Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 37: Feuer und Flamme ---------------------------- Brehms war eine Stadt der Scheinheiligkeit, das hatte ich früh bemerkt, aber dennoch wirkte sie oft wie eine Stadt des Glücks auf mich. Ich liebte die gepflasterten Straßen, die Statuen und Figuren, die Wandmalereien, die Pflanzen, die Sauberkeit und die Ordnung. Ich mochte es, wenn Markt war und man Waren sah, die es in Städten wie Annonce höchstens für die Adeligen gab. Die Menschen waren nicht so mies gelaunt, wie die Annoncer und der Brehmser Humor hatte etwas Eigenwilliges. Wenngleich ich niemals ein echter Brehmser werden könnte, so gewöhnte ich mir, vor allem durch Slade, dennoch viel von diesem Menschen an. Nicht nur sein freches Auftreten ging an mich über, sondern auch seine Art und Weise, andere zu betrachten. Er brachte mir bei, worauf man achten musste, um den Leuten bestimmte Dinge ansehen zu können. Für vieles gab es Hinweise, seien es Abdrücke von früheren Ringen, kleine Narben, raue Hände oder vergilbte Mundwinkel von Kautabak. Bestimmte Gangarten sagten viel über bestimmte Lebensabschnitte aus und viele gaben sich arm, damit man nicht merkte, dass es bei ihnen etwas zu holen gab. Wir machten uns einen Spaß daraus, Menschen zu beobachten, um zu wissen, wann ihre Waren unbewacht waren. Slade war fasziniert von den Dingen, die ich von Falcon Ryan Colm gelernt hatte und wir sprachen oft sehr lange und ausführlich darüber. Zwar durfte ich die Bücher nicht aus der Schreibhöhle hinausbringen, aber wenn ich etwas gelesen hatte, erzählte ich ihm davon und der Brehmser hörte mir mit einer außergewöhnlichen Aufmerksamkeit zu. Wir probierten, ob es stimmte, was der Mann geschrieben hatte und oft stellten wir fest, dass es der Fall war. Bestimmte Blicke lösten bestimmte Reaktionen aus und bestimmte Gesten oder Sätze entweder Sym- oder Antipathie. Es machte uns Spaß. Wir kombinierten sein wachsames Auge mit den Gedankengängen des Autors. Meistens fantasierten wir nur herum, aber es reichte, um uns den Tag zu versüßen. Im Laufe der Zeit gab es kaum noch einen freien Tag, den ich nicht mit dem Dieb verbrachte. Wann immer es ging, streiften wir durch die Straßen, schlichen über die Dächer oder betranken uns in einem der Wirtshäuser. Robin begann mich zu necken, indem er mich fragte, wo denn mein Schatten wäre, wenn Slade nicht da war und wenn er zu tun hatte, langweilte ich mich schrecklich. Wir investierten unser Einkommen in ein Schachzabel, womit wir endlich ein Spiel fanden, indem wir gleich gut waren und manchmal gaben wir unser Geld für Dirnen aus. Nevar brachte mir auf Anfrage hin irgendwann ein zweites Buch von Mary-Ann und ich las es, ehe ich es an Robin weitergab. Es ging um die Erziehungsmethoden, die es gab und darum, welche fruchteten und welche nicht. Man merkte, dass sie eine Frau war, denn ein Mann würde wohl niemals über solche Themen schreiben. Außerdem konnte ich viele, weitere Ketzerswerke lesen, sie studieren und verstand viel mehr von der Welt. Robin erklärte mir zwar, dass in manchen Aufklärungsbüchern übertrieben wurde, aber dennoch vervielfachten wir sie auch weiterhin. Daven zeigte mir, wie man die Zeichnungen kopierte, obwohl ich bei Weitem versagte und Mona machte mir bewusst, wie viele, verschiedene Stil-Mittel es beim Schreiben gab. Es war eine schöne Zeit, die ich so in Brehms verbrachte