Der Scherbensammler von Katherine_Pierce (Mehr als nur ein Gesicht) ================================================================================ Kapitel 5: Die Ruhe vor dem Sturm --------------------------------- Noch vor Ablauf der zwei Stunden hatte Kate einen Großteil des Schrankes aufgeräumt und gesäubert. Da sie einen dringenden Termin hatte, beließ sie es dabei. Schließlich würde sie den Rest der Woche in diesem miefigen Kabuff zubringen. Da kam es auf ein Staubkorn mehr oder weniger nun auch nicht an. Oder ein paar Minuten. ‚Mr Johnson wird schon nichts dagegen haben.’, dachte Kate, schulterte ihre Tasche und verließ den Chemietrakt durch eine Notausgangstür, die immer offen war. Zumindest von innen. Wenn man sie benutzte, wurde kein Alarm ausgelöst. Der Hausmeister ging mehrmals am Tag hindurch, daher hatten sie dort den Strom abgeschaltet. Außerdem kam man schneller vom Schulgelände runter, wenn man den Chemie- und Physiktrakt durch diese Tür verließ. Und Kate hatte es ziemlich eilig, da es bis zum Krankenhaus ein recht langer Weg war. Wenn sie den Bus noch erwischte, würde sie gerade rechtzeitig zu ihrem Termin erscheinen. Verpasste sie ihn, kam sie zu spät. Wenigstens hatte sie Glück, was ihren Therapeuten anging. Doktor Banner war ein noch recht junger, freundlicher Mann, der verstand, wenn einem mal was dazwischen kam und man dadurch nicht auf die Sekunde pünktlich sein konnte. In ihrer Hast bemerkte Kate nicht, dass jemand ihr folgte. Der Bus war natürlich längst weg. Also musste Kate wohl oder übel zu Fuß gehen. ‚Was soll’s. Banner hat Verständnis dafür.’, ging es ihr durch den Kopf, während sie unverdrossen drauf los marschierte, darauf bedacht, nicht unnötig zu trödeln. Dafür, dass sie zu ihrem wöchentlichen Gespräch mit ihren Psychiater war, war sie ziemlich gut drauf. Das wunderte Kate ein bisschen. Sie nahm es aber hin und als gutes Zeichen. Schließlich bedeutete dieses Gebaren, dass sie sich wohlfühlte, mit ihrem derzeitigen Leben zufrieden war. Nun ja, wenn man mal von dem Nachsitzen absah und der unbestreitbaren Tatsache, dass Sue und Cleo sich nach Gusto in ihr Leben einmischten. Kate hatte Einmischung noch nie sonderlich gemocht. Sie wollte lieber selbst bestimmen. Vor allem über das, was sie tat und unterließ. Deswegen fiel es ihr besonders schwer, hinzunehmen, dass in ihr mehr als nur eine Persönlichkeit steckte. ‚Das erinnert mich so an früher...’ Kate lebte nicht bei ihren Eltern. Sie hatte sie nicht einmal kennengelernt, weil sie so früh gestorben waren. Stattdessen war sie bei ihrem alleinstehenden Onkel aufgewachsen. Sie schluckte. Daran wollte sie lieber nicht denken. Es waren keine glücklichen Zeiten gewesen. Dass sie an Multipler Persönlichkeitsstörung litt, hatte man bemerkt, als sie auf die Mittelschule kam. Als erste Maßnahme war sie längere Zeit stationär behandelt worden, dann hatte man sie nach Domino geschickt. Hier gab es ein Heim für Menschen mit DIS. Dort lebte Kate und sie musste sagen, es gefiel ihr ausgesprochen gut. Auch wenn sie die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, eines Tages allein leben zu können. Und weil sie eine Multiple war, hatte sie keine Freunde. Nicht einmal innerhalb des Heimes, obwohl sie natürlich mit den anderen Bewohnern sprach und lachte. Aber niemand durfte in ihr Herz sehen. Sie behielt ihre Geheimnisse für sich. Gut, Banner bekam einiges zu hören, aber das kam daher, dass Sue ein ganz schön geschwätziges Ding sein konnte, wenn sie denn wollte. Zwar mochte sie Männer nicht besonders, aber zu Banner hatte sie Zutrauen gefasst. Er war ihr bester Freund. Sue war es auch, die mitbekam, wie der Doktor sich um Zugang zur kalten, unnahbaren Cleo bemühte, wie er Ai tröstete, ihr Bonbons schenkte und ihr erlaubte Disneys ‚König der Löwen’ zu schauen, ihren Lieblingsfilm. Dass Kate davon erfuhr lag nur daran, dass Banner ihr gewisse Dinge erzählte. Und sie führte ein Tagebuch, als Therapiemaßnahme. Meist war es Sue, die hineinschrieb