Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 34: Neue und alte Bekannte ---------------------------------- Nach einigem Schweigen hatte Nevar sich abgewandt, mich angewiesen meine Sachen zu holen und ohne Widerworte hatte ich gehorcht. Es wäre zu gefährlich, in Aarons Haus zu bleiben und gleichzeitig den Samaritern zu helfen. Das Buch Domenicos hatte er mir abgenommen und während er es musterte und in der Kapelle auf meine Rückkehr wartete, eilte ich zu Aarons Haus. Es erfüllt mich mit Stolz, dass der Attentäter mit meinen Plänen einverstanden war, aber auf der anderen Seite war ich auch sehr unsicher. Damals, als wir uns kennen lernten und Nevar mir das erste Mal das Angebot gemacht hatte, ihn zu begleiten, meinte er, dass ich mich damit abfinden müsste, nicht zu wissen, was wir taten. Zwar wusste ich nun, was die Ziele der Samariter waren, aber mir war auch bewusst, dass ich über vieles nicht aufgeklärt werden würde. Ohne zu zögern hatte ich mich einer Gruppe angeschlossen, deren Leben Gefahr für mich bedeutete. Ich wollte mir nicht ausmalen, was mit mir geschah, wenn Domenicos Männer mich zu fassen bekamen. Folter war das Mindeste, das wusste ich. Wahrscheinlich würde man versuchen, so viel herauszufinden wie möglich – und die Samariter wären sehr unvorsichtig, wenn sie mich gleich zu Anfang über ihre genaueren Pläne aufklären würde. Das hieß, ich musste mich beweisen. Ich musste einen guten Eindruck hinterlassen und selbstbewusst wirken, zuverlässig und stark. Ob Nevar mir helfen würde? Gut, er hatte ja gesagt, aber glaubte er wirklich an mich? Oder war er vielleicht sogar verschwunden, wenn ich zur Kapelle zurück kam? Am Haus angekommen schlich ich mich auf mein Zimmer und begann, mein weniges Hab und Gut zusammenzupacken. Viel war es nicht: Etwas Brot, ein wenig zurückgelegtes Geld und meine Kleider, die ich gleich anzog. Die Fetzen, die mir Aaron gegeben hatte, ließ ich einfach zurück. Dafür nahm ich ein altes Hemd an mich, das ich mir für wenige Heller gekauft hatte. Anschließend schlich ich wieder hinaus und lief so schnell, wie ich konnte. Mein Herz raste und ich war aufgeregt, wie ein kleines Kind. Würde mich Nevar jetzt wirklich zu den Samaritern bringen?! Ich hatte kein schlechtes Gewissen Domenico gegenüber und die Zweifel, die ich hatte, wegen meines Namens, schob ich beiseite. Es stimmte: Das Jahr unter Domenico war fast vorbei gewesen und es fehlte nicht mehr viel und meine Absolution würde in meinen Händen liegen. Ich könnte ein Leben als Falcon O’Connor beginnen und glücklich irgendwo leben. Allerdings und dieses Wissen überwog bei Weitem: Ich dürfte niemals sagen, wer ich wirklich war. Selbst wenn Domenico mir Absolution für Sullivan O’Neil erteilt hätte, hätte O’Hagan nicht aufgegeben, mich zu bekommen. Ich hätte ein Leben auf Lügen aufgebaut und wahrscheinlich weiterhin unter der Obhut der Inquisition. Gut, vielleicht wäre ich frei gewesen und hätte mir eine Arbeit nach meinem Geschmack gesucht, aber früher oder später hätten meine Vergangenheit, mein Glaube, die Kirche oder O’Hagan mich eingeholt und alles wäre umsonst gewesen. Diese Gedanken die ganze Zeit über immer wieder hin und her drehend folgte ich Nevar durch die Straßen. Er hatte am Eingang der Kapelle gewartet und war losgegangen, noch ehe ich ihn erreichte. Ein wenig unbeholfen rannte ich die letzte Strecke bis zu ihm und versuchte Schritt zu halten. Ob der Flechtmeister schon gemerkt hatte, dass ich weg war? Ob Theodor gehört hatte, wie ich meine Sachen packte? War Domenico