Der Begierde hilflos verfallen von -Harlekin- (TheGazettE x MUCC) ================================================================================ Prolog: Den Stein ins Rollen bringen ------------------------------------ Wenn du herausfinden würdest…dass die Welt in der du lebst nur eine Fassade ist…wie würdest du reagieren? Würdest du dir wünschen, in deine Welt zurückzukehren? Würdest du dich nach deinem Unwissen sehnen? Doch was wäre…wenn die reale Welt…so um Vielfaches aufregender wäre? Wenn es so viel Neues zu entdecken gäbe…? Würdest du dir dann immer noch wünschen, in deine alte scheinbar langweilige Welt zurückzufinden? Besonders…wenn in dieser neuen Welt…das existiert, was du am meisten begehrst. Tss… Vorher…habe ich mir nie Gedanken um Derartiges gemacht. Doch der Zeitpunkt…der alles allmählich ins Rollen brachte…ist wohl der Entscheidenste in meinem ganzen Leben gewesen…und zugleich wohl das Beste…was mir jemals passiert ist. Wir hatten an diesem Tag frei. Ich wollte mich etwas entspannen und mich von der Arbeit erholen. Also schlenderte ich in Gedanken alleine durch die belebten Straßen Tokios. Seltsamerweise…konnte ich in Menschenmassen immer am besten nachdenken. Ich wusste nicht wieso das so war. Es…war einfach schon immer so gewesen. Natürlich hatte ich kein auffälliges „Visual kei“-Outfit an, sondern war in Zivil. Das heißt: Sonnenbrille, lässige Jeans und ein weißes Hemd. Und wie immer hatte ich bei mir nur mein Handy und meine Zigaretten. Zwei lebensnotwendige Dinge eben. Wie schon gesagt, war ich nur auf einen normalen Spaziergang durch die Straßen aus gewesen. Ich lugte ab und zu in die bunten Schaufenster und dachte dabei nichts Böses, als ich plötzlich an einem großen Gebäude…einem Hochhaus inne hielt. Ich blieb davor stehen und sah hinauf. Das Gebäude machte einen sauberen Schnitt durch meine Gedankengänge und zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich… Ich suchte nach einem Schild und fand schließlich eines. Darauf stand: Universal Music Japan Das Label…unserer Konkurrenz. Wir hatten nichts gegen die Bands in diesem Label…aber sie waren nun mal trotzdem Konkurrenten, ob sie nun nett waren oder nicht. Ich schaute erst nach links und dann nach rechts, so als würde ich etwas Verbotenes tun…um sofort gezielt auf den Haupteingang zu eilen. Neugierde…war schon immer mein Schwachpunkt gewesen. Vielleicht war es ein…fataler Fehler. Als ich im Gebäude war…war nicht gerade viel los. Es war ziemlich ruhig. Man konnte nur gedämpfte Stimmen und Telefongeklingel durch die geschlossenen Türen vernehmen. Nicht sehr interessant. Ich wusste nicht, was ich mir von meinem kleinen Abstecher erhofft hatte. Womöglich eine kleine Änderung…der Routine…irgendwas Neues. Irgendwas Aufregendes. Irgendwas…was mein fades Leben verändern würde? Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich genau das finden würde, wonach ich so sehnsüchtig gesucht hatte… Ich wusste ja nicht mal, was es war…was ich so sehnsüchtig suchte…oder ob ich überhaupt etwas suchte. Mir fiel die Treppe im nächsten Gang auf. Ich ging auf sie zu, als ich plötzlich von einem beleibten Mann aufgehalten wurde. Er war groß und starrte mich skeptisch an. „Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht.“ „Sie müssen mich auch nicht kennen.“ Ich versuchte an ihm vorbeizukommen, doch er hob eine Hand und drückte mich zurück. „Sie sind nicht befugt, hier im Gebäude zu sein.“ Ich stemmte meine Hände beleidigt an die Seiten. „Natürlich bin ich das.“ Ich wusste natürlich…das Lügen nicht immer die beste Lösung war. Aber…was sollte ich denn tun? Ich ließ mich eben nicht so schnell von meinem Weg abbringen. Außerdem hat meine freche Art mir schon oft dabei helfen können, das zu bekommen, was ich haben wollte. „Aber natürlich. Und jetzt raus hier!“ Mal mehr…mal weniger. Beinahe mühelos schob mich der Aufpasser zurück. „Halt! Das hier ist mein Label!! Ich bin Musiker!! Ich bin befugt!!“ Doch er lachte mich nur aus. Naja…ein Versuch war es wert gewesen. „Sie wissen gar nicht, wie viel Ausreden ich in meinem Leben schon hören musste. Reporters und Groupies haben hier nichts verloren!“ Groupie? GROUPIE?? Sah ich etwa wie ein Groupie aus??! „Ich bin kein Groupie! Und von der Presse erst recht nicht!“ „Jaja.“ Und da ertönte ein lauter Ruf. „HEY!“ Der Typ ließ mich abrupt los und blickte zur Treppe, wo der Ruf herkam. Verwundert über diese Wendung folgte ich seinem Blick. Ahnungslos… „Takashi! Der gehört zu mir!“ Die tiefe ruhige Stimme hallte durch den großen Raum. Verwundert kratzte sich der Aufpasser an den Kopf. „Ach…wirklich?“ Der junge Mann an der Treppe nickte ihm zu. Dann schweiften seine Augen zu mir…doch unser Blick verweilte länger als nötig. Er kam mir bekannt vor…aber ich wusste nicht vorher. In diesem Moment wollte es mir einfach nicht einfallen. „Ja, er ist ein Kumpel von mir.“ Takashi schaute mich entschuldigend an. „Gomen…Ich wusste das nicht.“ Ich lächelte ihn siegessicher an und hob arrogant den Kopf. Mal wieder ein Punkt für mich…auch wenn mit ein klein bisschen Hilfe. „Ich sagte doch, ich bin befugt!“ Lässig stolzierte ich zur Treppe und zwinkerte meinem Retter dankend zu. Dieser jedoch ging schon die Treppenstufen wieder hoch. Ich folgte ihm. Im nächsten Stockwerk blieben wir im Gang stehen. Er zog seine Schachtel heraus und zündete sich eine Zigarette an. Raucher waren mir schon immer sehr sympathisch. Er bot mir eine an und ich nahm an, obwohl ich selber Zigaretten dabei hatte. „Ich habe gerade Pause.