelte. Sie starrten sich ein paar Sekunden lang an und Jannis hatte das dumpfe Gefühl, dass irgendetwas komisch war. Im nächsten Moment erklärte Kolja, woher dieser Eindruck rührte.

»Robert, das ist Jannis. Jannis, das ist Robert«, sagte er und Jannis hörte an Koljas Stimme, dass ihm die Situation ein wenig unangenehm war.

Robert war kleiner als Jannis. Er trug einen dicken Pullover und eine Jeans. Jannis konnte nicht aufhören ihn anzustarren.

»Hallo«, sagte Robert mit einem merkwürdig schiefen Lächeln und reichte Jannis die Hand, nachdem er die Cola auf Koljas Nachtschrank abgestellt hatte. Jannis ergriff sie und schüttelte sie kurz.
 

»Jannis also«, meinte er und ließ sich auf einem Stuhl auf Koljas anderer Bettseite nieder. Jannis hob die Brauen.

»Ich bin Koljas Exfreund«, sagte Robert und Jannis spürte, wie seine Eingeweide sich verkrampften. Na wunderbar. Koljas Exfreund sah aus wie… er.

»Tatsächlich«, sagte Jannis steif und ersparte sich einen Blick auf Koljas Gesicht. Es störte ihn nun eindeutig doch, dass Kolja Besuch hatte. Was um alles in der Welt machte sein Exfreund hier? Und wieso sah Robert verdammt noch mal genauso aus wie er selbst?

Er stand auf.

»Ich wollte gar nicht lange bleiben«, hörte Jannis sich sagen und spürte, wie Robert ihn musterte.

»Jannis…«, fing Kolja an, aber Jannis achtete nicht auf ihn.

»Viel Erfolg bei deiner Reha«, sagte Jannis abweisend, wandte sich um und stapfte zur Tür. Etwas lauter als nötig knallte er sie zu.
 

Was für ein tolles Gefühl. Er sah aus wie eine Kopie von Koljas Exfreund. Wütend fuhr er mit dem Fahrstuhl hinunter ins Erdgeschoss und ignorierte das Klingeln seines Handys. Sollte Kolja doch zu seiner blöden Reha fahren und sich von seinem Exfreund besuchen lassen. Es machte wahrscheinlich keinen Unterschied, wer von ihnen dort hinfuhr.

Sollte das eine Art Beuteschema sein? Oder war Kolja immer noch nicht über Robert hinweg und hatte sich deshalb jemanden gesucht, der genauso aussah wie er?

Sein Handy klingelte erneut. Jannis grummelte leise, fischte es aus seiner Jackentasche und schaltete es aus. So hatte er sich sein Gespräch mit Kolja und den Abschied eigentlich nicht vorgestellt. Aber Kolja hatte es galant vermieden, Jannis gegenüber zu erwähnen, dass er noch Kontakt zu seinem Exfreund hatte – der aussah wie Jannis.
 

Als er in seiner Wohnung ankam, griff er nach dem Telefonhörer.

»Ja?«, meldete sich Mareks Stimme.

»Ich bin’s«, sagte Jannis und beschloss, dass er nicht um den heißen Brei herum reden wollte, »Kolja hatte Besuch von seinem Exfreund und der sieht aus wie ich.«

Stille am anderen Ende.

»Oh. Aber… er ist Koljas… na ja… Exfreund, oder?«, sagte Marek schließlich.

»Na und? Vielleicht hat dieser Robert mit Kolja Schluss gemacht und jetzt brauchte er einen Ersatz. Er hat mir nichts von einem Exfreund erzählt«, sagte Jannis störrisch und ziemlich schlecht gelaunt, während er seine Schuhe auszog und ins Wohnzimmer ging, um sich aufs Sofa fallen zu lassen.
 

»Du bist ja eifersüchtig«, sagte Marek und klang ausgesprochen interessiert. Jannis grummelte leise.

»Wärst du auch, wenn Sebastians Exfreund bei dir auftauchen und genauso aussehen würde wie du«, gab er miesepetrig zurück. Marek kicherte.

»Ich bin sein erster Freund«, erklärte er scheinheilig.

»Wie schön für dich!«, motzte Jannis ungehalten, »Ich bin aber nicht…«

»Nicht Koljas erster Freund? Stimmt. Aber er sieht ja auch ziemlich gut aus und er ist nett und aufgeschlossen und–«

»Marek… du weißt, dass du mein bester Freund bist, aber wenn du nicht gleich die Klappe hältst, dann erwürge ich dich«, knurrte Jannis. Marek kicherte.

»Du hast mich angerufen, also beschwer dich nicht«, kam prompt die Antwort. Jannis seufzte. Marek war ein hoffnungsloser Fall. Und Jannis hatte nun immer noch keine Ahnung, was er tun wollte.
 

»Du könntest mit Kolja reden«, schlug Marek mit Unschuldston vor. Jannis stöhnte.

»Er hat schon zwei Mal versucht mich anzurufen, ich hab keine Lust jetzt mit ihm… warte mal, es hat eben geklingelt«, sagte Jannis irritiert. Marek gluckste.

»Kolja wird es diesmal wohl nicht sein. Und ich bin es auch nicht«, erklärte Marek in aller Seelenruhe, während Jannis zur Tür ging und zögerte. Wollte er die Tür aufmachen?

»Mach schon auf«, sagte Marek als könnte er genau sehen, wie Jannis unschlüssig vor der Tür stand. Sein bester Freund war gruselig, soviel stand fest.

Seufzend drückte er auf den Klingelknopf und öffnete die Tür.

»Und? Wer ist es?«, wollte Marek gespannt wissen. Jannis wartete, bis jemand auf dem Treppenabsatz vor seiner Wohnung erschien und kaum erkannte er den dunklen Haarschopf und die Brille, knallte er die Tür wieder zu.
 

»Koljas Exfreund«, sagte Jannis. Wütend starrte er die Tür an. Ständig tauchten Leute in seiner Wohnung auf, die er nie eingeladen hatte. Erst tauchte Kolja auf, während er mit Marek knutschte, dann kam Sebastian, um über Marek zu reden und nun tauchte zu allem Überfluss auch noch Koljas Exfreund auf, um ihm auf den Senkel zu gehen?

Es klopfte.

»Du könntest ihm öffnen und hören, was er zu sagen hat«, meinte Marek beiläufig.

»Tolle Idee. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, mit dem ich weniger reden wollen würde«, knurrte Jannis ungehalten.

»Deine Eltern«, schlug Marek vor. Jannis stöhnte.

»Ja, gut! Meine Eltern. Aber darum geht es hier nicht. Ich ruf später wieder an«, sagte Jannis, als es erneut klopfte.

»Viel Spaß«, sagte Marek und er klang eindeutig amüsiert. Jannis legte auf und legte den Hörer auf die Kommode, dann riss er die Tür auf.
 

»Was willst du?«, herrschte er den unerwünschten Besucher an, der die Hand erhoben hatte, offenbar, um ein drittes Mal zu klopfen. Jetzt ließ er sie langsam sinken und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Reden«, sagte er. Jannis verdrehte die Augen.

»Was wollen immer alle mit mir reden?«, brummte er ungehalten. Er würde diesen Brille tragenden Zwerg nicht in seine Wohnung lassen!

»Du bist so schnell abgehauen, da blieb keine Zeit mehr, um irgendetwas zu besprechen«, giftete Robert ungehalten und sah Jannis funkelnd an.

»Und du bist mir nachgerannt, oder was?«, fragte Jannis. Je länger er Robert ansah, desto schlechter wurde seine Laune. Er war zwar kleiner und schmächtiger als Jannis… aber sie würden sicherlich als Brüder durchgehen, wenn es darauf ankam.
 

»Korrekt.«

Jannis war noch nie ein besonders gewalttätiger Mensch gewesen, aber gerade hatte er eindeutig das Bedürfnis, Robert eine rein zu hauen.

»Tolle Leistung. Dann sag schnell, was du sagen willst, damit ich wieder meine Ruhe habe!«

Robert sah nicht so aus, als wäre er sehr erpicht darauf, mit Jannis zu reden, und Jannis fragte sich, ob Kolja ihn darum gebeten hatte.

»Kolja und ich waren drei Jahre zusammen.«

Jannis klappte der Mund auf. Drei Jahre?

»Und das interessiert mich brennend, weil…?«, gab er kühl zurück. Innerlich brodelte er. Drei Jahre. Wunderbar. Kolja hatte eine drei Jahre andauernde Beziehung hinter sich. Das wurmte ihn dermaßen, er hätte am liebsten irgendjemanden angeschrieen.
 

»Er hat Schluss gemacht, als sein Studium begonnen hat. Am Anfang wollte er nicht wirklich damit rausrücken, wieso er nicht mehr mit mir zusammen sein will. Als er damit rausgerückt ist, wollte ich ihn am liebsten umbringen«, sagte Robert, immer noch mit verschränkten Armen. Jannis hob die Brauen.

»Er sagte, er hätte schon länger nur noch freundschaftliche Gefühle für mich und nun hätte er jemanden kennen gelernt und er würde nicht mit mir zusammen sein wollen, wenn er für jemand anderen Gefühle solcher Art hat…«

Jannis war sich nicht sicher, was er davon halten sollte und er wusste nicht so recht, ob er die Geschichte schon ganz durchschaut hatte, aber sein Herz wummerte wie verrückt.

»Und?«, fragte er miesepetrig.

»Er hat mich für dich verlassen, du elender Volltrottel!«, motzte Robert und nun löste er seine Hände endlich aus der Verschränkung und ballte die Hände zu Fäusten.

»Also hast du keinen Grund, dich wie eine Drama- Queen aufzuführen, nur weil wir immer noch befreundet sind! Du hast die Chance mit ihm zusammen zu sein, ich nicht!«
 

Jannis blinzelte. Robert sah aus, als würde er gleich ausrasten und ihn schlagen, oder aber als würde er gleich anfangen zu heulen.

»Nur damit du es weißt: Ich liebe ihn immer noch. Und ich habe schon mehrmals versucht, ihn irgendwie zurück zu bekommen. Aber je länger er Zeit mit dir verbracht hat, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass es hoffnungslos ist. Und nur weil wir uns ein bisschen ähnlich sehen, musst du dich noch lange nicht so anstellen!«

»Schön, dass du das sagst«, gab Jannis wütend zurück, »du hast leicht reden. Du musst dich ja auch nicht wie eine billige Kopie von irgendeinem Exfreund fühlen!«

Robert schnaubte.

»Wir sind uns kein Stück ähnlich. Kolja hat mir alles über dich erzählt. Ich liebe Hunde und esse am liebsten Schnitzel mit Pommes, ich bin gern draußen und in meiner Freizeit mache ich am liebsten Kampfsport und gehe mit Freunden aus. Ich weiß, dass du Vegetarier bist und nie ausgehst und dass du ein Katzenmensch bist und… ich bin so sauer auf dich, weil du dich nicht unendlich dankbar dafür zeigst, dass er mit dir zusammen sein will!«
 

Jannis starrte ihn an. Da stand Koljas Exfreund mit feuchten Augen und nahm ungehalten die Brille ab, um sich über die Augen zu wischen. Je genauer man hinsah, desto weniger ähnlich sahen sie sich. Eigentlich machte es hauptsächlich die Brille und die Haarfarbe, wenn Jannis es recht bedachte. Robert hatte volle Lippen und Sommersprossen, hellere Augen und… Jannis kam sich lächerlich vor. Aber trotzdem war er noch eifersüchtig. Wie viel Zeit hatte dieser junge Mann mit Kolja verbracht? Und er wusste so viel über ihn. Jannis hatte wieder einmal das Gefühl, gar nichts über Kolja zu wissen.

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und seufzte.

»Tut mir Leid«, brummte er schließlich ohne Robert anzusehen.

»Das will ich hoffen«, gab Robert zurück und wandte sich ab.

»Und ich hoffe, dass du deinen Arsch zu ihm bewegst und das in Ordnung bringst. Ich mag vielleicht kleiner sein als du, aber einen Bücherwurm wie dich krieg ich allemal klein!«

Jannis schüttelte den Kopf, als Robert die Treppen hinunter rannte und verschwand. Eigentlich hatte er Marek wieder anrufen wollen. Aber nun hatte er erst einmal etwas anderes zu tun.

Ein Abschied mit Versprechen

So, hier haben wir das nächste Kapitel. Es ist ziemlich fluffig und kitschig und enthält viel Liebe und ich hätte noch zehn Seiten so weiter schreiben können, aber die Handlung schrie von hinten nach Aufmerksamkeit und wollte sich nicht ruhigstellen lassen. Das Kapitel ist für Lisa, weil ich es ohne ihre Anwesenheit gar nicht erst angefangen hätte ;)

Viel Spaß damit!

Liebe Grüße :)

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Jannis war nicht der Typ für sportliche Aktivitäten. Aber so schnell war er noch nie in seinem Leben von einem Punkt zum anderen gekommen. Daher keuchte er ziemlich angestrengt, als er schließlich vor Koljas Zimmertür stand. Robert war weit und breit nicht zu sehen. Er hoffte inständig, dass Koljas Familie nicht dort drin war und auch sonst kein Besuch. Mit hämmerndem Herzen klopfte er gegen die Tür und sein mulmiges Gefühl steigerte sich rapide, als Koljas Stimme ›Herein‹ rief.

»Oh… hallo«, sagte Kolja unsicher, als er Jannis sah. Kolja saß im Rollstuhl vorm Fenster und drehte sich zu ihm um. Er sah besorgt aus und Jannis hatte sofort ein noch schlechteres Gewissen, als vor fünfzehn Minuten. Jannis schluckte. Auf dem Weg hierher hatte er sich schon genauestens überlegt, was er sagen wollte, nun war sein Kopf leergefegt. Er räusperte sich vielsagend, öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder.
 

Kolja kam mit dem Rollstuhl zu ihm herüber gefahren und Jannis fühlte eine Schwere, als er das sah. Es war nicht richtig. Kolja musste aufstehen und gehen. Er sah zu, wie Kolja vor der Tür Halt machte und den Schlüssel umdrehte.

»Vorhin hab ich das erste Mal meine Beine verflucht, weil sie nicht funktionieren«, sagte Kolja leise und drehte den Rollstuhl wieder um, sodass er Jannis von unten herauf ansehen konnte.

»Ich wollte dir unbedingt hinterher, aber es ging nicht.«

Sie sahen sich an. Jannis wurde ziemlich nervös unter dem eindringlichen Blick der blauen Augen. Wann genau war eigentlich dieser Moment gewesen, als ihm die Farbe aufgefallen war und als diese Augen Bedeutung bekommen hatten? Er wusste es nicht mehr. Die Vorstellung, dass er Kolja vor drei Monaten noch furchtbar gefunden hatte, war mittlerweile richtiggehend absurd. Wieso hatte er sich so gesträubt? Was für eine Zeitverschwendung das gewesen war… und jetzt würde er Kolja mehrere Monate nicht sehen.
 

Er sollte endlich reinen Tisch machen, bevor Kolja verschwand. Wer wusste, wann er ihn wieder sehen würde? Er holte tief Luft und folgte Kolja hinüber zum Bett. Leicht beklommen schaute er zu, wie sich der andere aus dem Rollstuhl stemmte und dann kurz in der Schwebe blieb. Jannis streckte die Hände aus und half Kola zurück ins Bett. Dort saß er nun und betrachtete seine Beine, die in einer grauen Jogginghose steckten.

»Robert ist mir bis zu meiner Wohnung nachgekommen«, murmelte Jannis schließlich und setzte sich neben Kolja aufs Bett. Dunkel fragte er sich, wieso Kolja die Tür abgeschlossen hatte, aber bei all den Unterbrechungen, die ihnen ständig passiert waren, sollte ihn das nicht wundern. Immerhin wollten sie in Ruhe reden.

»Ich… ich hätte nicht einfach abhauen sollen. Aber ich war so…«

Er brach ab und senkte den Blick. Er brachte das Wort ›eifersüchtig‹ kaum über seine Lippen. Koljas Blick kribbelte in seinem Nacken.
 

»Ich war noch nie eifersüchtig. Damit… konnte ich nicht umgehen. Tut mir Leid«, murmelte er schließlich nach einigen Momenten der Überwindung. Als er es schließlich wagte aufzusehen, sah er, dass sich auf Koljas Gesicht ein liebevolles Lächeln ausgebreitet hatte. Sein Bauch begann zu kribbeln.

»Ist es blöd, wenn ich mich gerade wie ein Verrückter darüber freue, dass du eifersüchtig warst?«, fragte er und rückte ein Stück zu Jannis hinüber. Jannis spürte Koljas Schulter an seiner eigenen und hielt einen kurzen Moment die Luft an. Die Spannung, die plötzlich herrschte, machte ihn nervös. Sein Herz trommelte aufgeregt in seiner Brust. Würde das irgendwann nachlassen, dass Kolja ihn so hibbelig machte?

»Nein… das… das ist ok«, gab er mit leicht kratziger Stimme zurück. Kolja lachte leise und Jannis spürte Fingerspitzen in seinem Nacken. Er erschauderte kaum merklich und bekam prompt eine Gänsehaut an den Unterarmen.

»Ich freu mich, dass du zurück gekommen bist«, murmelte Kolja und seine Finger glitten über Jannis Hals nach vorn, zeichneten seine Wangenknochen nach, strichen über seine Schläfen und wieder hinunter, bis sie auf Jannis’ Brust zum Liegen kamen, wo Kolja nun sicher sein heftig hämmerndes Herz fühlen konnte.
 

»Sag mal…«, begann Kolja und zog seine Finger von Jannis’ Brustkorb zurück. Jannis hob den Kopf und sah Kolja an.

»Bist du noch hier, wenn ich wieder komme… von der Reha?«, fragte er zögerlich, so als hätte er Angst vor der Antwort. Jannis blinzelte verwirrt.

»Wo sollte ich denn sonst sein?«, entgegnete er. Kolja lachte leise.

»Ich meine… wartest du auf mich? Bis ich wieder da bin?«

Jannis starrte ihn an. Dann grummelte er und spürte, wie sein Gesicht heiß wurde.

»Wo sollte ich sonst sein?«, motzte er ungehalten, »Was denkst du denn, wie schnelllebig ich bi–«

Kolja ließ ihn nicht ausreden. Er beugte sich vor und presste seine Lippen so heftig auf Jannis’ Mund, dass er leicht wankte. Und dann zog Kolja ihn mit sich nach hinten aufs Bett.
 

Hitze stieg in ihm auf, als sie ihre Lippen verlangend gegeneinander bewegten. Er hatte nichts gesagt. Nur, dass er hier sein würde. Was hatte Kolja denn gedacht? Dass Jannis sich aus dem Staub machte und sich irgendeinen Kerl anlachte, um sich die Wartezeit zu vertreiben? Koljas Finger zupften an Jannis’ Pullover und schoben ihn nach oben, ehe sie sich darunter stahlen und über die warme Haut glitten. Jannis unterdrückte ein Keuchen, während Koljas Fingerspitzen ihn kurz am Bauch kitzelten und dann nach oben wanderten, seine Seite entlang strichen und sein Schlüsselbein nachzeichneten. Wie konnten ihn solche vorsichtigen Berührungen schon dermaßen zum Durchdrehen bringen?
 

Koljas Zunge jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken und Jannis drückte sich näher an Kolja, schlang seine Arme um ihn und fast war es ihm peinlich, wie heftig er diesen Kuss erwiderte. Undeutlich spürte er, wie er sich die Schuhe von den Füßen streifte und dann löste er den Kuss widerwillig, jedoch nur, um ganz aufs Bett zu krabbeln. Kolja folgte ihm wortlos, die glänzenden Augen fiebrig auf ihn gerichtet. Der gläserne Blick machte Jannis noch nervöser, als er es ohnehin schon war, aber gleichzeitig hatte er das Gefühl, er würde jeden Moment vergehen, wenn er Kolja nicht weiter küsste und ihn anfasste.
 

