Der Scherbensammler von Katherine_Pierce (Mehr als nur ein Gesicht) ================================================================================ Kapitel 11: Stille Wasser sind tief... -------------------------------------- Es dauerte eine ganze Weile, das Buch vorzulesen, da Ai ihn immer wieder unterbrach, auf die Bilder zeigte und wirres Zeug brabbelte. Schließlich aber konnte Mokuba das Buch zuklappen. Müde geworden rieb der Rotschopf sich die Augen, ließ sich von dem jüngeren Kaiba zudecken und über den Kopf wuscheln. „Gute Nacht.“, gähnte das Mädchen, während es sich unter die Decke und in die zahlreichen Kissen kuschelte. „Gute Nacht.“, erwiderte Mokuba mit einem Lächeln. Er betrachtete den Gast einige Minuten lang, bevor er zur Tür ging, das große Licht ausknipste und dafür die Nachtleuchte in die Steckdose neben der Tür steckte, damit das Mädchen, sollte es nachts aufwachen, sich nicht in völliger Dunkelheit wieder fand. Alle kleinen Kinder hatten Angst im Dunkeln. ‚Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Seto mich häufig in den Arm nehmen musste...’, schoss es Mokuba durch den Kopf. Seitdem waren einige Jahre vergangen und die Zärtlichkeiten, mit denen der große Bruder den kleinen bedachte, hatten rapide abgenommen. Irgendwo bedauerte Mokuba das. Jetzt war er zu alt, um sich in den Arm nehmen zu lassen. Seto würde es ohnehin nicht mehr tun, weil ihm zwischenmenschliche Nähe nicht geheuer war, wie der kleine Bruder sehr wohl wusste. Ein bisschen tat es Mokuba schon weh, dass Seto aufgehört hatte, ihn in den Arm zu nehmen, ihm über den Kopf zu streichen. Diese kleinen liebevollen Gesten der Zuneigung hatten Mokuba oft darüber hinweg trösten können, dass der Ältere mehr Zeit in der Firma verbrachte als daheim. Jetzt, wo er diese Zuwendungen ganz eingestellt hatte, sah Mokuba kaum noch Grund darin, zuhause zu sitzen und auf Setos Heimkehr zu warten. Vielleicht war das ja ein ganz normaler Prozess, den alle Teenager durchmachten, aber ein Stück Bitterkeit blieb doch. Vor allem wenn Mokuba bedachte, wie Rebecca sich ihrem Großvater gegenüber verhielt und wie er sich gegen sie benahm. Jedem Außenstehenden wurde sofort klar, dass Opa und Enkelin sich tief verbunden waren, dass eine ehrliche, ungebrochene und kaum zu zertrennende Liebe zwischen ihnen bestand, um die man sie nur beneiden konnte, was Mokuba auch heftig tat, sich fragend, was passiert war, dass er und sein Bruder sich so fremd geworden waren. ‚Ich wünschte, es wäre anders...’, dachte der Schwarzhaarige, als er die Tür endgültig hinter sich schloss. Als er sich umdrehte, staunte er nicht schlecht, denn er fand sich direkt dem Gegenstand seiner Überlegungen gegenüber. Erschrocken machte Mokuba einen Schritt rückwärts, weil er wirklich nicht damit gerechnet hatte, seinen Bruder heute noch mal zu sehen. Diese Reaktion brachte Seto zum Schmunzeln. Etwas, was in letzter Zeit sehr selten vorgekommen war. „Bin ich so angsteinflößend?“, wollte er daher belustigt wissen. Überrascht nickte Mokuba nur. Er musste sich erstmal wieder sammeln, bevor er sicher war, dass mehr als Gestammel aus seinem Mund kommen würde. Zu seiner Freude wartete Seto darauf tatsächlich. Es dauerte zwar einen ganzen Moment, aber schließlich fand Mokuba die Sprache wieder. „Nur, wenn du einen schlechten Tag hattest, wildfremde Mädchen mit heimbringst und mich dann Babysitter spielen lässt.