“ Soso… Dann brach erstmal eine kurze Stille ein, in der er sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnte und an seiner Zigarette zog, während er mich mit seinen dunklen Augen stumm anblickte. Ohne groß nachzudenken stützte ich mich ebenfalls an der gegenüberliegenden Wand und betrachtete ihn, aber etwas unauffälliger. Er kam mir vor wie ein Riese…und ich musste mir eingestehen, dass es mich doch etwas beeindruckte. Auch ziemlich auffällig war seine blasse jedoch schöne Haut, wobei das schwarze T-Shirt dies ungemein unterstrich. Ein belustigtes Lächeln konnte ich aber nicht vermeiden, als ich sah, dass er Sandalen zu der dunkelblauen Hose trug… Hm… Bisher…hatte er noch nicht viel gesagt, also musste er wohl eher ein schweigender Typ sein…auch seine beruhigende Stimme war ein Hinweis darauf…doch das störte mich nicht. Im Gegenteil. Es war irgendwie sehr angenehm. Im…Gegensatz zu meinen hyperaktiven Bandkollegen manchmal. Dann musste ich endlich die Stille unterbrechen und die brennende Frage stellen, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge lag… „Wieso…hast du mir geholfen?“ Ein Schimmer durchzieht kurz seine Augen. Dann spiegelt sich ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht, was mich kurz stutzen lässt. „Du siehst nicht wie ein Journalist aus.“ „Und…auch nicht wie ein Groupie?“ Ich musste sein Lächeln frech erwidern, doch sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. „Nein.“ Grinsend zog ich an meiner Zigarette. „Und…als was sehe ich dann für dich aus?“ Er ließ kurz seinen Blick über mich schweifen. „Wie ein Musiker. Genau wie ich.“ Ich musste schmunzeln. Ohne mich zu kennen…erkannte er trotzdem was ich war. „Sag mal…du kommst mir irgendwie bekannt vor…“ „Tatsuro.“ „Tatsuro…“ „Ja, von Mucc.“ Erst da ging mir ein Lichtlein auf. Endlich. „Ah!! Natürlich! Du bist der Sänger von Mucc!“ Der Sänger nickte. „Genau. Und du…spielst auch in einer Rockband, nehme ich an?“ „TheGazettE. Ich bin Uruha.“ „Ah klar, Gazetto. Ihr seid auch nicht gerade unbekannt.“ „Ach, man tut was man kann.“ Protzend schwang ich meine Haare aus dem Gesicht, was Tatsuros Mundwinkel leicht zum Zucken brachte, jedoch nicht zu einem weiteren Lächeln zwang. Als wir dann jeweils wussten, wer der Andere war, rauchten wir stumm unsere Zigaretten weiter…Wir waren zwar Konkurrenten…doch andererseits auch so was wie Kollegen. Und ich musste zugeben, dass ich mich bei ihm wohl fühlte…obgleich er eine eher zurückhaltende Art hatte. Ich sagte zwar nichts, aber ich bemerkte immer noch seinen prüfenden Blick. Und als dann schließlich der Satz kam…der kommen musste, konnte ich nur verlegen den Blick senken. „Du bist hübsch.“ Das sagten mir viele Leute…so viele…aber bei ihm…klang es nicht so wie ein Kompliment…sondern wie eine Tatsache. Gerne hätte ich diese Tatsache zurückgegeben…doch…es kam mir etwas zu plump vor. Dann tritt wieder eine längere Pause ein, wo wir unsere Zigaretten zu Ende rauchten. Wir waren nicht sehr gesprächig…aber…seltsamerweise waren auch so was wie Worte gar nicht notwendig. Beinahe gleichzeitig waren wir fertig. Ich war mir etwas unsicher…was ich zum Abschied sagen sollte…Normalerweise…fiel mir so was verdammt einfach… Ein kecker Spruch und fertig. „Ok…dann…geh ich jetzt mal wieder.“ Ungewohnt platt. Aber eigentlich wollte ich auch auf etwas Anderes hinaus…doch einfach so nach einem weiteren Wiedersehen oder einer Handynummer zu fragen, kam mir unpassend vor. Es war nicht meine Art über so was lange nachzugrübeln. Und ich gab mich schnell damit zufrieden, dass es wohl einfach an der Zeit war wieder die Straßen unsicher zu machen…und zu gehen. „Sehen wir uns wieder?“ Seine plötzliche aufjauchzende Frage erschrak mich etwas…war er mir doch vorher leicht abwesend vorgekommen…doch ich freute mich innerlich darüber. Er hat sich das getraut…was ich mir nicht getraut hatte, was ich mir aber normalerweise schon traute. Es…war eigentlich nur ein belangloses wortkarges Aufeinandertreffen gewesen…doch…auch das konnte eine gute Grundlage für eine Freundschaft sein. Aber…war es eine gute Idee, sich mit der Konkurrenz anzufreunden…? Doch…ich konnte nicht anders. „Ja…würde mich freuen.“ So war das gewesen. Tja…alles…was dann noch kam…hätte ich nicht mal zu träumen gewagt…aber meine fatale Neugier siegt immer. Immer. Kapitel 1: Skandalös -------------------- „WAAAAAS??!!“ Ich zucke hilflos mit den Schultern. „Ist doch nicht so schlimm…“ „N…N…Ni…Nicht so schlimm??!!“ Seine Stimme steigt einige Oktaven höher, weshalb ich mich gequält weiter in die Coach drücke. Ein Anfall…ist nun nicht mehr zu vermeiden. Ausflippend beugt sich Ruki zu mir runter und schüttelt mich heftig durch. „Nicht so schlimm???!! Wie konntest du einfach zur Konkurrenz gehen???? SOWAS macht man doch nicht!“ „Aber Tatsuro war total nett!“ Schmollend plustere ich die Backen auf, Wutanfall hin oder her. „Er ist ein eiskalter Konkurrent, Uruha! Eiskalt!!“ „Sag doch so was nicht!“ Die Tür wird geöffnet und die anderen Members treten ein. „Man braucht euch Beide nur ein paar Minuten alleine zu lassen und schon hört man Geschrei.“ Der Sänger springt umher und gestikuliert wild mit den Armen. In dem Augenblick…kommt mir die absurde Vorstellung eines Flummis in den Sinn. „Er hat sich mit der Konkurrenz befreundet!! Mit der Konkurrenz!!“ Kai schüttelt den Kopf und versucht ihn zu beruhigen, während Reita und Aoi verwirrt dreinblicken. Ich kann nur hilflos die Augen verdrehen. „Beruhig dich doch erstmal, Ruki!“ Doch statt sich zu beruhigen, wird der Sänger nur lauter… „Ihr kennt doch das Label Universal Music, nicht??? Dieses große Label, das weltweit bekannt ist! Das Label, wo wir am Anfang hinwollten…uns jedoch nicht aufgenommen hat!!“ Reita schnauft genervt ein. Ich kann in seinem Gesicht ablesen, dass er gerade dasselbe denkt wie ich... Diese alte Geschichte wieder. „Und…was ist damit?“ „Mucc ist bei diesem Label! Unsere starke Konkurrenz! Und rate mal wer sich dort mit dem froschartigen Riesen angefreundet hat…“ Ich hänge schnell an. „Sagen wir eher, Bekanntschaft gemacht hat.“ Der Bandleader seufzt genervt. „Mach doch nicht so einen Wirbel, Herr Gott! Und wenn schon? Es ist doch prima einen guten Kontakt zu anderen Bands zu pflegen. Wir verstehen uns doch auch gut mit Miyavi, AliceNine und Co.“ „DIE sind ja auch in UNSEREM Label!!