und Kate so wissen ließ, was sich ihrer Abwesenheit zugetragen hatte. Das war schon recht nützlich, da die verschiedenen Persönlichkeiten auch unterschiedliche Charakterzüge, sowie Vorlieben und Abneigungen aufwiesen und damit Chaos und Verwirrung stiften konnten. Dieses Tagebuch half Kate dabei, nicht völlig den Verstand zu verlieren. Endlich erreichte Kate ihren Zielort. Mit raschen Schritten durchmaß sie das Foyer. Sie kannte das Gebäude mittlerweile in- und auswendig, war sie doch eine regelmäßige Besucherin dieser Räumlichkeiten. Im Fahrstuhl drückte sie die große, rote Acht. In diesem Stockwerk und dem darunter befand sich die Psychiatrie, sowie die Büros der Psychologen und der Chefärztin. Dieser Frau war Kate nur einmal begegnet. Sie war nicht privat versichert. Deswegen bekam sie auch keine Chefarztbehandlung, was sie aber nicht sonderlich störte, da sie die Frau nicht unbedingt mochte. Ihren behandelnden Arzt, Banner, mochte sie dafür umso mehr. Er war noch relativ jung, kaum Anfang Dreißig, trug eine Brille, die er immer dann zurecht rückte, wenn er nervös war und er hatte meist ein Lächeln auf den Lippen. Seine Haare waren lang und schwarz; er band sie im Nacken zu einem Zopf zusammen. Es passte irgendwie zu ihm fand Kate. Von Statur her war Banner groß, aber dünn, nicht sehr muskulös, aber das musste er auch nicht sein, da er sich meistens mit psychisch erkrankten Jungendlichen beschäftigte und er zwar Allgemeinmedizin hatte mitstudieren müssen, doch über Blutabnehmen ging er nie hinaus. Das Absonderlichste an dem jungen Arzt war sicherlich, dass er sich einen fetten Kater namens Pharaoh hielt und das Tier ständig mit sich herumschleppte, beziehungsweise es ihm nachlief. Besonders Ai war fasziniert von Katzen und konnte nie genug davon bekommen, Pharaoh zu kraulen, wenn sie denn an der Reihe war, den Körper zu lenken. Weil das kleine Mädchen eben so ein Zutrauen zu Banner entwickelt hatte, hielt der Scherbensammler es für das Klügste, Ai nur dann die Kontrolle über Kates Körper zu überlassen, wenn ein solcher Gesprächstermin anstand. Für Kate selbst war das nicht unbedingt optimal, da sie dann keine Chance hatte, mit Banner über weitere Behandlungsmethoden und dergleichen zu reden. Aber sie konnte sich nun mal nicht aussuchen, wer wann an der Reihe war, den Körper zu übernehmen. Das entschied immer noch der Scherbensammler, der auch gern mal Mist baute. So wie eben in Chemie, als er Cleo erlaubt hatte, Kaiba ernsthaft Angst einzujagen... „Ah, Kate, da bist du ja!“, begrüßte Banner seine Patientin mit einem breiten Lächeln. Sie war spät dran, aber das kannte er von ihr. Sie war einfach ein bisschen verpeilt und diese Unpünktlichkeit schien all ihren facettenreichen Persönlichkeiten anzuhaften, so dass es ihn nicht sonderlich störte, zumal er nur ein paar Patienten hatten, die schon so weit waren, dass sie außerhalb des Krankenhauses leben durften. Doktor Lyman Banner hatte sich auf Menschen mit DIS spezialisiert, um nicht zu sagen nur auf die Jugendlichen, die davon betroffen waren. Die meisten von ihnen waren auf Station, aber einige, so wie Kate, deren Scherbensammler schon gefestigt genug waren, hatten die Erlaubnis bekommen, außerhalb des Krankenhauses zu leben. Zwar wohnten nur die wenigsten bei ihren Eltern, aber die Betroffenen bekamen einen Platz in einem Wohnheim, das extra zu solchen Zwecken eingerichtet worden war. Banner beobachtete seine Patientin, während sie sich mit einem tiefen Seufzer auf den Stuhl vor ihn fallen ließ. „Hallo, Doc. Tut mir Leid, dass ich zu spät bin. Ich musste nachsitzen und hab zu allem Überfluss auch noch den Bus verpasst.“, erwiderte sie auf seine zuvor ausgesprochene Begrüßung. Der junge Arzt zog eine Augenbraue hoch. „Nachsitzen? Wieso das denn? Hast du denn was ausgefressen?“, wollte er auch gleich wissen. Auf seinem Schreibtisch lag aufgeschlagen Kates Akte, in der er alles peinlich genau eintrug, was sie in ihren Sitzungen so erzählte. Das rothaarige Mädchen seufzte. „Glauben Sie mir, das wird Sie keinesfalls freuen.