Ihre Lippen trafen sich erneut und Jannis wagte es diesmal, seine Finger behutsam unter Koljas Kapuzenpullover zu schieben. Er spürte kurze, weiche Härchen an Koljas Bauch, ließ seine Hände zu Koljas Rücken huschen und drückte ihn näher an sich. Kolja war schmaler als er und trotzdem eindeutig muskulöser. Jannis zeichnete die Muskeln am Rücken nach, strich über Koljas leicht spitze Schulterblätter und kraulte ihn sachte im Nacken, während sie sich küssten und küssten, als würde morgen die Welt untergehen. Und irgendwie würde sie das ja auch, dachte Jannis wehmütig, denn vielleicht würden sie sich heute für Monate das letzte Mal küssen und ansehen können…
 

»Jannis…?«, nuschelte Kolja gegen seine Lippen und knabberte leicht daran. Jannis unterdrückte erneut ein Aufkeuchen.

»Hm?«

»Ich werd sterben ohne dich…«

Sein Herz sprang ihm in die Kehle und verdoppelte das Tempo, als Koljas Worte in seinem benebelten Gehirn einen Sinn hinterließen.

»Wehe«, murmelte er undeutlich und tupfte seine Lippen auf Koljas Wangen, sein Kinn, in seine Mundwinkel und dann wieder mitten auf den Mund.

»Kommst du mich mal besuchen?«

Jannis zog seinen Kopf ein wenig zurück und nahm die Brille von seiner Nase. Irgendwie störte sie ihn, auch wenn er Kolja nun nicht mehr ganz so scharf sehen konnte. Vielleicht sollte er doch über Kontaktlinsen nachdenken…

»Ich werd’s versuchen… aber ich muss… an meiner… Bachelorarbeit schreiben«, nuschelte er, während Kolja immer wieder seine Lippen besetzte.
 

»Wow… du bist bald fertig…«

Jannis schmunzelte leicht und betrachtete Kolja aus der Nähe. Dann streckte er seinen rechten Zeigefinger aus und zeichnete die Konturen von Koljas Gesicht nach. Der hielt ganz still und sah ihn aufmerksam an.

»Danach mach ich noch meinen Master. Von fertig kann also keine Rede sein«, sagte er leise.

»Dann studieren wir noch ein bisschen zusammen…«

Jannis nickte.

Er malte mit seiner Fingerkuppe Koljas Mund nach, der die Augen schloss und nach seinem Finger schnappte. Im nächsten Moment flammten Jannis’ Wangen auf, als Kolja sachte an seinem Finger saugte und ihn kurz mit seiner Zunge umschmeichelte, ehe er ihn aus seinem Mund entließ. Dann öffneten sich seine blauen Augen wieder.
 

»Du… du machst das mit Absicht, oder?«, fragte Jannis und seine Stimme klang so heiser als hätte er stundenlang geschrieen.

Kolja schmunzelte leicht.

»Ich kann halt nicht genug von dir bekommen… vielleicht will ich nur sicherstellen, dass es dir mit mir genauso geht?«

Jannis brummte leise und verlegen. Seine Hose war dank des Knutschens ohnehin schon sehr eng, doch nach dieser Aktion war es noch schlimmer geworden.

»Keine Sorge… das klappt auch so ganz gut.«

Kolja blinzelte erstaunt, dann strahlte er ihn an, als hätte Jannis ihm das schönste Kompliment der Welt gemacht.

Jannis zögerte einen Moment lang, dann beschloss er, dass er doch noch mal das leidige Thema anschneiden musste.

»Kann ich… kann ich dich was fragen?«

Kolja pustete sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Klar.«
 

Jannis wusste nicht, wie er es am besten sagen sollte. Er hatte einfach keine Ahnung von diesen Dingen.

»Robert meinte… du hättest mit ihm Schluss gemacht… wegen mir. Aber am Anfang… na ja…«

Er unterbrach sich. Stottern war blöd. Wieso konnte er keine ganzen Sätze formulieren, wenn er über solche Themen sprach? Das war doch zum Verrücktwerden. Kolja musterte ihn.

»Ich hatte schon länger darüber nachgedacht, mit ihm Schluss zu machen«, meinte Kolja und malte Muster auf Jannis’ Pullover, »und dann kam ich in dein Tutorium… und… tja.«

Jannis sah ihn fragend an. Kolja sah plötzlich verlegen aus.

»Damals, als ich Robert kennen gelernt habe, waren wir erst gute Freunde. Es war mehr so ein schleichender Prozess, bis wir irgendwann festgestellt haben, dass wir uns mehr mögen, als Freunde das normalerweise tun. Aber bei dir war es anders. Ich kam in diesen Raum und du warst da und du… hast mich umgehauen. Es war ein… Boom.«

Jannis schwankte zwischen Amüsement und Verlegenheit.

»Ein Boom?«, wiederholte er. Kolja lachte.

»Ja. Ich hab dich angesehen und deine Stimme gehört und ich fand mich selbst lächerlich, weil ich so unbedingt in deiner Nähe sein wollte, obwohl wir uns ja gar nicht gekannt haben. So was ist mir noch nie passiert… nicht so…«
 

Er machte eine Pause und blickte einen Moment lang versonnen drein, so als würde er sich an die schönste Zeit seines Lebens erinnern. Jannis wartete gespannt und mit immer noch hämmerndem Herzen darauf, dass er weiter sprach.

»Vor allem, weil du mich an Anfang nicht leiden konntest, schien das als Grund, um mit Robert Schluss zu machen, irgendwie unsinnig. Aber ich wollte ihn nicht anlügen und ich war schon nach ein paar Wortwechseln so vernarrt in dich, dass ich mit Robert nur noch aus Gewohnheit und Mitleid zusammen geblieben wäre. Und das soll ja so nicht sein… Spätestens, als wir im Museum waren…«

Er unterbrach sich erneut. Sein Blick ließ Jannis schwer schlucken.

»Man Jannis«, murmelte er und Jannis’ Herz sprengte ihm beinahe die Rippen, »ich bin so verknallt, ich glaub, ich dreh durch.«
 

Jannis’ Herz blieb stehen. Er würde gleich sterben, soviel stand fest. Wie konnte Kolja das einfach so sagen und ihn dabei auch noch direkt ansehen? Jannis konnte nicht sprechen, also küsste er Kolja einfach. Das musste als Antwort reichen. Und als Kolja seine Arme um ihn schlang, da wusste Jannis, dass er ihn auch so verstand.

Jannis beugte sich über Kolja. Das hier war das erste Mal, dass er Kolja von sich aus küsste, seit diesem einen Mal, als er ihm die Unterlagen gebracht hatte. Es war ein bisschen merkwürdig, halb auf Kolja zu liegen, vielleicht weil er selbst sonst immer in der eher passiven Position gewesen war, aber Kolja schien sich nicht daran zu stören. Er schlang die Arme um Jannis’ Nacken und zog ihn noch näher, wenn das überhaupt möglich war, denn Jannis drückte sich schon so eng an Kolja, dass dieser womöglich bald erstickte.

»Bleibst du über Nacht?«, nuschelte Kolja zwischen zwei Küssen.
 

Jannis fühlte sich wie ein Kind vor der Einschulung. Wieso war er so aufgeregt? Das war doch alles nicht mehr normal.

»Geht das überhaupt?«

»Mir egal. Ich muss bald ein paar Monate ohne dich aushalten, da will ich wenigstens noch die eine Nacht haben«, erklärte Kolja und er klang beinahe ein wenig trotzig, was Jannis zum Lächeln brachte. Prompt seufzte Kolja hingerissen.

»Du solltest öfters lächeln«, meinte er leise und sah von unten hinauf in Jannis’ Gesicht.

»Ich werd üben, bis du wieder da bist«, gab er zurück und Kolja lachte leise.

»Ich freu mich schon auf das Ergebnis«, nuschelte er und küsste Jannis noch einmal.
 

Sie schliefen nicht viel in dieser Nacht. Stattdessen redeten sie und küssten sich und taten Dinge, die Jannis eine Zeit lang Kopfzerbrechen bereitet hatten. Aber seine Träume und seine eigenen Hände waren nichts im Vergleich zur Realität und zu Koljas Fingern. Erst morgens um fünf schliefen sie ein und waren dementsprechend müde, als um acht Uhr Schwester Anna gegen die Zimmertür polterte und sich danach bei Kolja beklagte, weil er abgeschlossen und einen Gast eingeladen hatte, was eigentlich nicht erlaubt war. Kolja störte sich nicht daran. Er drehte Pirouetten mit seinem Rollstuhl, als er auf dem Weg ins Bad war, und begrüßte seine Schwester und seinen Vater besonders gut gelaunt, als sie ihn abholen kamen. Jannis lächelte innerlich stumm vor sich hin. Kolja war… ziemlich entzückend, wenn er so gut gelaunt war. Er selbst hatte die Nacht auch als sehr schön empfunden, wenngleich es ihm am Morgen ziemlich peinlich war. Außerdem überwog die Wehmut darüber, dass sie sich nun so lange nicht mehr sehen würden.
 

Als sie am Bahnhof standen, war auch Koljas gute Laune verraucht und er starrte Jannis aus seinem Rollstuhl an.

»Ich nehme dich einfach mit. Du kannst deine Bachelorarbeit in der Klinik schreiben«, schlug er kläglich vor. Jannis seufzte.

»Ich brauche die Bibliothek«, erinnerte er Kolja, der nickte.

»Ja, ich weiß…«

Er warf einen Blick hinüber zu seinem Vater und seiner Schwester, die in diskretem Abstand warteten, damit Kolja sich von Jannis verabschieden konnte. Jannis hatte sich letzte Nacht etwas vorgenommen. Und jetzt hatte er noch genau drei Minuten, bevor Koljas Zug ging. Überall wuselten Menschen umher, aber er sah nur den blonden jungen Mann, der ihn wehmütig ansah.

»Weißt du noch… was du gesagt hast? Wenn einer von uns sich sicher ist, dann reden wir noch mal darüber, was jetzt eigentlich ist… mit uns?«, fragte Jannis und wieder einmal klang seine Stimme heiser und zittrig. Er war furchtbar nervös. Kolja nickte und seine blauen Augen blitzten.
 

»Ich hab lange genug darüber nachgedacht«, fuhr Jannis fort und holte tief Luft.

»Wenn du wiederkommst… dann würde ich gern mit dir… zusammen sein. Wenn du… wenn du das auch willst.«

Auf Koljas Gesicht breitete sich ein Strahlen aus, das der Januarsonne Konkurrenz machte und er streckte die Arme nach Jannis aus. Jannis sah sich peinlich berührt um, aber das gehörte wohl dazu, wenn man eine Beziehung wollte. Und das wollte er mittlerweile mehr als alles andere. Kolja küssen und berühren, wann immer er es wollte, ihn lachen sehen und mit ihm reden und…

»Natürlich will ich…«, nuschelte Kolja nahe seinem Ohr. Jannis drückte ihm hastig einen Kuss auf die Wange und richtete sich wieder auf.

»Natürlich nur, wenn du gehend zurückkommst«, sagte er streng. Kolja lachte.

»Keine Sorge. Das wird mir jetzt noch um einiges leichter fallen«, versprach er lächelnd und Jannis schob sich die Brille auf der Nasenwurzel nach oben.

»Ich geh dann jetzt«, sagte Jannis, denn er würde es nicht verkraften hier stehen zu bleiben, bis der Zug fuhr. Kolja nickte, so als wüsste er sehr genau, was in Jannis vorging. Dann hielt er ihm seinen kleinen Finger hin. Jannis starrte einen Moment lang darauf, dann hakte er mit seinem eigenen kleinen Finger ein.

»Versprochen«, sagte Kolja lächelnd. Jannis nickte nur, weil sein Hals zu trocken war, um etwas zu erwidern. Dann zog er die Hand hastig zurück, winkte Kolja und seiner Familie zu und hastete die Treppen zur Bahnhofshalle hinunter, bevor er es sich noch anders überlegte und doch mit Kolja in den Zug stieg.

Telefonate, Sehnsucht und Schlaflosigkeit

Das Kapitel ist recht inhaltslos, aber ich wollte die Zeit von Koljas Reha- Aufenthalt nicht allzu sehr raffen. Sehnsucht ist eine gute Sache ;) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße :)

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»Deine Eltern haben mir deine Telefonnummer gegeben.«
 

Na wunderbar. Etwas Besseres konnte er sich nicht vorstellen.

»Toll«, war alles, was ihm dazu einfiel. Er saß an seinem Laptop und starrte auf das Worddokument, das er geöffnet hatte. Es handelte sich dabei um seine Bachelorarbeit und er grübelte gerade über einen viel zu langen Schachtelsatz nach.

»…Geschäftsessen und… Sag mal, Jannis? Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja, sicher«, murmelte Jannis abwesend, löschte den Satz und begann ihn umzuformulieren.

»Wirklich nett von dir. Wir haben seit Ewigkeiten nicht miteinander geredet! Ich bin immer noch sauer, weil du einfach abgehauen bist!«

Jannis verdrehte die Augen, als er sich vertippte.

»Sieh mal, Jess. Ich hatte einfach keine Lust mehr darauf. Und ich habe jetzt sogar noch weniger Lust darauf. Daher interessieren mich irgendwelche Geschäftsessen nicht und generell will ich eigentlich nichts über das Thema ›meine Familie‹ oder ›Juristen‹ hören.«
 

Jessika seufzte leise.

»Aber ich werde bald eine Juristin sein«, gab sie zu bedenken. Jannis konnte es nicht fassen, dass er nach all den Jahren nun wirklich mit ihr telefonierte. Er verstand ohnehin nicht, wieso seine Eltern ihr nicht schon längst seine Nummer verraten hatten. Vielleicht hatte sie nie danach gefragt? Das war unwahrscheinlich.

»Wieso haben meine Eltern dir eigentlich jetzt erst meine Nummer gegeben?«, fragte er undeutlich, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. Sein Gips behinderte ihn ziemlich beim Tippen. Er war entnervt und wollte das elende Ding endlich loswerden. Laut Dr. Mertens musste der Gips jedoch noch zwei Wochen sein Begleiter sein. Jannis fragte sich, wie er anständig an seiner Bachelorarbeit arbeiten sollte, wenn er in einer Stunde gerade mal drei Sätze schaffte.
 

»Du bist wohl echt nicht auf dem Laufenden, was? Unsere Eltern haben sich vor etwa zwei Jahren komplett zerstritten. Es ging um einen Fall, der–«

»Keine Juristendetails!«, ermahnte Jannis sie. Jessika verstummte.

»Nun ja, jedenfalls haben sie nicht mehr miteinander geredet und letztens rief deine Mutter bei mir an. Es kam ein wenig überraschend. Ich dachte schon, dass ich nie wieder was von dir hören würde…«

So war es eigentlich auch geplant gewesen. Jannis war ein Meister darin, vor Dingen davonzulaufen, die ihm unangenehm waren. Und das Thema Jessika gehörte eindeutig dazu.

»Und du hast es dir immer noch nicht anders überlegt?«, fragte Jannis hoffnungsvoll. Jessika schwieg.

»Nein. Nein, habe ich nicht.«

Na toll. Er hatte es ja gewusst…
 

»Wie geht’s dir eigentlich? Deine Eltern haben gesagt, du hättest einen Unfall gehabt?«

In ihrer Stimme schwang echte Besorgnis mit und Jannis seufzte. Er war noch nie gut darin gewesen, Jess einfach abzuschmettern. Sie war schlicht und ergreifend zu nett. Und sie mochte ihn. Und wie immer konnte Jannis schlecht damit umgehen, wenn Menschen ihn mochten.

»Es geht mir gut. Ich hab nur einen Gips am Arm. Die Gehirnerschütterung hat sich schon wieder verflüchtigt«, erklärte er und griff nach einem Ordner mit Kopien, um eifrig darin herum zu wühlen.

»Und wie ist das passiert?«

Jannis hielt in seiner Bewegung inne und schwieg einen Moment. Wenn er jetzt sein Worddokument schließen würde, dann könnte er das Foto sehen… das Foto von ihm und Kolja beim Eislaufen.

»Ich hab mich beim Motorradfahren nicht genug in die Kurve gelegt«, sagte er knapp und Jess fragte nicht weiter nach.
 

Jannis hätte nicht gedacht, dass er einmal einen Menschen dermaßen vermissen könnte, dass es beinahe wehtat. Er ertappte sich dabei, wie er ihr Foto anstarrte und wie er Koljas SMS immer und immer wieder las. Das half nicht wirklich, aber er konnte kaum an etwas anderes denken. Und dabei waren erst drei Wochen vergangen, seit Kolja zur Reha gefahren war. Er schrieb ihm täglich, manchmal nur einmal, manchmal auch viermal.
 

»Hier arbeitet ein Arzt namens Dr. Grausam. Ich bin also in guten Händen!«
 

»Heute gab es Gemüselasagne. Deine hat sehr viel besser geschmeckt. Was machst du gerade?«
 

»Ich vermisse dich.«
 

»Wusstest du, dass zwei Drittel aller Menschen die Nase beim Küssen rechts halten? Ich hab versucht, mich dran zu erinnern, auf welcher Seite wir unsere Nasen hatten…«
 

Kolja hatte ihm schon länger mehr keine Sätze dieser Art geschrieben. Aber diesmal freute sich Jannis darüber. Er musste lächeln. In seinem Gedächtnis hingen immer noch all diese sinnlosen Fakten über rosa Kuhmilch und schlafende Delphine.

»Rechts. Eindeutig rechts. Und schreib mir nichts übers Küssen! Das ist unfair.«, war seine Antwort auf Koljas SMS gewesen. Jannis hatte noch nie in seinem Leben so viele SMS bekommen, geschrieben und so häufig telefoniert wie in dieser Zeit.
 

Kolja hatte ihn auch schon nachts um halb drei angerufen.

»Ich kann nicht schlafen… hab ich dich geweckt?«
 

»Nein.«
 

»Wieso bist du noch wach?«
 

»Frag doch nicht so blöd!«

Koljas Lachen durchs Telefon zu hören, war sehr anstrengend. Jannis wollte ihn dabei ansehen. Und überhaupt wollte er ihn umarmen und ihn küssen… Diese sentimentalen Gedanken fand er selbst peinlich, aber da es Kolja offenbar genauso ging, wurde es ein wenig erträglicher. Außerdem hatte er wenigstens Grund dazu, sich zu beklagen, Marek hingegen wimmerte schon, wenn er Sebastian zwei Tage lang nicht sehen konnte, weil sein Freund mit der Ausbildung beschäftigt war und ab und an auf kurze Exkursionen fuhr.

»Ich hab viel nachzuholen«, hatte er Jannis klagend erklärt und ihn missmutig angesehen.

»Ich nicht, oder was?«, hatte Jannis gemeckert und Marek hatte lachen müssen.
 

Jannis hatte es beinahe verdrängt, dass Jessika nun seine Telefonnummer hatte, aber er wurde seit neustem immer öfter daran erinnert, weil Jessika ständig anrief. Sie erzählte ihm von ihrem Alltag und von ihrer ersten eigenen Wohnung, die nicht von ihren Eltern finanziert wurde. Jannis hatte keine Ahnung, was er ihr sagen könnte, damit sie ihn endlich nicht mehr mochte. Er konnte es ohnehin nicht fassen, dass sie nach über zwei Jahren der Funkstille immer noch nicht von ihm abgelassen hatte. Er kannte Jess, seit er dreizehn war. Seine Eltern hatten damals schon dauernd versucht, Jannis für sie zu begeistern und irgendwann hatte er nachgegeben. Sehr zur Freude ihrer beider Eltern und Jess. Der Versuch, mit ihr zu schlafen, war damals in einem Desaster geendet. Marek – der natürlich nicht wusste, dass er Schuld daran gewesen war, dass es nicht geklappt hatte – lachte immer noch darüber, dass Jannis die Sache mit dem Kondom nicht gebacken bekommen hatte.
 

Seine Bachelorarbeit wuchs langsam aber sicher und Jannis bekam endlich den elenden Gips abgenommen. Sein Arm war merklich dünner geworden, weil er ihn nicht hatte bewegen können, und er fühlte sich steif an. Aber Dr. Mertens versicherte ihm, dass das wieder in Ordnung kommen würde.

»Ich bin endlich den Gips los und brauche jetzt für eine SMS nicht mehr zwei Stunden.«, schrieb er Kolja, als er das Krankenhaus verließ und mit seinem schlaffen Arm nach Hause ging.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du ohne Gips schneller tippen kannst.«

Jannis schnaubte und musste schmunzeln. Selbst per SMS war Kolja frech und unverschämt.
 