und ich liebte sie fast mehr, als jene bei Meister Pepe. Ich lernte mindestens genauso viel, konnte ein wenig Geld zur Seite legen und genoss mein Leben in vollen Zügen. Natürlich musste ich den Blauröcken ausweichen und wenn die Kreuzer durch die Straßen zogen oder patrouillierten, hockten Slade und ich teilweise stundenlang in unseren Verstecken und hofften, dass sie weiter zogen. Ob man mich suchte, wusste ich nicht, aber wenn, fand mich niemand. Zum Höhepunkt des Winters hin entdeckte man die Schreibhöhle und als wir das Gasthaus erreichten, gab es nur noch Trümmer und unsere Blätter lagen verbrannt auf der Straße. Daven war verschwunden und Mona weinte viel, aber wir zogen nur in ein neues Versteck, in einem anderen Teil des Bezirks. Scheinbar hatte der Mann uns nicht verraten, denn unterhalb des Ledergeschäftes konnten wir lange unbemerkt weiter unserer Arbeit nachgehen. Für einen kurzen Moment wurde mir bewusst, wie gefährlich mein Leben war, trotz allem lebte ich es weiter. Ich hatte nicht vor, mich davon einschüchtern zu lassen, denn mir war von Anfang an bewusst gewesen, was für einer Gefahr ich mich mit diesem Lebensweg ausgeliefert hatte. Nach einiger Zeit bekamen wir einen neuen Illustrator, Thomas, doch er verließ uns bereits nach wenigen Tagen wieder und ein Mann namens Marc übernahm seine Stelle. Slade und Nevar lieferten uns neue Bücher, wir kopierten neue Werke und als wäre nichts passiert, lief alles weiter seinen gewohnten Gang. Ich konnte mir vorstellen, mein ganzes, restliches Leben so zu fristen. Ein wenig kopieren, ein wenig stehlen, zwischendrin das Leben genießen und Spaß haben. Spielabende mit Slade, Trinkabende mit Robin und den anderen. Wieso dieses Leben wieder aufgeben? Ich war glücklich und hatte das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, wobei mir etwas ganz entscheidendes fehlte. Was dies war, bemerkte ich recht schnell. Besonders, als wir immer öfters gezwungen waren, in der neuen Schreibhöhle zu übernachten. Manchmal kam es vor, dass ich ohne Robin zur Arbeit kam und dann warf ich Mona heimliche Blicke zu und obwohl ich zu Beginn unsicher war, ob ich mich irrte, schien sie diese zu erwidern. Nach einem besonders anstrengenden Abend saßen wir gemeinsam in einer der Ecken und tranken und als wäre dies nicht genug, schlief sie in meinen Armen ein. Marc beobachtete uns, doch der blonde, dickliche Kerl mit den Schweinsaugen machte mir kaum Sorgen. Dies galt eher für Serdon, denn auch dieser starrte zu mir hinüber und mir in die Augen, als könnte er meine Gedanken lesen. Seit da an versuchte ich, solche Situationen zu vermeiden, aber Robin vertraute mir immer mehr. Er ließ uns häufiger allein und es schien fast, als würde Mona Halt bei mir suchen. Bei einem Zweiergespräch, während wir allein waren, gestand sie mir, dass sie Robin zwar liebte, aber dass dieser sich sehr verändert hatte. Der Ächate lebte für die Samariter und oft hatte sie das Gefühl, für sie gäbe es kaum noch Platz. Tag und Nacht hatte er zu tun, kümmerte sich um alles und schien immer mehr an Kühle zu gewinnen. Es war mir unangenehm und ich wollte das alles nicht hören. Auch, wenn ich Robin nicht sehr gut kannte, verdankte ich ihm viel und wollte ihn als Freund sehen. Dennoch legte ich den Arm um sie und wir küssten uns an diesem Abend. Es fühlte sich anders an, als bei den Dirnen oder mit Melina und als wir uns