Der letzte erste Donnerstag von Skorpion ================================================================================ Kapitel 2: Freitag 6.Oktober 2111 --------------------------------- Viererzimmer sind ein Fluch. Deswegen floh ich in die Bibliothek. Hier bin ich allein, habe meine Ruhe. Bisher zog ich mich hierher zurück um zu lesen, jetzt um mein Tagebuch weiterzuführen. Obwohl der Text lokal auf meinem BiT (Bildschirmtelefon) gespeichert ist, das eigentlich Sicher sein sollte, habe ich Angst, dass ihn jemand lesen könnte. Gestern schrieb ich ohne mir Gedanken zu machen auf meinem Bett, im sonst dunklen Zimmer. Die anderen schliefen schon, oder kümmerten sich nicht um mich. Erst mitten in der Nacht wurde mir bewusst, wie unvorsichtig ich gewesen war. Wieder mal zu spät. Immerhin habe ich Hochwürden Michelangelos Nachricht verbrannt, nachdem ich die Nummer auswendig gelernt habe. Der Unterricht startete heute mit der Ankündigung, um vier Uhr gebe es eine Veranstaltung. Fräulein Bernasconi verriet nicht mehr, als dass es obligatorisch sei und Hochwürden Michelangelo persönlich sprechen würde. Sofort ging das Getuschel los, ich hielt mich still. Einmal die zu sein, die mehr wusste, war ein gutes Gefühl. Aber je aufgeregter die Klasse wurde, desto mehr verstärkte sich das flaue Gefühl in meinem Magen. Ich konnte nicht genau sagen, was es verursachte. Angst? Unsicherheit? Nervosität? Wahrscheinlich von allem etwas. Dabei gab es nüchtern gesehen nichts, was mich hätte beunruhigen sollen. Oder? In der Französischstunde von drei bis vier Uhr hörte ich kaum zu. Nicht, das ich sonst viel verstanden hätte, aber heute drehten sich meine Gedanken nur um Hochwürden Michelangelo und die kommenden Ereignisse. Erst als die Klasse aufstand merkte ich, dass der Unterricht früher beendet worden war und folgte den anderen aus dem Zimmer. Ich hatte es nicht eilig in die Aula zu kommen. Alle waren da, Schüler, Soldaten (Anwärter und Diensthabende) Lehrer und all die anderen, die im Michaelsorden arbeiten. Ich erkannte eine der Putzfrauen und die Aushilfe der Cafeteria. Damien stand im Eingangsbereich neben seiner Freundin. Er sah mich nicht und ich sprach ihn nicht an. Steuerte stattdessen auf die vorderste Reihe, der für Schüler reservierten, Sitze zu. Nicht nur, weil da noch am meisten Platz war, sondern auch, weil das vielleicht die letzte Möglichkeit war, Hochwürden Michelangelo zu sehen. Seit dreizehn Jahren, hatte ich mir ausgerechnet, ass ich einmal im Monat mit ihm zu Abend. Und auch wenn ich nicht behaupten kann, ihn gut zu kennen, war er doch zu einer der wenigen Bezugspersonen in meinem Leben geworden. Er und Damien, eine Art Ersatzfamilie für ein Waisenkind wie mich. Vor allem weil ich nie wirklich Anschluss zu meinen Klassenkameraden gefunden habe. Bald würde nur noch Damien übrig sein. Und wahrscheinlich nicht mal er. Wieso sollte er sich noch mit mir abgeben. Das Gemurmel verstummte mit dem schwächer werdenden Licht. Jemand verpasste mir eine Kopfnuss. Ich machte mir nicht die Mühe mich umzudrehen. Die Scheinwerfer gingen an und folgten Hochwürden Michelangelo über die Bühne zum Rednerpult. Gespannt folgte ich seinen Bewegungen. Dann blieb er stehen, sein weisser Mantel und seine weissen Haare leuchteten im hellen Scheinwerferlicht. Er schien ruhig, was er unmöglich sein konnte. „Guten Abend. Danke dass sie alle gekommen sind“, begann er. „Ich habe sie eingeladen, weil ich etwas wichtiges mitteilen muss.