»Ich bin immer für eine Überraschung gut. Morgen wird mein neuer Sessel geliefert. Wie läuft die Therapie?«
 

Jannis hatte immer ein wenig Angst vor dieser Frage und er stellte sie nur selten. Eine Antwort- SMS, in der stand, dass die Chancen schlecht standen und Kolja keine Fortschritte machte, wollte er auf keinen Fall bekommen.

»Dr. Grausam sagt, ich stelle mich gut an. Hab gestern mit den Zehen vom linken Fuß gewackelt. Wenn das mal kein Durchbruch ist ;)«
 

Abends telefonierten sie drei ganze Stunden lang. Jannis hatte beschlossen, dass er wirklich alles über Kolja wissen wollte. Kolja wusste von diesem Vorhaben nichts, aber er lachte immer, wenn Jannis ihm aus heiterem Himmel eine Frage stellte. Jannis hatte sich unterdessen ein Notizbuch angeschafft und kritzelte darin herum, wenn er mit Kolja sprach. Das Büchlein war mittlerweile fast zur Hälfte gefüllt. Jede winzige Information über Kolja fand ihren Weg hinein. Wenn Kolja das wüsste, dann würde er Jannis entweder auslachen, oder ihn schwindelig knutschen. Jannis gefiel die zweite Vorstellung sehr gut, aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen und so behielt er das kleine Geheimnis für sich.
 

»Als wir uns kennen gelernt haben, hab ich dich dauernd mit Fragen bombardiert. Ist das jetzt die Quittung?«, fragte Kolja und Jannis hörte ihn schmunzeln.

»Stört dich das?«, gab er unsicher zurück und hielt mit dem Bleistift inne, den er für seine Notizen benutzte. Dunkel kam ihm der Gedanken daran, dass er Informationen über Kolja offenbar dauerhaft festhalten wollte. Jannis erinnerte sich an die Metapher mit seinem Papierherz und stellte sich vor, wie Kolja seinen Namen dick und groß mit Bleistift hineingekritzelt hatte. Bleistiftspuren verblassten nicht…

»Nein. Ich finde das ziemlich niedlich«, erklärte Kolja.

»Ich bin nicht…«

Jannis brach ab. Er sagte das jedes Mal, aber Kolja ließ ohnehin nicht locker. Jannis räusperte sich.

»Marek plappert die ganze Zeit darüber, wie er Sebastian am besten entjungfern kann«, rutschte es ihm heraus. Im nächsten Moment lief er scharlachrot an. Was erzählte er Kolja so was? Er hasste es, über das Thema Sex zu reden.

»Tatsächlich«, antwortete Kolja und Jannis hörte das unglaublich breite Grinsen deutlich in seiner Stimme.

»Ähm… ja. Ist aber nicht der Rede wert, ich…«
 

Wieso stammelte er immer noch ständig? Obwohl er Kolja nun schon seit mehreren Monaten kannte, brachte ihn der andere ständig aus dem Konzept, machte ihn verlegen und sorgte dauernd dafür, dass Jannis’ Herz wie verrückt hämmerte und sein Magen kribbelte.

»Jannis, bist du nervös?«

Herrgott, wieso musste Koljas Stimme so samtig weich sein? Man könnte meinen, er hätte sich ein wenig an den anderen gewöhnt.

»Nein, wieso sollte ich?«

Kolja lachte leise.

»Weil du nicht gern über Sex redest vielleicht«, schlug Kolja prompt vor. Jannis fühlte sich ertappt.

»Machst du dir auch Gedanken über so was?«, erkundigte sich Kolja leise und Jannis spürte, wie ihm plötzlich sehr heiß wurde.
 

»Nein!«

Das kam viel zu schnell und Jannis wusste, dass Kolja ihn ohnehin durchschaute. In Wahrheit träumte er ständig von diesen Dingen. Die letzte Nacht vor Koljas Abreise hatte nicht dazu beigetragen, dass seine Sehnsucht nach dem anderen besonders unschuldiger Natur war. Natürlich sprach er gern mit Kolja und hörte seine Stimme… aber er war so weit weg, dass Jannis ständig das Gefühl hatte, er müsste durchdrehen.

Nach dieser Nacht war ihm die Sache furchtbar peinlich gewesen. Er hatte seine Stimme kaum im Zaun halten können. Kolja hatte das nicht im mindesten gestört, im Gegenteil. Als Jannis versucht hatte, sich den Mund zuzuhalten, hatte Kolja ihm sachte die Finger von den Lippen gezogen.

»Ich will deine Stimme hören.«
 

Als er sich an den Klang von Koljas Stimme in diesem Moment erinnerte, bekam er eine Gänsehaut.

»Na ja… vielleicht hab ich mal… kurz drüber nachgedacht«, räumte er mit heiserer Stimme ein.

»Wirklich? Kurz nur? Ich muss ständig daran denken«, meinte Kolja und seine Stimme klang schon wieder viel zu zärtlich. Jannis fragte sich dunkel, womit er so einen Menschen eigentlich verdient hatte. Kolja war schlichtweg zu gut für ihn.

»Vielleicht auch… ein bisschen länger«, nuschelte Jannis und klappte sein Notizbuch zu. Er drehte sich auf seinem Bett auf den Rücken und schaute an die Decke. Einen Moment lang zögerte er, doch dann überwand er sich dazu, die Frage zu stellen, die ihn schon seit einiger Zeit beschäftigte.
 

»Du hast doch sicher mit… also… du und Robert, ihr habt…«

Er brach ab und schwieg. Sein Gesicht sah garantiert aus wie eine Verkehrsampel.

»Robert und ich? Ja, wir haben miteinander geschlafen«, erklärte Kolja ganz sachlich. Ihm machte es natürlich kein bisschen aus darüber zu sprechen.

»Du denkst hoffentlich nicht, dass ich’s eilig habe?«, wollte Kolja dann wissen.

Jannis schloss die Augen. Er lag im Halbdunkel seines Schlafzimmers. Und sprach mit Kolja über Sex. Jannis konnte es nicht fassen.

»Na ja… nein. Nicht wirklich. Es ist nur, damals, als du geklingelt hast, als Marek und ich… Wenn du nicht geklingelt hättest, dann wäre das… das erste Mal gewesen, dass ich…«

Er brach wieder ab. Sollte man mit zweiundzwanzig nicht darüber erhaben sein, dass einem solche Gespräche peinlich waren? Scheinbar galt das für ihn nicht. Wenn er bedachte, dass schon dreizehnjährige Mädchen mehr über Sex geredet hatten als er in seinem gesamten Leben…
 

»Weißt du… ich hasse es, jetzt nicht neben dir zu liegen. Du brauchst dir über nichts Gedanken machen. Weder darüber, dass es mir nicht fix genug geht, noch darüber, dass du noch nie Sex hattest.«

»Musst du solche Sachen immer so direkt sagen?«, grummelte Jannis verlegen und zog sich die Brille von der Nase, um sie neben sich auf den Nachtschrank zu legen.

»Ich bin halt sehr geradlinig«, erklärte Kolja amüsiert. Jannis schnaubte.

»Ja, das ist mir schon aufgefallen… ich werd jetzt mal schlafen gehen. Morgen hab ich um acht Uni und danach setze ich mich wieder an meine Bachelorarbeit«, meinte er und unterdrückte ein Gähnen.
 

»Ich werd garantiert wieder nicht schlafen können. Ich vermiss dich.«

Jannis verschluckte sich an seiner eigenen Spucke.

»Sag so was nicht, wenn ich gähne!«

»Ok, ok. Tut mir Leid«, sagte Kolja liebevoll. Jannis brummte leise.

»Ich dich auch… du Idiot! Gute Nacht.«

Dann legte er auf und warf das Telefon ungehalten neben sich aufs Bett. Peinlich. All das war peinlich.

Er drehte sich auf die Seite, zog die Decke über sich und schloss die Augen. Wieso hatte er überhaupt aufgelegt? Er wusste, dass er ohnehin wieder nicht einschlafen konnte.

Noch mindestens zwei Monate…

Mit Gefühl

Noch ein Reha- Überbrückungskapitel mit viel Freundschaftsfluff und öhm... anderen Dingen, für die ich keinen Namen habe. Ich hoffe, dass ihr es mir nicht allzu übel nehmt, dass ich die komplette Reha einfach ganz kurz zusammenraffe.

Viel Spaß beim Lesen wünsche ich :)

Liebe Grüße :)

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»Wieso beeilst du dich eigentlich so mit deiner Bachelorarbeit? Du hast noch bis Ende des sechsten Semesters Zeit«, fragte Marek mit großen Augen, als Jannis ihn bat, die zweiunddreißig Seiten, die er bisher geschafft hatte, Korrektur zu lesen.

»Ich habe gerade Zeit und je früher ich damit fertig bin, desto weniger Stress habe ich«, sagte Jannis und räusperte sich. Marek schmunzelte und tippte Jannis mit dem Zeigefinger gegen die Wange.

»Nach all den Jahren versuchst du immer noch mich anzulügen«, meinte Marek und schüttelte den Kopf.

»Ja, ok. Ich rackere mir den Arsch ab, damit ich zu Kolja fahren kann, ohne die blöde Arbeit im Hinterkopf zu haben. Hast ja Recht«, brummte Jannis und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Aber wenn du es weißt, wieso fragst du dann noch?«

Marek kicherte und wandte sich wieder dem Dokument zu. Es war ein Wunder, dass er nicht schon nach der zweiten Seite aufgegeben hatte.

»Du musst lernen, diese Dinge auszusprechen, Jannis«, belehrte ihn sein bester Freund abwesend. Dazu fiel Jannis weiß Gott nichts zu sagen ein.
 

»Hast du mittlerweile raus gefunden, wieso deine Ma Jess deine Nummer gegeben hat?«, erkundigte sich Marek, während er zwei Kommatafehler verbesserte und weiter nach unten scrollte. Jannis hätte dieses Thema gerne verdrängt, doch es half ja nichts.

»Du kannst ja mal raten«, sagte er missmutig und verschränkte die Arme vor der Brust. Marek tippte sich gespielt nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen sein Kinn und wiegte den Kopf ein wenig hin und her.

»Sie sind empört darüber, dass ihr Sohn sie so unschicklich behandelt hat und sie sind der Meinung, dass es absolut unakzeptabel ist, dass die Verwandtschaft erfährt, dass du nichts mehr von ihnen wissen willst. Also denken sie, dass Jess dich vielleicht dazu bringen kann, wieder vernünftig zu werden?«
 

Jannis seufzte leise, dann nickte er. Marek schüttelte den Kopf, kommentierte diesen Umstand allerdings nicht, sondern wandte sich wieder dem Worddokument zu.

Jannis verschlang einige Zeit seine Finger ineinander. Sollte er…? Marek würde sicherlich lachen. Andererseits waren sie beste Freunde und mit wem sollte er sonst darüber reden?

»Marek?«

»Hm?«

Marek verbesserte einen weiteren Kommafehler – Jannis war immer schon schlecht in Kommasetzung gewesen.

»Hast du mit… Hattest du schon… mit Sebastian…?«

Marek richtete sich so schnell auf, dass Jannis eindeutig beunruhigt war. Glitzernde, dunkle Augen richteten sich auf ihn und Jannis hatte unweigerlich das Bedürfnis zurückzuweichen.

»Jannis? Bist du es?«, wollte Marek wissen, beugte sich vor und besah sich seinen besten Freund aus der Nähe, wobei er mit der linken Hand Jannis’ Stirn fühlte. Jannis schüttelte ihn ungehalten ab und grummelte.

»Sehr witzig! Ich hätte nicht fragen sollen«, meinte er missmutig und verschränkte die Arme vor der Brust und sah zur Seite.
 

Er spürte deutlich, wie Marek ihn musterte.

»Letzte Woche«, sagte Marek dann und Jannis blickte auf. Mareks Augen leuchteten ihm entgegen und er hatte den Kopf immer noch schief gelegt, sodass ihm einige seiner dunklen Haarsträhnen ins Gesicht fielen.

»Du hast es mir nicht erzählt«, gab Jannis verblüfft zurück. Marek lächelte leicht.

»Du redest ja auch nicht gern drüber. Wenn ich angefangen hätte, davon zu reden, dann hätte ich alle möglichen Details ausgespuckt, die du sowieso nicht hören willst«, erklärte Marek freiweg. Jannis bekam beinahe ein schlechtes Gewissen.

»Vielleicht… vielleicht könntest du das jetzt ja… nachholen?«, schlug er vor und Mareks Lächeln wurde ein wenig breiter, doch es sah nicht so als, als würde er sich über Jannis amüsieren.

»Lass uns einen heißen Kakao kochen. Ich les später weiter«, meinte Marek beschwingt, erhob sich von Jannis’ Schreibtischstuhl und huschte ihm voran in Richtung Küche. Jannis folgte ihm und er fühlte sich merkwürdigerweise ziemlich aufgeregt.
 

Sie kochten sich Kakao, verkrochen sich auf Jannis’ breites Bett und teilten sich den Platz mit Lana und Hermes, die sich prompt zwischen sie quetschten, als wollten sie sicher gehen, dass sie eine Streicheleinheit abbekamen. Jannis pustete in seine Tasse, während Marek scheinbar geistesabwesend darin herumrührte. Dann begann er seinen Kakao zu löffeln.

»Du hast mich noch nie nach Sex gefragt«, stellte Marek fest, den Löffel noch im Mund. Jannis zuckte die Schultern und spürte, wie sein Gesicht heiß wurde.

»Es ist halt nicht unbedingt mein Lieblingsthema…«, gab er murmelnd zurück und kraulte mit der kakaofreien Hand Hermes’ Kopf.

»Aber? Jetzt ist es aktuell geworden?«

Wieso musste ihm dieses Thema so peinlich sein? Es war schrecklich.

»Nicht direkt… ich hab nur letztens mal… drüber nachgedacht«, entgegnete er unsicher. Marek lächelte seiner Tasse entgegen und schob sich noch einen Löffel Kakao in den Mund.
 

»Kolja hatte schon, was?«

Jannis nickte zerknirscht. Natürlich hatte Kolja schon. Jannis ertappte sich bei dem Gedanken daran, dass er sich keinen schwulen oder bisexuellen Mann vorstellen konnte, der nicht mit Kolja schlafen wollen würde. Offensichtlich war er ein wenig geblendet und besessen von Kolja. Das war eindeutig gruselig.

»Mit Robert. Ich weiß nicht, ob er vorher auch schon… Hab nicht nachgefragt«, gab Jannis zurück. Daran hatte er bisher noch gar nicht gedacht. Vielleicht hatte Kolja ja schon vor Robert Freunde gehabt? Oder einfach nur Sex? Was hatte Jannis die letzten Jahre eigentlich gemacht? Ach ja, er war in Marek verliebt gewesen und hatte alle anderen Menschen gehasst… das erklärte, wieso er von Sex keine Ahnung hatte und jetzt so aufgeschmissen war.
 

»Also willst du mit Kolja schlafen?«

Jannis blinzelte, starrte Marek an und wollte schon vehement ›Nein‹ antworten… aber das war nur der erste Impuls gewesen.

»Ähm… ich hab ihm gesagt, dass ich gern mit ihm zusammen sein will, wenn er wieder von der Reha kommt. Und… dann irgendwann… ja?«

Marek kicherte leise auf seine marekhafte Weise. Manchmal musste Jannis an Rumpelstilzchen denken, der bösartige Pläne ausheckte, aber Marek war eindeutig so wenig boshaft wie ein Wattebausch.

»Ich hatte das erste Mal Sex mit fünfzehn«, sagte Marek nachdenklich und rührte in seiner Tasse herum. Jannis wusste das natürlich, aber er unterbrach Marek nicht.
 

»Ich war überhaupt nicht aufgeregt. Es war absolut nichts Besonderes. Ich wollt’s einfach nur ausprobieren. Und ich war beruhigt, wenn Kerle nur Sex von mir wollten, weil Sex nichts Besonderes war. War es noch nie für mich. Vielleicht hab ich irgendwo gewusst, dass es das sein sollte, aber na ja… du weißt ja, wie das ist, wenn man nicht scharf auf Gefühle ist…«

Marek brach ab und schien über etwas nachzudenken. Dann hob er den Kopf und schaute Jannis aus seinen dunklen Augen an.

»Als ich dich kennen gelernt habe, hab ich mir vorgenommen, meinen ersten Sex mit dir zu haben.«

Jannis starrte ihn an. Sie waren dreizehn gewesen. Er hatte keine Ahnung, was er darüber denken sollte.

»Ich hab dann aber festgestellt, dass das wahrscheinlich unsere Freundschaft ruiniert hätte. Also hab ich nichts gemacht. Und als ich dann dieses erste Mal Sex hatte und es so belanglos war, da dachte ich, es wäre mit dir vielleicht doch besser gewesen, weil du der einzige warst, der mir was bedeutet hat. Und dann hab ich dich geküsst…«
 

Die Bilder huschten unweigerlich durch Jannis’ Kopf. Regen. Der Balkon. Fingerspitzen und Lippen und Hitze.

»Es war der absolut beste Kuss, den ich je hatte«, meinte Marek lächelnd. Jannis spürte, wie er schon wieder rot anlief.

»Jahrelang hab ich nie wieder so einen Kuss bekommen. Bis ich dann irgendwann Sebastian getroffen habe und mir klar geworden ist, dass der Kuss einfach nur so toll war, weil Gefühl dabei war. Ich hab so viele Typen geküsst und irgendwie drauf gewartet, dass einer kommt, bei dem es sich anfühlt wie bei dir. Ich hab es einfach nicht verstanden. Und als dann Sebastian kam und es sich genauso gut angefühlt hat, da hab ich kapiert, wonach ich eigentlich gesucht habe und das hat mir Angst gemacht… und als ich zu dir kam… ich dachte, vielleicht kann ich seine Küsse wieder mit deinen überdecken. Ich wollte das alles abstellen. Und ich dachte, wenn bei uns so viel Gefühl dazwischen steckt, dann könnte ich mit dir schlafen und die Gefühle für Sebastian betäuben…«
 

Marek hatte lange nicht mehr so mit ihm geredet. Jannis hielt beinahe die Luft an, weil er ihn auf keinen Fall unterbrechen wollte. Sein Herz klopfte ziemlich doll.

»Es tut mir immer noch Leid, dass ich… ich hätte das wirklich gemacht, wenn Kolja nicht geklingelt hätte. Wahrscheinlich hätte ich mir das nie verziehen«, sagte Marek und nahm noch einen Löffel Kakao. Jannis hatte eine dunkle Vorahnung, was als nächstes kam.

»Jannis? Weißt du… immer, wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, dann glaube ich, dass ich all die Jahre irgendwie verliebt in dich war. Ich hab’s einfach nicht begriffen.«

Einen Moment lang hatte Jannis das Gefühl, er müsste sterben.

»Oh…«, krächzte er und nahm einen Schluck Kakao. Dann beschloss er, dass er es Marek vielleicht auch sagen könnte…?
 

»Dann waren wir ja zu zweit«, nuschelte er. Marek lächelte kaum merklich.

»Wir wären ein schreckliches Paar gewesen. Mit unserer Angst vor Gefühlen und Schwäche«, flüsterte Marek. Jannis nickte ein wenig benommen. Es kam ihm unwirklich vor, dass sie hier nebeneinander lagen und sich gerade gestanden hatten, ihre halbe Jugend ineinander verliebt gewesen zu sein. Marek rutschte ein Stück zu ihm herüber und beugte sich vor und hauchte Jannis einen sanften Kuss auf den Mund. Er schmeckte nach Kakao und bester Freundschaft.

Und Jannis stellte erleichtert fest, dass sein Herz nicht mehr wie verrückt hämmerte. Da war nichts mehr. Nur noch eine Erinnerung.

Eine Weile lang schwiegen sie, kraulten die beiden Katzen zwischen sich und tranken ihren Kakao leer. Dann drehte sich Marek auf den Rücken und lächelte versonnen der Decke entgegen.
 

»Jedenfalls hatte ich letzte Woche das erste Mal in meinem Leben Sex mit Gefühl«, meinte er geradeheraus und Jannis wurde unweigerlich wieder nervös. Dieses Thema machte ihn fertig. Unweigerlich huschten Bilder durch seinen Kopf. Er und Kolja.

Wahrscheinlich starb er gleich an übermäßig hoher Körpertemperatur.