lösten und Mona mit geröteten Wangen den Raum verließ, dabei sanft meinen Arm streifend, konnte ich nicht anders, als mir an den Mund zu fassen. Es war eine Art Kribbeln und mein Herz schlug schneller. In den folgenden Tagen sahen wir uns sehr häufig während der Arbeit an oder lächelten uns schüchtern zu. Es erinnerte an das Spiel zweier Kinder, die zu ängstlich waren, sich anzusprechen, sich aber bereits tagelang beobachteten. Wenn Robin dabei war, wich Mona mir aus und auch ich blickte oft zu Boden, aber kaum war er nicht mehr bei uns, galten meine Augen nur noch ihr. Serdon wurde deutlich misstrauischer und sein Beobachten schränkte uns stark ein. Wir merkten beide, dass wir Gefahr liefen, entdeckt zu werden, aber ich konnte nicht anders. Wir trafen uns nach der Arbeit hinter dem Haus und flüsterten leise miteinander. Meist sprach sie nur über ihren Mann und ich merkte bald, dass ich ihr Trost war und ihr Halt, mehr nicht. Sie sehnte sich nach Liebe und Anerkennung und ich war bereit, ihr diese zu geben, ganz gleich, ob ich nur ein Ersatz war. Aus den heimlichen, kurzen Treffen wurden Stunden, aus den flüchtigen Küssen Verlangen und ernste Liebkosungen. Wahrscheinlich lag es an der Kälte, dass wir nicht sofort weiter gingen, denn während einer Nacht, die wir nur zu zweit in der Schreibhöhle verbrachten, geschah es dann, dass ich über ihr lag. Noch nie zuvor hatte sich der Liebesakt so unglaublich angefühlt! Mona warf immer wieder den Kopf in den Nacken, umklammerte mich förmlich und presste mich so stark zusammen, dass es mir fast den Verstand raubte. Die Dinge, die ich bisher mit den Frauen getan hatte, waren nichts im Vergleich zu diesen Gefühlen. Als es vorbei war, lösten wir uns mit roten Wangen voneinander, nur um erneut zusammenzukommen. Wir wollten am liebsten niemals aufhören und nachdem wir uns trennten, konnte ich es insgeheim kaum noch erwarten, es erneut zu tun. Robins Anblick ließ Reue aufkommen, aber Monas wiederum ließ mich diese vergessen. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich konnte nicht anders, als mir zu wünschen, dass Robin, Serdon und die anderen verschwanden. Diese wenigen, seltenen Momente, in denen wir allein waren, reichten oft nicht aus, um so weit gehen zu können und ich begann sie zu drängen, sich in unserer freien Zeit mit mir zu treffen. Ich wollte sie öfters sehen, wenngleich ich niemals die Trennung von Robin verlangt hätte und mir war bewusst, dass ihre Liebe an erster Stelle ihm galt. Da Serdon immer aufmerksamer wurde, mussten wir noch mehr Abstand voneinander nehmen und irgendwann bat ich Slade um Rat. Obwohl ich geheim hielt, um welche Frau es sich handelte, erkannte er meine Situation sofort und lachte mich aus. Mona war attraktiv, da waren wir uns einig, aber würde Robin erfahren, was hier vor sich ging, wäre ich ein toter Mann. Seinen Rat beherzigend versuchte ich dann zu kopieren, wenn die Halb-Ächatin nicht anwesend war, aber das stellte sich als ausgesprochen schwierig heraus. Da ihr Mann von unseren Liebeleien nichts wusste, trafen wir durch ihn immer wieder aufeinander und begannen förmlich, voreinander zu fliehen. Direkte Gespräche waren kaum möglich, da Mona nervös wurde, sich verhaspelte oder meinen Blicken auswich. Ich wiederum driftete in Gedanken ununterbrochen ab oder missverstand, was sie sagte. Unserer Anführer wäre ein Idiot, hätte er nicht bemerkt, was