“ Es folgte eine Pause, die Spannung im Publikum stieg. „Ich blicke auf eine lange Karriere im Michaelsorden zurück. Ich gehörte schon dazu als er noch keinen Namen hatte.“ Entspannung, erst eine Einleitung, ich merkte wie sich die neben mir in die Sitze zurücksinken liessen. Ich blieb auf der Kante sitzen, in der Hoffnung, etwas Neues zu hören. Hochwürden Michelangelo ist nicht gerade der Nostalgiker, der dauernd von früher erzählt. „Ich hatte das Glück, noch vom Gründer der vatikanischen Dämonenjäger zu lehren. Und ich hatte das Unglück, seinen Tod vorherzusehen. Meine Vision erwies sich als zutreffend. Das selbe bei seinem Nachfolger. Und jetzt bei mir.“ Spannung. „Ich habe damals den Generalsposten übernommen“, fährt Hochwürden Michelangelo ungerührt fort. „Ich habe mein Bestes gegeben um meinen Vorgänger gerecht zu werden. Seit fast sechzig Jahren führe ich jetzt den Michaelsorden. Und es sollen nicht mehr werden. Ich habe sie heute eingeladen, weil ich meinen eigenen Tod vorhersah. Mir bleiben noch etwa vierundzwanzig Stunden. Und deswegen trete ich hier und jetzt aus meinem Amt zurück. Ich danke ihnen allen herzlich für ihre Unterstützung. Es war eine schöne Zeit.“ Ich kämpfte mit den Tränen, es war mir peinlich in der Öffentlichkeit zu weinen. Ich schluckte einige male um meinen verkrampfenden Hals zu lockern. In der Aula herrschte Stille, dann vereinzeltes Klatschen. Ein paar weitere folgten. Durfte ich seinem angekündigten Tod applaudieren? Ich beschloss, dass mein Beifall seiner Rede, seinen Leistungen als General galten und stimmte ein. Schliesslich verstummte der Applaus und Hochwürden Michelangelo setzte erneut zum reden an. „Nun, da ich zurücktrete, braucht es jemanden, der meinen Platz einnimmt. Es freut mich ihnen General Hochwürden Aquila vorzustellen.“ Aquila trat vor, ebenfalls in Generalsuniform und in mir zog sich alles zusammen. Wieso ausgerechnet er? Und wieso musste ihn ausgerechnet Hochwürden Michelangelo ernennen? Gestern Abend hatte er noch durchblicken lassen, dass er mit der Wahl seines Nachfolgers nicht glücklich war. Natürlich liess sich Hochwürden Michelangelo auf der Bühne nichts anmerken. Aber er muss sich schrecklich anfühlen, nicht mal Einfluss auf die Wahl seines Nachfolgers zu haben. Dazu das triumphierende Grinsen von Aquila als er die Menge grüsste. Der tosende Applaus, an dem ich mich demonstrativ nicht beteiligte. Was konnte ich mehr tun als zusehen? Ich liess Aquilas Rede über mich ergehen, sein Lob für Hochwürden Michelangelo klang in meinen Ohren aufgesetzt. Aber selbst wenn es ehrlich gewesen wäre, hätte ich es nicht geglaubt. Den einzigen Trumpf den ich gegen Aquila in der Hand hatte, war die Buchsignatur. Und als der Anlass endlich zu ende war, ging ich in die Bibliothek. Niemand beachtete mich. Aquila und seine Freunde waren bestimmt damit beschäftigt zu feiern. Der Zeitpunkt war also Ideal. Die Bibliothek war leer wie immer. Die Bücher sind alle digitalisiert und auf jeden Computer im Orden abrufbar. Bis auf einige Ausnahmen, die als unwichtig angesehen wurden oder veraltet sind. Aber ich bin gern hier. Ich habe schon Stunden in der Bibliothek verbracht, einen Roman um den anderen verschlungen. Mit den Protagonisten Abenteuer erlebt, die ich nie erleben werde. Aber heute war ich wegen einem bestimmten Buch da. Die Signatur deutete auf den Themenbereich Religion und Esoterik hin. Und Tatsächlich standen im Regal, in dem das Buch hätte stehen sollen, Magiebücher. Keine echten, sie waren für Laien, enthielten