überrascht? Wir sprachen den ganzen Weg über kein Wort und Nevar fragte auch kein weiteres Mal nach, ob ich sicher war. Er nahm meine Entscheidung hin und hoffte wahrscheinlich, dass ich bei ihr bleiben würde. Die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen liefen wir durch Brehms umher, gingen über einige Brücken, vorbei an Skulpturen und Wappen, Laternen oder Wandmalereien. Unbewusst fragte ich mich, wie es wohl dem alten Henry ging und auch, ob Francesco nun wütend auf mich war. Hatte er es vielleicht geahnt, dass ich früher oder später Nevar folgte? Hatte er gehofft, ich wäre ein vollwertiger Christ geworden? Wir verließen das Reichenviertel nach einer Weile und die weißen Steine wurden durch Holzbretter ersetzt. Mitglieder der Bettlergilde reihten sich auf den Straßen, baten um Almosen und zeigten ihre zahnlosen Münder und entstellten Körper. Ein Kind fragte nach Essen, ein anderes rempelte Nevar an in der Hoffnung auf Beute und bekam dafür eine feste Kopfnuss. Mir wurde unwohl, als ich merkte, dass wir immer tiefer in die Armengegend eindrangen. Hier gab es kaum Dekorationen, viele Häuser waren nicht mehr bewohnt. Zugemauerte Fenster, zugenagelte Türen und heruntergekommene Gestalten, die sich darin eingenistet hatten, zeugten von Armut und Krankheit. Ich sah viele Kinder, was mich an mein Leben im Waisenhaus erinnerte. Sie waren dreckig und trotz Kälte auf bloßen Füßen, wahrscheinlich Streuner und kleine Diebe. Statt Läden gab es etliche Kneipen und eine war dreckiger, als die andere. Zu meiner Enttäuschung bog Nevar ausgerechnet in eine dieser ein und ich konnte nicht anders, als kurz vor ihr stehen zu bleiben und sie angewidert zu mustern. Die Mauern waren alt und hielten nur noch gerade so, die Fenster waren direkt über dem Boden und viele hatten nicht mal mehr Fensterläden. Die Scheiben waren so verschmutzt, dass man nicht mehr hinein sehen konnte und an einer Wand sah ich herunter gefallene Ziegel. ‚Der Vagabund’. Ein seltsamer Name, der mir gefiel. Dennoch spürte ich deutlich, dass ich etwas anderes erhofft hatte. Vielleicht ein Gasthaus wie die Rum-Marie? Vor dem Gebäude gab es eine kleine Mauer, unter der ein Mann lag, entweder betrunken oder tot und kaum öffnete Nevar die Tür ins Innere, hörte man lautes Gerede und Musik. Ich atmete tief durch, ehe ich folgte, mit dem Schlimmsten rechnend. Alte Hozldielen, staubige Luft, Spinnenweben in den Zimmerecken und heruntergebrannte Kerzen, dennoch war es erträglich. Weder stank es nach Erbrochenem, noch nach Urin. Stattdessen roch alles einfach nur alt und modrig. Ich musste mich ducken, um meinen Kopf nicht an der niedrigen Tür zu stoßen und als diese dann hinter mir zufiel, blieb ich erneut stehen und sah mich um. Um in den Schankbereich zu kommen, musste man einer achtstufigen Treppe nach unten folgen und mit jedem Schritt schien es dämmriger zu werden. Sogar unter ihr lungerten Gestalten herum, an manchen Tischen spielte man Karten, in anderen tauschte man Waren gegen Geld und überall, wirklich überall, floss das Bier in Strömen. Die Musik eines Fidelspielers war so laut, dass man fast rufen musste, um etwas zu verstehen und die Schreie und wilden Gesänge der Männer dazwischen taten den Rest. Nevar schlug seine Kapuze vom Kopf, ehe er die Hand hob und dem Wirt ein Zeichen gab. Dieser, ein dünner, schlaksiger Kerl mit lockeren Kleidern, nickte knapp und zeigte zu einem der Plätze. Der Rauch in der Luft brannte einem in Hals und Augen und als ich Nevar durch die engen Tische folgte, musste