»Und ich war so nervös… ich glaube, ich war noch nie nervös in meinem Leben. Aber da… da war ich total aufgeregt. Und ich war das allererste Mal beim Sex nicht der aktive Part.«

Jannis runzelte ein wenig die Stirn, während er versuchte gedanklich mitzuhalten. Aber er erinnerte sich daran, wie dominant Marek gewesen war, als sie auf Jannis’ Couch miteinander geknutscht hatten und beinahe…
 

Worüber man sich Gedanken machen musste! Das war doch zum Verrücktwerden! Kolja kam ihm vor wie der aktive Typ. Jannis verbarg sein Gesicht im Kissen und stöhnte entnervt auf.

»Hey, es wird sicher toll mit dir und Kolja«, hörte er Mareks dumpfe Stimme durchs Kissen dringen, »er scheint mir doch sehr einfühlsam zu sein, was dich angeht.«

Jannis machte ein undefinierbares Geräusch zwischen einem Grummeln und einem Wimmern. Marek tätschelte ihm den Rücken.

»Ich gebe dir gern eine Anleitung, wenn du willst.«

»Oh Gott, bloß nicht«, sagte Jannis und hob seinen Kopf. Marek lachte.

»War nur ein nett gemeintes Angebot«, sagte er und streckte Jannis die Zunge heraus.
 

Am nächsten Mittag rief er bei Kolja an. Als dieser abhob, klang er ganz außer Atem.

»Was hast du gemacht?«, fragte Jannis verwirrt.

»Ich bin im Trainingsraum«, entgegnete Kolja keuchend. Jannis warf einen Blick auf die Uhr.

»Aber meintest du nicht letztens, du hast immer nur nachmittags zwei Stunden Übungen?«

Kolja lachte.

»Dachtest du, dass ich mich daran halte?«, gab er amüsiert zurück und Jannis hörte etwas klappern.

»So, jetzt sitze ich wieder in dem elenden Ding. Wusstest du, dass man damit sogar tanzen kann? Ich hab letztens ein Mädchen kennen gelernt, die hier auch ihren Aufenthalt absitzt. Sie heißt Nina und ist zwölf…«

Jannis musste lächeln, als er Koljas Bericht lauschte, wie er und ein zwölfjähriges Mädchen, beide in Rollstühlen, durch die Kantine wirbelten und alle Schwestern erschreckte.
 

»Ich muss dir was erzählen«, sagte er schließlich.

»Oh, du klingst so ernst. Was ist los?«

Jannis holte tief Luft.

»Marek hat mir gestern gesagt, dass er ganz lange in mich verliebt war ohne es wirklich zu registrieren.«

Stille folgte auf diese kurze Zusammenfassung des gestrigen Gesprächs zwischen ihm und Marek.

»Oh«, sagte Kolja. Klang er nervös, oder bildete sich Jannis das nur ein?

»Dann… tja. Und jetzt?«

Jannis blinzelte.

»Was soll jetzt sein? Wir haben festgestellt, dass wir ein schreckliches Pärchen gewesen wären. Er ist in seinen Sebastian verliebt und ich bin–«

Jannis brach ab, entsetzt darüber, was er beinahe einfach so am Telefon gesagt hätte. Sein Herz überschlug sich wieder einmal. Wenn er Kolja nicht bald sehen konnte, dann drehte er durch.
 

»Und du bist…?«, fragte Kolja sehr leise und seine Stimme jagte Jannis Schauer den Rücken hinunter.

»Ich… ich komm dich besuchen. Nächstes Wochenende. Bis dahin hab ich die Arbeit fertig.«

Das war ein feiger Ablenkungsversuch und Kolja wusste es garantiert. Aber er ließ Jannis seinen Ausweg.

»Was? So schnell?«, fragte er erstaunt.

»Ich mache momentan eigentlich nichts anderes, als daran zu schreiben. Ist das denn ok… dass ich… vorbeikomme?«

»Was dachtest du denn? Ich sterbe hier sowieso jeden Tag, weil ich dich nicht sehen kann! Wann kommst du? Wie lange bleibst du? Ich werde mal fragen, ob Besucher hier irgendwo übernachten können!«

Kolja klang ziemlich aufgeregt. Jannis musste schon wieder lächeln. Nach einigen Monaten mit Kolja gewöhnte man sich daran, dauernd zu lächeln.
 

Das Limit, was er sich gerade gesetzt hatte, war mörderisch. Aber ein paar Nachtschichten und Verzicht auf seine Bücher würden sicherlich helfen.

»Ich würde auch ein Hotel nehmen. Genug Geld hab ich ja«, sagte Jannis schmunzelnd.

»Aber du sollst nicht so viel Geld ausgeben, nur um mich zu besuchen. Der Zug kostet sicher auch nicht gerade wenig!«

Jannis verkniff sich ein Lachen.

»Mach dir keine Gedanken über mein Geld. Und übertreib’s nicht mit deiner Eigeninitiative beim Trainieren«, fügte er hinzu.

»Keine Sorge. Ich hab alles im Griff«, versprach Kolja amüsiert. Anderthalb Wochen. Dann konnte er seinen Kolja- Akku wieder ein wenig aufladen. Wer wusste schon, wie viele Monate er danach noch darauf verzichten musste?

Immer und immer wieder

So. Ich verkrieche mich in ein dunkles Loch, weil ich immer noch der Meinung bin, dass meine Fähigkeiten zum Lime schreiben eigentlich nicht vorhanden sind. Ich wünsche euch trotzdem viel Spaß beim Lesen!

Das nächste Kapitel ist noch mal ein Reha- Überbrückungskapitel und dann habt ihr es geschafft ;)

Liebe Grüße :)

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Er stand vor einem großen, offiziell wirkenden Gebäude. Seinen Koffer hatte er im Hotel einfach stehen lassen ohne irgendetwas auszupacken. Wenn Kolja wüsste, wie eilig Jannis es eigentlich hatte ihn wieder zu sehen, dann würde er sich vermutlich kaputt lachen oder wieder solchen Unsinn reden, von wegen Jannis wäre niedlich.

Er drückte die Glastür auf und sah sich nach einer Rezeption um, doch er stellte fest, dass er keine brauchte. Sein Herz machte einen übermäßig großen Satz, als Kolja strahlend auf ihn zukam, immer noch im Rollstuhl sitzend, aber offensichtlich glänzend gelaunt. Er machte direkt vor Jannis Halt, der sich so aufgeregt fühlte, als wäre dies ihr erstes Treffen, und streckte die Arme aus. Das erste Mal sah Jannis sich nicht um, ob jemand zusah, er beugte sich einfach hinunter und umarmte Kolja.
 

Die blonden Haare, die unterhalb normalerweise immer kurz rasiert gewesen waren, waren mittlerweile länger geworden. Tatsächlich wellten sie sich ein wenig. Alles in allem befand Jannis, dass Kolja entzückend aussah. Das würde er allerdings besser für sich behalten.

Alles in ihm kribbelte, während er gebeugt im Eingangsbereich der Rehabilitationsklinik stand und Kolja so fest an sich drückte, als würde jeden Moment die Welt untergehen.

»Ich kann’s noch gar nicht fassen, dass du wirklich hier bist«, nuschelte Kolja gegen seinen Hals und prompt bekam Jannis eine Gänsehaut. Er richtete sich auf und fuhr sich mit leicht zittrigen Fingern – wieso zur Hölle war er so nervös? – durch die Haare.

»Ich bin nicht ganz fertig geworden. Das Fazit fehlt mir noch, aber das schreibe ich, wenn ich wieder zurück bin.«

Kolja lachte leise.
 

»Die anderen aus deinem Semester haben sicher noch nicht mal angefangen«, meinte er amüsiert und deutete hinüber zu einem Fahrstuhl.

»Ein paar lesen sicher schon Texte für ihre Arbeit«, sagte Jannis ein wenig verlegen, weil er das Gefühl hatte, Kolja musste ahnen, wieso Jannis sich überhaupt so beeilt hatte.

»Ich bin ganz schön scharf auf deine Intelligenz und deinen Ehrgeiz, weißt du?«, meinte Kolja unbeschwert und Jannis bekam prompt einen hochroten Kopf. Wahrscheinlich würde er nie gut mit solchen Bemerkungen umgehen können. Diese Chance hatte er verpasst, als er sich jahrelang von sozialer Interaktion ferngehalten hatte. Wie bitter.

»Nein, das… ähm… war mir nicht so klar«, sagte er möglichst gelassen. Kolja gluckste.

»Und auf deine Bescheidenheit… und… ich könnte die Liste noch ganz lang fortsetzen«, versicherte er ihm. Jannis räusperte sich lediglich unverbindlich und fragte sich, wie schnell sein Herz eigentlich hämmern konnte, bevor es explodierte.
 

Sie hatten sich so lange nicht gesehen und nun ging Jannis neben Kolja einen hellen Gang entlang auf eine Tür am Ende des Korridors zu, die Kolja aufstieß und ihn hineinwinkte. Es fühlte sich ein wenig unwirklich an tatsächlich hier zu sein. Bei Kolja.

Jannis betrat das kleine aber freundlich eingerichtete Zimmer mit Fenster zum Park und betrachtete kurz die gemusterten Vorhänge, den kleinen Schrank und den Tisch, auf dem sich einige von Koljas Büchern stapelten, ehe er sich die Schuhe und seine Jacke auszog. Als er aufblickte, sah er, dass Kolja sich mittlerweile aufs Bett gesetzt hatte. Jannis musterte seine strahlenden Augen und das breite Lächeln. Dann deutete Kolja hinunter auf seine Füße und Jannis senkte den Blick, um zu sehen, wie Koljas Zehen in seinen grauen Socken wackelten.

»Doc Grausam meinte, das wäre bemerkenswert nach so kurzer Zeit«, sagte Kolja und Jannis hörte einen leicht stolzen Unterton in seiner Stimme mitschwingen. Er schluckte schwer, während er langsam zu Kolja hinüber ging.

»Du bist ja auch einfach… bemerkenswert«, flüsterte er heiser und Kolja blinzelte erstaunt, ehe sich ein leichter Rotschimmer auf seinen Wangen ausbreitete. Jannis freute sich irgendwo in den Tiefen seines benebelten Gehirns darüber, dass Kolja an Komplimente von ihm noch lange nicht gewöhnt war – und das würde hoffentlich auch so bleiben.
 

Zwei Monate. Zwei Monate waren viel zu lang gewesen!

Jannis beugte sich zu Kolja hinunter und drückte ihn nach hinten aufs Bett, ehe er seine Lippen heftig auf Koljas Mund presste. Kolja keuchte überrascht und erregt auf, was Jannis beinahe um den Verstand brachte. Arme schlangen sich um seinen Oberkörper und zogen ihn halb aufs Bett. Hatte er irgendwann einmal in Büchern etwas gelesen wie ›verrückt vor Sehnsucht‹ und hatte es nicht nachvollziehen können? Nun, gerade in diesem Moment wurde ihm erst richtig bewusst, wie sehr er Kolja wirklich vermisst hatte.

Als ihre Zungen sich trafen, keuchte Jannis sehnsüchtig in ihren Kuss und spürte, wie ihm vor lauter Verlegenheit noch heißer wurde. Diese Geräusche waren peinlich – zumindest wenn sie von ihm selbst kamen.
 

Seine Lippen bewegten sich so hungrig gegen die von Kolja, dass man meinen könnte, dieser Kuss sei der letzte seines Lebens. Koljas Zunge schickte Schauer um Schauer durch seinen Körper und Jannis spürte jetzt schon, wie seine Hose unangenehm eng wurde.

Im nächsten Moment fand er sich rücklings und der Länge nach auf Koljas Bett wieder, Kolja über ihn gebeugt. Die glitzernden blauen Augen blickten verhangen auf ihn hinunter.

Jannis zog sich mit zitternden Fingern die Brille von der Nase, die ihm ohnehin jedes Mal beinahe aus dem Gesicht rutschte, wenn er und Kolja sich so heftig küssten.

»Du kannst nicht wieder nach Hause fahren«, wisperte Kolja und berührte mit seinen Lippen dabei beinahe die von Jannis.

»Will ich auch eigentlich gar nicht«, nuschelte Jannis gegen Koljas Lippen und tupfte mehrere Küsse auf den Mund des anderen. Kolja erschauderte merklich, ehe er sachte an Jannis’ Unterlippe knabberte.
 

Eine vorwitzige Zunge strich über seine Lippen und Jannis grummelte ungeduldig, ehe er eine Hand in Koljas Nacken schob und ihn in einen weiteren, innigen Kuss zog. Finger stahlen sich unter Jannis’ Pullover, glitten über seine ohnehin schon erhitzte Haut und hinterließen ein verheißungsvolles Kribbeln. Koljas Hände schoben den Stoff nach oben und Jannis hatte nur noch Zeit nach Luft zu schnappen, ehe sich Koljas Lippen auf seinen Oberkörper senkten und Küsse darauf verteilten. Jannis’ Gehirn hatte sich bereits abgeschaltet und er vergrub kurz seine Hände in Koljas weichem Haar und bog ungewollt seinen Rücken durch.

Die Finger seiner linken Hand krallten sich schließlich ins Bettlaken, die andere Hand strich ruhelos über Koljas Rücken, ehe sie den Pullover ungeduldig nach oben zerrte. Kolja lachte leise gegen Jannis’ Bauch, richtete sich halb auf und Jannis sah gespannt zu, wie Kolja sich seinen Pullover über den Kopf zog und ihn achtlos auf den Boden neben dem Bett fallen ließ. Jannis musterte den schlanken Oberkörper mit der schmalen Taille und den vorstehenden Beckenknochen.
 

Er streckte eine Hand aus und strich federleicht mit seinen Fingerspitzen über die helle Haut. Kolja beobachtete ihn aus verhangenen Augen und Jannis hörte, wie er leicht zittrig einatmete.

Jannis’ Herz bollerte gegen seine Rippen als seine Finger bis hinunter zu Koljas Hosenbund strichen, sich leicht hinein schoben und dann innehielten. Er wagte es kaum, Kolja wieder anzusehen.

»Jannis«, murmelte Kolja und seine Stimme war kratzig vor Erregung, »wenn du nicht willst, dass ich durchdrehe…«

Jannis schnitt ihm das Wort ab.

»Ich will aber… dass du…«

Sein Gesicht wurde heiß und Kolja starrte ihn einen Augenblick lang fassungslos an, ehe er Jannis so tief und leidenschaftlich küsste, dass Jannis aufstöhnte. Koljas rechte Hand schob sich in Jannis’ Hose und ihm stockte der Atem, als er Koljas Finger dort spürte.

Seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr. Er wollte nicht stöhnen und keuchen und schon gar nicht wollte er wimmern, weil er es nicht mehr aushielt.
 

Es schien ihm, als würde Kolja ewig lange brauchen, um seine Hose zu öffnen. Jannis konnte sich kaum noch auf den aufreizenden Kuss konzentrieren, weil Koljas Hand regungslos in seiner Hose verweilte, so als könnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als ihn in den Wahnsinn zu treiben. Unweigerlich ruckte sein Unterkörper nach oben, doch Koljas Hand zog sich zurück und Jannis grummelte enttäuscht in den Kuss hinein.

Koljas Lippen lösten sich von seinen und ehe Jannis sich versah, hatte Kolja ihm die Jeans von den Hüftknochen geschoben und zog Jannis in eine sitzende Position, damit er ihm den Pullover über den Kopf zerren konnte. Sein Kopf war leer gefegt, als er zaghaft an Koljas Hosenbund zupfte. Kolja schmunzelte.

»Da wirst du mir wohl helfen müssen.«

Um Himmels… hatte Kolja da gerade geschnurrt? Wie scharf konnte einen eine Stimme eigentlich machen? War das überhaupt gesund?
 

Jannis streckte seine leicht zittrigen Hände nach Koljas Hosenbund aus und machte sich daran, den Knopf und den Reißverschluss zu öffnen. Kolja ließ sich unterdessen zurück aufs Bett sinken und betrachtete Jannis mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und unverhohlener Erregung. Jannis kniete sich über Kolja und zog ihm langsam die Hose hinunter, bis er und Kolja nur noch Boxershorts trugen. Automatisch streckte er die Hände aus, um jeden Zentimeter von Koljas nackter Haut zu berühren. Koljas blaue Augen drifteten zu und seine Lippen teilten sich genüsslich, ehe ein hingerissenes Seufzen seine Kehle verließ.

Jannis vergaß, dass er keine Ahnung davon hatte, was er eigentlich tat, dass er unsicher war, was diese Dinge anging, und dass er so etwas noch nie gemacht hatte. Er beugte sich vor, kniete nun über Kolja und begann behutsam den Hals des anderen zu küssen, daran zu knabbern und sich ab und an daran festzusaugen.
 

Koljas Keuchen ging ihm durch und durch. Er drehte den Kopf zur Seite, um Jannis mehr Angriffsfläche zu bieten, und eine Gänsehaut huschte über den schmalen Körper, als Jannis mit den Lippen nach seinem Ohrläppchen schnappte.

Seine Finger huschten ruhelos Koljas Seiten entlang. Ein kleiner Stich durchfuhr ihn, als ihm klar wurde, dass Kolja nichts fühlen würde, wenn Jannis seine Beine berührte.

»Lass die Augen zu«, flüsterte er heiser. Kolja lächelte.

»Wieso?«

Schon wieder dieses Schnurren. Jannis würde noch durchdrehen, wenn Kolja das nicht sein ließ.

»Es ist hell«, grummelte er verlegen und tupfte ein paar Küsse auf Koljas Schläfe und seine Wange. Kolja lachte leise.

»Jannis?«, nuschelte er.

»Hm?«

»Küss mich…«
 

Koljas blonde Haare lagen auf dem Kissen ausgebreitet wie ein goldener Schleier und Jannis starrte ihn einen Moment lang mit leicht geöffnetem Mund an. Diese Stimme machte ihn wahnsinnig.

Er kam Koljas Aufforderung nach und nun saß er rittlings auf Koljas Schritt und er spürte deutlich, dass Kolja von alledem genauso wenig kalt gelassen wurde wie er selbst. Sein Kopf glich mittlerweile garantiert einer überreifen Tomate, trotzdem konnte er nicht anders, als unruhig auf Koljas Schoß herum zu rutschten.

Koljas Finger gruben sich in Jannis’ Schultern und er spürte, wie sich Koljas Unterkörper dem seinen entgegendrückte. Dunkel kam Jannis der Gedanke, dass auch diese Bewegung schon ein Fortschritt in Koljas Rehabilitation war, doch er war zu sehr damit beschäftigt, in ihren Kuss zu stöhnen, als dass er diesem Umstand weiter hätte nachgehen können.
 

Eine Hand schob sich zielstrebig in seinen Schritt und begann über den Stoff zu streichen. Jannis schnappte nach Luft und löste den Kuss. Mit verhangenen Augen schaute er hinunter in Koljas Gesicht mit dem glasigen Blick, den leicht geöffneten, feuchten Lippen und den geröteten Wangen. Plötzlich war Jannis sich sicher, dass Kolja der schönste Mensch sein musste, den er – abgesehen von Marek – jemals gesehen hatte.

Er ließ sich zur Seite kippen, sodass er wieder neben Kolja auf dem Bett landete. Kolja lächelte ein wenig verschwommen, dann beugte er sich vor und begann, Jannis’ Hals mit Küssen zu bedecken. Gänsehaut um Gänsehaut huschte seine Arme entlang, unweigerlich fand eine Hand ihren Weg zu seinem Mund und hielt ihn zu, um die Geräusche zu ersticken, die seine verräterische Kehle von sich gab.
 

Natürlich umfassten Koljas Finger beinahe sofort sein Handgelenk.

»Ich hab doch schon mal gesagt«, hauchte er Jannis ins Ohr, sodass ihm weitere Schauer durch den Körper jagten, »dass ich deine Stimme hören will.«

Jannis drehte den Kopf und schaute Kolja an. Er wollte vorwurfsvoll und grantig dreinschauen, aber im nächsten Moment entfuhr ihm ein ungewollt lautes Stöhnen, als sich Koljas Hand zielstrebig in seine Shorts schob. Was machte es schon, wenn man ihn im ganzen Korridor hörte? Ihm war alles egal und es existierte nur noch Kolja neben ihm, der Hitzewelle um Hitzewelle durch seinen Körper sandte.