lächerliche Liebeszauber oder Anleitungen für Voodoopuppen. Keins davon war digitalisiert worden, sie dienten höchstens dazu, sich über die Unwissenden lustig zu machen. Hier würde keiner ein wichtiges Buch suchen, oder? Die Nummer war aber nicht da. Auch nicht in der hinteren Reihe, von der nur einige Millimeter der Buchrücken zu sehen waren. Also begann ich das ganze Regal durchzusehen, ohne Erfolg. Enttäuscht gab ich die Nummer ins Suchsystem des Computers ein, ohne Resultat. Vielleicht hatte Hochwürden das Buch mit Magie getarnt. Das war die einzige Erklärung, die ich finden konnte. Ich war enttäuscht und wütend auf mich. Selbst jemand ohne Talent wie ich konnte Magie wirken, jedenfalls mit der richtigen Anleitung und viel Zeit. In der Grundstufe besucht ich wie alle anderen den Unterricht. Magie zu orten war eine der einfachsten Übungen, sogar ich hatte sie gemeistert. Aber Hochwürden Michelangelo wäre nicht so unvorsichtig, den Zauber so banal zu halten, dass selbst ich ihn entdecken konnte. Denn das hätte bedeutet, dass jemand wie Damien das Buch beim eintreten der Bibliothek bemerkt hätte, ohne überhaupt etwas zu suchen. Einfach weil da Magie war, wo keine hätte sein sollen. Dann hörte ich Schritte und verzog mich leise zur nächsten Sitzgruppe, ein wahllos herausgezogenes Buch in der Hand. Ich schlug es auf, stellte mich lesend. Auch als ich merkte, dass die Schritte nicht mehr näher kamen, blieb ich sitzen. Ich musste nachdenken. Für Extremfälle, stand auf dem Zettel. Nun, ein Extremfall war im Moment nicht, oder? An Hochwürden Michelangelos Tod liess sich nichts mehr ändern und auch nicht an der Wahl seines Nachfolgers. Das hoffe ich zumindest, sonst käme sein Hilferuf zu spät. Beziehungsweise hätte er die falsche Person gefragt. Lieber glaubte ich an die erste Variante. Vielleicht sollte ich das Buch gar nicht finden. Nicht jetzt. Suchte ich eine Ausrede oder war es vernünftig? Auf jeden Fall half es mir, die Situation etwas gelassener zu betrachten. Und hier bin ich, schreibe die Erlebnisse von heute auf und versuche zu verstehen, was mir Hochwürden Michelangelo mitteilen wollte. Was ist ein Extremfall? Wenn es um Leben und Tod geht? Wenn Aquila tatsächlich einen Krieg anzettelt? Und was soll ich in einem solchen Fall tun? Vielleicht hat es mit Damien zu tun. Ich habe seine Reaktion auf das Buch gesehen. Wenn er sich für etwas interessiert, dann für Magie. Kann es sein, dass Hochwürden Michelangelo mir den Zettel nur gab, damit ich den Inhalt im Extremfall Damien mitteilen könnte? Das würde Sinn machen auch wenn ich dadurch bloss zur Botin würde. Aber zu was bin ich sonst schon zu gebrauchen. Sinn machen würde es, weil Damien den Inhalt des Buches auch ohne zwingend Umstände anwenden würde. Und sei es auch nur, um sich zu Beweisen dass er dazu in der Lage ist. Ich sehe ihn vor mir, dabei einen Zombie zu erwecken, mit seinem herablassenden zufriedenen Gesichtsausdruck. Ich verscheuche das Bild, aber auch wenn ich es nicht gern zugebe, er würde es tun. In der Bibliothek ist es wieder still. Ich werde noch einmal nachsehen, ob das Buch nicht doch da ist. Aber wenn nicht, werde ich mich damit abfinden, dass ich nichts weiter bin, als ein Kontrollmechanismus für Damien. Und wenn ich ehrlich bin, erleichtert mich diese Theorie genauso wie sie mich enttäuscht. Schlussendlich bedeutet es, dass ich keine Verantwortung übernehmen muss. Und das ist mir eigentlich ganz Recht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)