ich kurz husten und hielt mir den Zipfel meines Umhanges vor den Mund. Schweigend folgte ich meinem Begleiter weiterhin und als wir dann den gemeinten Platz erreichten, schlug auch ich meine Kapuze um. Wir waren nun in der fast hintersten Ecke des Gasthauses, noch immer in Sichtweise der Tür und standen drei Männern gegenüber. Jeder von ihnen starrte mich an. Ich konnte nicht anders, als zurückzustarren, während ich meine Kapuze nun ebenfalls zurückzog. Einer von ihnen, der Kleinste der Runde, hatte dunkelbraunes, krauses Haar, das ihm in einigen Strähnen in die Stirn hing. Den Rest hatte er zu einem Zopf gebunden und ich schätze ihn um die dreißig Jahre. Seine Augen waren aufmerksam und golden, aber auch seine leicht dunkle Haut ließ auf einen Ächaten schließen. Im ersten Moment wirkte er wie ein Zigeuner auf mich, in der Kleidung eines Seemanns oder Reisenden. Als zweites gab es noch einen zweiten, wesentlich größeren Mann, ein richtiger Hüne. Sein Haar war tiefschwarz und kurz, seine Augen etwas zwischen blau und grau und sein Blick düster. Er starrte mich an, als müsste er erst darüber nachdenken, wer ich war und was ich wollte. In seinem Gesicht waren außer den Bartstoppeln viele, kleine Narben und er wirkte wie ein Krieger auf mich. Der dritte und letzte Fremde vor mir, war kein Fremder. Ich sah ihn unsicher an und als ich ihn dann erkannte, zuckte ich unwillkürlich zusammen. „Ihr?!“, platzte es einfach aus mir heraus. Slade schien genauso überrascht. Er saß in der Ecke zwischen den zwei anderen, hatte sich an die Wand gelehnt und seinen Fuß auf einem der Stühle abgesetzt. Als er mich erkannte, ließ er den Bierkrug sinken und lachte: „Ihr verfolgt mich also nicht, nein?“ Nevar wollte ruhig wissen: „Ihr kennt euch?“ Und der scheinbare Straßendieb gab zur Antwort: „Allerdings! Das ist der Kerl aus Annonce, der in Scheiße getreten ist. Es ist gut ein halbes Jahr her – aber diesen Gestank vergisst man nicht!“ Ohne es zu wollen, wurden meine Wangen rot. Besonders, als der Mann mit den braunen Locken etwas lachte und mit starkem, ächatischem Akzent sagte: „Ah, davon hast du mir erzählt. Der, der dich verfolgt hat“, es klang lustig, wie er sprach: Das ‚h’ sprach er aus, wie jenes von ‚ch’ des Wortes ‚Drachen’ und das i und r betonte der Mann besonders stark. Im ersten Moment war ich irritiert und ich musste genauer hinhören, um ihn verstehen zu können. „Nun und wieso schleppt Ihr den Kerl zu uns, Nevar?“ Während alle sehr amüsiert waren und ich nur umso schweigsamer, schien es, als hätte Nevar nicht einmal zugehört. Er sprach ganz ruhig, als er sagte: „Er gehört zu mir, beziehungsweise: Zu euch. Sein Name ist Falcon. Habt ihr einen Platz für ihn?“ „Einen Platz, aye? Etwas kurzfristig, so von heute auf morgen.“, der Mann wog den Kopf und sein Blick wechselte wieder zu mir, diesmal deutlich nachdenklicher. „Er sieht nicht aus, als könnten wir ihn brauchen.“ „Ich bin Kopist.“, versuchte ich mich wichtiger erscheinen zu lassen. „Ich kann schreiben und lesen. Rechnen auch.“ „Kopist?“, nun sah er kurz zu Slade, dann wieder zu Nevar. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Wenn er von Euch kommt, dann wird er in Ordnung sein.“ Kurz knallte es und alle drehten die Köpfe. Einer der Männer hatte beim Karten spielen verloren, war aufgesprungen und beschwerte sich lauthals. Da seine Freunde ihn beruhigten, sahen alle wieder zu mir. Der Mann neben mir erklärte: „Falcon braucht eine Unterkunft, er musste seine aufgeben. Außerdem hat er derzeit kein Einkommen. Das hier wird sozusagen sein Neuanfang, also seid nicht zu streng mit ihm.