“, witzelte der Teenager. Seto zog eine Augenbraue hoch, verlor aber erstmal kein Wort darüber. Stattdessen fragte er sich, seit wann sein kleiner Bruder sarkastisch war. ‚Mir erscheint es, als sei es erst gestern gewesen, dass er in die Schule kam.’, ging es ihm durch den Kopf. Bedauern mischte sich in diesen Gedanken hinein, was Seto ziemlich erstaunte. Schließlich hatte er früher gewünscht, Mokuba möge recht schnell selbstständig werden, so dass man ihn allein lassen konnte, ohne dass er vor Einsamkeit einging. Scheinbar hatte sich Setos Wunsch erfüllt und dennoch war er nicht glücklich über diese Entwicklung. ‚Vielleicht, weil mir dadurch die Kontrolle über ihn entgleitet...’ Zähneknirschend musste der Firmenchef sich eingestehen, dass diese Vermutung ziemlich genau ins Schwarze traf. Er liebte es nun mal, alles im Überblick zu haben, überall die Zügel in Händen zu halten, kurzum, sein gesamtes Umfeld zu kontrollieren. Diese Eigenschaft hatte er wohl von seinem grausamen Stiefvater übernommen. Zwar war Gozaburo bestimmt nicht das gewesen, was man einen Heiligen nannte, aber er war nicht nur Schurke gewesen. Es hatte eben gute und schlechte Tage gegeben. Die hatte er, Seto, ja auch. „Seto? Alles okay?“, riss Mokuba den Brünetten aus seinen Gedanken. „Was?“, erwiderte dieser ziemlich desorientiert, „Ja, sicher.“ Mokuba zog eine Augenbraue hoch, ihn skeptisch musternd, stellte die Äußerung seines älteren Bruders allerdings nicht in Frage. Er würde ohnehin nicht mit Mokuba über das sprechen, was ihm auf der Seele lag. Seto Kaiba beging niemals Seelenstriptease. Nicht einmal seinem kleinen Bruder gegenüber. Früher einmal wäre Mokuba gern in die Sorgen und Nöte Setos einbezogen worden, mittlerweile aber kratzte ihn das nur noch selten. Er hatte sein eigenes Leben, mit dem er irgendwie klarkommen musste. Und das war weiß Gott nicht einfach. Deshalb akzeptierte er Setos Stillschweigen, nahm es hin, wie es nun mal war, da er ohnehin nichts daran ändern konnte. „Danke, Mokuba.“, durchbrach Seto die Stille, die geherrscht hatte. Er räusperte sich leicht. Erstaunt ruckte Mokuba mit dem Kopf. „Wofür?“, wollte er dann neugierig wissen, seinen Bruder gespannt beäugend. „Dass du dich um Kate gekümmert hast. Du weißt ja, ich bin nicht gut im Umgang mit... nun ja, Kindern.“ Verlegen kratzte Seto sich an der Wange, aber immerhin sah er Mokuba direkt an, was schon mal viel wert war. Jetzt musste der Schwarzhaarige grinsen. „Ach so. Kein Problem, hab ich gern gemacht.“ Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder kam Mokuba nämlich ziemlich gut klar mit Kindern. Er hatte sogar schon mit dem Gedanken gespielt, Kindergärtner zu werden, auch wenn Rebecca ihn dann aufzog, dass er schwul sein müsse, wenn er diese Karriere wirklich ernsthaft in Betracht zog. Seto legte seinem kleinen Bruder eine Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihm herunter. Seine blauen Augen bohrten sich ernst in die grauen Mokubas. „Wirklich, ich bin dir verdammt dankbar dafür. Du weißt nicht, wie sehr du mir damit hilfst.“, begann er, hob die Hand, als Mokuba den Mund aufklappte, um etwas zu sagen und fuhr dann fort: „Dieses Mädchen ist aus meiner Klasse. Sie heißt Kate Thompson und wegen ihr musste ich mal Nachsitzen. Ich kann sie nicht leiden und sie mich auch nicht, aber so wie sie jetzt ist kann ich sie nicht aus dem Haus werfen. Wenn ihr etwas zustieße, wäre es meine Schuld und das möchte ich nicht. Bis wir wissen, was los ist mit ihr müsstest du dich um sie kümmern. Es sei denn, sie wird wieder normal und kann uns selbst Rede und Antwort stehen. Verstehst du?