“, begann Kate unbegeistert. Dann setzt sie Banner genau auseinander, wie es zu dem Zwischenfall in Chemie gekommen war. „Und das Ende vom Lied war, dass ich dank Cleo Nachsitzen muss, ausgerechnet mit diesem arroganten Kerl Kaiba.“ Ganz eindeutig eine Beschwerde, wie Banner festmachte. Während der Erzählung hatte er sich eifrig Notizen gemacht. „Kommt es denn in letzter Zeit vermehrt vor, dass während der Schulzeit eine andere Persönlichkeit übernimmt?“, erkundigte der Arzt sich neugierig. „Ja, schon. In Musik letztens muss Sue das Kommando gehabt haben, weil ich mich plötzlich beim Sopran wiederfand und ich kann eigentlich überhaupt nicht singen und wenn dann, Alt.“ „So, so...“ Banner zog eine Augenbraue hoch, eine weitere Notiz zu den anderen hinzufügend. „Was ist mit deinem Medikament? Nimmst du das regelmäßig?“, fragte er. Kate nickte nur. Sie hatte ihren Blick gesenkt gehalten, doch jetzt sah sie ihn an. Ganz deutlich war Furcht in ihren grünen Katzenaugen zu erkennen. „Ich... ich muss aber nicht wieder in stationäre Behandlung, oder, Doc?“ Ihre Stimme zitterte leicht. Was Kate am meisten fürchtete, war, dass irgendein Außenstehender hinter ihre Krankheit kam und sie bei allen anderen verpetzte. Sie befürchtete, dass man sie meiden könnte wie eine Aussätzige. Und wenn sie zu allem Überfluss wieder im Krankenhaus leben musste, würde sie kaum ihr Abitur bestehen. Dann würde das nichts mit dem Sportstudium. Ihre komplette Zukunft war drauf und dran gerade mal den Bach runterzugehen. Mitleidig betrachtete Banner die junge Frau vor sich. Er ahnte, was in ihrem Inneren vorging. Aber er konnte sie beruhigen. „Nein, eine stationäre Behandlung ist nicht erforderlich. Es ist ganz normal, dass es Schwankungen gibt, was das Übernehmen der anderen Persönlichkeiten angeht. Mach dir keine Sorgen. Wenn du dich an den Therapieplan hältst, kann nichts schief gehen.“, sagte er beruhigend. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. „Soll ich dich gerade heimbringen? Meine Schicht ist ohnehin jetzt vorbei und du weißt ja, das Heim liegt auf meinem Weg.“ Die Aussicht auf eine Autofahrt erhellte sofort Kates Stimmung. Sie nickte eifrig, raffte ihre Sachen zusammen und wartete, bis Banner in seinem Büro ein wenig Ordnung geschafft hatte. Dann verließen sie den Raum gemeinsam, spazierten zum Fahrstuhl und fuhren in das unterstes Geschoß des Krankenhauses, wo sich ein Parkhaus für die Angestellten befand. Banners klapprige alte Kiste konnte man kaum übersehen. Obwohl er ziemlich gut verdienen musste, wie Kate wusste, da sie einmal sein todschickes Haus gesehen hatte, weigerte er sich, ein anderes Auto zu fahren. Der junge Mediziner schloss das Vehikel auf, verfrachtete zuerst Pharaoh auf den Rücksitz und ließ dann Kate einsteigen. Nachdem alle Passagiere saßen und angeschnallt waren, mit Ausnahme des fetten Katers vielleicht, startete Banner den Motor, setzte aus der Parklücke und verließ das niedrige, schlecht beleuchtete Parkhaus. Aus dem Radio schallte seichte Popmusik, während Banner den Wagen durch den Feierabendverkehr manövrierte. Kate saß wie immer mehr als nur fasziniert auf dem Beifahrersitz und beobachtete das Treiben auf der anderen Seite der Fensterscheibe. Ganz verstand der Arzt ihre Faszination nicht, aber es amüsierte ihn doch immer wieder, wenn er dieses burschikose Mädchen von 17 Jahren sah, wie sie andächtig den Verkehr und die Fußgänger, die vorbeiziehenden Gebäude betrachtete. Das hatte etwas Niedliches an sich, was so gar nicht zu Kates üblicher Art passen wollte. Schließlich erreichten sie Kates Wohnheim. Sie schnallte sich ab, öffnete die Autotür und stieg aus. „Danke fürs Mitnehmen, Doc. Und bis nächste Woche!“ Banner sah ihr nach, bis sie im Haus verschwunden war. Langsam schüttelte er den Kopf. „Pharaoh, mein Junge, ich habe das Gefühl, das war nur die Ruhe vor dem Sturm.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)