hier vor sich ging. Dementsprechend war es auch kein Wunder, dass ich mich irgendwann mit ihm in einem Zimmer befand, Serdon mürrisch im Hintergrund. Der etwas Kleinere griff mich am Arm und wies mich eindringlich daraufhin, dass Mona zu ihm gehörte. Vielleicht war er kein guter Ehemann, aber er liebte sie und er würde nicht zulassen, dass ich sie verführen würde. Er machte mir deutlich, dass ich nicht das Recht hatte, Hand an sein Weib zu legen und auch, dass er ein Auge auf mich hatte. Erst nach mehrmaligem Versprechen, Mona niemals anzufassen, ließ er mich in Frieden und von da an war der Ächate deutlich kühler. Dass dies bereits geschehen war, behielt ich für mich und ich hoffte, Mona tat das gleiche. Wann immer wir uns seit da an trafen, sprachen wir nur sehr oberflächlich miteinander und fast immer warfen wir unsicherer Blicke zu ihrem Mann. Dieser wiederum suchte deutlich intensiver Kontakt zu der Halb-Ächatin, um mir deutlich zu machen, wo sein Platz war und wo meiner. Es quälte mich, sie neben ihm sitzen zu sehen und ihr Liebesgeflüster zu hören. Es ging so weit, dass ich eines Nachts mit anhören musste, wie sie es taten und mir drehte sich fast der Magen um. Slade hatte kaum Mitleid mit mir, aber trotzdem versuchte er, mich zu trösten. Wir suchten noch häufiger Dirnen auf oder betranken uns und ließen es uns gut gehen. Mit dem Tauen des Schnees kam auch das Leben zurück in die Stadt, aber nichts konnte mich wirklich von ihr ablenken. Mit Beginn der Märkte gab ich immer öfters Geld für Schmuck aus, aber der Dieb nahm ihn mir mit deutlichen Ermahnungen wieder ab. Würde Mona ihn wirklich tragen, wäre das mein sicheres Ende. Ich sollte von ihr ablassen und mir eine neue Liebe suchen, aber das war leichter gesagt, als getan. Zu Winterende hin bekamen wir einen sehr großen Auftrag, denn Robin brachte uns ganze zwölf Bücher und ich war fast dankbar dafür, dass wir nur wenig Zeit hatten, mit ihnen fertig zu werden. Der Druck unserer Arbeit wuchs fast ununterbrochen. Wir mussten mehr arbeiten, schneller und intensiver, aber auch die Gefahr stieg weiter an. Als wären sie Teil des Frühlings gab es nicht nur immer mehr Knospen auf den Brehmser Straßen, sondern auch Kreuzer und Soldaten. Allem Anschein nach hatte jemand etliche Ketzerswerke in die katholische Bibliothek geschmuggelt und auf einigen Gottesdiensten hätte es Aufstände gegeben. Die Samariter nahmen allmählich überhand und die Inquisition plante angeblich, härter durchzugreifen. Wir nahmen an einem dieser Gottesdienste Teil und ich wurde das erste Mal Zeuge davon, was für eine Macht ‚Die Gruppe’ hatte. Der Priester stand weit vorn und predigte auf Latein, als plötzlich jemand aufsprang und widersprach. Er stellte Fragen und den Mann zur Rede, dann folgte ein weiterer Mann und wenige Sekunden später standen alle auf ihren Füßen und das Gebäude war erfüllt von Protesten und Vorwürfen. Eine Frau hielt ein Schriftstück in die Luft und brüllte, dass das, was der Mann behauptete, nicht in der Schrift zu finden war und ein alter Herr verlangte den Beweis, dass Ablassbriefe Gottes Wille wären. Von da an nahmen wir immer öfter an solchen Messen Teil oder ließen einzelne Blätter beabsichtigt in den Kirchen zurück. Unser Ziel war es, auch den Geistlichen die Augen zu öffnen oder zumindest ihren Helfern, die die Kirchgänge aufräumten und die Blätter fanden. Wir mussten