“ Langsam nickte Mokuba. Ihm schwirrte etwas der Kopf, aber was auch immer Seto vorhatte, er würde ihn unterstützen, wie er es sonst auch immer getan hatte. „Danke. Du ahnst ja nicht, was für eine große Hilfe du mir bist.“ Und dann geschah etwas, was schon sehr lange nicht mehr stattgefunden hatte. Seto umarmte Mokuba fest, hielt ihn eine Weile in dieser Umklammerung, strich über seinen schwarzen Schopf und sagte leise ‚Ich hab dich lieb’. Dann entließ er den Jüngeren aus seinen Armen und wandte sich zum Gehen. „Gute Nacht.“ Verwundert sah Mokuba ihm nach, ein Lächeln auf den Zügen. „Gute Nacht, Seto...“ Kalt und grau brach der Sonntagmorgen an. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben der Villa Kaiba. Noch lag das Haus in tiefem Schlummer. Die Vorhänge waren zugezogen, als wollten sie das trübe Wetter aussperren, was man den Bewohnern des Hauses nicht verübeln konnte. In einem der Zimmer regte sich schließlich Leben. Ein verwuschelter Rotschopf rieb sich den Schlaf aus den Augen, kullerte aus dem Bett und sah sich ziemlich verwirrt um. Dann tapste das Mädchen auf die Tür zu, noch recht wacklig auf den Beinen, wie man es von jemandem, der eben erst erwacht war nicht anders erwartet hätte. Langsam bewegte sich die Rothaarige über den Flur, öffnete jede einzelne Tür und schloss sie enttäuscht wieder, da sie offensichtlich nicht das gefunden hatte, was sie gesucht hatte. Am Ende des Korridors aber wurde sie endlich fündig. Das Zimmer lag noch völlig im Dunkeln. Vorsichtig tastete sich das Mädchen zum Bett hin, darauf bedacht, nirgends anzustoßen un sich wehzutun. Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht, kletterte etwas mühselig auf das weiche Bett und schlüpfte zu dem nichts ahnenden Schläfer unter die Decke. Dann schmiegte sie sich an den warmen, muskulösen und großen Körper. Mit einem zufriedenen Geräusch schlossen sich die grünen Augen des Mädchens und kurz darauf lag es wieder in tiefem Schlummer, ohne den jungen Mann geweckt zu haben. Gegen halb Zehn wankte Mokuba ins Bad. Er hatte zwar gut geschlafen, war aber trotzdem noch müde. Kinder hüten war wohl doch anstrengender als er gedacht hatte. Verschlafen stellte er sich unter die Dusche, das Wasser auf kalt eingestellt, um seine Lebensgeister zu wecken. Ihm blieb die Luft weg, aber er ließ es über sich ergehen. Nachdem er erstmal vernünftig aus seinen Augen gucken konnte, stellte er das Wasser auf lauwarm um. Er wollte sich schließlich keinen Pips frieren. Als er mit duschen fertig war, putzte er seine Zähne, ging wieder in sein Zimmer zurück, zog sich an und trat dann den Weg nach unten in die Küche an, wo er vorhatte den Tisch zu decken. Er und Seto hatten schon viel zu lange kein ausgiebiges Sonntagsfrühstück mehr gehabt. Es wurde also Zeit, eines nachzuholen. Während er Kaffee aufsetzte und Lebensmittel aus dem immensen Kühlschrank holte, schaltete er das Radio ein, wo ein aktueller Hit aus den Charts lief, den Mokuba gut gelaunt mitsummte. Das Wetter machte ihm in diesem Moment rein gar nichts aus. Er war viel zu zufrieden, um sich daran zu stoßen. Außerdem war ein Regentag kein Weltuntergang. Endlich war das gute Werk vollendet. Stolz auf sich betrachtete Mokuba den gedeckten Tisch einen Moment lang, beschloss dann aber, seinen Bruder aus den Federn zu werfen. Dazu fiel ihm auch ein geeignetes Mittel ein. Allerdings hatte der Schwarzhaarige schon halb verdrängt, dass