“ Kai schaut gelassen zu mir, ungeachtet auf Rukis Anfall. „Solange du ihm keine Bandgeheimnisse verrätst und er sich nicht in unsere Arbeit einmischt, sehe ich kein Problem. Außerdem ist Tatsuro ein angenehmer Kerl. Ich habe ihn mal bei einem gemeinsamen Band-Fotoshooting getroffen.“ Ich freue mich über das Verständnis des Bandleaders…auf Rukis Stirn bilden sich jedoch tiefe beängstigende Falten. „Fotoshooting! Bei gemeinsamen Auftritten in der Öffentlichkeit, muss man so tun, als wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen und die Bands würden sich untereinander prächtig verstehen! Aber in Wirklichkeit sind wir alle harte Konkurrenten und kennen keine Gnade füreinander!“ Bei diesen Sätzen müssen Aoi und Kai anfangen zu schmunzeln…ja…beinahe loslachen. Unser Drummer flüstert mir mit vorgehaltener Hand zu, während der kleine Sänger sich seiner Wut komplett nachgibt und unverständliches Zeug in die Gegend brüllt. „Hör nicht auf ihn. Er ist doch nur neidisch, weil Mucc bei Universal Music ist und wir nicht…“ Ich seufze leise…Ich kann ja Ruki verstehen…irgendwie. Aber…das ist doch schon so lange her. Wir sind doch jetzt mehr als nur zufrieden mit der PS Company. Also wieso tickt er dann so aus? Der Sänger sitzt mittlerweile völlig erschöpft auf der Couch. Seine Stimme ist schon ganz heiser. „Ich brauch erstmal einen Drink…“ „Aber besser etwas Alkoholfreies!“ Immerhin ist er schon genug aufgedreht… Grinsend reicht Aoi ihm ein Becher Wasser, das unser Sänger mit einem Zug leert. Ich sehe zögerlich zu ihm rüber, als er mich plötzlich am Arm packt. „Sie sind unsere Feinde, Uruha…Versteh das doch.“ Betrübt blicke ich zu Reita, der meinen hilflosen Blick erwidert und nur halbherzig ein schiefes entschuldigendes Lächeln zustande bringt. Als wir drei zu früheren Zeiten…noch gemeinsam in einer anderen Band waren…hatte Ruki immer von diesem Label geschwärmt…Das wir bei diesem einen Vertrag bekommen…und das wir dann groß rauskommen würden. Immer…und immer wieder, hat er uns das erzählt. Es war sein größter Traum gewesen… Deswegen verstehen Kai und Aoi die Gefühle des Sängers diesbezüglich nicht. Doch…das er jetzt immer noch so denkt…jetzt wo wir doch schon so viel erreicht haben…verwundert auch uns Beide. Er braucht doch nicht mehr daran festzuhalten. Dafür gibt es keinen Grund mehr. Wieso kann er nicht endlich loslassen…? „Ich…finde es schade, dass du so denkst.“ Ich…finde es wirklich schade, Ruki. Tief ziehe ich den giftigen Zigarettendunst ein. Eine blaue Wolke verlässt meinen Mund und schwebt in die Nacht hinaus. Ich atme schwer aus und stütze mich mit den Unterarmen auf dem offenen Fenster ab, dass mir eine nur allzu gut bekannte Aussicht auf die Stadt gewährt. Der Himmel ist schwarz…doch die leuchtenden Farben der unzähligen Reklametafeln und Neonlichtern lässt die Dunkelheit hell und bunt erscheinen. Und durch den leisen Straßenlärm, der bis hierauf geweht wird…auch lebendig. „War doch klar, dass du nach der Arbeit hier bist. Genießt du wieder den romantischen Ausblick auf die Großstadt?“ Ein leichtes Schmunzeln. Das Klappen eines Feuerzeugs und eine weitere brennende Zigarette. Ich drehe meinen Kopf leicht zu der Stimme und sehe die dazu gehörige Person neben mir am Fenster lehnen. Ebenfalls in die farbenprächtige Nacht hinausstarrend. „Tokio ist nicht romantisch.“ Er hält den Mund zu und lässt den Qualm aus seiner Nase entweichen. Ich schaue wieder geradeaus. „Aber nur weil du keinen Sinn für Romantik hast.“ Ich lehne mich leicht etwas weiter vor und spüre eine leichte Brise. „Ja, mag sein.“ Wieder ein leichtes Schmunzeln seinerseits. „Du bist echt komisch. Aber das habe ich dir bestimmt schon mal gesagt.“ Ich nehme wieder einen Zug. „Jep, sogar öfters.“ Mein Blick schweift wieder zu ihm. Das Lächeln hat sich auf seinem Gesicht festgeheftet. Allgemein…ist Aoi ein sehr fröhlicher Mensch. Ich frage mich manchmal…woher er nur die Kraft dazu nimmt? „Du hast so unterschiedliche Gesichter. Mal bist du total frech und vorlaut. Und das obwohl du sagst, dass du früher so schüchtern warst. Und dann bist du wieder so…ruhig und nachdenklich. So als würde dich irgendwas beschäftigen…dass du aber nicht beschreiben oder erklären könntest.“ Ich streiche mir gelangweilt eine Strähne aus dem Gesicht. „Viele Facetten machen doch eine Person erst interessant…“ Er erhebt sich leicht und stützt sich nun mit den Händen ab. „Was war eigentlich mit Ruki heute los? Der war echt mächtig sauer.“ Die ausgerauchte Zigarette lege ich zwischen meinen Fingern und schnipse sie arglos aus dem Fenster. „Der wird sich schon wieder beruhigen.“ Kapitel 2: Der fliegende Fisch ------------------------------ Ich habe Ruki und den Anderen nicht erzählt, dass ich mich gleich am nächsten Tag nach der Arbeit mit meinen neuen Freund treffe. Das…hätte Rukis Fass wohl noch mal gehörig zum Überlaufen gebracht… Heute… Wir hatten uns erst vorgestern kennen gelernt…und er wollte mich schon heute wieder sehen. In einer kleinen Bar. Dort werden wir bestimmt mehr reden, als gestern. Dann erfahre ich endlich mehr über ihn. Hoff ich. Ungeduldig schabe ich mit einem Fuß einen Kreis auf den Boden, während ich vor der Universal Music Company auf ihn warte… Wir hatten 19:00 Uhr ausgemacht…aber jetzt ist es schon Viertel nach… Endlich sehe ich jemanden, das Gebäude verlassen. Doch…es ist nicht Tatsuro. Viel zu klein. Keine rabenschwarze, sondern blonde Haare. Der Mann bleibt überraschenderweise vor mir stehen und lächelt mich freundlich an. „Du bist Uruha, nicht?“ Verwundert stimme ich ihm zu. „Bist du…ein Bandkollege von Tatsuro?“ „Ja. Ich bin der Bassist. Yukke.“ Yukke…Ich muss sein aufrichtiges Lächeln erwidern. Auch er hat eine ungewöhnlich blasse Haut. Im Gegensatz zum Schwarzhaarigen scheint er aber nicht so zurückhaltend…sondern eher ein offenes sonniges Gemüt zu haben, das sofort bei jedem, der ihn erblickt, eine angenehme Sympathie auslöst „Weißt du…es kommen nicht sehr viele Leute mit Tatsu klar. Viele schrecken von seiner wortkargen und kühlen Art zurück. Aber wenn man ihn besser kennen lernt, ist er wirklich lustig. Er ist etwas Besonderes.