Der letzte erste Donnerstag von Skorpion ================================================================================ Kapitel 10: Donnerstag 19. Oktober ---------------------------------- Meine Klasse bereitet sich auf die Adventsaktion vor und ich habe ungestörte Zeit für mich. Die Bibliothek ist leer und fühlt sich langsam wieder sicher an. Die Angst, Aquila würde auftauchen oder mich beobachten legt sich. Trotzdem bin ich noch nervös, ich habe mich dreimal versichert, dass ich allein bin. Und doch schlägt mein Herz zu schnell, obwohl ich nur in mein Tagebuch schreibe. Es ist schwer mich zu verhalten, als wäre alles wie immer. Als wüsste ich nichts. Ich ertappe mich dabei, wie ich mich frage, wie ich mich normalerweise verhalte. Bei all den kleinen Dingen die ich täglich tat, ohne darüber nachzudenken. Wie viel Zeit verbrachte ich unter der Dusche, wie schnell ging ich in den Speisesaal. Sah ich den entgegenkommenden Ordensmitglieder in die Augen oder wich ich ihren Blicken aus? Jetzt sehe ich jedenfalls zu Boden, Hochwürden Michelangelos Brief kreist dauernd in meinen Gedanken, begleitet von der Angst, jemand könnte diese lesen, ohne dass ich es merken würde. Oder ich spiele in Gedanken Szenarien durch. Was wenn ich früher erfahren hätte, wer mein Vater ist? Was wenn wir dadurch etwas gegen die Erpressung hätten tun können? Wenn wir zur Wahrheit gestanden hätten. Oder ich verschwunden und mir eine neue Identität zugelegt hätte? Aber auch banale Dinge. Zum Beispiel: worüber hätten wir beim Abendessen gesprochen? Über meine Fortschritte darin, Zeit zu manipulieren? Ich habe es versucht. Minutenlang auf eine Uhr gestarrt und versucht den Sekundenzeiger anhalten oder manipulieren. Bisher ohne Erfolg, und ich war ziemlich enttäuscht. Aber ich werde den Dreh schon noch rauskriegen. Es wäre ein Witz, wenn es einfach so klappen würde, nachdem ich mich jahrelang vergeblich abgemüht habe. Aber heute werde ich es mit der Magie versuchen. Ich habe die Anleitungen für Anfänger heruntergeladen. Sie sind kindlich geschrieben und voller bunter Bilder. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich damals versuchte, den Zeichen auf dem Bildschirm einen Sinn abzugewinnen. Die einfachen Bediensymbole und Videoerklärungen wurden immer mehr durch Text abgelöst. Und anders als in anderen Fächern gab es kein Training oder Erlebnisreisen im virtuellen Raum. Schon allein deswegen war Magie für mich eine Herausforderung, genau so geheimnisvoll wie die Buchstaben die sich zu Worten fügten. Aber dann erwies sich lesen als wesentlich einfacher. Einem Talent wie Damien muss es mit der Magie ergangen sein, wie mir mit dem lesen. Es wurde zur Selbstverständlichkeit. Etwas was man täglich anwendet, und auch wenn einmal eine Fremdsprache dabei ist, erkennt man doch die Grundstruktur, weiss wie es funktionieren würde. Ich werde mich mehr anstrengen müssen, ich bin kein Genie, aber ich kann trotz meinem mangelnden Sprachtalent gut lesen. Magie müsste auch zu schaffen sein. Fortsetzung: Es läuft „Liebe wieder willen“ und ich kann ungestört schreiben. Ein Glück, dass meine Zimmergenossinnen die Serie mögen. Mir geht das hin und her, dass ich davon mitbekomme auf die Nerven. Aber ich habe besseres zu tun, als die Handlung auf dem Bildschirm zu verfolgen. Erste Lektion: Einen Gegenstand schweben lassen. Ich folgte den Anweisungen, zeichnete sorgfältig den Beschwörungskreis auf ein Papier und sprach dann laut die Beschwörungsformel aus. Natürlich erst nach ich sicher war, dass niemand in die Bibliothek gekommen war. Beim zweiten Versuch machte ich auch die Handbewegungen richtig, und tatsächlich, der mitgebrachte Pingpongball erhob sich um ein paar Zentimeter. Lange genug um mich über meinen Erfolg zu freuen, dann spickte er davon und ich verbrachte die nächste halbe Stunde damit, ihn unter einem Bücherregal hervorzuholen. Damit beendete ich meine Übung für heute, ein Erfolg musste reichen. Um ehrlich zu sein, war der Zauber banal, fast jedes fünfjährige Kind aus der Klasse schaffte es. Sogar ich, wenn auch nach einigen misslungenen Versuchen. Aber das war das erste mal seit zehn Jahren, dass ich überhaupt wieder Magie angewandt habe. Jetzt weiss ich, dass ich es noch kann. Es ist als hätte ich das Ignoriert-Werden für mich gepachtet. Wovor hatte ich Angst? Den ganzen Nachmittag hat mich keiner, ausser den Lehrern, angesprochen und kaum wer angesehen. Ich ass alleine an einer leeren Tischecke zu Mittag und dann auch das Abendessen und nahm mir die Zeit, mich im Speisesaal umzusehen. Alle waren in Gespräche vertieft oder lernten. Ich traf keinen einzigen Blick. Eigentlich müsste ich mich einsam fühlen, aber im Moment einfach nur eine grosse Erleichterung. Wenn sie wüssten. Wenn sie wüssten, dass ich Hochwürden Michelangelos Tochter bin. Wenn sie wüssten, dass ich die Zeit manipulieren kann (daran glaube ich jetzt einfach). Wenn sie wüssten, dass ich heute zum ersten mal seit zehn Jahren wieder Magie genutzt habe. Es ist seltsam, aber diese kleinen Geheimnisse geben mir Kraft. Ich habe das Gefühl, irgendwann werde ich allen zeigen, was in mir steckt und dann werden sie es bereuen, dass sie mich ignoriert haben. Ich will den Zauber von heute Morgen noch einmal ausprobieren. In Gedanken habe ich ihn immer wieder durchgespielt. Sobald meine Zimmergenossinnen verschwunden sind, werde ich ihn ausprobieren. Im Januar sind die Abschlussprüfungen, ich kann es kaum erwarten. Nicht die Prüfungen, aber danach werden Einzelzimmer zur Verfügung gestellt. Dann habe ich endlich einen Ort für mich. Aber davor muss ich noch einiges lernen. Besser ich setze mich dahinter, schliesslich muss ich das nicht heimlich tun. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)