sie momentan ja zu dritt waren, weswegen er ziemlich erschrocken schaute, als er etwas Rothaariges neben Seto im Bett liegen sah. Sanft schnarchend hatte Kate sich an den Hausherren geschmiegt, ein seliges Lächeln auf ihren entspannten Zügen. Auch Seto hatte im Schlaf kaum Ähnlichkeit mit dem gestrengen Firmenchef, der er sonst war. Er wirkte viel weniger gestresst, befreiter, relaxter, ruhiger. Eher wie ein junger Mann von 18 Jahren. Mokuba betrachtet lächelnd das Bild, das sich ihm bot. Er hatte nie zuvor eine Frau in Setos Bett schlafen sehen und auch im Moment verspürte er kaum Eifersucht. Eher fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt, als er selbst noch zu seinem Bruder ins Bett gekrochen war. Genau daran erinnerte ihn diese Szenerie nämlich. Am Liebsten hätte er sich dazu gekuschelt, auf Setos andere Seite. Breit genug war sein Bett zumindest. ‚Aber dann wird der Kaffee kalt und wenn Seto eines hasst, dann ist es kalter Kaffee.’, dachte Mokuba wehmütig. Er wollte diesen Anblick noch nicht zerstören, indem er Kate und seinen Bruder aufweckte. Zu gern hätte er dieses Bild für immer festgehalten. Kaum eine Sekunde später dämmerte ihm, dass er das tatsächlich konnte. Eilig verließ er das Schlafzimmer seines Bruders, kam aber kurz darauf mit seiner Kamera zurück. Er würde ganz einfach ein Foto von den beiden machen. Gesagt, getan. Es dauerte gar nicht lange, da hatte er mehrere Bilder geknipst. Zufrieden mit sich stahl Mokuba sich aus dem Zimmer, brachte die Kamera zurück an ihren Ort und konnt es nun angehen, Seto und das Mädchen zu wecken. Leider war Seto gar nicht erfreut über die Ruhestörung. Er brauchte eine Weile, ehe er wach genug war, um Mokuba anzuknurren, dass er ihn gefälligst in Ruhe lassen sollte, was dieser aber nicht tat. Er kannte seinen morgenmuffligen Bruder zur Genüge, weswegen er auch wusste, womit man ihn ködern konnte, den großen Seto Kaiba. „Ich hab unten frischen Kaffee. Willst du den echt kalt werden lassen?“, neckte Mokuba den Älteren. „Du Quälgeist!“, fluchte Seto, erhob sich aber halb, so dass er in eine sitzende Position kam. Erst da bemerkte er den Eindringling in seinem Bett. „Was zum...?“, entfuhr es ihm erschrocken. Er sah zu Mokuba, dann wieder zu Kate und zurück zu Mokuba. „Was macht SIE hier in meinem Bett?“, wollte er dann knurrend wissen. „Frag mich nicht, frag lieber sie, ich hab nämlich keine Ahnung!“, gab Mokuba zurück, allerdings weniger bissig. Seto seufzte. „Dieses Weib bringt mich noch um den Verstand!“, grummelte er, schlug die Decke zurück und kletterte vorsichtig über sie, um sie nicht aufzuwecken. „Komm erst mal runter frühstücken. Danach sieht die Welt schon viel freundlicher aus.“, erwiderte Mokuba, der sich ein Grinsen nur mühsam verkneifen konnte. Schließlich geschah es nicht alle Tage, dass sein älterer Bruder ein Mädchen neben sich im Bett fand und dann auch noch versuchte, sie ja nicht aufzuwecken, obwohl er sie nicht mochte. „Du hast Recht.