Er konnte weder richtig denken, noch konnte er atmen. Seine Stimme weigerte sich, still zu sein, und Jannis vergrub sein erhitztes Gesicht an Koljas Hals. Seine Finger krallten sich in den Rücken des anderen, an dem er sich festklammerte, als wäre Kolja sein Rettungsring auf dem weiten Meer.
 

Jannis hatte gerade noch genug Verstand übrig, um seine Shorts halb von seinen Hüften zu ziehen, ehe er seine Hand in Koljas Nacken schob, um ihn zu sich zu ziehen.

Ihre Lippen fanden sich zu einem fahrigen Kuss und Jannis tastete mit seinen Fingern nach Koljas Shorts. Sein Mund schluckte ein heiseres Stöhnen von Kolja, als Jannis’ Hand ihr Ziel fand. Er konnte die Bewegungen seiner Hand kaum koordinieren, doch er spürte, dass es Kolja jetzt nicht mehr anders ging, da Jannis ihn nun ebenfalls dort berührte.

Ihm war so heiß, er war sich sicher, dass er jeden Augenblick schmelzen müsste. In seinem Unterleib breitete sich ein heftiges Kribbeln aus und die Tatsache, dass Kolja erstickt seinen Namen stöhnte, gab ihm den Rest. Einen Moment lang drängten sie sich eng aneinander, ehe sie beinahe gleichzeitig in die Hand des anderen kamen.

Jannis’ Körper zitterte leicht, als er heftig atmend ins Kissen sank und die Augen schloss. Ihm war beinahe ein wenig schwindelig.
 

Ein Lachen neben ihm ließ ihn blinzelnd die Augen öffnen. Kolja lag mit geschlossenen Augen neben ihm und lachte.

»Was ist los?«, fragte Jannis matt und strich sich mit der Hand die Haare aus der Stirn. Kolja öffnete die Augen, drehte den Kopf und grinste Jannis breit und ein wenig verschwommen an.

»Ich kann’s nicht glauben, dass wir so was machen, kaum dass du hier bist«, sagte er und Jannis lief erneut rot an. Er räusperte sich verlegen.

»Na ja… ich… die zwei Monate…«, begann er unsicher ohne wirklich zu wissen, was er sagen wollte. Kolja reckte den Hals und hauchte Jannis einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.

»Soll ich dir verraten, was ich die letzten zwei Monate fast jeden Abend gemacht habe?«

Jannis blinzelte einen Moment lang verwirrt, dann wurde ihm kochend heiß und er vergrub sein Gesicht im Kissen.

»Sag so was nicht«, nuschelte er empört und verlegen in den Kissenbezug. Kolja gluckste heiter.

»Aber ich liebe es, wenn du rot wirst…«

Jannis grummelte.
 

Er hörte Kolja in seinem Nachtschrank herumkramen, dann bekam er ein Taschentuch in die Hand gedrückt.

»Ich will nicht wissen, wie viele Päckchen Tempo in diesem Nachtschrank sind«, murmelte er immer noch peinlich berührt ohne Kolja anzusehen. Der lachte schon wieder. Jannis fragte sich, ob ihm all diese Dinge irgendwann nicht mehr peinlich sein würden und ob sein Herz irgendwann aufhören würde wie verrückt zu hämmern, wann immer er in Koljas Nähe war.

»Genügend«, sagte Kolja mit falscher Unschuld in der Stimme. Jannis ließ diese Antwort unkommentiert, zog sich die Shorts hoch und krabbelte über Kolja hinweg, um die benutzten Taschentücher zu entsorgen, während Kolja seine Shorts ebenfalls zurück an ihren Platz zog.

»Bleiben wir jetzt den ganzen Tag im Bett liegen?«, erkundigte sich Kolja schnurrend. Jannis drehte sich zu ihm um und sah ihn streng an.

»Hör auf zu schnurren!«
 

»Wieso?«
 

»Weil… weil… mich das…«
 

Kolja musterte ihn gespannt aus seinen blauen Augen. Jannis angelte nach seiner Hose, aber Kolja streckte die Arme nach ihm aus. Wieso konnte er diesem Kerl nicht widerstehen? Hatte er kein bisschen Selbstbeherrschung?

»Weil dich das?«, erkundigte sich Kolja interessiert, während er Jannis in einer feste Umarmung zog und ihm behutsam über den nackten Rücken streichelte. Jannis konnte es nicht fassen, dass er immer noch so empfindlich auf so etwas reagierte.

»Es macht mich… hibbelig«, erklärte Jannis ohne Kolja dabei in die Augen zu sehen.

»Hibbelig?«, schnurrte Kolja grinsend.

»Lass das!«

»Aber ich mag es, wenn du wegen mir hibbelig bist.«

Bevor Jannis widersprechen konnte, hatten Koljas Lippen seinen Mund mit einem liebevollen Kuss verschlossen. Toll. So leicht war es also ihn ruhig zu stellen.
 

Tatsächlich kamen sie den Nachmittag über nicht wirklich aus Koljas Bett heraus. Jannis störte sich nicht daran. Er ärgerte sich nur ein wenig, dass er sein Kolja- Notizbüchlein nicht zücken konnte, um weitere Informationen aufzuschreiben. Wenn sie nicht redeten, dann küssten sie sich. Sehr lange und sehr ausgiebig. Und Jannis fragte sich, wie unersättlich er eigentlich war, wenn er sich jede Stunde auf Kolja werfen und wieder mit ihm rummachen wollte. Jahrelange Abstinenz hatte ihn offensichtlich zu einem Süchtigen gemacht. Kolja störte sich nicht daran. Er wurde es nicht müde Jannis zu sagen, wie umwerfend er ihn fand, wie gerne er ihn ansah, wie sehr er ihn vermisst hatte…

Jannis überlegte, dass er wohl bald dauerhaft rot angelaufen durch die Welt laufen würde. Wann immer Kolja so etwas sage, vergrub Jannis sein Gesicht irgendwo, wo Kolja es nicht sehen konnte. Er fing an zu grummeln und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Aber das schien Kolja nichts auszumachen.
 

Abends zeigte Kolja ihm die Klinik, den Übungsraum, den Park. Obwohl bereits Anfang März war, war es klirrend kalt, als sie draußen einen Spaziergang machten. Auf halber Strecke griff Kolja nach Jannis’ Hand und Jannis musterte ihre verschränkten Finger. Sie sahen sicherlich merkwürdig aus, da Kolja immer noch im Rollstuhl saß. Doch gleichzeitig breitete sich eine Wärme in ihm aus, die von ihren ineinander verschlungenen Händen ausging, dass Jannis unweigerlich der peinliche Gedanke kam, dass er dies hier um nichts in der Welt hergeben wollte. All die Jahre ohne so eine Art von emotionaler Nähe verpufften angesichts der Heftigkeit, mit der er in Koljas Gegenwart fühlte. Jannis wollte Kolja all das eigentlich gern sagen, aber er war eindeutig nicht in der Lage dazu. Er bekam kein Wort, das seine Gefühle betraf, über die Lippen. Das musste er wohl noch lernen. Aber Kolja schien sehr geduldig mit ihm zu sein und Jannis war dankbar dafür.
 

In den nächsten zwei Tagen lernte Jannis mindestens die Hälfte aller Patienten in dieser Klinik kennen. Kolja hatte sich offenbar mit jedem einzelnen Menschen hier angefreundet und er motivierte offenkundig zu ungeahnten Höchstleistungen. Insgesamt drei Schwestern schwärmten Jannis von Koljas Fortschritten und von seinem Optimismus vor. Und das merkwürdigste an alledem war, dass jeder Mensch hier ihn zu kennen schien. Wenn sie durch die Gänge streiften, dann grüßten ihn alle möglichen Leute mit einem strahlenden ›Hallo Jannis‹. Er hatte nur eine dunkle Ahnung davon, wie viel Kolja von ihm erzählt haben musste, damit all diese Menschen ihn erkannten, sobald er hier auftauchte.

Wenn Kolja bei seinen Übungen war, dann hockte Jannis in seinem Zimmer und las oder er telefonierte mit Marek. Am zweiten Nachmittag machte er sich ein paar Notizen in seinem Kolja- Buch, als die Tür aufging und Kolja in seinem Rollstuhl hereinkam. Jannis ließ das Büchlein schnell verschwinden und blickte auf.

»Was hast du gemacht?«, fragte er blinzelnd, als Kolja mit einem dicken Pflaster über der Augenbraue ins Zimmer gerollt kam.
 

Kolja strich sich verlegen durch die Haare.

»Bin aufgestanden und…ähm… nun ja. Auf die Klappe geflogen«, sagte er ein wenig hüstelnd.

»Aufgestanden?«, echote Jannis perplex. Kolja zuckte mit den Schultern.

»Der Doc meinte, ich soll’s nicht übertreiben, aber ich wollte es unbedingt probieren. Also hab ich’s gemacht, als er nicht hingesehen hat, und dann hab ich mir den Kopf gestoßen«, erklärte Kolja verlegen. Jannis stand von Koljas Tisch auf und ging zu ihm hinüber, um mit den Fingerspitzen über das Pflaster zu streichen. Zum hundertsten Mal machte sich in seiner Brust ein unangenehmes Schuldgefühl breit.

»Tut mir wirklich Leid… das ist alles me–«

Aber er kam nicht weiter, denn Kolja küsste ihn, damit er nicht aussprechen konnte, was er dachte.

»Sag das nie wieder«, flüsterte er gegen Jannis’ Lippen. »Du bist nicht Schuld. Und das hab ich nicht eine Sekunde lang gedacht.«

Jannis schluckte schwer und nickte leicht. Er wollte das wirklich glauben. Aber er wusste, dass er keine Ruhe haben würde, bis Kolja wieder gehen konnte.
 

»Glaubst du eigentlich daran, dass ich es schaffe?«, fragte Kolja plötzlich und blickte Jannis nachdenklich an. Jannis blinzelte erstaunt, dann dachte er einen Moment lang nach. Er wollte ehrlich sein.

»Am Anfang dachte ich, dass du es nicht schaffst… weil 25 Prozent einfach so schrecklich wenig sind. Aber dann… na ja, erst hab ich ja mit deinem Vater geredet und dann hab ich gesehen, wie du…«

Er brach ab, um seine Gedanken zu sortieren. Koljas eindringlicher Blick machte ihn – zur Abwechslung einmal – ziemlich nervös.

»Wenn es jemand schafft, dann du«, murmelte er schließlich und sah Kolja so fest wie möglich an. »Ich glaub an dich.«

Auf Koljas Gesicht breitete sich ein unendlich freudiges Strahlen aus, das Jannis’ Puls in die Höhe trieb.

»Danke«, flüsterte Kolja und küsste ihn. Jannis schloss zufrieden seufzend die Augen. Er fand zwar nicht, dass er Koljas Dank verdiente, aber es freute ihn trotzdem. Und wenn es Kolja half, wieder aufzustehen, dann würde er es ihm gern immer und immer wieder sagen.

Eine letzte Sache

Daidai bekämpft Drachen in Fiesta Online, da habe ich die Zeit genutzt und ein kleines Kapitel zu meinen beiden Häschen geschrieben. Ich bin auf jegliche Art von Drohpost gefasst :D Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und bedanke mich mal wieder für all das liebe Feedback, das ihr mir regelmäßig hinterlasst.

Es folgen jetzt noch ein Kapitel und ein Epilog (der dann aus Koljas Sicht geschrieben sein wird).

Liebe Grüße :)

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Jannis war aufgeregt.

Eigentlich war er so aufgeregt wie noch nie in seinem Leben. Er stand schon seit über einer Viertelstunde auf einem Bahngleis, starrte die Anzeige für einen ICE an und wartete darauf, dass jemand eine Ansage machen würde, die ihm mitteilte, dass Koljas Zug jeden Augenblick eintraf. Jeden Augenblick meinte in seinem Fall: In weiteren fünfzehn Minuten.

Er hatte das ganze Rumgesitze zu Hause nicht mehr ausgehalten. Die ganze letzte Woche hatte er nicht mit Kolja telefoniert. Sie hatten nur ab und an eine SMS geschrieben. Kolja hatte gesagt, er wäre fast den ganzen Tag im Übungsraum und Jannis hatte sich dabei ertappt, wie er geschmollt hatte. Marek hatte das sehr lustig gefunden. Jannis hingegen war nicht allzu begeistert von seinen merkwürdigen Gefühlsanwandlungen.

Heute Morgen hatte er – völlig unvorbereitet – eine SMS von Kolja bekommen, die ihm mitgeteilt hatte, dass er um zwei Minuten nach halb vier auf Gleis sieben ankam. Und nun stand Jannis hier in der blässlichen Aprilsonne und wartete darauf, dass der Zug endlich ankam.
 

Es war Ende April und Jannis befand, dass fast vier Monate genug Zeit waren, in der er und Kolja sich nur aus der Ferne hatten anschmachten können. Zugegebenermaßen war das Wort ›anschmachten‹ neu in seinem Wortschatz. Marek hatte herum gekichert und meinte, Jannis würde sich aufführen wie ein Drogensüchtiger auf Entzug. Das alles war schrecklich peinlich, aber was half es, die ganze Zeit so zu tun, als wäre er nicht vollkommen verrückt nach dem aufdringlichen Kerl mit der komischen Frisur, der immer dasselbe Armband trug und ihn anfangs regelmäßig auf die Palme gebracht hatte?

Jannis ließ sich auf einem der Sitze auf dem Bahnsteig nieder und schob seine Brille die Nasenwurzel hoch. Die Ankunft von Kolja bezeichnete dann wohl den offiziellen Anfang seiner ersten Beziehung. Immerhin hatte er Kolja gesagt, dass er gern mit ihm zusammen sein wollte. Das machte ihn nur noch aufgeregter. War er ein Beziehungsmensch? Er hatte es noch nie ausprobiert. Aber immerhin waren auch die letzten Monate irgendwie so gewesen, als hätten er und Kolja in einer Beziehung gesteckt. Fernbeziehung. Oder so etwas in der Art. Aber von jetzt an würden sie sich regelmäßig sehen und Jannis hatte in den letzten Wochen erneut über sein selbsternanntes Problem nachgedacht: Sex.
 

Nachdem er sich mühsam damit abgefunden hatte, dass Kolja mindestens drei Jahre seines Lebens Sex gehabt hatte, hatte sich ihm eine weitere unangenehme Frage gestellt. Die Frage des Oben- oder Untenliegens. Wahrscheinlich machte Kolja sich darüber kein bisschen Gedanken, er hatte ja alles schon hinter sich. Jannis fuhr sich durch die Haare und starrte hoch auf die Anzeige. Im nächsten Augenblick zuckte er heftig zusammen, als eine mechanische Frauenstimme ganz in seiner Nähe erklang.

»Meine Damen und Herren, auf Gleis sieben fährt ein: ICE 786…«

Jannis sprang von seinem Sitz auf und tippte mit seinen Fingern ungeduldig auf seiner Jeans herum, während er den weißen Zug dabei beobachtete, wie er in den Bahnhof einfuhr. Unsicher sah er sich um. Wo würde Kolja aussteigen? Der Zug war endlos lang. Jannis tigerte ein Stück in Richtung Anfang des Zuges, drehte sich wieder um und sah sich von Menschen überschwemmt, die aus dem Zug ausstiegen. Wunderbar. Kolja war zwar nicht klein, aber wenn er noch im Rollstuhl saß, dann würde Jannis ihn garantiert übersehen.
 

Er verrenkte sich beinahe den Kopf in alle Richtungen, wurde zwei Mal fast von einer Horde Rentner und von einer Familie mit drei Kindern umgerannt und er wollte beinahe schon schlecht gelaunt nach seinem Handy kramen, um Kolja anzurufen, als er den blonden Haarschopf entdeckte, der mittlerweile wieder kürzer geschnitten und unterhalb abrasiert war. Jannis ertappte sich dabei, wie er die Luft anhielt.

Koljas Augen suchten den Bahnsteig ab, dann fanden sie ihn und auf seinem Gesicht breitete sich ein endlos breites Strahlen aus. Jannis starrte ihn an, als Kolja den Kopf schief legte.

Er stand auf Krücken.

Jannis machte ein paar Schritte auf ihn zu und schob sich zwischen anderen Fahrgästen hindurch. Auch Kolja setzte sich in Bewegung. Er ging noch langsam und es schien ihn einige Anstrengung zu kosten, aber er setzte eindeutig einen Fuß vor den anderen. Jannis konnte seinen Blick nicht von den sich bewegenden Beinen lösen, bis er schließlich direkt vor Kolja stand und ihn in seine Arme zog. Kolja lachte und wankte leicht. Da er die Krücken hielt, konnte er die Umarmung nicht erwidern, doch Jannis störte sich nicht daran.
 

»Du… stehst…«, krächzte Jannis mit trockener Kehle und drückte Kolja noch ein wenig fester.

»Klingt wie das schönste Kompliment, das ich je bekommen habe«, gab Kolja amüsiert zurück und Jannis verkniff sich ein Schmunzeln, während er sein Gesicht an Koljas Halsbeuge vergrub und seinen Duft einsog.

»Hier sind viele Leute«, murmelte Kolja.

»Hm.«
 

»Jannis?«
 

»Hm?«
 

»Darf ich dich trotzdem küssen?«
 

Jannis hob den Kopf und sah Kolja an. Die blauen Augen funkelten sehnsüchtig und Jannis spürte, wie sein Gesicht heiß wurde und sein Herz einen Schlag zulegte. Es würde garantiert noch lange dauern, bis Jannis sich daran gewöhnt hatte, in der Öffentlichkeit zu zeigen, dass er auf Männer stand. Aber er hatte Kolja nun in vier Monaten nur einmal gesehen und er hatte ihn so sehr vermisst, dass es ihm in diesem Augenblick egal war, was die anderen Menschen hier auf diesem Bahnsteig von ihm dachten.
 

Jannis beugte sich vor und presste seine Lippen auf die von Kolja, der ein leicht überraschtes Geräusch von sich gab, ehe er den Kuss erwiderte, und dann fielen die Krücken zu Boden, als Koljas seine Arme um Jannis’ Hals schlang. Kolja wankte leicht, doch Jannis hielt ihn fest. Wahrscheinlich wurden sie gerade von allen angestarrt. Aber was machte das schon, wenn sich dieser Kuss so gut anfühlte? Koljas Zunge ließ ihn leicht erschaudern und er krallte seine Finger in den Stoff von Koljas Jacke.

»Wieso… ist… deine Familie eigentlich… nicht hier?«, nuschelte er in den Kuss und tastete wieder nach Koljas Lippen.

»Waren gestern noch da… und haben dann den Rollstuhl mitgenommen«, kam die gemurmelte Antwort. »Ich wollte ohne das Ding hier ankommen.«

Jannis löste den Kuss und sah Kolja ins Gesicht. Er sah aus, als wäre er auf Drogen. Sein Grinsen wirkte leicht verschwommen.
 

Jannis zog seine Arme zurück, doch als Kolja begann zu schwanken, hielt er ihn wieder fest. Der Zug neben ihnen war mittlerweile wieder abgefahren. Jannis hatte es nicht gemerkt, weil der Kuss ihn viel zu sehr benebelt hatte.

»Hab meine Krücken fallen lassen«, sagte Kolja verlegen und Jannis warf einen Blick hinunter auf den Boden.

»Kannst du kurz stehen? Dann heb ich sie dir auf«, sagte Jannis ein wenig besorgt. Kolja grinste.

»Wird schon. Sonst fall ich auf dich drauf. Ist nicht allzu übel«, meinte er und streckte Jannis die Zunge heraus. Jannis räusperte sich verlegen, schob sich die Brille auf der Nase nach oben und ließ Kolja vorsichtig los, ehe er sich rasch bückte und die Krücken vom Boden fischte. Kolja nahm sie dankbar entgegen und folgte Jannis langsam in Richtung Treppe, die hinunter in den Bahnhof führte.
 

»Die meinten in der Klinik, dass ich nicht gleich so viel auf Krücken rennen soll, aber ich wollte unbedingt ohne Rollstuhl hier auftauchen«, erzählte Kolja bestens gelaunt, während sie den Bahnhof verließen und hinüber zur nächsten Bushaltestelle gingen.