“ Slade lachte. „Wir werden es versuchen.“, neckisch grinste er mir entgegen: „Aber so verwöhnt wird er nicht sein, er ist Annoncer.“ Doch erneut wirkte Nevar eher unbeeindruckt. „Wie auch immer. Ich werde nach ihm sehen, sobald ich kann. Was den Auftrag angeht, den führe ich heute Abend aus. Meine Aufgabe ist hiermit erfüllt. Ihr hört von mir.“ Ein wenig unsicher vielleicht sah ich ihn kurz an, daraufhin aber wieder zu den dreien vor mir. Er wollte gehen und mich einfach allein lassen? Ich kannte diese Männer doch gar nicht und wusste nicht ansatzweise, was ich sagen sollte! Aufmerksam beobachtete ich, wie der Lockige nickte, an seinen Gürtel griff und Nevar ein kleines Säckchen zuwarf und kaum hatte er erhalten, was er wollte, drehte er ab, klopfte mir noch einmal auf den Rücken und ging. Ich konnte nicht anders, als ihm zögernd nachzusehen. Mein Herz setzte kurz aus. War das sein Ernst? Kaum drehte ich mich zurück, fielen mir die düsteren Augen des Dritten und ganze Zeit über stillen Mannes auf. Noch immer starrte er mich an, fast penetrant. ‚Er kann mich nicht ausstehen.’, vermutete ich und fragte mich, ob es an mir direkt lag oder daran, dass ich wohl aus Annonce stammte. Auch Slade musterte mich, allerdings grinsend, aber der einzige, der sprach, war jener mit dem krausen Haar. Er lehnte sich etwas zurück, griff seinen Bierkrug und erklärte: „Aye, mein Name ist Yven Robin Mc’Daught, aber Nevars Freunde sind auch unsere Freunde, also für Euch Yven oder Robin. Slade kennt Ihr ja bereits, ah und der Dicke da, der heißt Serdon Gawain Mc’Galahad. Wahrscheinlich werdet ihr eh nicht viel miteinander reden, der Kerl ist recht schweigsam. Aber lasst Euch davon bloß nicht täuschen, er ist kein Idiot.“ Wahrscheinlich war es unsinnig, aber ich deutete dennoch eine Verbeugung an und stellte mich erneut vor: „Mein Name ist Falcon O’Connor.“ „Falcon.“, wiederholte der scheinbare Anführer der drei. „Gut, Falc’dhe, dann schlage ich vor, Slade zeigt Euch Euer Bett und wenn Ihr Euer Zeug abgelegt habt, kommt Ihr wieder her. Wir klären gerade den weiteren Verlauf.“, als wäre es eine Aufforderung gewesen, stellte Slade seinen eigenen Krug ab und stand auf, um Gesagtes in die Tat umzusetzen. Ich konnte nicht anders, als zu nicken und dem Mann zu folgen, der sichtbar amüsiert einfach losging. Während ich erneut durch die Tische schlängelte und meinem flüchtigen Bekannten eine Treppe hinauf zu den Zimmern folgte, konnte ich spüren, wie die Blicke der anderen zwei auf mir ruhten. Ich hörte, wie sie in einer fremden Sprache etwas flüsterten. Ob sie über mich sprachen? Ich hatte mir die berüchtigten Samariter ehrlich gesagt ganz anders vorgestellt. Gelehrte mit Brillen vielleicht, ehemalige Klosterschüler oder zumindest eine geringe Mischung aus beidem. Stattdessen war ich in eine Gruppe aus Ächaten und scheinbaren Dieben geraten. Verbrecher, natürlich, aber solcher Art? Slade lenkte mich von meinen Gedanken ab, denn er grinste mir entgegen und spottete: „So langsam glaube ich, Ihr seid besessen von mir. Was habt Ihr die letzten Monate getrieben, so ganz ohne mich? Mich heimlich beobachtet?“ „Natürlich, jederzeit.“, auch ich musste grinsen und konnte nicht anders, als einen verschwörerischen Ton anzunehmen, während ich flüsterte: „Ich dachte Tag und Nacht an Euch und konnte nicht anders, als Euch nachts beim Schlafen zuzusehen.“ Abwehrend erhob der Braunhaarige die Hände und machte einen erschrockenen Laut. „Wuoh! Jetzt mal langsam, das wird gruselig!