“ Etwas Besonderes…ja…das habe ich sofort in der ersten Sekunde gemerkt… Der Bassist nickt mir zum Abschied lächelnd zu. Schließlich kommt nach einer Weile endlich Tatsuro aus dem Gebäude zu mir geeilt. „Tut mir Leid. Ich musste noch etwas mit dem Manager besprechen.“ Ich winke ab. „Kein Problem.“ Dann muss ich mein freches Grinsen aufsetzen. „Ich habe gerade Yukke getroffen…Du sprichst also schon von mir?“ Er scheint etwas verwundert. „Meine Bandkollegen wollten noch etwas Trinken gehen, da hab ich nur gesagt, dass ich heute mit dir gehe.“ Na klar… Er geht plötzlich einen Schritt vor. „Ich kenne in der Nähe eine kleine Bar. Sie heißt Fliegender Fisch.“ Ich husche schnell an seine Seite und lächle ihn an. „Klingt…gut.“ In der Bar bestellt er zwei Drinks und wir setzen uns an einem kleinen Tisch am Fenster. Von außen sieht die Kneipe unauffällig aus…so unauffällig, dass man an ihr vorbeigehen könnte und man gar nicht bemerken würde, dass da überhaupt eine steht. Ich kann mich nicht einmal mehr dran erinnern, wie sie aussieht… Im Innern hingegen herrscht eine leicht makabere Stimmung, bei der man schnell merkt, dass diese Kneipe sich von Anderen unterscheidet gar abhebt. Die Bar ist in drei kleine offene Räume unterteilt. Nur schwach beleuchtete Lampen zieren die dunkelbraunen Holzwände, deren Lichtstärke man hätte auch gut durch Kerzen ersetzen können…Doch wie ungewöhnlich und leicht schauderhaft die Atmosphäre ist…büßt sie trotz alldem nichts von einer Art…Wärme und Gemütlichkeit ein, die mich umschließt und mich sitzen bleiben lässt. Neugierig sehe ich mich nach den Gästen um, die sich leise an ihren Tischen unterhalten und in ihren Gesprächen vertieft sind. Weiter hinten ist eine kleine Gruppe, die sich prächtig über einen Witz zu amüsieren scheint. An der Theke wischt der Barkeeper gelangweilt an der Platte, die jedoch schon längst sauber ist. Ab und zu sieht er von seiner einseitigen Tätigkeit auf und lugt zur Tür, so als würde er jemanden erwarten… Der seltsame Barkeeper ist mir sofort aufgefallen, als wir die Bar betreten hatten. Er ist älter und trägt altmodische Kleidung. Eine weinrote Weste über ein weißes Hemd mit einer Fliege. Dazu eine tiefschwarze Hose. Die weißen Haare hat er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Man könnte meinen, er käme aus einem anderen Zeitalter. Doch sein Aussehen passt irgendwie gut hierher. Nachdem ich die Umgebung fertig inspiziert habe, nippe ich lächelnd an meinem Getränk und schaue mein Gegenüber erwartungsvoll an. Er jedoch…starrt aus dem Fenster in die Dunkelheit. Ich mache es ihm nach und sehe einen irrelevanten Typen vorbeischlendern, der wie so viele diese von außen unscheinbare Kneipe schlichtweg ignoriert. Mich wundert es, wie die Bar trotzdem eine Kundschaft haben kann. „Sag mal…woher kennst du denn diese Bar?“ Er schaut mich von der Seite her an…doch es sieht aus, als hätte er auf diese Frage schon gewartet. „Es gefällt dir hier nicht.“ Was für eine schlechte Einschätzung. „Daneben. Es gefällt mir hier sehr wohl.“ Überrascht hebt er eine Augenbraue, beantwortet aber dennoch meine Frage. „Ein Freund hat sie mir vor einiger Zeit mal empfohlen. Ich komme hier gerne her.“ Mehr werde ich wohl aus ihm nicht hervorlocken können, also biete ich ihm eine Zigarette von mir an. Das bin ich ihm immerhin schuldig. Er nimmt sie an und wendet sich endlich komplett vom Fenster ab. Nun blicken wir uns an. Seine Augen… Das Braun ist so dunkel, dass es als Schwarz durchgehen könnte. Sie sind tiefsinnig, lassen sich jedoch nicht durchschauen…aber es scheint mir so, als würden sie mich durchschauen… Gerne würde ich wissen, was er gerade in diesem Augenblick denkt… „Weißt du…ich find es hier ganz gemütlich, doch diese Bar ist äußerlich so unscheinbar, deswegen habe ich mich gewundert, dass du sie kennst.“ Bläulicher Dunst entweicht seinen Lippen, während er mich weiterhin stumm betrachtet. Ruhig…und doch so lauernd. Es scheint mir, als wäre er irgendwie angespannt… Etwas unwohl, versuche ich erneut ein Gespräch aufzubauen. „Ich gehe normalerweise eher in vollen stickigen Bars mit lauter Musik. Oft auch mit meinen Bandkollegen.“ Er lässt die Zigarette sinken und klopft kurz auf dieser über dem Aschenbecher, lässt mich jedoch nicht aus den Augen. „Ich mag großen Tumult nicht.“ Hm. „Ich…finde ihn eigentlich ganz ok. Ich beteilige mich an ihm aber nicht immer so gerne. Ich bin einfach gerne mittendrin…Zum Beispiel, gehe ich gerne durch die belebten Straßen…Da kann ich am besten nachdenken. So…zwischen all den Leuten und dem Lärm. Klingt seltsam, nicht wahr?“ Was rede ich da eigentlich? Unerwartet sehe ich…aber in seinen Augen so etwas wie Verständnis. „Es klingt nicht seltsam.“ Ich muss lächeln. Ich weiß gar nicht, wieso ich ihm das überhaupt erzählt habe…Schließlich erzähle ich so etwas niemanden. Außer einmal…Ich habe es mal Ruki erzählt, aber der hat mich nur verständnislos beäugt…so als wäre ich komisch. Aber er…er versteht mich…Eine schöne Überraschung. Das Gespräch ist wieder ins Stocken geraten und wir sitzen uns wieder stumm gegenüber…nur ab und zu verwickeln wir uns in kurzweilige Gespräche. Ich liebe seine ruhige Art und wie er aufmerksam zuhört, wenn ich etwas sage. Durchgehend scheint er in Gedanken…doch…er bekommt jede Kleinigkeit seiner Umgebung mit… Seine Art…ist so einzigartig. Unsere Gläser leeren sich allmählich und ich frage mich ob wir das wiederholen werden. In Gedanken versunken fahre ich den Glasrand mit einem Finger nach. „Du hast ein schönes Lächeln.