“, stimmte Seto Mokuba zu. Die Gebrüder Kaiba verließen das Schlafzimmer, die Tür allerdings nur anlehnend, falls der ungebetene Gast aufwachen sollte. Sie wollten nicht noch eine böse Überraschung erleben. Kurz darauf war die Sache schon halb in Vergessenheit geraten. Die Brüder saßen beim Frühstück, scherzten miteinander und diskutierten, wie lange nicht mehr. Sie merkten, wie sehr ihnen diese Runden gefehlt hatten und beschlossen jeder für sich, Sorge dafür zu tragen, dass sie wieder öfter zustande kamen. Kate war für sie nicht existent, sollte sich aber bald schon erneut in ihr Leben mengen und ein paar kleinere oder auch größere Geheimnisse zu Tage fördern, die zumindest Seto Hören und Sehen vergehen lassen sollten. Nach dem ausgiebigen Frühstück ging Seto zurück in sein Zimmer, ließ den Rollladen hochfahren und begann, sich umziehen. Auf Kate achtete er gar nicht, da sie noch in aller Seelenruhe sein Bett besetzte und schlief. Wenigstens hatte sie das getan, als der Herr des Hauses das Zimmer betrat. Während er aber vor dem Spiegel stand und sich eilig anzog, blinzelte der Rotschopf in die plötzliche Helligkeit, ausgelöst durch das Heben der Rollläden. Sie reckte und streckte sich genüßlich, spürte alle ihre Knochen wieder an den richtigen Platz zurückkehren und schlug schließlich vollends ihre grünen Katzenaugen auf. Da war sie aber auch mit einem Schlag wach. Erschrocken sah sie sich um. Sie erkannte ihre Umgebung nicht, was schlecht war. Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war, dass sie Ryous Haus verlassen hatte, durch die Straßen im strömenden Regen getrottet war. Dann nichts mehr. Aber irgendwie musste sie hierher gekommen sein. Wenn sie denn wenigstens gewusst hätte, wo genau hier war. Langsam gewöhnten ihre Augen sich an die Helligkeit, so dass sie mehr erkennen konnte. Sie befand sich in einem ziemlich luxuriösen Schlafzimmer. Eine Wand, die gegenüber vom Fenster, wurde eingenommen von einem Schrank, einen breiten Plasmafernseher konnte Kate ebenso entdecken, wie einen Schreibtisch aus Mahagoni, auf dem ein Laptop lag. Außerdem war alles extrem ordentlich und sauber. Kein Staubkörnchen zu entdecken. Sie selbst befand sich in einem Kingsizebett mit Himmel und Vorhängen, bezogen mit schwarzem Satin. ‚Okay... bin ich verkauft worden?’, ging es ihr durch den Kopf. Sie kniff sich, um festzustellen, ob sie wach war oder noch träumte. Einen solchen Luxus hatte sie ihr Lebtag noch nicht gesehen, außer im Fernsehen, aber das zählte nicht. ‚Wem gehört dieses Zimmer?’, fragte sie sich weiter, ließ ihre Augen aufmerksam durch den Raum schweifen und blieb schließlich an einer hochgewachsenen, brünetten Person hängen, die vor dem Spiegel stand und sich kämmte. Zu ihrem maßlosen Entsetzen zeigte das Spiegelbild ihr Seto Kaiba. „Was machst DU denn hier?“, entfuhr es ihr perplex und angewidert zugleich. Seto, der zu beschäftigt gewesen war mit sich selbst, fuhr abrupt herum und starrte sie an wie eine Erscheinung. „Entschuldige mal, ICH wohne hier!“, gab er empört zurück, „Die Frage ist doch wohl eher, was du in meinem Schlafzimmer treibst!“ Ihr klappte die Kinnlade runter. Das konnte unmöglich sein Ernst sein! Und doch, dieser Luxus passte zu ihm. Außerdem gab es für Kaiba keinen Grund sie anzulügen, wie sie feststellen musste. Er konnte demnach also nur die Wahrheit sagen, was wiederum bedeutete, dass sie ziemlich in der Klemme steckte. „Ich weiß ja nicht mal, wie ich überhaupt in dein Haus gekommen bin, geschweige denn dein Bett!“, kam es nicht minder empört von Kate, die jetzt eilig aufstand, sich in der Bettdecke verhedderte und hart mit dem Kinn auf dem Fußboden aufschlug. Kaiba derweil zog nur eine Augenbraue in die Höhe, sie skeptisch betrachtend. „Ach ja? Ich behaupte jetzt mal, dass du gestern Nacht hier rein gekommen sein musst, nachdem Mokuba und ich schliefen. Was sollte eigentlich diese bescheuerte Kleinkindnummer?“ Bei diesen Worten klappte Kate glatt die Kinnlade runter. Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Rasch setzte sie sich auf. „Kleinkindnummer?“, hakte sie vorsichtshalber nach. „Ja, oder bist du taub?“, knurrte Kaiba. Jetzt hatte Kate Gewissheit. Ihr Klassenkamerad musste Ai begegnet sein und diese hatte ihn wohl schier zum Wahnsinn getrieben, was sie ihm nicht verübeln konnte. Ein vierjähriges Kleinkind konnte wirklich anstrengend sein. „Wie komm ich denn nun zu der Ehre, Gast in deinem Haus zu sein?“, bohrte Kate nach. Kaibas Augenbraue wanderte noch höher. „Tu nicht so scheinheilig, das weißt du ganz genau, Thompson!“, keifte der Brünette, der sich ziemlich verarscht vorkam, was man ihm nicht verübeln konnte. „Nein, ehrlich nicht! Ich hab keinen blassen Schimmer.“, wehrte Kate sich energisch, „Das letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich im Regen heim gelaufen bin.“ Das klang wenig glaubhaft, selbst Kate musste das einsehen. Dennoch, etwas in ihren Augen schien Kaiba davon zu überzeugen, dass sie die Wahrheit sprach, denn er ließ von Vorwürfen ab. Stattdessen erzählte er ihr haarklein, was für eine Show sie abgezogen hatte. Während der Erzählung wurde Kate immer kleiner und kleiner. Nervosität brandete in ihr auf, sogar Angst. Wenn Kaiba sie weiter ausfragte, gewiss würde er den wahren Grund wissen wollen, würde sie ihr Geheimnis offenbaren müssen. „So und wie du dir sicher denken kannst, erwarte ich ein paar Erklärungen. Du kannst mir nämlich nicht erzählen, dass du nicht ein ernsthaftes Problem hast.“ Langsam wurde Seto wütend. In diesem Fall brüllte er nicht oder wurde gar laut, nein, ganz im Gegenteil. Sein Blick wurde dann eisig, seine Stimme gefährlich leise und vor allem bekam sie einen drohenden Unterton, der niemandem entging. Nicht einmal einem Ignoranten wie Joey Wheeler. Kate ließ sich zwar auch nicht gerade die Butter vom Brot nehmen, aber so einschüchternd wie Seto gerade war, verspürte sie tatsächlich Furcht. Sie hatte keinerlei Zweifel daran, dass er die Antworten, die er haben wollte, zur Not aus ihr herauspressen würde. Nervös knetete Kate ihre in ihrem Schoß liegenden Hände. Den Kopf hielt sie gesenkt. Sie wollte Setos eisigem Blick nicht begegnen. Zwar war sie ihm durchaus zu Dankbarkeit verpflichtet, immerhin hatte er sie im strömenden Regen in den düsteren Straßen Dominos aufgegabelt, aber seine kaum verhohlene, eisige Wut machte ihr angst. Mit Kura konnte sie umgehen. Na ja, viel mehr Cleo konnte es, an Kaiba allerdings biss sie sich die Zähne aus. Er war so ein massiver Eisblock, dass nicht einmal Cleos Heißsporn oder ihr eigenes Feuer ihn schmelzen lassen konnte. „Ich warte, Thompson.“, durchbrach Seto die bis dato herrschende Stille. Kate biss auf ihre Unterlippe. In ihr sträubte sich alles gegen die Vorstellung ihr schreckliches Geheimnis preiszugeben. Und dann auch noch ausgerechnet ihm, der sie so gering schätzte, um nicht zu sagen, sie verabscheute. Aber sie hatte keine andere Wahl, sie wusste es genau. So wie sie ihn kannte, würde er nicht locker lassen. „Durch dein Schweigen machst du es nur schlimmer. Verrate mir lieber gleich, was mit dir nicht stimmt, bevor ich bereuen muss, dich vor einer Lungenetzündung bewahrt zu haben.