»Kann ich mit zu dir kommen?«, fragte Kolja dann aus heiterem Himmel, »Ich hab Pa und Marit in letzter Zeit echt oft gesehen und zu Hause hab ich keine Ruhe, weil alle mich betüddeln wollen… ich würd gern ein bisschen allein mit dir sein.«

Jannis schluckte und nickte. Er schaffte ein halbes Lächeln, während seine Gedanken unweigerlich zu seinem Problem schweiften. Konnte er eigentlich nur noch an Sex denken? Das war ja anstrengend!

»Ich muss dir noch was Wichtiges erzählen«, sagte Jannis schließlich. Es waren nur vier Haltestellen, bis sie in der Nähe von seiner Wohnung ankamen und ausstiegen.

»Klingt gruselig, wenn du das so ernst sagst«, meinte Kolja, doch er klang unbekümmert. Jannis seufzte und sein Herz setzte einen Schlag aus. Wie sollte er es Kolja am besten sagen?
 

In den letzten Wochen hatte Jessika ihn noch einige Male angerufen und nebenbei berichtet, dass Jannis’ Mutter sich immer mal wieder bei ihr meldete, um zu erfahren, wie es ›mit Jannis lief‹. Er musste Kolja irgendwie erklären, dass Jessika wieder da war. Eigentlich musste er ihm alles erklären, was mit Jessika zu tun hatte, aber er war so unglaublich schlecht darin, über solche Sachen zu reden. Wie sollte er am besten anfangen? Und was würde Kolja sagen? Wenn er sauer wäre…

»Das allerbeste ist«, sagte Kolja bestens gelaunt, während sie langsam die Treppen zu Jannis’ Wohnung hinaufstiegen, »dass wir jetzt offiziell zusammen sind.«

Jannis blinzelte und sah Kolja von der Seite an. Dann musste er lächeln.

»Dachtest du, ich will wirklich nur mit dir zusammen sein, wenn du wieder gehen kannst?«, murmelte Jannis und spürte zum wiederholten Male, wie er rot anlief. Kolja lachte leise. Er atmete ziemlich schwer, da das Treppensteigen offensichtlich sehr anstrengend für ihn war. Jannis hätte ihm gern geholfen, aber er wusste, dass Kolja das allein schaffen wollte.

»Nein, dachte ich nicht. Aber so richtig zusammen sein können wir ja erst jetzt«, meinte er und hielt kurz inne, um zu verschnaufen. Jannis musterte ihn besorgt. Noch zwei Stockwerke trennten sie von seiner Wohnungstür.
 

»Ich hoffe, dass ich mich… schnell dran gewöhnen werd«, nuschelte Jannis verlegen und starrte die Wand an.

»Hoffe ich nicht«, entgegnete Kolja und Jannis sah ihn erstaunt an.

»Wenn man sich an jemanden allzu sehr gewöhnt, wird’s irgendwann komisch«, erklärte er und nahm dann entschlossen die nächste Treppe in Angriff.

Jannis war ziemlich in Gedanken versunken, als sie schließlich den obersten Treppenabsatz erreichten, doch seine Nachdenklichkeit verflog rasch, als er jemanden vor seiner Tür stehen sah. Es war ein wenig wie damals, als Sebastian ihn überraschend besucht hatte. Auch wenn das hier ungefähr hundert Mal schlimmer war.
 

Jessikas Haare waren immer noch sehr lang und hellbraun, doch sie hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr vorn über die Schulter hing. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Schmunzeln aus, als sie Jannis erblickte, der sie wie vom Donner gerührt anstarrte. Ihre Füße steckten in Stiefeln, sodass sie beinahe so groß war wie er. Der dunkelrote Pulli, den sie trug, war einigermaßen weit ausgeschnitten. Sie war immer noch hübsch. Und er war immer noch kein bisschen interessiert an ihr.

»Ich dachte schon, ich muss noch Stunden warten, bis du wieder nach Hause kommst«, sagte sie und ihr Blick huschte hinüber zu Kolja.

Jannis sah, wie sie sich einen Moment lang schweigend musterten und dann wandten sich zwei Augenpaare ihm zu. Sein Herz hämmerte wie verrückt, er atmete einmal tief durch und dann sagte er es.

»Jessika, das ist Kolja, mein Freund.«

Ihre Gesichtszüge entgleisten, als sie Kolja anstarrte.

»Kolja… das ist… das ist Jessika. Meine Verlobte.«

Der Name im Papierherz

Ok, hier haben wir also das letzte Kapitel von Papierherz. Wahnsinn. Nur noch der Epilog und ich habe schon wieder ein Monsterding mit 31 Kapiteln abgeschlossen. Danke mal wieder für all die Unterstützung, den Berg Favoritenleser und all die tollen Kommentare! Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefällt! Viel Spaß beim Lesen und ein schönes Wochenende wünsche ich euch :)

______________________________
 

Vielleicht war das zu direkt. Vielleicht würde Kolja jetzt sauer auf ihn sein und nie wieder mit ihm reden wollen. Wenn Jannis daran dachte, wie er damals reagiert hatte, nachdem er Koljas Exfreund kennen gelernt hatte… und das hier war immerhin seine Verlobte. Eine dröhnende Stille trat nach seinen Worten ein und er beobachtete nervös, wie Koljas Gesicht ein wenig blasser wurde. Jessika sah aus, als hätte sie gerade eine Ohrfeige bekommen. Jannis malte sich eine Sekunde lang die schlimmsten Szenarien aus, die ihm einfielen, dann kam Bewegung in Kolja. Er lehnte seine rechte Krücke gegen die Wand und streckte seine freie Hand aus.

»Freut mich«, sagte er und lächelte.

Jannis blinzelte.

Er hatte alles erwartet. Aber nicht so etwas. Jessikas Gesichtszüge entgleisten und sie blickte hinunter auf Koljas Hand.

»Dein… dein Freund?«, fragte sie mit erstickter Stimme und schaute zu Jannis auf. Er seufzte. Sein Herz wummerte wie verrückt, aber jetzt war der Moment. Er musste es tun.

»Ja. Mein fester Freund«, entgegnete er mit so sicherer Stimme wie möglich. Ein zärtlicher Ausdruck huschte über Koljas Gesicht, doch er verschwand sofort wieder. Dann griff er nach seiner Krücke, da Jessika keine Anstalten machte, seine Hand zu nehmen.
 

»Ich steh nicht auf Frauen… Und das… war auch noch nie anders«, fügte er leise hinzu und spürte, wie er rot anlief. Koljas Blick ruhte auf ihm, Jessika starrte Kolja an.

»Das… wieso hast du es nicht…«, flüsterte Jessika und Jannis schloss einen Moment die Augen, als er sah, wie ihr die Tränen in die Augen schossen.

»Tu doch bitte nicht so, als hätte ich je etwas gemacht, was das Gegenteil gezeigt hätte«, meinte er leise. Jessika wischte sich über die Augen, dann straffte sie die Schultern und im nächsten Moment war sie die Treppen hinunter verschwunden und die Haustür unten schlug zu. Jannis seufzte leise und wagte einen Blick hoch in Koljas Gesicht.

»Wow…«, nuschelte Kolja und blickte ihr nach.

»Ich wollte es dir eigentlich heute sagen. Jetzt. Um genau zu sein. Aber… ich wusste ja nicht, dass sie hier aufkreuzt. Tut mir Leid, dass ich es nicht eher gesagt habe…«
 

Jannis hörte, dass seine Stimme ein wenig flehentlich klang. Er war einfach nie besonders mutig gewesen, geschweige denn, dass er an ernste Gespräche über Beziehungen und Gefühle gewöhnt war.

»Vielleicht können wir drinnen drüber reden? Ich klapp dir hier sonst gleich zusammen«, sagte Kolja schief lächelnd und Jannis nickte hastig. Er ließ Kolja in die Wohnung, folgte ihm dann und schloss die Tür hinter ihnen.

Er zog seine Schuhe aus und huschte ins Wohnzimmer, wo Kolja aufs Sofa gesunken war und die Krücken vor sich auf den Boden legte.

»Die wollen noch nicht ganz so wie ich«, stöhnte er und strich mit den Händen über seine Oberschenkel. Jannis schälte sich aus seiner Jacke und ließ sich nervös neben Kolja nieder. Der lehnte sich zurück, atmete einmal tief durch und wandte Jannis dann sein Gesicht zu.

»Deine Verlobte ist verflucht hübsch«, sagte Kolja und musterte ihn mit wachsamen Augen.
 

Jannis verknotete unangenehm berührt seine Hände im Schoß.

»Ja, ich weiß. War sie schon immer. Aber… sie interessiert mich trotzdem nicht. Nicht… auf diese Weise…«

Koljas Mundwinkel zuckten.

»Die Bombe hättest du ruhig schon früher platzen lassen können«, meinte Kolja nachdenklich. Jannis ließ den Kopf sinken.

»Ich hatte jahrelang gar keinen Kontakt zu ihr und dann hat sie den einen Tag angerufen… ich hab gehofft, dass sie es vielleicht mittlerweile aufgegeben hat–«

»Was aufgegeben? Dich?«, fragte Kolja.

»Wir sind verlobt, seit ich neunzehn bin. Das war der letzte klägliche Versuch meine Eltern stolz zu machen. Hat nicht wirklich funktioniert. Dummerweise hatte ich nie damit gerechnet, dass sich ein Mädchen… dass ein Mädchen mich mögen könnte. Aber Jess war ganz außer sich, sie hat sich unglaublich gefreut. Wir hatten vorher so ein… Ding. Keine Ahnung. Ich war damit beschäftigt mir einzureden, dass ich nicht auf Jungs… also… dass ich nicht auf Marek stehe und… wir haben uns nur zwei Mal oder so geküsst. Und dann…«
 

Er brach ab. Das alles war ihm verflucht peinlich, auch wenn Kolja nicht aussah, als würde er lachen, oder als wäre er sauer.

»Wir haben…ähm… einen Versuch gestartet miteinander… aber ich musste an Marek denken und das… hat alles nicht wirklich funktioniert und… nun ja. Ich hab einfach gehofft, dass sie es merkt, damit ich es nicht aussprechen muss. Und ich hatte immer zu viel Bammel davor, es meinen Eltern zu sagen. Und als ich dann den Studiumsplatz hier bekommen habe, bin ich einfach Hals über Kopf abgehauen. Ich hab Jess nicht gesagt, wo ich hingehe. Sie wusste nicht, wo ich wohne, wie meine Nummer ist… Unsere Eltern hatten sich zerstritten, aber letztens hat meine Mutter beschlossen, dass Jess wohl die einzige Möglichkeit ist, mich zu bekehren. Deswegen hat sie ihr meine Nummer gegeben und ich hab Jess gefragt, ob sie die Sache mit der Verlobung endlich aufgegeben hat, aber das hat sie nicht. Und jetzt weiß sie es und wird… keine Ahnung. Ich versteh nicht, wieso ich immer so einen Terz darum gemacht habe, diese Sache mit dem… Schwulsein… geheim zu halten. Wenn ich darüber nachdenke, scheint es mir doch ziemlich lächerlich zu sein«, murmelte er und schloss die Augen, ehe er sich ebenfalls auf der Couch zurücklehnte und sich die Brille vom Gesicht zog.
 

»Du hast mich als deinen Freund vorgestellt«, sagte Kolja, während Jannis seine Brille auf den Couchtisch legte. Sein Kopf flog zu Kolja herum und er starrte ihn entsetzt an.

»Willst du nicht mehr? Also… mit mir zusammen sein? Ich kann echt verstehen, wenn du sauer bist, aber ich… es tut mir ehrlich Leid!«

Er blinzelte, als Kolja ein Lachen entschlüpfte.

»Hör schon auf damit. Ich bin nicht sauer, ok? Du hättest es mir zwar eher sagen können, aber ich hab mich ja schließlich nicht in dich verliebt, weil du so ein offener, unkomplizierter Mensch bist, oder?«

Jannis hielt die Luft an.

Verliebt.

Ja, verflucht, verdammt und in Dreiteufelsnamen, sein Herz hämmerte so heftig. Kolja war nicht sauer. Er war einfach nur Kolja. Er hatte Jess die Hand hingehalten und war nicht abgehauen und er schmollte nicht und er wollte ihn immer noch als Freund haben…

»Aber ich… hab mich in dich verliebt, weil du so ein offener und unkomplizierter Mensch bist«, murmelte er leise und spürte die Hitze in seinen Wangen.
 

Eine Stille senkte sich über sie, während Jannis seine verschränkten Finger anstarrte. Er war sich ziemlich sicher, dass Kolja wiederum ihn anstarrte.

»Du… hast gerade das erste Mal gesagt, dass du…«

Koljas Stimme war heiser, als würde er sich gerade von einer wochenlangen Erkältung erholen. Jannis bekam eine Gänsehaut und schaute auf. Koljas Augen waren viel zu blau, soviel stand fest. Jannis schluckte schwer. Ja, er hatte es gesagt. Er hätte es schon viel eher sagen müssen. Aber er war nun mal einfach schlecht in diesen Dingen und das würde sich garantiert nicht allzu schnell ändern.

»Ich weiß, dass ich kompliziert bin… aber wenn du… wenn du das aushalten könntest… ich…«
 

Er brach ab. Kolja hatte seine Hände links und rechts an seine Wangen gelegt und nun beugte er sich vor, sodass Jannis’ Stirn an seiner lehnte.

»Ich kann dich nicht nur aushalten, du Dummkopf. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es wäre, dein Grummeln nicht zu hören und nicht mehr zu sehen, wie du rot wirst und nicht mehr zu beobachten, wie du deine Brille hochschiebst, wenn du nervös bist. Und ich bin dir nicht monatelang nachgerannt, um jetzt zwei Zentimeter vorm Ziel umzudrehen, nur weil da ein hübsches Mädchen steht, für das du dich kein bisschen interessierst.«

Jannis schluckte schwer und schlang seine Arme um Koljas Nacken.

»Ich versuch noch mal mit ihr zu reden, damit ich dieses Verlobungsding endlich loswerde. Ich bin ja lang genug einfach nur davor weggerannt«, sagte er seufzend. Kolja lächelte und seine Daumen strichen sachte über Jannis’ Wangen.

»Darf ich mir einbilden, dass ich einen ganz guten Einfluss auf dich habe?«, fragte er neckend. Jannis musste einfach lächeln.

»Das ist keine Einbildung«, nuschelte er, ehe er sich vorbeugte und Kolja küsste.
 

*
 

»Warum hast du es mir nicht gesagt?«
 

»Ich dachte, es wäre vielleicht offensichtlich.«
 

»Oder du bist einfach nur feige.«
 

»Oder das. Wahrscheinlich eher das.«
 

Jess starrte ihn an. Ihre Augen waren braun. Heller als die von Marek. Fast so wie Karamell. Sie war wirklich sehr hübsch, aber sie würde niemals hübsch genug sein. Er hätte es damals so einfach haben können. Wer hatte schon als verkorkste Brillenschlange das Glück, von so einem Mädchen gewollt zu werden? Aber nein. Er stand auf Männer. Zuerst verliebte er sich in ein verträumtes Mathegenie und danach in einen hyperaktiven…

»Und… liebst du ihn? So richtig?«, fragte Jess mit leicht erstickter Stimme. Sie saß in Jannis’ Wohnung auf dem Sessel und strich immer wieder unnötig ihren knielangen Rock glatt.

»Lieben ist so ein großes Wort. Frag mich in zwei Jahren noch mal«, murmelte Jannis leise und blickte aus dem Fenster. Es war der erste Mai und draußen war wunderbares Wetter.

»Ich liebe dich«, sagte sie störrisch. Jannis wandte ihr das Gesicht zu.

»Und du hast all die Jahre, die ich verschwunden war, nicht einmal mit einem anderen Mann irgendwas gemacht?«, fragte er. Sie seufzte leise.

»Siehst du.«
 

»Magst du mich kein bisschen?«

Jannis fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Jess, darum geht es nicht. Ich kann nicht mit einem Mädchen verlobt sein, das ich mag. Ich steh auf Männer. Schon seit ich dreizehn bin. Immer. Es war nie anders und es wird nie anders sein. Du willst Kinder haben, heiraten. Ich will nur meine Bücher, meine Katzen, meinen besten Freund und Kolja. Und sonst nichts. Es gibt da draußen garantiert einen Mann, der sich ein Bein ausreißen würde, damit du ihn beachtest«, sagte Jannis. Es kostete ihn alle Überwindung, so direkt mit Jess zu sprechen, aber all das Drumherumgerede hatte bisher nichts gebracht. Also nahm er sich ein Beispiel an Kolja – und der war Experte für solche Dinge.

»Ich mag dich. Du bist genau genommen das einzige Mädchen, das ich mag«, meinte er und sah, wie ihre Mundwinkel sich zu einem Lächeln bogen. Wenigstens weinte sie nicht mehr – denn das hatte sie am Telefon getan und die erste Viertelstunde, in der sie hier gewesen war.
 

»Aber wir können nicht zusammen sein. Und wir können schon gar nicht verlobt sein. Deswegen bitte ich dich… einfach davon abzusehen. Nicht, dass es irgendwas Offizielles wäre. Aber ich möchte, dass du es einsiehst. Dass wir beide sagen, dass wir nicht miteinander verlobt sind. Ich will nicht, dass nur ich das sage, während du dich immer noch als meine Verlobte bezeichnest«, erklärte er und nahm einen Schluck von seinem Orangensaft.

Sie seufzte erneut und fuhr mit ihrem Zeigefinger den Rand von ihrem Glas nach.

»Was hat dein Freund gesagt, als du es ihm erzählt hast?«
 

»Er hat nur gesagt, ich hätte es ihm früher erzählen sollen. Ansonsten… war er nicht sauer oder so«, meinte Jannis und konnte sich ein leicht versonnenes Lächeln nicht verkneifen.

»Er muss ziemlich toll sein.«
 

»Das ist er.«
 

»Er ist echt ein Glückspilz…«
 

»Danke, dass du das sagst. Aber ich finde eher, dass ich ein Glückspilz bin«, gab Jannis zurück. Sie sahen sich einen Moment lang schweigend an, dann leerte Jess ihr Glas und erhob sich aus ihrem Sessel.

»Ich möchte mit dir befreundet sein«, sagte sie geradeheraus. Jannis blinzelte, dann lächelte er erneut. Sie musterte ihn eingehend.

»Er ist ein toller Kerl. Soviel hab ich dich in all den Jahren nicht lächeln gesehen«, meinte sie und kam zu ihm herüber. Zögerlich blieb sie vor ihm stehen, dann umarmte sie Jannis. Er hob die Arme und erwiderte die Umarmung behutsam. Sie roch nach Apfelshampoo.

»Freunde?«, murmelte sie gegen seine Schulter.
 

»Freunde.«
 

Als sie sich von ihm löste, wischte sie sich mit der Hand über die Augen. Dann griff sie mit ihrer rechten Hand an den linken Ringfinger und zog den Verlobungsring herunter, den Jannis ihr damals geschenkt hatte. Einen Augenblick lang betrachtete sie ihn, dann hielt sie ihn Jannis vor die Nase, doch er schüttelte den Kopf.

»Behalt ihn. Ich brauch ihn nicht«, sagte er abwehrend. Sie lachte.

»Aber was soll ich damit? Wenn ich irgendwann mal einen aufrichtigen Antrag bekomme, kann ich ihn nicht tragen«, gab sie zurück und drückte ihn Jannis in die Hand.

»Verkauf ihn, vergrab ihn, behalt ihn… ist mir egal. Ich kann ihn nicht mehr tragen, ok? Nimm ihn. Vielleicht willst du ja Kolja mal einen Antrag machen«, sagte sie und ihre letzten Worte klangen ein wenig stichelnd. Jannis verkniff sich ein Lachen.

»Ich glaube nicht, dass ich allgemein der Typ fürs Heiraten bin«, antwortete er amüsiert und nahm den schmalen Ring mit dem kleinen Stein behutsam entgegen.
 

»Ruf mich an, ja?«, meinte Jess, als sie nach ihrer Jacke griff und sie sich überzog.

»Mach ich«, versprach er und er meinte es auch so. Er war Jess dankbar, dass sie es nun hingenommen hatte und ihm nicht böse war. Oder zumindest nicht so sehr, dass sie ihn verfluchte und bis in alle Ewigkeit hassen würde. »Mit wem sollte ich sonst über all die schrecklichen Juristen lästern?«

Jess kicherte leise.