zum Nachdenken anregen und merkten, dass wir auf dem besten Wege waren, dieses Ziel in die Tat umzusetzen. Zwei mal noch kam es vor, dass wir einen neuen Arbeitsplatz suchen mussten, da unser vorheriger entdeckt wurde und ein weiteres Mal verschwanden Leute aus unserer Reihe. Marc kam eines Tages einfach nicht mehr zu den Treffen und wir erfuhren von Nevar, dass er tot war. Auch Robin verschwand, aber nach wenigen Tagen kehrte er zurück, voller blauer Flecke. Die Kreuzer sammelten jeden auf, der ihnen irgendwie verdächtig erschien und zu unserem Nachteil suchten sie sich solche besonders aus den ärmlicheren Vierteln heraus. Als wäre das nicht genug, kam eines Abends Nevar zu uns in die Schenke und verkündete, dass ‚der alte John’ zu Besuch wäre. Ich wusste im ersten Moment nicht, wen er meinte, doch als Robin laut auflachte und mit Slade, Serdon und zwei anderen, mir fremden Männern ‚der Gruppe’ anstieß, verstand ich: Sie hatten es geschafft, O’Hagan nach Brehms zu locken. Ein Zeichen dafür, dass die Inquisition Unterstützung brauchte, um gegen die Samariter vorzugehen. Mich freute es eher wenig, aber natürlich verstand bis auf Nevar niemand, wieso. Während alle feierten, saß ich nur leichenblass in einer Ecke und starrte in mein Bier. Wenn der Gouverneur extra bis nach Brehms kam, hatten wir durchaus Fortschritte gemacht, aber Fakt war, dass dies für mich nur umso gefährlicher sein könnte. Wenn er mich sah und schlimmstenfalls erkannte, war es aus. Der Attentäter legte mir eine Hand auf die Schulter und ich weiß noch heute, wie er zu mir hauchte: „Ihr habt die Hölle gewählt, Falcon, also dürft Ihr Gottes Hand nicht fürchten.“ Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Wahrscheinlich hatte er Recht, aber es war leichter gesagt, als getan. Weder Slade, noch Robin und schon gar nicht Mona wussten von meinem Leben als Sullivan O’Neil. Wie sollte ich ihnen klar machen, dass O’Hagan mich kannte, hasste und vielleicht sogar noch suchte? Die Frage wurde mir nur umso ernster, als Robin beschloss, dass wir an O’Hagans Rede teilnehmen würden. Er wollte ein paar Worte zum Volk sagen, mit einem großen Fest und viel Trara. Der Ächate fand es amüsant, zu sehen, was er zu den Äußerungen zu sagen hatte und auch, wie er mit den Früchten der Samariter umging. Ich hingegen fand es alles andere als amüsant. Ich wollte nicht mit, kam aber nicht drum herum und allmählich merkte sogar Slade, dass etwas nicht stimmte. Wenige Tage vor diesem großen Ereignis griff er mich beiseite und fragte mich ernst, was mit mir los sei. Er wollte wissen, was mich beschäftigte, wieso ich so unkonzentriert war und ob mich etwas belastete. Ich wäre zwei Mal fast beim Stehlen erwischt worden und beim Kopieren machte ich ununterbrochen Fehler. Nachts lief ich im Zimmer umher oder machte stundenlange Spaziergänge durch die Stadt. Es brachte nichts, ich konnte es ihm nicht verheimlichen, aber ich konnte es ihm auch nicht sagen. Stattdessen lautete meine Begründung, dass mir Mona im Kopf herumschwirrte. Ich schob es auf Liebeskummer, obwohl ich es allmählich geschafft hatte, sie aus meinem Hinterkopf zu verdrängen und das Ergebnis war eine lange, spöttische Predigt, dass ich sie niemals kriegen würde und dass sie nun einmal auf kleine Männer stand und nicht auf Annoncer. Slade machte sich einen Spaß daraus und ich war gezwungen, darauf einzugehen und mitzulachen. Im