“, drängte Seto weiter. Er gab es ja nur ungern zu, aber er war extrem neugierig. Als er sie gestern mitgenommen hatte, war sie völlig verängstigt gewesen. Haare und Kleider hatten an ihrem Körper geklebt, von weiblichen Rundungen war nichts zu bemerken gewesen, ihr Wortschatz war der eines Kleinkindes gewesen und sie hatte sich selbst Ai genannt. Vorhin war ein Ruck durch sie gegangen, sie hatte einen Moment lang heftig geblinzelt. Die Kleider, die an ihr gehangen hatten, wie ein formloser Sack, passten jetzt besser. In ihren grünen Augen blitzte Verwirrung auf, auch Angst. Sie hatte den Mund geöffnet, hatte ihn mit Fragen bombardiert. Schon da war ihm gedämmert, dass mit Kate Thompson etwas absolut nicht in Ordnung war. Nun, da sie wieder sie selbst zu sein schien, verlangte er eine Erklärung von ihr, weswegen sie auf der Bettkante hockte und er vor dem Fenster auf und abschritt wie ein Feldherr. „Also gut...“ Seto sah auf und begegnete Kates grünen Augen, in denen normalerweise der Schalk blitzt. Jetzt aber konnte er nur nackte Angst darin erkennen, vermischt mit unendlicher Scham. Unwillkürlich zog er eine Augenbraue hoch. Er blieb vor ihr stehen, verschränkte die Arme vor der Brust. Kate holte tief Luft. Es fiel ihr schwer, seinem durchdringenden Blick standzuhalten, gelang ihr letztendlich aber doch. „Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, es geheimzuhalten und es hat auch knapp zwei Jahre funktioniert. Irgendwann musste es ja rauskommen.“ Kate machte eine Pause. Sie kratzte all ihren Mut zusammen. Fast schon stolz, zumindest aber trotzig, reckte sie ihr Kinn. „Ich habe DIS, dissoziative Identitätsstörung.“ Als Seto sie mehr als verständnislos anschaute, dämmerte ihr, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie da sprach. „Man nennt es auch multiple Persönlichkeitsstörung.“, fügte sie erklärend hinzu. Jetzt machte es Klick. Setos blaue Augen weiteten sich vor Schrecken und Überraschung. Er hatte ja mit Vielem gerechnet, aber nicht damit. Er schluckte. Worte fand er keine. Sein Blick war Antwort genug. Kate zog abrupt ihre Knie an, umschlang sie mit ihren Armen und bettete ihren Kopf darauf. Erst, als sie heftig zuckte, erkannte Seto, dass sie weinte. Er kam sich noch hilfloser vor als ohnehin schon. Auch wenn Mokuba Kummer hatte und Tränen aus seinen grauen Augen stürzten, wusste Seto nicht recht, was er tun sollte. „Multiple Persönlichkeitsstörung also, ja?“, hakte er nach. Von Kate kam ein leises Schluchzen. Langsam hob sich der rote Haarschopf und ihr bleiches, vom Weinen an den Wangen gerötetes, Gesicht kam zu Vorschein. „Ja.“, heulte sie, „Und du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie schlimm das ist! Ständig musst du Angst haben, dass jemand anderer deinen Körper übernimmt und wer weiß was damit anstellt. Du hast keinerlei Kontrolle, schlimmer noch, du kannst dir selbst nicht mehr vertrauen, geschweige denn anderen Menschen. Aber was ich am meisten hasse, ist die Tatsache, dass es keine, aber auch gar keine Chance auf Heilung gibt.“ Betroffen hörte Seto ihre Klage an. So wie sie es schilderte, musste es wirklich ziemlich übel sein. Gleichzeitig aber überwog auch die Neugier, wie man daran erkranken konnte. Nachdem Kate sich ein wenig beruhigt hatte, rückte er mit seiner Frage heraus. Das rothaarige Mädchen zuckte zusammen, als habe er es geschlagen. Sie erstickte fast an den Worten. „Durch Traumata wie Vernachlässigung und...“ Ihr brach die Stimme weg. „Und?“, hakte Seto unnachgiebig nach. Kate zitterte heftig, nein, sie schüttelte sich geradezu vor Abscheu. Allerdings handelte es sich herbei mehr um Selbstekel, was Seto erst erkannte, als sie mit leiser Stimme flüsterte: „Missbrauch.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)