“, aber es war nur scherzhaft gemeint, denn er lachte und blieb vor einer Zimmertür stehen. Diese aufschließend fuhr er fort: „Nun, wenn Ihr wirklich bei uns bleibt, habt Ihr genug Zeit, mich zu bewundern. Aber starrt mich nicht zu sehr an, sonst werden die Weiber eifersüchtig.“ Sein Zwinkern irritierte mich, doch ehe ich etwas erwidern konnte, verschwand Slade im Innern des Raumes. Ich folgte unsicher. Vor mir lag ein normales Gästezimmer, allerdings um einiges voller, als es beim Bau wahrscheinlich geplant war. An einer der Wände stand ein Doppelbett, auf dem Boden lagen eine Decke und in einer anderen Ecke mehrere Knäuel Stoff. Die Vermutung lag nahe, dass es sich um provisorische Betten handelte, denn außerdem lagen Schuhe herum, Taschen, auf dem einzigen Tisch standen Bierkrüge und alte Suppenteller. Zu meiner Verwunderung sah ich weder Pergamente, noch Bücher oder Schreibfedern, aber es wäre auch seltsam, wenn die Samariter hier arbeiten würden. Ich war doch bei den Samaritern? Ich wollte es nicht, aber ich zweifelte. Nevar war nicht wirklich begeistert gewesen, doch es erschien mir seltsam, Slade direkt nach ihnen zu fragen. Er erklärte mir, dass abends per Los entschieden werden würde, wem das Bett gehörte. Der Rest musste es sich auf dem Boden bequem machen, also ließ ich mich einfach auf einen der Stühle sinken und sah mich weiter um. Es roch muffig und nach Schweiß, aber zumindest schimmelte nichts oder tropfte von der Decke. Schliefen wirklich alle vier Männer hier in diesem Raum? Der Straßendieb hantierte am Fenster herum, öffnete es und machte sich dann am Tisch zu schaffen. Ich guckte zu, wie er die Krüge absuchte, doch da sie alle leer waren, ließ er es gut sein und sank aufs Bett. Das einzige, was er sich nahm, war ein Kanten Brot, doch er war mittlerweile so hart, dass er hinein biss und ihn dann abfällig zurück auf den Tisch warf. Aufmerksam starrten wir uns an und mir kam der Gedanke, dass er sich nicht verändert hatte. Sein Blick hatte etwas schelmisch- und zugleich verschlagenes, was einen nervös machte aber dennoch irgendwie sympathisch war. Da er Stille nicht zu mögen schien, lehnte er sich ein Stück zurück, stützte sich auf die Hände und grinste: „Nun, dann erzählt mal. Ihr wart Kopist beim alten Pepe – war’s Euch zu langweilig?“ Zögern. Sollte ich die Wahrheit sagen oder nicht? Nach einigen Sekunden gab ich zur Antwort: „Unter anderem.“ „Dass Ihr Abenteuer sucht, habe ich schon gemerkt. Hat der alte Henry sich nicht beschwert? Also ich würde mich beschweren, wenn jemand auf mir herum klettert.“, meine Wangen wurden rot und sein leichtes Lachen verstärkte es. „Aber keine Sorge: Ich lasse es keinen wissen, dass Ihr Statuen besteigt. Den Sinn verstehe ich zwar immer noch nicht, aber wenn es Euch Spaß macht? Jeder hat so seine Vorlieben. Die einen mögen Frauen und gutes Bier, die anderen Scheiße und Steine.“ „Ihr versteht es gut, Euch über andere lustig zu machen.“, brummte ich etwas missbilligend. Slade lachte nur wieder - er nahm es nicht ernst, dass ich beleidigt war. Mit den Schultern zuckend merkte er an: „Das ist mein Charme, die Frauen fliegen darauf und gleichzeitig ist es der ideale Weg, um sie wieder los zu werden. Das ist das Wichtige bei den Weibern, Falcon: Ihr müsst stets wissen, wie Ihr sie wieder loswerdet. Habt Ihr ein Weib?“, da ich mit dem Kopf schüttelte, fuhr der Mann vor mir fort: „Gut so. Es ist wie mit dem Alkohol: Man muss es genießen können, ohne daran zu ersaufen. Ihr versteht, was ich meine? So muss das Leben aussehen! Wenig Leute um sich, aber dafür die Richtigen.