“ Überrascht blicke ich auf. Regungslos erwidert er meinen Blick, so als hätte er nichts dergleichen gesagt. Nicht…dass ich das nicht weiß. Aber… Ich senke meinen Blick wieder. Ich freue mich wirklich darüber…aber…es klang nicht wie ein Kompliment…sondern wieder wie eine Tatsache. Es ist ihm nur aufgefallen…aber es heißt nicht, ob er das gut oder schlecht findet. Ob er es bewundert…oder ob er es verabscheut. Ich…mag seine Gegenwart…aber…seine Art…seine kühle Ausstrahlung…ist undefinierbar. Sie sagt gar nichts über ihn aus… Vielleicht…lügt er mich auch ganz unverblümt an und ich merke es nicht mal. Als wir die Bar verlassen, begleitet er mich noch bis zur U-Bahn-Station. Ich weiß nicht genau, weshalb…wahrscheinlich weil er unser Treffen noch solange wie möglich in die Länge ziehen will. Dagegen habe ich nichts. Aber ein paar Meter vor dem Bahneingang und der Menschenmasse bleibt er fernab vom Straßenlicht stehen. Ich drehe mich fragend zu ihm um. Ausweichend starrt er auf den Boden. „Tatsuro? Was ist los?“ Er erhebt seinen Blick wieder. Ich schrecke leicht zurück, als seine Augen kurz aufblitzen und er einen Schritt direkt auf mich zugeht. Wie erstarrt bleibe ich an der Stelle. Auch er hält wieder inne. So…als sei ihm gerade etwas eingefallen. Er schaut kurz über seinen Rücken und seine Lippen ziert ein leichtes Lächeln. „Ich muss in die andere Richtung. Die paar Meter schaffst du auch noch alleine, oder?“ Ich atme wieder und lache leise auf. Ich…hatte doch jetzt nicht gerade wirklich den Atem angehalten, oder?? „Achso…ja…dann bis bald?“ „Bis bald.“ Da geht er. Wieso benehme ich mich nur so dämlich?? Immernoch unfassbar von meinem lächerlichen Aussetzer gehe ich zur U-Bahn. Ich hatte doch nicht wirklich für einen Bruchteil einer Sekunde so etwas wie… …wie…Angst? Nein. Das wäre doch völlig unsinnig. Kapitel 3: Zwischending ----------------------- „Mist…Die Pause ist schon längst vorbei. Ich muss zurück!“ Ich blicke auf die Uhr im Gang, während der gut gebaute Tontechniker nach mir aus der Besenkammer tritt. Er lächelt mich schwärmend an. „Sehen wir uns morgen wieder in der Pause?“ Ich erwidere seinen Blick mit einem Grinsen. „Klar.“ Und falls ich morgen keine Lust haben sollte, lass ich ihn eben fallen. Meistens schnappe ich mir den Fotografen…aber heute hat es mir einfach der Techniker am Computer angetan… Nicht das ich irgendwie jeden Tag einen anderen Mann nehmen würde…aber ich sehe nun mal sehr gut aus und habe auch dementsprechend viele ebenfalls gutaussehende Verehrer. Überall. Also wieso nicht wählerisch sein? Was ich auch…meinen Bandkollegen nicht verheimliche…Ein bisschen Angeben muss einfach sein. Eilig spurte ich zurück in das Bandzimmer, in dem meine Freunde schon ungeduldig warten. Besonders Kais verengte Augen machen mir etwas Sorgen… Der Leader ist nämlich sehr streng…wenn es um Verspätungen geht. Also jeden Tag. „Na? Wie war unser Fotograf heute?“ Ich grinse ihn verschmitzt an, während die anderen nur schmunzelnd die Köpfe schütteln. „Tontechniker.“ Kais Augen werden noch eine Spur enger… „Was auch immer.“ Ich betrachte den einzigen freien Platz auf der Couch…der zufällig genau neben dem Leader ist…Zwischen dem Leader und Aoi. Mutig und gefährlich nahe an Kai setze ich mich dort hin und lehne mich lässig zurück. Ich weiß, das er jetzt eine Entschuldigung erwartet…aber stattdessen werfe ich ihm nur die Antwort auf die vorangegangene Frage entgegen. „Er war verdammt gut. Oh ja…das war er…“ Sofort dreht er sich so schnell mit einem tödlichen Blick nach mir um, dass ich vor Schreck auf Aois Schoß springe, der sich selber erschreckt. „Diese Verspätungen dulde ich nicht mehr, Uruha!!! Deinen Sex kannst du auch zu Hause haben, aber nicht hier auf der Arbeit!!! Zeig endlich VERANTWORTUNG!!!!!“ „Gomen nasaiiii!!“ Übertrieben sarkastisch schmeiße ich mich vor ihm auf den Boden und verlange nach Vergebung. Als Strafe haut er mir mit einem seiner Drumsticks auf den Kopf…während die anderen darüber belustigt lachen. Nichts was man nicht überlebt. Eigentlich…geht es so jeden Tag bei uns zu… Lachend stehe ich wieder auf und renne zu meiner Gitarre. So als wäre nichts gewesen. „Also auf was wartet ihr denn alle?? Weiter mit dem Proben!“ Und wir proben weiter… Zum Glück verfliegt Kais Wut immer schnell wieder. Aber…bei Ruki ist das leider nicht so… Er redet seit ein paar Tagen nicht mehr mit mir…Natürlich immer noch deswegen, weil ich mich mit jemanden aus Universal Music treffe… Aber wie lange wird er das noch durchziehen wollen bzw. können?? Irgendwann muss er wieder mit mir reden… Nach der Probe gehe ich zu ihm, doch er weist mich nur ab. „Hey Ruki! Bleib doch stehen…“ Tut er natürlich nicht. Binnen einer Sekunde ist er schon aus der Tür. Ich eile ihm noch bis zur Türschwelle hinterher. „Heeey!! Vielleicht bist du ja auch einfach nur eifersüchtig??!“ Bevor er um die Ecke biegt zeigt er mir noch seinen Stinkefinger. Ich seufze auf und blicke leicht deprimiert zu den Anderen, die Rukis abweisendes Verhalten mitbekommen hatten. „Du solltest ihm besser noch etwas Zeit lassen…“ „Genau, er wird sich schon wieder beruhigen.“ Unglaubwürdig werfe ich Aoi einen Blick zu. Wieso habe ich nur das Gefühl…dass er genau das nicht tun wird? „Na hoffentlich…“ Etwas genervt lehne ich mich an die Tür. Wegen dieser alten Geschichte zu streiten…ist doch lächerlich. Doch wie kindisch es auch sein mag…ich kann nicht einfach klein beigeben. Es geht nicht… Ich versuche mich zu beruhigen und hole meine Umhängetasche. An der Tür warten die Anderen auf mich und wir gehen zusammen aus dem Gebäude. Wir verabschieden uns voneinander, doch Reita bleibt bei mir stehen. „Sag mal…bist du wirklich mit Tatsuro befreundet?“ Verunsichert zupfe ich an meiner Jeans. Wieso habe ich diese Vorahnung, dass dieses Gespräch ein schlechtes Ende nehmen wird? „Ach, wir treffen uns mal hier, mal dort…aber wir haben bisher eigentlich nicht sehr viel miteinander geredet.“ Es waren bisher genau 4 Treffen gewesen. Aber so genau braucht er das nicht zu wissen… Ist sowieso blödsinnig von mir, jedes einzelne Treffen zu zählen. Verwirrt schaut er mich an. „Also…schläfst du nur mit ihm?“ Ich schrecke auf und starre ihn empört an. „Nein!