Innern allerdings machte mich das Zusammentreffen mit O’Hagan nervös. Ich hatte Angst vor ihm. Als die Rede dann endlich kam, sammelten sich etliche Menschen auf dem Brehmser Hauptplatz und drängten sich dicht aneinander. Der Matsch ging uns bis zu den Knochen, der geschmolzene Schnee bildete überall tiefe Pfützen und wir rutschten unbeholfen hin und her. In der Mitte hatte man ein Podest aufgebaut, auf dem einige Uniformte standen. Rot- wie Blauröcke, aber vor allem etliche Kreuzer. Unsere Gruppe bestand aus Slade, Robin, Serdon und mich und wie die meisten um uns herum, hatten wir uns in dicke Umhänge gehüllt, um die Kühle ertragen zu können. Trotz der beengenden Masse spürten wir jeden Windzug und das Gedrängel und laute Gerede um uns herum machte es nicht angenehmer. Ich war zwar dagegen, dennoch kämpften wir uns so weit nach vorne, wie es ging. Wir sollten alles hören können, was der Gouverneur den Menschen zu sagen hatte und wenn möglich, seinen Blick sehen. Robin wollte den Triumph spüren. Wir schoben die Masse beiseite, stießen mit den Ellenbogen und Slade ließ hier und da eine Münze oder anderes verschwinden. Ich allerdings konzentrierte mich nur auf das Holzgestell. Es erinnerte an eine Hinrichtung aus Annonce, nur ohne Galgen. An der Seite gab es eine kleine Treppe und viele Soldaten standen drum herum, um zu verhindern, dass die Leute das Gestell stürmten. Als würden sich alle im Mittelpunkt treffen wollen, wurde gedrängelt und geschubst und immer wieder trafen Soldat und Fußvolk aufeinander. Als wir uns in die erste Reihe gekämpft hatten, wurde der Drang von hinten so stark, dass ich gegen den Brustkorb eines Soldaten gepresst wurde. Mein Gesicht so gut, wie es ging, verdeckend, entschuldigte ich mich und versuchte Abstand zu halten. Ich wollte mir nicht ausmalen, was geschah, wenn einer der Kreuzer mich entdeckte oder gar erkannte. Slade lachte: „Das ist ein Spaß, was?“, doch ich gab nur einen verächtlichen Laut zurück. Für mich war es nicht ansatzweise lustig. Nach einigen Minuten versuchte ich, Abstand zu nehmen, aber Robin hielt mich fest. Er zischte: „Wo wollt Ihr hin, Falc’dhe?“ „Es ist mir zu voll.“ Der Dieb neben mir spottete: „Annoncer, nie zufrieden.“, ehe er mir die Hand auf den Rücken legte und verschwörerisch wisperte: „Denkt nur, was gleich hier los sein wird! Habt Ihr Euch umgeguckt? Wie viele der Leute Papier in den Händen halten? Das wird gleich ein riesiges Spektakel werden, das dürft Ihr Euch nicht entgehen lassen!“ Auch der Ächate stimmte ein: „Ihr wolltet etwas bewegen, Falcon, jetzt ist es so weit, zuzusehen, wie der Stein ins Rollen kommt.“ Da ich nichts zu erwidern wusste, blieb ich stehen, seufzte innerlich und zog die Kapuze noch ein Stück mehr hinunter. Mir war nicht gut bei der Sache. Mein Instinkt sagte mir, dass ich das Weite suchen sollte, so lange es noch ging. Irgendwann raunte die Menge auf und Robin zischte ein ächatisches Schimpfwort: O’Hagan kam. Wir konnten nur halb sehen, wie die Menschen sich teilten, um ihn durchzulassen und die Reaktionen der Leute um uns herum waren mehr, als nur verschiedenen. Während die einen schrieen und jubelten, gab es jene, die brüllten, dass er Gott verraten hätte und dass er zurückgehen sollte, dorthin, wo er herkam. Es dauerte nicht einmal Sekunden und eben diese wurden von den Kreuzern aus der Menge gezerrt. O’Hagan selbst schien es