»Hast du heute noch was vor?«, fragte sie, während sie sich im Flur ihre Stiefel anzog.

»Heute ist Koljas ›Willkommen zurück‹- Party. Marek und Sebastian holen mich in einer Stunde ab«, erklärte er. Jess lächelte. Jannis hielt ihr die Tür auf und sie winkte noch einmal, ehe sie mit einem letzten Blick zurück die Treppen hinunter verschwand.

Jannis schloss die Tür hinter ihr und atmete einmal tief ein und aus. Er war froh, dass es so gut gelaufen war. Jetzt gab es nur noch diese eine Sache, die er tun wollte. Aber das hatte noch Zeit bis Mitte Juni.
 

*
 

»Kolja hat viele niedliche Freunde«, sagte Marek interessiert, während sie sich auf Klappstühle um einen Tisch im Garten der Reichenaus niederließen. Sebastian sah aus wie vom Donner gerührt.

»Welchen davon findest du niedlich?«, fragte er mit deutlicher Panik in der Stimme. Marek kicherte.

»Ich mag die bunten Haare von Koljas bestem Freund«, entgegnete Marek vollkommen unbeeindruckt. Sebastian sah aus, als wollte er am liebsten sofort zum Friseur rennen und sich ebenfalls einen grünen Irokesenschnitt machen lassen.

»Keiner davon ist so niedlich wie du«, ergänzte Marek beiläufig und griff in eine Schüssel Chips, die auf dem Tisch stand. Penny tollte begeistert mit dem Schwanz wedelnd durch den Garten, der von vielen Leuten bevölkert war. Jannis sah aus dem Augenwinkel, wie Sebastian knallrot anlief.
 

Auf der Terrasse stand ein großer Kohlegrill, vor dem Koljas Vater im Rollstuhl saß und Bratwürste, Hähnchenfleisch und Gemüsespieße – extra für Jannis angefertigt – wendete.

»Alles ok bei euch? Hier, Sekt und Bowle!«

Kolja wuselte herbei, drückte Jannis einen Kuss auf die Wange und stellte eine Flasche Sekt und eine Schale mit Bowle auf den Tisch. In der Bowle schwammen Kiwis und Äpfel und sie sah ziemlich verlockend aus. Jannis berührte die Stelle in seinem Gesicht, die Kolja gerade geküsst hatte.

»Alles bestens«, sagte Marek strahlend.

»Marek findet deinen besten Freund niedlich«, klagte Sebastian. Kolja lachte. Er humpelte ziemlich und eigentlich sollte er nicht zu viel ohne Krücken gehen, aber natürlich hielt er sich nicht daran und musste auf seiner Party unbedingt demonstrieren, wie gut er wieder gehen konnte.
 

»Henning ist hetero und die hübsche Kleine da drüben ist sein Mädchen seit Sandkastenzeiten. Ich versichere dir, Marek hat keine Chance«, sagte er und tätschelte Sebastian die Schulter, ehe er wieder davon wuselte. Marek grinste breit.

»Ich will doch gar niemanden außer dir«, schnurrte er Sebastian zu. Jannis sah dezent woanders hin, während die beiden sich ausgiebig küssten. Vielleicht sollte er doch ein Glas Bowle nehmen. Also griff er nach einem der Plastikbecher auf dem Tisch und schöpfte mit der Kelle aus der Schale etwas Flüssigkeit und Obst hinein.

»Hey, dürfen wir uns zu euch setzen?«, fragte Sylvies Stimme hinter ihm.

»Klar«, meinte Jannis und schaffte ein Lächeln. Er übte. Ja, er bemühte sich wirklich darum, von jetzt an geselliger und weniger menschenscheu zu sein. Das hier war Koljas Party. Und es waren Menschen hier, die Kolja sehr wichtig waren. Jannis wollte das nicht vermasseln.
 

Marek und Sebastian schafften es endlich, sich voneinander zu lösen und schauten gespannt in die Runde. Jannis räusperte sich.

»Ähm… das ist mein bester Freund Marek und sein Freund Sebastian«, meinte er und griff nach seiner Bowle.

»Und das sind Henning, Sylvie, Rike und Jan«, fügte er hinzu und deutete nacheinander auf sie.

Er würde diese Party schon überleben. Auch wenn da Arbeitskollegen von Kolja herumliefen, Teresa und Silke mitsamt ihrer Tochter, eine alte Dame, die wohl Koljas Oma sein musste, eine Horde Kommilitonen und selbst Robert war da. Der stand abseits neben einem Rosenbusch und kraulte Penny am Kopf. Jannis zögerte, dann erhob er sich.

»Robert«, rief er zu ihm herüber. Robert sah auf und blinzelte erstaunt, als er ihn erkannte.

»Wir haben noch einen Platz frei…«
 

Marek lächelte verschwommen, Henning grinste, Rike strahlte. Robert kam zögerlich zu ihnen herüber und setzte sich auf den Platz neben Jannis, der noch frei war.

»Bowle?«, fragte Jannis. Robert sah ihn einen Moment lang schweigend an, dann lächelte er.

»Du bist doch nicht so übel, wie ich dachte«, meinte er freiweg. Jannis räusperte sich.

»Ich… ähm… arbeite an mir«, gab er zu. Henning lachte laut.

»Alter, ihr zwei seid vielleicht steif. Sprecht nach drei Gläsern Bowle noch mal miteinander. Ich hol Bratwürste. Wer will noch? Jannis, du bist Pflanzenfresser, oder? Ich bring dir ’nen Gemüsespieß mit…«

Jannis nahm einen großen Schluck Bowle. Der Abend würde sicher gut werden. Auch, wenn es ungewohnt war. Er würde das schon hinkriegen. Für Kolja.
 

Vier Gläser Bowle, zwei Gemüsespieße und einen Berg Nudelsalat weiter fühlte Jannis sich kugelrund und leicht schwummrig im Kopf. Mit Alkohol voll gesaugtes Obst setzte ihm scheinbar ziemlich zu. Vor allem, da er normalerweise nie Alkohol trank.

Marek war in eine theologische Grundsatzdiskussion mit Jan und Rike verstrickt, Sebastian unterhielt sich mit Sylvie über Fotographie und Henning rauchte genüsslich eine Zigarette und summte leise ein Lied, das Jannis nicht kannte. Er hörte Kolja lachen und das Geräusch brachte seinen Körper dazu, warm zu werden.

Jannis stand auf.

»Ich geh mal Kolja suchen«, meinte er und verschwand vom Tisch. Tatsächlich hatte er einige Probleme gerade zu gehen. Er hätte doch keine Bowle trinken sollen. Aber der Alkohol hatte es wirklich leichter gemacht.
 

Er entdeckte Kolja bei seiner Oma und Marit.

»Ah, Kolja, dein Junge«, sagte Koljas Oma freudestrahlend und tätschelte Jannis’ Arm. Kolja strahlte, Jannis schaffte ein Lächeln, Marit kicherte stumm. Kolja hatte ihm erklärt, dass es ihr bei ihrer Familie meistens leichter fiel, die Worte von den Lippen zu lesen.

»Du hast dir wirklich einen gut aussehenden Freund ausgesucht, mein Junge«, sagte Frau Reichenau mit zittriger Stimme und Jannis räusperte sich verlegen, ehe er sich die Brille auf der Nase nach oben schob.

»Ich weiß. Und ich werde ihn jetzt kurz nach drinnen entführen. Muss mich sowieso mal hinsetzen«, sagte Kolja, drückte seiner Oma einen Kuss auf die Wange, wuschelte Marit durchs Haar und zog Jannis dann humpelnd hinter sich her. Es ging durch die Terrassentür, durchs Wohnzimmer, den Flur bis in Koljas Zimmer, wo Kolja die Tür hinter ihnen schloss und sich mit einem Ächzen auf sein quietschgrünes Sofa sinken ließ.
 

Jannis setzte sich neben ihn und fuhr sich durch die Haare. So viel menschliche Interaktion, die sich nicht nur auf ihn und einen anderen Menschen – vorzugsweise Marek oder Kolja – beschränkte, strengte ihn jedes Mal unglaublich an. Er zuckte leicht zusammen, als er Koljas Fingerspitzen an seiner Wange fühlte.

»Wärst du… wärst du sauer, wenn ich hier drin bleibe und warte, bis die Feier vorbei ist?«, fragte er und hörte, dass seine Stimme ein wenig undeutlich klang. Jannis wandte den Kopf und blickte seinen Freund an. Auf dessen Gesicht lag ein sachtes Lächeln.

»Du warst ganze fünf Stunden da draußen, hast mit meinen besten Freunden und mit meinem Exfreund geredet, du hast dich mit meiner Oma über Shakespeare unterhalten und mit Raquel ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹ gespielt… ich schäume gerade fast über vor so viel Liebe für dich, das kannst du dir sicherlich nicht vorstellen. Und ich wäre nicht sauer, wenn du hier drin bleibst. Solange du noch hier bist, wenn die Feier vorbei ist und dann über Nacht bleibst…«
 

Jannis schluckte trocken, als Kolja sich vorbeugte und ihn sachte küsste. Er war wirklich nicht an Alkohol gewöhnt. Nein, kein bisschen. Garantiert wurde ihm deswegen plötzlich extrem heiß. Das hier war kaum mehr als der Hauch einer Berührung von Lippen und trotzdem hatte Jannis das Gefühl, er würde gleich schmelzen. Seine Hand schob sich wie von selbst in Koljas Nacken und zog ihn näher. Kolja gab ein überraschtes Keuchen von sich, als Jannis ihn heftig küsste und mit sich nach hinten zog.

»Wie viel Bowle hattest du?«, flüsterte er heiser. Jannis musste verdruckst lachen.

»Vier Gläser«, nuschelte er gegen Koljas Lippen, »aber weil ich sonst nie Alkohol trinke, ist es ein bisschen so, als hätte ich die ganze Schale allein getrunken.«

Kolja küsste ihn erneut und Jannis drückte unweigerlich seinen Unterkörper gegen den seines Freundes. Koljas Stöhnen verursachte ein heftiges Kribbeln in seiner Schrittgegend.

»Jannis… lass das…«
 

»Wieso?«
 

»Weil du angetrunken bist, ich da draußen zwanzig Gäste habe und extrem scharf auf dich bin. Das alles lässt sich nicht wirklich miteinander vereinba–«
 

Jannis’ Finger stahlen sich unter Koljas langärmliges Shirt, tasteten nach der nackten Haut, die sich immer viel zu gut anfühlte und strichen hinunter zu Koljas Hosenbund.

»Jannis…«

»Ok, ok… ich hör ja schon auf«, murmelte er und zog seine Hände zurück. Koljas Gesicht schwebte Zentimeter über seinem und es sah tatsächlich so aus, als würde er jeden Moment all seine Beherrschung über Bord werfen und sich auf ihn stürzen. Jannis beschloss, dass er diesen Gesichtsausdruck ziemlich gut fand. So gut, dass er Kolja gleich noch mal küssen musste.
 

Als er sich von ihm löste, hatte er ein verdammtes Problem in seiner Jeans und sein Freund hatte immer noch zwanzig Gäste, die sich garantiert fragten, wo er geblieben war. Das Leben war ungerecht.

»Ich könnte versuchen, die Party schnellstmöglich zu beenden«, sagte Kolja kläglich und blickte ihn sehnsüchtig an, während er sich aufrappelte. Jannis grinste.

»Ich warte hier drin«, sagte er beiläufig. Kolja starrte ihn an.

»Seit wann bist du so… ähm… so, wie du gerade bist?«, fragte er.

»Bowle«, gab Jannis zurück und Kolja nickte. Er lachte leise.

»Mal sehen, wie viel von der Bowle noch da ist, wenn die Party vorbei ist…«
 

»Willst du mich etwa abfüllen?«
 

»Nein. Ich würde lieber ganz andere Sachen mit dir machen.«
 

Jannis räusperte sich.

»Dann… dann werd die Gäste schnell los und… dann könnten wir…«

Koljas Gesichtszüge entgleisten, doch er fasste sich wieder und schaffte ein verlegenes Lächeln.

»Nicht, dass ich nicht wollen würde… also… ich wollte schon, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Aber noch besser fände ich es, wenn du nüchtern wärst«, sagte er und umarmte Jannis, der mittlerweile auch aufgestanden war.

»Hab ich mir gedacht. Ich darf es mir nicht zu leicht machen, was?«, erkundigte er sich und löste sich von Kolja, um nach den Krücken neben Koljas Sofa zu greifen. Er hielt sie Kolja hin.

»Den Rest der Party auf Krücken, ok?«

Kolja seufzte ergeben, dann nickte er und nahm Jannis die Krücken ab. Jannis zögerte einen Moment, dann griff er in seine Hosentasche und holte den Ring hervor, den Jess ihm vorhin gegeben hatte.

»Sie hat ihn mir zurückgegeben… jetzt bin ich auch von ihrer Seite nicht mehr verlobt und… na ja…«
 

Kolja betrachtete den Ring in Jannis’ Hand und lächelte.

»Dann gehörst du jetzt ganz und gar mir«, scherzte er lächelnd und hob den Blick zu Jannis’ Gesicht. Jannis musterte den jungen Mann vor sich einen Augenblick lang schweigend. Was für ein Glückspilz er war. Eigentlich konnte er es immer noch kaum fassen, dass er sich so gegen Kolja gewehrt hatte. Jetzt hatte er mit dicken Bleistiftbuchstaben Koljas Namen in seinem Papierherz stehen und es fühlte sich so gut an, dass er es nicht mehr missen wollte.

»Das tu ich schon länger, du Idiot. Und jetzt ab nach draußen… sonst sperr ich dich hier drin ein«, drohte er ihm. Kolja lachte, küsste ihn und öffnete die Tür.

»Ich beeil mich. Versprochen.«

Jannis schob ihn nach draußen und schloss die Tür. Allzu lange konnte es also nicht mehr dauern. Kolja hielt seine Versprechen schließlich immer.

Jannis

So! Hier haben wir also den Epilog und damit das endgültige Ende von Papierherz. Die Geschichte hat mir bis zum letzten Satz sehr viel Spaß gemacht und vielleicht lesen wir uns ja bei einer anderen Geschichte wieder :)

Viel Spaß hiermit (diesmal aus Koljas Sicht) und einen schönen Sonntag wünsche ich euch!

Liebe Grüße :)

____________________________
 

Aus dem Autoradio erklang Queen. Er hatte nicht darauf bestanden, aber niemand hatte etwas dagegen gehabt, also hatte er eine CD gesponsert. Marek saß vorne und summte leise mit, seine Augen waren auf die Landschaft draußen gerichtet, die an ihnen vorbei flog. Kolja und Jannis saßen auf dem Rücksitz.

Er musterte seinen Freund von der Seite. Seine Brillengläser reflektierten die Sonne ein wenig.

»Leihst du mir die CD mal?«, fragte Marek gut gelaunt von vorne und wandte sich verschwommen lächelnd zu ihm um. Marek war ein Alien, aber Kolja hatte sich daran gewöhnt. Er mochte Marek und er mochte dessen Freund. Sebastian war so vernarrt in Marek, dass es unglaublich niedlich anzusehen war.

»Klar. Ich hab noch ein paar andere Alben, wenn du willst«, entgegnete er grinsend.

Er sah, wie Mareks Finger den Takt des Liedes auf seiner Jeans mittrommelten.
 

»Sag mal… werden wir da überhaupt rein gelassen?«, fragte Sebastian zweifelnd. Jannis wandte das Gesicht vom Autofenster ab und Kolja betrachtete sein Profil. Jannis sah viel zu gut aus. Und er fand seine Brille sexy. Jedes Mal, wenn er ihm das sagte, wurde Jannis rot und wenn er rot wurde, dann fand Kolja ihn noch hinreißender – sofern das überhaupt möglich war.

»Wird schon klappen. Es würde mir nur halb so viel Spaß machen, wenn ihr nicht dabei wärt«, gab Jannis zurück und in seiner Stimme lag etwas Grimmiges, das Kolja von Jannis nur kannte, wenn es um seine Familie ging. Kolja hatte mittlerweile eine Menge Geschichten von Familie Hofstetter gehört, auch wenn Jannis nicht gern darüber sprach. Er war schon gespannt darauf, Jannis’ Eltern kennen zu lernen, auch wenn er sich die Umstände normalerweise etwas anders vorstellen würde. Aber bei solchen Eltern war ein stinknormales Mittagessen mit Standardfragen natürlich nicht möglich.
 

»Jess ist schon da. Sie hat mir vorhin eine SMS geschrieben, dass meine Eltern unglaublich triumphierend ausgesehen hätten, als sie erzählt hat, dass ich zum Geburtstag meiner Mutter komme, um etwas bekannt zu geben. Die denken tatsächlich, dass Jess und ich doch noch heiraten wollen. Und man könnte meinen, für ein Jura- Studium braucht man Grips«, sagte Jannis. Er hatte schlechte Laune, soviel stand fest. Und Kolja mochte es nicht, wenn Jannis schlechte Laune hatte. Also streckte er eine Hand aus und zog Jannis an seinem Hemdkragen zu sich herüber – in Hemden war Jannis viel zu umwerfend. Ohne Hemd sogar noch mehr. Konnte man so verliebt in jemanden sein? Kolja hätte es nicht für möglich gehalten, aber er hatte bisher auch nicht an ein Umgehauen- werden auf den ersten Blick geglaubt.
 

Jannis’ Lippen waren weich und sein Seufzen war Musik in Koljas Ohren. Seine Fingerspitzen kraulten den Nacken seines Freundes, ehe er sich von Jannis löste.

»Schau nicht so böse«, nuschelte er und strich Jannis durchs Haar. Jannis grummelte. Kolja liebte es, wenn er grummelte.

»Du würdest auch böse gucken wenn… nein, würdest du nicht«, sagte er seufzend und Kolja musste lachen.

»Ich glaube, ich kann gar nicht böse gucken«, antwortete er amüsiert und verschränkte seine Finger mit denen von Jannis. Sie waren bereits eine halbe Stunde unterwegs und es würde nicht mehr lang dauern, bis sie das Haus von Jannis’ Eltern erreichten. Aus unerfindlichen Gründen war Kolja beinahe ein wenig aufgeregt. Er würde das Haus sehen, in dem Jannis aufgewachsen war. Das Haus, in dem Jannis fast sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Kolja würde seine Eltern zum ersten Mal sehen, er würde all die Familienmitglieder sehen, die Jannis so verabscheute.
 

Zehn Minuten später fuhren sie eine schmale Straße entlang, die von riesigen Häusern gesäumt war. Hier und da sah Kolja eine perfekt gestutzte Hecke. Sebastians klappriger Golf wirkte zwischen all den großen, teuren Autos wie ein Fremdkörper.

»Da vorne links. Du kannst in der Einfahrt parken, wir bleiben ja nicht lange«, sagte Jannis und deutete auf ein Haus mit dunklen Dachziegeln, weiß verputzten Außenwänden und einem scheinbar riesigen Garten voller Rosenbüsche.

»Willkommen im Garten der Herzkönigin«, sagte Marek scheinbar bestens gelaunt und stieg aus, nachdem Sebastian den blauen Golf in der Einfahrt der Hofstetters geparkt hatte. Kolja schaute das Haus hinauf. Jannis stand neben ihm und seufzte leise.

»Das da oben ist mein Zimmerfenster. Das mit dem Balkon«, sagte er und zeigte hinauf auf die Stelle, wo ein großer Balkon zum Garten hinaus ging.
 

»Toller Garten«, sagte er beeindruckt. Jannis schnaubte.

»Ja, das ist auch das einzig Tolle an diesem Haus. So, bringen wir es hinter uns«, meinte er und wählte Jess’ Nummer mit seinem Handy. Kolja versuchte sich vorzustellen, wie ein junger Jannis draußen in diesem Garten spielte. Aber er wusste auch, dass Jannis nie ein geselliges Kind gewesen war und die Vorstellung von einem achtjährigen Jannis, der allein im Garten saß und in einem Buch blätterte, erschien ihm irgendwie traurig zu sein.

»Hey Jess. Kommst du die Tür aufmachen? Wir sind da«, hörte Kolja Jannis’ Stimme und er blinzelte, um sich aus den Vorstellungen um Jannis’ Kindheit zurückzuholen.