“, ächzend erhob er sich wieder, klopfte mir dabei auf den Oberschenkel und lachte: „Aber was rede ich? Das wisst Ihr selbst, sonst wärt Ihr nicht hier. Das, was Ihr nicht braucht, könnt Ihr dort in die Kiste schließen. Keine Sorge, die da unten stehlen nicht. Wenn Ihr so weit seid, kommt wieder runter zu uns.“, und schon drehte Slade um und steuerte schlendernd die Tür an. Da ich meinen Umhang nicht tragen wollte, erhob ich mich, um Besagtes zu tun und während ich aus dem schwarzen Stoff schlüpfte, drehte er sich noch einmal um. „Ach ja, hier, für das Zimmer!“, er warf mir einen Schlüssel entgegen. Es kam so unerwartet, dass ich ihn nur im letzten Moment fing und ungewollt mit dem Fuß gegen die Bettpfanne stieß. Ein dumpfer Laut, dann rutschte der Nachttopf ein Stück vor und etwas schwappte über den Rand. Ich wich gerade noch rechtzeitig zurück. Slade lachte so laut auf, dass ich zusammenfuhr und ehe er verschwand, hörte ich noch: „Ja, ja, Annoncer!“ Die Tür fiel zu und ich konnte nicht anders, als auf die Flüssigkeit zu starren, die allmählich im Boden einsickerte. Da war ich nun, scheinbar. Während ich die große Holzkiste in der hintersten Ecke ansteuerte, sie aufschloss und meinen Umhang, so wie mein zweites Hemd hineinfallen ließ, dachte ich darüber nach, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Ich war nun bei den Samaritern – hoffte ich zumindest und allem Anschein nach gaben sie mir eine Chance. Dass sie es Nevar zuliebe taten, ehrte mich nicht gerade, aber ich war überzeugt davon, dass ich beweisen konnte, dass ich gut in meinem Fach war. Was mich irritierte, war, dass es Ächaten waren, mit denen ich nun zu tun hatte. So weit ich wusste, waren Ächaten Ketzer. Sie glaubten nicht an Gott und schon gar nicht an die Heilige Schrift. Wenn es stimmte, dass die Samariter diese kopierten und übersetzten, verstand ich nicht, wieso gerade diese Leute das tun sollten. In der Hoffnung, dass man es mir erklärte, blieb ich kurz am Fenster stehen und starrte hinaus. Die Zimmer-Etage war im ersten Stock, also konnte ich auf die Straße hinunter sehen und auch die heruntergekommenen Häuser gegenüber. Pergamente gab es hier nicht, gleiches galt für Bücher. In der Kiste waren nur Kleidungsstücke gewesen und unter dem Bett konnte ich auch nichts sehen. Das bedeutete, dass die Samariter ihrer Arbeit woanders nachgingen. Ich war aufgeregt. Mein Herz schlug die ganze Zeit ein wenig schneller, als sonst und eine Art Vorfreude packte mich. Nevar hatte mir eine Chance gegeben, mich zu beweisen. Er war einfach gegangen, damit ich auf eigenen Beinen stand und nun war dies die Gelegenheit, zu zeigen, was ich konnte. Er würde es nicht bereuen, mir diese Chance gegeben zu haben, auf keinen Fall. Vor meinen Augen saß ich bereits an einem Tisch und kopierte die heilige Schrift. Es gab ein kleines Büchlein, das ich allein geschrieben und gebunden hatte und alle staunten nicht schlecht, als sie es sahen. Es hatte lange gedauert, aber ich hatte nun einen neuen Weg eingeschlagen und anders, als damals bei Domenico, war ich fest entschlossen, wirklich entschlossen. Viel mehr, als je zuvor. Vielleicht dauerte es, aber wenn wir damit etwas bewegen konnten, dann war es, einen Weg zu ebnen, der in die Freiheit führte. Und ich wäre an diesem Weg beteiligt gewesen! Ich, Falcon O’Connor, der Kopist! Nein: Ich, Sullivan O’Neil, der freie Mann und Gläubige! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)