nicht zu interessieren. Es war ein Wunder, dass kein Gemüse flog oder gar Steine. Als er den Mittelpunkt erreichte, stellte er sich seelenruhig hin und mit einem Mal war es still. Auch ich hielt den Atem an und konnte nicht anders, als dem Mann entgegen zu starren. Da war er: John Anderson O’Hagan, der Vertreter der heiligen Inquisition aus St. Katherine, sogar höher stehend als Domenico. Gottes Rechte Hand und die linke des Gesetzes. Er hatte sich nicht verändert und mich durchfuhr ein Kribbeln, gefolgt von Gänsehaut. Ich hatte Respekt vor diesem Mann, aber da war noch etwas, tief in mir drin. Seine eisblauen Augen musterten die Menschen vor sich geradezu gelangweilt und als sein Blick für einen kurzen Augenblick auch mich streifte, legte sich bei mir eine Art Schalter um. Die Angst verschwand, stattdessen spürte ich Hass und unbändige Wut. Seine Gleichgültigkeit und die Tatsache, dass er mich einfach übersah, entflammte ein Gefühl der Abscheu in mir. War er es nicht gewesen, der mein Leben zerstört hatte? War er es nicht gewesen, durch den ich bei Domenico gelandet war? Und er war es, der Schuld an Mary-Anns Tod trug, nicht ich! Er war schuld daran, dass Annonce so sehr litt und auch an den tausend Toden, die die Menschen, als Hexer gebrandmarkt, sterben mussten! Die Glocke der großen Kirche am Ende des Platzes läutete den Mittag ein und ihr Klang untermalte das Schweigen um uns herum nur noch mehr. Er hallte an den hellen Wänden der etlichen Gebäude wider. Kurzes Geflüster, keiner wagte es laut zu sprechen, dann übergab man dem Gouverneur eine Schriftrolle. Seine Rede schien lang zu werden, denn sein Papier war es allemal, aber bereits nach den ersten Absätzen ließ er sie einfach sinken. Nein, dieser Mann brauchte kein Papier. Das, was er von sich gab, kam aus seinem Innern. Er sprach voller Ernsthaftigkeit und Überzeugung und mit einer Kraft in der Stimme, die jeden in seinen Bann zog. Der Mann mit den schwarzen Haaren, der roten Uniform und den vielen Abzeichen sprach lange, sehr lange, aber kein einziges Mal unterbrach man ihn. Alle starrten ihm entgegen, auf das goldene Kreuz um seinen Hals oder das Schwert an seinem Gürtel. Er erklärte, warum er hier war und was er plante. Er erklärte auch, dass Dinge geschahen, die ein Symbol des Bösen waren. In seiner Rede machte er allen deutlich, dass Gott uns helfen würde, aber wir durften uns nicht von den Dingen blenden lassen, die aus menschlicher Hand kämen. Denn die Menschen waren leicht zu manipulieren und der Abtrünnige konnte uns jederzeit zu Taten treiben, die wir selbst eigentlich nicht wollten. Er erklärte, dass Ablassbriefe die einzige, wirkliche Art und Weise der Buße wären, denn Brehms wäre eine Stadt des Fortschritts und Folter und Scheiterhaufen allein konnten unmöglich die letzte Hilfe sein oder nicht? Alles, was wir uns aufgebaut hatten, schien wie ein Kartenhaus in sich zusammenzubrechen, immer öfter hörte ich Robin fluchen. Der Gouverneur manipulierte die Menschen und wenn jemand aufbegehrte, setzte er sich mit der Person auseinander und überzeugte ihn vom Gegenteil. Am Ende stimmten fast alle zu. Er griff einen Stapel Bücher und Schreibgut, nur, um ihn vor den Augen aller zu entzünden. Wissen war Macht, ja, aber falsches Wissen trieb die Menschheit in die falsche Richtung. Immer wieder machte O’Hagan dem Volk deutlich, wo Brehms vor vielen Jahren stand und