“ Nun ist Reita derjenige, der mich verblüfft ansieht. „Aber…abgesehen von flüchtigen Begegnungen, pflegst du doch keine richtigen Bekanntschaften! Bei dir heißt es doch nur: Entweder Freundschaft oder Affäre. Bei dir gibt es doch kein Zwischending!“ Ohne noch mal darüber nachzudenken, schießt meine Antwort schon heraus. „Er ist ja auch ein Freund von mir!“ „Ach, jetzt aufeinmal? Vorher hieß es noch, dass ihr gar nicht miteinander redet!“ Leicht wütend verschränke ich die Arme. Seine angehobene Stimme gefällt mir nicht. Will er sich jetzt genauso wie Ruki in meine Angelegenheiten einmischen?? „Wir verstehen uns eben auch ohne Worte!“ Fast verächtlich muss er einen Lachlaut von sich geben. „Ha! Gebe doch einfach zu, dass er nur einer von deinen Männern ist. Wobei ich das nicht ganz nachvollziehen kann…Der Kerl ist doch nicht mal hübsch.“ Langsam aber sicher, merke ich die Wut in mir aufsteigen. Ich springe schließlich nicht mit jedem ins Bett! Nur mit…fast jedem. Außerdem was kann ich denn dafür, wenn jeder etwas von mir will?? Und um das Wichtigste nicht zu vergessen: Schönheit ist Ansichtsache! Was in diesem Fall jedoch eh egal ist. „Er ist ein Freund, verdammt noch mal! Ein Freund!“ Reita verzieht zweifelnd das Gesicht. „Und ihr redet so gut wie gar nichts miteinander? Hockt einfach da und starrt euch stumm an?“ Wie kann er das nur so abwertend sagen?? „Ich liebe aber seine schweigsame Art!! Ich fühle mich bei ihm wohl...“ Gegen Ende des Satzes nimmt meine Stimme ab bis sie ganz verstummt. Reita hebt eine Augenbraue…Peinlich berührt senke ich den Kopf… Habe ich das jetzt wirklich gesagt…? „Uruha…“ Abrupt sehe ich ihm wieder in die Augen. „Schweigsam dasitzen ist übrigens leicht übertrieben! Wir sagen schon manchmal was! Er ist schließlich kein toter Fisch oder so was.“ Abwehrend erhebt Reita die Hände. „Uruha. Wenn du diese Bekanntschaft, Affäre, Freundschaft, stummes Aufeinanderhocken oder was auch immer wirklich nicht nötig hast, dann beende es. Tue es doch wenigstens für Ruki…bitte. Als ob du nicht genug Auswahl hättest…“ Ein trauriger Schimmer spiegelt sich kurz in seinen Augen wider, doch ich kann nicht nachgeben. Ich gebe niemals nach. „Ruki soll sich nicht so anstellen.“ Ich winke dem Bassisten ignorierend zu und gehe dann. Ich weiß, dass er noch gerne weiter geredet hätte…über Ruki und mich…aber darauf habe ich jetzt echt keine Lust. Dieser soll sich doch endlich mit der Situation abfinden und die Vergangenheit ruhen lassen! Nachdenklich… …streife ich wieder mal durch die belebten Straßen. In Gedanken… …an Tatsuro. Nur verschwommen sehe ich die anderen Passanten an mir vorbeilaufen. Ich frage mich…was das jetzt eigentlich zwischen uns ist? Das Gespräch mit Reita hat mich aufgeweckt. Er meinte…es gäbe kein Zwischending bei mir…Also ist Tatsuro jetzt wirklich ein…Freund? Also eine Affäre habe ich nicht mit ihm. Diese Treffen…an denen wir so gut wie gar nicht miteinander reden… Ich mag diese Treffen. Anscheinend so sehr, dass ich mich verpflichtet gefühlt hatte, diese vor Reita zu verteidigen… Aber…was sind sie genau?? Und…was sind sie für Tatsuro? Braucht…Tatsuro einfach nur jemand, mit dem er…irgendwo rumsitzt? Oder…bin ich vielleicht derjenige, der so was braucht…? Was…hat das alles für einen Sinn? Ich verstehe nicht, wieso ich mir darüber überhaupt Gedanken mache. Anscheinend…kenne ich mich mit Zwischendingern wirklich nicht so gut aus... Erschöpft von meinen Gedankengängen, bleibe ich ohne es wirklich zu registrieren vor einem Gebäude stehen… Einem Musikladen. Kapitel 4: Einladung -------------------- Die CD fängt an zu spielen. Müde schließe ich die Augen… … Nach den ersten 3 Liedern drehe ich mich traurig zur Seite. Nicht…das mir die Songs nicht gefallen…oder…Tatsuros Gesangsstimme… Im Gegenteil, ich genieße es…aber… Ich drehe mich nun auf den Bauch und vergrabe mein Gesicht in das Kissen. …aber…es ist die Art wie er singt. Ich dachte…er könnte nicht so ergreifend singen…nicht so emotional…weil er doch so eine kalte Person war…aber…er kann es. Und das verdammt gut. Zu gut. Wenn er singt…ist er ein ganz anderer Mensch…ein warmer Mensch. Ein normaler Mensch mit Gefühlen…aber…wenn er nicht singt, ist er einfach nur kalt…ja beinahe schon leer und…abwesend. Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und betrachte es nachdenklich. Soll ich…? Ich würde so gerne…diese gefühlvolle Seite an ihm kennenlernen…aber…die werde ich wohl niemals erreichen… Ich bin dieser Herausforderung einfach nicht gewachsen… Tss…Das wäre das erste Mal in meinem Leben. Mit mir selbst lächelnd wähle ich seine Nummer. Will…mir noch mal den Kontrast vor Augen halten…Seine normale Stimme gegenüber seiner Gesangsstimme… Die beide…in irgendeiner Weise für mich beruhigend wirken. Einmal… Zweimal… Dreimal… …klingelt es an. Ich höre auf zu zählen. Doch Tatsuro geht trotzdem nicht ran… Es ertönt auch keine Mailbox… Nach einiger Zeit bricht die Verbindung ab. Regungslos bleibe ich auf meinem Sofa liegen und lege das Handy leise neben mir auf den Tisch. Vielleicht wird er zurückrufen… DingDong! Ich drehe mich wieder auf den Rücken. Kann sein, dass ich etwas eingenickt bin… „Herein!“ Ich weiß nicht wer vor der Tür steht. Aber für meine engsten Freunde habe ich einen Schlüssel anfertigen lassen…und falls derjenige aber keine enger Freund ist und nicht reinkommt…Dann Pech. Auf irgendwelche Verehrer kann ich jetzt gut verzichten. Dann erblicke ich wieder das Handy auf dem Tisch. Oder ist es…? Nein. Ich verwerfe diesen absurden Gedanken sofort wieder. Klack Ich höre wie die Tür aufgeschlossen wird. Also…ein enger Freund. Natürlich. Gähnend klopfe ich leicht das Kissen aus, um es wieder etwas in Form zu bringen. Vor Schreck wäre ich fast vom Sofa gefallen, als plötzlich niemand anders als Ruki mein Wohnzimmer betritt. „Redest du jetzt etwa wieder mit mir??