»Auf geht’s«, murmelte Jannis und Kolja, Marek und Sebastian folgten ihm zur Haustür, die sich in diesem Moment öffnete. Da stand Jess und sie war immer noch verdammt hübsch. Ihr langes Haar trug sie offen und heute steckte sie in einem gelben Kleid.

»Anita hat schon wieder zu viel Sekt getrunken«, wisperte sie Jannis zu und ließ sie herein, ehe sie die Tür schloss, »haltet euch von einer rothaarigen Frau mit riesiger Perlenkette fern, sonst bekommt ihr garantiert Tinitus.«
 

Marek kicherte leise und sie zogen ihre Schuhe aus. Kolja klappte der Mund auf. Sie standen in einem großen Eingangsbereich. Alles hier wirkte akkurat und absolut unpersönlich. Es war so kalt und berechnend, als stünden sie in einem Möbelkatalog. Welches Kind wuchs gerne in solch einer Umgebung auf? Kolja fühlte sich einigermaßen befangen, während er den anderen hinterher humpelte. Seine Beine schmerzten immer noch, wenn er zu lange stand oder zu viel am Stück ohne Krücken ging. Aber das war nun egal.

Das Stimmengewirr drang aus einem Zimmer weiter hinten und Jannis ging zielstrebig darauf zu.

»Als ich das erste Mal hier war, habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn man den Boden einfrieren könnte, um darauf Schlittschuh zu laufen«, meinte Marek und blickte sich mäßig interessiert um. Klar, er hatte dieses riesige Haus schon oft gesehen. Kolja hätte zu gern einen Blick in Jannis’ Zimmer geworfen, aber leider Gottes würde es dazu wohl nie kommen.
 

»Ich würd so gern dein Zimmer sehen«, seufzte er leise. Jannis warf ihm einen Blick zu.

»Zwei Minuten, ok? Ich will ungern länger als nötig hier bleiben«, sagte er und schob Marek zu Kolja hinüber.

»Wir verstecken uns solang im Bad«, murmelte Jannis und Kolja verkniff sich ein Lachen, als er sah, wie Jannis Sebastian tatsächlich zu einer Tür bugsierte und mit ihm dahinter verschwand. Marek griff nach Koljas Arm und zog ihn die Treppen hinauf. Jannis wollte sein altes Zimmer also nicht noch einmal betreten. Kolja fiel es schwer, sich in ihn hineinzufühlen. Seine Familie war toll. Er hatte nicht einmal ansatzweise eine Ahnung, wie es sich anfühlte, wenn man so eine Kindheit gehabt hatte.

»Mal sehen, ob da überhaupt noch was drin steht«, murmelte Marek und steuerte auf eine Tür zu. Kolja ertappte sich dabei, wie er den Atem anhielt, als sie eintraten.
 

Das Zimmer war leer. Regale, Schreibtisch, ein großer Kleiderschrank. Aber die Möbel ließen nur erahnen, wie das Zimmer früher einmal gewesen sein musste, als Jannis seine Regale mit Büchern gefüllt hatte. Der Dielenboden wirkte kalt, über einem großen Spiegel hing ein Tuch. Marek sah sich um und schüttelte den Kopf.

»Auf dem Balkon haben wir uns geküsst«, sagte er. Kolja warf Marek einen Seitenblick zu. Er wusste ja, dass das vergangen war. Trotzdem war er ein wenig eifersüchtig. Marek kicherte.

»Eifersüchtig?«, stichelte er und zog Kolja hinüber zur Balkontür.

»Wir haben immer den Gärtner beobachtet. Frank. Der Garten ist echt schön…«

Sie schauten einen Augenblick hinunter in den säuberlich gepflegten Garten mit den vielen Rosen, den Blumenbeeten und den Hecken drum herum.

»Das Zimmer ist so riesig«, sagte Kolja leise.

»Jannis hat es gehasst. Das alles hier. Ich freu mich schon auf das Gesicht seiner Eltern. Komm, wir gehen wieder runter.«
 

Kolja blickte sich noch einmal über die Schulter um. Beinahe hatte er das Gefühl, einen zwölfjährigen Jannis dort am Fenster stehen zu sehen, der einsam nach draußen schaute. Dann schloss sich die Tür und Kolja seufzte leise.

»Ich werd ihn heute noch möglichst hundert Mal zum Lächeln bringen«, sagte er missmutig. Marek kicherte.

»Du bist süß«, sagte er und sie stiegen die Treppe hinunter, klopften an die Badezimmertür und warteten, bis Sebastian und Jannis heraus kamen.

»Jess ist schon drinnen«, sagte Jannis. Kolja konnte sehen, dass er nervös war. Trotz seiner Entschlossenheit. Kolja hätte ihn gern umarmt, aber im nächsten Moment traten sie schon in das große Wohnzimmer und viele Blicke wandten sich ihnen zu.
 

Die meisten hier trugen Anzüge und Röcke. Kolja sah strenge Frisuren und Lippenstift und hochhackige Schuhe. Er sah ein sorgfältig aufgebautes Buffet und eine große Sahnetorte und er sah Jannis’ Gesichtsausdruck, als er sich durch die Menge schob.

»Das sind seine Eltern«, flüsterte Marek. Sie wurden angestarrt wie Aliens. Marek mit seinen ausgeleierten, viel zu weiten Klamotten, Sebastian, groß und schlaksig und in Jeans und T- Shirt. Er selbst mit seinem Undercut und den ausgelatschten Chucks… Nur Jannis trug ein kurzärmeliges Hemd und Schuhe, die halbwegs hier herein passten.

Kolja hatte keine Ahnung, was er zu seinen Eltern sagte. Sie sahen nicht so aus, wie Kolja sich Eltern vorstellen würde. Seine Eltern und Jannis’ Eltern trennten Welten. Soviel stand fest.
 

Ein Klingen riss ihn aus seinen Gedanken. Er blinzelte ein wenig verwirrt, dann schaute er zu Jannis auf, der auf einen Stuhl gestiegen war und mit einem Löffel gegen ein Glas geschlagen hatte. Jess stand direkt neben ihm und sah aus, als müsste sie sich heftig zusammen reißen, um nicht laut loszulachen. Kolja hatte es unglaublich nett von ihr gefunden, Jannis bei seinem Vorhaben zu helfen.

»Ich will nur kurz eure Aufmerksamkeit, um etwas zu sagen, was ich schon länger loswerden will…«

Jannis’ Eltern sahen ziemlich zufrieden aus. Kolja presste die Lippen zusammen, um nicht zu grinsen.

»Ich habe in der Vergangenheit viele Fehler gemacht und es hat lange gedauert, bis mir das klar geworden ist.«

Kolja befand, dass Jannis großartig darin war, so zu tun, als wollte er sich für alles entschuldigen, was er in den Augen seiner Eltern jemals falsch gemacht hatte.

»Ich habe nie ein Jurastudium angefangen, sondern mich für ein Germanistikstudium entschieden. Ich habe Jess aufgegeben und den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen…«
 

Alle starrten Jannis an und auch Kolja sah ihm gebannt zu. Obwohl er wusste, dass Jannis sehr aufgeregt war, wirkte er äußerlich vollkommen ruhig. Marek neben ihm lächelte amüsiert. Aus dem Augenwinkel erkannte er, wie Jannis’ Mutter beinahe stolz lächelte. Dieser Gesichtsausdruck fiel jedoch im nächsten Augenblick in sich zusammen.

»Das alles waren die besten Entscheidungen, die ich jemals getroffen habe. Ich wollte nie Jura studieren, ich wollte nie so werden wie meine Eltern. Allein der Gedanke, dass ich unbedingt ihren Erwartungen entsprechen wollte, war der größte Fehler, den ich gemacht habe. Ich werde Jess nicht heiraten. Niemals. Ich werde auch jetzt nicht von meinem Studium abweichen und ich bin heute nur hier, um zu sagen, was ich all die Jahre verschwiegen habe. Ich hasse diese Feiern, ich hasse den Weihnachtspunsch und die förmlichen Anzüge. Ich hab es gehasst, dass ich meine Brille jedes Mal gegen Kontaktlinsen tauschen musste. All das hier habe ich gehasst. Und ich bin hier, um das endlich zu beenden. Ganz offiziell. Der junge Mann da drüben…«
 

Kolja grinste verlegen und hob eine Hand, als Jannis auf ihn deutete.

»Das ist mein Freund. Mein fester Freund. Und das einzig Gute, was meine Eltern jemals für mich getan haben, war, mir Marek als Nachhilfelehrer zu besorgen, weil ich durch ihn gemerkt habe, dass ich auf Männer stehe und weil ich einen Menschen in ihm gefunden habe, der keinerlei Erwartungen an mich stellt.«

Jannis stieg von seinem Stuhl und stellte das Glas auf einem Tisch ab.

»Ich hab meine Telefonnummer geändert. Wenn ich jetzt gehe, dann komme ich nie wieder. Ich wünsche euch noch ein schönes Leben.«

Alle sahen Jannis nach, als er zu ihnen herüber kam und Kolja kurz einen Kuss auf den Mund drückte.
 

»Wie fühlst du dich?«, fragte Kolja, als sie wieder auf Sebastians Rücksitz kletterten. Jannis streckte sich leicht, sah ihn an und grinste noch ein wenig breiter.

»Ganz wunderbar. Das hätte ich schon viel früher machen sollen!«

Sie lachten alle vier auf einmal los, während Sebastian den Wagen startete. Kolja mochte es, wenn Jannis lachte. Er lachte viel zu selten. Aber heute war Jannis der mutigste Mensch der Welt gewesen und Kolja beschloss, dass er Jannis noch sehr viel öfter zum Lachen bringen wollte.

Jannis’ Handy piepte. Er kramte es hervor und las die SMS laut vor.

»Ist von Jess… ›Dein Onkel Rainer hat gerade lauthals erzählt, dass er sich mit neunzehn den Namen seiner Exfreundin auf den Oberarm hat tätowieren lassen. Ich glaube, deine Mutter fällt gleich in Ohnmacht. Mama, Papa und ich machen uns jetzt auch besser auf den Weg nach Hause. Noch mehr Beichten verträgt mein Vater nicht. Er erstickt fast vor Lachen. Bis bald!‹«
 

»Unbezahlbar«, sagte Sebastian grinsend und startete die Queen- CD. Marek kicherte heftig. Jannis lehnte sich zufrieden zurück.

»Und das Beste ist… sie können mich nicht verklagen, wie sie es sonst immer mit Menschen machen, die ihnen nicht in den Kram passen«, sagte er amüsiert. Kolja lächelte und beugte sich zu ihm hinüber, um ihn zu küssen.

Er war stolz auf seinen Freund. Verdammt stolz und verdammt glücklich.

»Mir passt du ganz hervorragend in den Kram«, nuschelte er gegen Jannis’ Lippen.

»Hm, trifft sich gut«, kam es nuschelnd zurück, »geht mir nämlich ganz genau so.«



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Von:  Cisco
2017-08-28T18:13:55+00:00 28.08.2017 20:13
Dran bleiben, K., er hätte FAST vergessen vor sich selbst so zu tun, als wüsste er den Namen nicht mehr.
Von:  Cisco
2017-08-28T16:21:00+00:00 28.08.2017 18:21
Ich weiß nicht, wie oft ich diese Geschichte schon gelesen habe. Vier- oder fünfmal sicher.
Ich bin gerade von "Action est reactio" herübergestolpert und ich muss doch sagen, dass dein Stil sich mit Zeit und Erfahrung verbessert hat. Er ist bei "Papierherz" schon sehr angenehm und einnehmend zu lesen, aber gefühlsmäßig noch nicht so ausgefeilt wie später. Warum ich trotzdem hier und nicht bei einer neueren Geschichte kommentiere? Tja... es kommt eben nichts gegen die Liebe an.
Antwort von:  Ur
28.08.2017 18:59
Das freut mich sehr zu hören <3 Es wäre auch ein bisschen traurig, wenn ich über die Jahre immer auf der Stelle getreten wäre - ich finde auch, dass ich mich verbessert hab und bin froh, dass das anderen auch auffällt ^-^ Danke für dein liebes Feedback! <3
Von:  Yamasha
2017-06-18T15:24:04+00:00 18.06.2017 17:24
Auch diese Geschichte ist schon älter, aber ich will einfach mal kommentieren : ich mag sie. Und ich leide die ganze Zeit mit Kolja mit, weil Jannis so ein Arsch sein kann. Jetzt finde ich die beiden nur noch süß <3
Aber eine Sache stört mich an dem Kapitel (abgesehen von dem Unfall): Ich fahre selbst Motorrad und weiß aus Erfahrung, dass Motorradfahren ab Ende Oktober arschkalt und ungemütlich ist. Außerdem sind die meisten Motorräder ab Ende Oktober abgemeldet. Das Kolja das anders hält, ok. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass so viele andere Motorrad Fahrer im Dezember auf der Straße sind. Vor allem nicht auf der Autobahn. Die macht meistens schon im Sommer keinen Spaß.
Ansonsten liebe ich die Geschichte und deinen Schreibstil! Es macht einfach so viel Spaß zu lesen. Seit gestern mache ich eigentlich nichts anderes mehr als mich durch deine Fanfics zu klicken
Von:  aschenneller
2014-11-16T19:19:24+00:00 16.11.2014 20:19
Immer wieder finde ich eine fantastische Geschichte nach der anderen, wenn ich in Deinen Büchern stöbere!! Ich glaube ich bin bald durch!!! Leider! *grins*
Alles Liebe
Christina
Von:  Touki
2013-04-11T09:43:21+00:00 11.04.2013 11:43
Ich kann mich den anderen nur anschließen, da sie schon alles gesagt haben. :)

Deine Geschichte ist absolut traumhaft schön <3 und Jannis und Kolja sind so was von niedlich >\\\\<

Ich hoffe man liest noch mehr solche tollen Sachen von dir :) (hab deine anderen Geschichten schon alle durch :D)

LG Lulu <3
Von:  Vanadie
2012-03-02T15:57:08+00:00 02.03.2012 16:57
So.
Ich glaube es ist an der Zeit, dass ich auch mal ein paar Dinge loswerde.
Normalerweise kommentiere ich bereits abgeschlossene Geschichten nicht mehr. Aber weil ich Papierherz jetzt schon mindestens fünf Mal gelesen habe, sie einer meiner absoluten Favoriten ist und mir soviel bedeutet, fühlte ich mich dann doch verpflichtet eine weitere Lobeshymne auf dich niederregnen zu lassen.

Als ich sie vor ungefähr einem Jahr das erste Mal gelesen habe, war ich bereits hin und weg. Ich glaube ich hab sie an einem Wochenende komplett durchgelesen und war dann so begeistert von deinem Schreibstil und der Art und Weise, mit welcher du unbekannte Figuren zum Leben erwecken kannst, dass ich mir auch jede andere deiner Shonen-Ai Geschichten reingehauen habe. Dass der Rest genauso wunderschön ist, wie Papierherz muss ich dir wohl nicht extra sagen. Anhand deiner fleißigen Kommentatoren kannst du dir sicher denken wie viele Menschen du mit deinen Beiträgen hier auf Animexx schon verzückt hast.
Die Geschichte von Jannis und Kolja hat dabei allerdings einen besonderen Platz in meinem Herzen behalten. Immer wenn es mir schlecht geht und ich glaube an Liebeskummer ersticken zu müssen, lese ich von Jannis und die Tatsache, dass er, obwohl er gedacht hat, nach Marek nie wieder einen Menschen lieben zu können, doch noch jemanden gefunden hat, der sein Herz erobert, macht mir unglaublich viel Mut und hebt meine Stimmung jedes Mal aufs Neue. Dabei ist Jannis ein bisschen wie ich selbst. Zurückhaltend und absolut nicht schnelllebig.

Dafür, dass du mich mit Papierherz schon so oft wieder zum Lachen gebracht hast, wollte ich einfach nur mal Danke sagen. Du bist meine Retterin in der Not :)
Vanadie
Von: abgemeldet
2011-10-09T13:11:30+00:00 09.10.2011 15:11
Hey :)

Ich hab jz Papierherz nochmal gelesen (das erste Mal schwarz – Schande über mich!) aber jz hab ich mir gedacht, dass ich dir mal ein Kommentar hinterlassen muss, weil ich die Story so süß finde <3
Ich muss gestehen, dass bei mir mehrmals Tränen geflossen sind, weil ich Kolja und Jannis so fluffig süß finde und ich einige Stellen so rührend fand! Und normalerweise bin ich kein Mensch, der schnell heult. Außer vl bei Dumbo. Aber egal :D
Ich mag Jannis, Kolja, Marek und Sebastian. Alle vier haben eine eigene Persönlichkeit und sind toll beschrieben. Auch das mit dem verlieben und nicht wahrhaben wollen kommt realistisch rüber und ist nicht einfach so da und Tatsache. Es ist auch so süß, dass Jannis das nicht so richtig realisiert, sondern sich einfach einredet, dass er Kolja hasst. Jedes mal, wenn so was war, hab ich mir gedacht: „Ja natürlich. Du hasst ihn. Mhm. Genau.“
Ich finde auch die Idee mit dem Papierherz total süß! Wie bist du auf diese Vorstellung gekommen? Ich find das echt genial! (Und süß :D)
Und ich muss dir widersprechen. Ich finde nicht, dass du ne schlechte Lemon Schreiberin bist. Ich finde sogar, dass du die wirklich, wirklich gut beschreibst :)

Aber mir ist ein logistisches Problem aufgefallen: Und zwar als Kolja und Jannis im Spital sind und sich Jannis eine Woche in ‚seinem’ Zimmer verschließt, weil er Schuldgefühle hat, hat er sich doch sicher nach dem 24. verkrochen. Und wenn er sich eine Woche verkriecht (was er doch tut, oder? Oder hab ich da iwas falsch gelesen? Falls ja, vergiss den Absatz einfach :D), verkriecht er sich doch reintheoretisch über Silvester oder? Aber zu Silvester wird er entlassen und macht mit Kolja rum, oder? Wie gesagt, falls es doch weniger als ne Woche war, vergiss den Absatz einfach :D

So, bevor ich jz noch mehr daherschwafel, hör ich auf. Aber eins muss ich noch sagen: Ich <3<3<3<3<3<3<3<3<3<3 Papierherz :) Und va den Epilog. Ich finde, das ist ne genial Idee gewesen :)
So, jz lass ichs wirklich xD
Lg, Reiskuechlein

Von:  vampire_bride
2011-07-07T00:35:15+00:00 07.07.2011 02:35
Großartig!! Ich weiß, das klingt bescheuert, aber wirklich jedes Kapitel ist ein Volltreffer.
Die Beziehung Jannis/Marek ist der Wahnsinn, genauso wie Kolja, der sich so schleichend in Jannis' Leben "drängt" und so Jannis' Isolation durchbricht!
Jannis selbst ist der Wahnsinn, so toll, wie du diesen Charakter ausgearbeitet und beschrieben hast, mit all seinen Konflikten, und dadurch zeigst, was ihn zu so einem unglücklichen bzw. innerlich toten Menschen gemacht hat. Diese Charakterstudie ist so "dicht" durchdacht und beschrieben.

Ich fand, dass besonders das letzte Kapitl filmische Qualität hatte, ich konnte mir soagar die Kamerafahrten und alles vorstellen!
Einfach durch und durch super!
Von:  vampire_bride
2011-07-04T22:03:37+00:00 05.07.2011 00:03
OHGOTTOHGOTTOHGOTT! O.o O.o O.o o.O
Von:  vampire_bride
2011-07-04T21:35:23+00:00 04.07.2011 23:35
OH MEIN GOTT!! Das ist das schönste Kapitel, das ich von dir je gelesen habe!! (Und ich habe schon einige Stories von dir gelesen...^^)

Das übertrifft wirklich alles. Ich bin echt sprachlos.

Wie sich dieses Gefühl so hinterrücks latent anschleicht und ihn so plötzlich dann sichtbar überfällt! Und er es einfach nicht kapiert, bis zum letzten Moment. Das ist echt fantastisch beschrieben, unglaublich toll!
Ich lese jetzt auch gleich weiter... aber ich bin grade erst bis hierhin gekommen und musste das mal sagen.

Tolltolltoll!


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