wie die Stadt heute aufgebaut war. War dies keine Besserung? War dies nichts Gutes? Und wie sollte man da noch widersprechen? Es war blanker Wahnsinn, wie sehr er es schaffte, mit wenigen Worten so viele zu überzeugen. Wir sahen zu, wie die Soldaten haufenweise Papier heranschafften. Das Feuer auf dem Podest wuchs immer mehr an, die Flammen streckten sich zum Himmel und die Asche flatterte in alle Richtungen. Bücher, Pergamente, aber auch einfache Notizzettel, die die Inquisition in den letzten Tagen konfisziert hatten. Viele davon stammten von den Samaritern, aber die meisten aus den Bibliotheken der Inquisition. Auch jene Werke aus der Deo Volente wurden nun dem Feuer übergeben. Dies sollte ein für allemal ein Zeichen setzen. Für uns war es eher ein schlechtes Bild, denn damit schwanden unsere Quellen. Slade brummte abfällig und zischte: „Das habe ich mir anders vorgestellt.“, doch der Ächate neben uns deutete ihm, leise zu sein. O’Hagan sprach weiter, während alle riefen, dass er den die Gottlosigkeit niederstrecken sollte. Er erklärte, dass wir alle zusammenarbeiten mussten, wenn wir eine Stadt des Herrn wollten. Wir mussten am selben Strang ziehen und den Teufel gemeinsam verjagen. Er machte niemandem Vorwürfe, denn den Dämonen war es ein leichtes, die Menschen zu täuschen. Viel mehr bat der Vertreter darum, nein, forderte er uns auf, uns nun zusammenzuschließen und ihm zu helfen, Brehms von ihrer Gottlosigkeit zu bereinigen. Unser Umfeld jubelte so laut auf, dass es in meinen Ohren dröhnte und wieder wurden wir gegen die Soldaten vor uns gedrückt. Es war nicht zu fassen! Der Rauch zog lange, dunkle Säulen in den Himmel und gebannt sah ich zu, wie einige der Soldaten mit Holzstangen aufpassten, dass auch ja alles in Flammen aufging. Das sollte unser Triumph sein? Unser Grund, heute Abend zu feiern? Wieder zischte Robin etwas in fremder Sprache, dann drehte er ab und wir kämpften uns durch die Menge. Wir wollten weg vom Hauptplatz, uns war nicht mehr nach feiern. Doch das, was O’Hagan anschließend von sich gab, brachte uns dazu, zurückzusehen. Man hörte deutlich, dass es ihn anstrengte, weiterhin laut genug zu sprechen, dennoch verkündete er, dass die Deo Volente die vollste Unterstützung bekommen würde, gegen das Verbreiten dieser Lügen vorzugehen. Aus diesem Grund wurde jeder Bewohner der Stadt augenblicklich dazu aufgefordert, sich auszuweisen und obendrein in den nächsten drei Tagen sämtliches Schreibwerk, was er besaß, zusammenzusammeln und kontrollieren zu lassen. Jedes Widersetzen, Verstecken von Ketzerswerken oder Aufzeichnungen, würde schwere Strafen des Herrn nach sich ziehen. Alles, seien es Tagebücher oder Notizzettel, sollte von der Inquisition abgesegnet werden. Robin, Slade, Serdon und ich starrten uns an, als hätten wir uns verhört, aber die Blicke des anderen machten deutlich, dass dies nicht der Fall war. Meinte der Gouverneur das ernst? Wollte er alles lesen, was es in der Stadt zu lesen gab? Dass er Hausdurchsuchungen ankündigte, bekamen wir nur halb mit. In unseren Hinterköpfen ratterten die Schreibhöhlen und die Verstecke der Bücher umher, dann beeilten wir uns, den Platz schleunigst hinter uns zu lassen. Wir mussten die Bücher verstecken. Wir mussten die Schreibstuben verstecken. Wir mussten die Samariter warnen und vor allem: Wohin sollten wir? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)