“ Hoffnungsvoll… „…“ Also…doch nicht. Ich verstehe nicht, was er dann hier will… Wartend schiebe ich mir das Kissen wieder unter den Rücken und lehne mich zurück, als unerwartet die Musikanlage wieder angeht. Ich hatte mich auf die Fernbedienung gelegt. Mit offenem Mund starre ich Ruki entsetzt an, denn es wird wieder die CD abgespielt… Regungslos bleibt dieser immer noch an der Stelle stehen und lauscht der Musik. Ich erwarte jede Sekunde ein Donnerwetter…aber…er scheint wohl die Musik von Mucc nicht zu erkennen… Ich muss lächeln. „Hört sich gut an, nicht wahr?“ Er schaut mich nun an…aber sein Gesicht ist eher erzürnt als zustimmend… „Denkst du…ich erkenne die Musik nicht? Diese Stimme…? Der Song, der gerade spielt, läuft im Rock-Sender rauf und runter…“ Mist…Schnell versuche ich meine Unsicherheit zu überspielen. „Ach, willst du mir dann jetzt wieder deinen Stinkefinger zeigen?“ Ja…ich kann einfach meinen Mund nicht halten! Ängstlich drücke ich mich ins Sofa rein…darauf gefasst, gleich angeschrien zu werden. Doch…Ruki bleibt erstaunlicherweise ruhig. Stattdessen…sehe ich tiefe Enttäuschung in seinen Augen…die mich fast dazu bewegt hätte, einfach aufzuspringen und mich zu entschuldigen…doch…wie erstarrt bleibe ich liegen. Ich kann es nicht. Ich kann mich nicht entschuldigen… Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verlässt er wieder meine Wohnung, ohne jeglichen Versuch meinerseits ihn aufzuhalten. Schuldig fühlend seufze ich. Ich…würde so gerne wieder mit ihm reden…diese ellenlangen Unterhaltungen führen…mir seine lustigen Witze anhören…sein Lachen wieder hören…sein fröhliches Gesicht erblicken…aber stattdessen… …weicht er jeder Unterhaltung mit mir aus. Und was tue ich…?? Energisch schalte ich die Musik ab. Garnichts. Ich lasse es stumm zu. Dann frage ich mich…ob es das alles überhaupt wert ist? Ob es…Tatsuro…überhaupt wert ist…? Dann vibriert mein Handy. Laut erklingt der seltsame stockende Laut auf den Tisch… Verwundert blinzele ich erstmal, bevor meine Hand nach vorne greift und sich das Mobiltelefon schnappt. Nicht als ob ich mir das aussuchen könnte…Es ist pure Neugier. Ich atme hörbar aus, als ich Tatsuros Namen über der Nachricht lese. Da wird mir von den einen auf den anderen Augeblick wieder bewusst, dass es Tatsuro sehr wohl wert ist… Wie wunderlich…das doch ist. Seine SMS: Du hast mich angerufen? Leise muss ich kichern. Er hätte auch einfach zurückrufen können…aber ich weiß ja, dass er nicht sehr gesprächig ist. Ich habe mich vom Sofa aufgesetzt und fühle mich jetzt hellwach. Das kommt mir seltsam vor, also lege ich mich wieder hin. Diese…unerklärliche Sehnsucht nach ihm, die mich heute schon unbewusst den ganzen Tag lang verfolgt hat und mich scheinbar die CD hat kaufen lassen…zeigt mir nur wie dumm ich doch eigentlich bin. Und dennoch…kann ich meine Finger nicht von den Tasten lassen. Meine Antwort: Wann wollen wir uns wieder treffen? Ich tippe mit den Fingern auf den Tisch, als das Handy schneller als erwartet wieder vibriert. Seine SMS: Wann immer du willst. „Wann immer ich will?“ Er schafft es wieder mich zum Kichern zu bringen. „Du Spaßvogel.“ Meine Antwort: Jetzt. Diesmal kommt auch nach einer Minute keine Antwort mehr…und ich nicke mir wissend zu. „Sage ich doch, dass du ein Spaßvogel bist.“ Meine Antwort: War doch nur Spaß. Also wie wäre es mit morgen? Nach der Arbeit? Ich hole dich auch wieder ab. Ich setze mich wieder leicht auf und strecke mich zerknirscht. Erwartungsvoll lese ich die nächste Nachricht. Diese hat auf sich nicht solange warten lassen. Seine SMS: Ich dachte…du wolltest mich „jetzt“ sehen? Jetzt…hier…sofort. Ich verdrehe die Augen. Als ob er so schnell zu mir kommen könnte. Meine Antwort: Also morgen nach der Arbeit? Ich möchte dich gerne zu mir einladen. Du warst noch nicht bei mir. Wenn du willst, könnten wir uns irgendeinen Film reinziehen? Das kommt mir irgendwie gemütlich und einfach vor. In der Nähe von mir gibt es auch eine Videothek. Die haben immer die neuesten Sachen. Außerdem glaube ich auch, dass sich durch meine Einladung unsere Freundschaft etwas festigen könnte. Seine SMS: Gerne. Dann bis morgen. Zufrieden stehe ich auf und schalte die Lichter aus. Ich hoffe…er steht auf Horrorfilme. Kapitel 5: Eiskalt ------------------ Grinsend fahre ich durch die Straßen von Tokio. Auf dem Weg zum Gebäude von Universal Music. Mit einer Hand ziehe ich kurz etwas an den Rückspiegel und betrachte mein grinsendes Gesicht. Auf der Suche nach irgendeinem Makel…welches bei mir natürlich nicht existieren kann. So finde ich auch nichts. „Oh mann…“ Ich kann nicht glauben, dass ich gerade wirklich noch gepfiffen habe… Ich pfeife sonst nur nach gutem Sex…wenn überhaupt. Normalerweise bin ich nicht so der „Pfeifmensch“. Klingeling Stöhnend schaue ich auf das Handy, das auf dem Armaturenbrett liegt. Ich telefoniere nur sehr ungern beim Autofahren. Es ist nicht so das ich Angst vor einem Unfall hätte oder so…aber…naja…vielleicht ist es doch genau das. Ich tratsche eben ungemein gerne und lasse mich schnell ablenken. Besonders wenn mir eh schon so viel im Kopf herumschwirrt. Doch meine Neugier übermannt mich mal wieder und ich muss kurz am Straßenrand halten. Zügig greife ich nach dem Telefon. „Moshi-Moshi?“ [Hey, Uruha.] Ich unterdrücke ein lautes Seufzen. Reita ist wirklich der Allerletzte mit dem ich jetzt reden will… Doch ich versuche freundlich zu bleiben. „Na, Rocky. Hast du jemanden wieder mal verprügelt?“ So freundlich…wie es eben geht. [Ha…ha. Sehr witzig. Ich wollte dich nur fragen, ob du heute nicht Lust hast mit mir und Aoi ins Kino zu gehen?] „Oh, sorry…Ich hab heute schon was vor.“ Seine Antwort kommt abrupt. [Mit Tatsuro?] Ich verziehe das Gesicht. „Und wenn??“ [URUHA!! Du solltest es doch beenden!] Ich lege auf. Unverständnis. Wie oft muss ich mir das noch antun? Wieso…können sie mich damit nicht endlich in Ruhe lassen?? „Willst du irgendwas trinken?“ „Nur Wasser, bitte.“ Ich gehe lächelnd in die Küche und fülle zwei Gläser mit Wasser ein. Irgendwie…werde ich das Grinsen heute wohl nicht mehr los… Als ich wieder ins Wohnzimmer gehe, hat er es sich auf dem Kanapee bequem gemacht und hat…die leere CD in der Hand. Ich hatte sie dort blöderweise liegen gelassen… Peinlich berührt bleibe ich mitten im Zimmer stehen. „Du hast unser Album gekauft?“ Ich schlucke und fühle mich von seinem wissenden Blick durchbohrt. Übertrieben lässig winke ich ab und hätte dabei fast die Gläser verschüttet. „Ich…wollte nur hören, wie du singst.“ Das ist die Wahrheit. „Achso.“ Stumm halten wir unsere Blicke. Dann endlich wendet er sich wieder ab und schnappt sich nun die aktuelle Neo Genisis - Ausgabe, die ebenfalls auf dem Tisch liegt. Ich dachte, ich hätte aufgeräumt…aber anscheinend nicht gut genug. „Bin ich…denn gut?“ Von der Starre erlöst, hätte mich seine beiläufige Frage fast zum Stolpern gebracht. Ob ich heute die Gläser noch heil zum Tisch befördern werde…? „…Ja. Ich finde dich sehr gut sogar.“ Mit gesenktem Kopf stelle ich ihm das Wasser hin und setze mich mit meinem Glas neben ihm. Er tippt kurz auf die Vorderseite des Magazins, indem er schon leicht geblättert hat. „Ihr seid auf dem Cover.“ Ich fahre mit einem Finger über die beschlagene Schicht meines Glases. Ob das Wasser vielleicht etwas zu kalt ist? „Ja, wir sind oft bei denen. Wenn wir ein Fotoshooting und das Interview machen, kriegt immer jeder von uns eine Ausgabe geschenkt.“ Ich setze mich dichter an ihm, um mit in die Zeitschrift sehen zu können. Es kommt mir wie ein lächerlicher Vorwand vor… Aber ein Vorwand…für was? Statt auf das Magazin zu achten, muss ich noch ein weiteres Stückchen näher an ihm rücken. Ich verstehe selber nicht, wieso ich ihm so auf die Pelle rücken muss…Sowas mache ich doch bei meinen Freunden nicht… Ich erwarte, dass Tatsuro etwas wegrückt…aber er ist wohl zu sehr auf das Magazin fixiert. Dies nutze ich aus, um etwas an ihm zu schnuppern, was er anscheinend auch nicht bemerkt. Sein Parfüm…riecht einfach verdammt gut… Es ist mir vorher noch gar nicht aufgefallen. Leicht grimmig presse ich die Lippen aufeinander, als mir meine kurzzeitige Trance auffällt…So ein betörendes Parfüm sollte er schließlich nicht tragen! Ich darf so was…aber doch nicht er. „Das ist euer Sänger?“ Ich schaue nun widerwillig auf das Magazin. „Ja, das ist Ruki. Aber Vorsicht…Er kann sehr launisch sein!“ Ich lache kurz. Und auch er lässt ein Schmunzeln erklingen. Es tut gut, Tatsuro lachen zu sehen…Es ist zwar kein richtiges Lachen…aber wenigstens eine Emotion. Trotzdem muss ich kurz an Ruki und an sein enttäuschtes Gesicht denken… „Und das ist euer Schlagzeuger?“ Ich lächle wieder. „Kai. Er ist zugleich unser Bandleader. Er nimmt seinen Job sehr ernst. Vielleicht etwas zu ernst…“ Tatsuro nickt leicht. „Nein, das ist gut so. Das zeigt, dass er ein guter Bandleader ist.“ Etwas beschämt streiche ich mir über den Arm. Kurz kommt mir nämlich in den Sinn, dass ich Kai womöglich nicht angemessen schätze. Aber nur kurz. Zu kurz, als das ich daran festhalten könnte. „Mag sein.“ Tatsuro ist schon auf der nächsten Seite. „Und das?“ Mein Blick streift nur kurz über das Foto. „Das ist Aoi. Er spielt auch Gitarre.“ Als sein Blick hingegen nun schon länger als üblich auf Aoi verweilt…werde ich ohne jeglichen Grund etwas nervös. „Er…gehört zu meinen besten Freunden.“ Wie alle meine Bandmitglieder… Doch Tatsuro schaut weiterhin auf das Bild. „Er ist hübsch.“ Schnell reiße ich ihm das Magazin aus den Händen. „Das reicht jetzt…“ Doch meine Stimme versagt, als er mich durchdringend ansieht. Schnell versuche ich meine Stimme wiederzufinden und schaffe es zum Glück. „Ich meine…wir wollten uns doch einen Film ansehen, oder nicht? Ich habe mir extra einen tollen Horrorfilm ausgeliehen.“ Ich stehe auf und will die Zeitschrift weglegen, als er mich am Handgelenk festhält. „Tatsuro?“ Er zieht mich zu sich, sodass mir das Heft aus der Hand fliegt und ich mich zu ihm runterbeugen muss. In fast schon einer beängstigenden Ruhe betrachtet er mich sorgfältig und streicht mir mit seinem kalten Finger über die Wange. Die plötzliche Kälte jagt mir einen kurzen Schauer über den Rücken…und doch…kann ich mich nicht von ihm abwenden… „Aber seine Schönheit kann sich niemals mit deiner messen. Ich dachte…das wäre klar.“ Seine tiefsinnigen Augen sind wie ausgewechselt…Sie erscheinen nun lebendig und voller Begierde. Es verunsichert mich…aber…ich kann mich nicht aus seinem Bann befreien und diesem intensiven Blick entkommen. Mir kommt nicht einmal dieser Gedanke…sich befreien zu wollen. Langsam vorantastend spüre ich seinen Atem auf meinen Lippen, ohne dass sich unsere wirklich berühren. Erwartungsvoll schließe ich die Augen, doch dann ist er schon an der Seite von meinem Kinn und wandert meinen Hals hinab. Nur kurz stupsen seine weichen Lippen an meiner Haut…aber kurz genug, dass es mich erschreckt. Wieso? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht woher dieses plötzliche Unbehagen kommt…dieser plötzliche Wille…sich zu entreißen. Hektisch reiße ich mich los und schaue ihn schockiert an. „W…Was tust du da??“ Ich schrecke auf, als er sofort aufsteht. Ängstlich gehe ich ein paar Schritte zurück, doch es entsteht kein Abstand, da er diesen mit zügigen Schritten wieder aufholt. Dann muss ich empört aufkeuchen, als er mich nun kraftvoll am Arm packt und mich eindringlich anstarrt, während mein Herz laut gegen meinen Brustkorb hämmert. Da ist sie wieder…diese Angst… Sein Gesicht ist wutverzerrt, während seine Augen vor beängstigender Gier aufblitzen. Ich wusste gar nicht, dass mich ein Blick so einschüchtern und zugleich so beeindrucken könnte. „Was…willst du eigentlich von mir?“ Meine Stimme zittert. Sein urplötzlicher Stimmungswandel ängstigt mich. Es kommt mir so vor, als wäre er wie ausgewechselt. Dann scheint er wohl zu registrieren, was er da tut und lässt mich los. Wieder wie der Alte…wie der Tatsuro, den ich kenne, blickt er mich nun ruhig an. „Entschuldige.“ Verunsichert halte ich meinen Arm an der schmerzenden Stelle, wo er mich gerade noch festgehalten hat…doch der Schock muss mir noch ins Gesicht geschrieben stehen. „Du…solltest besser gehen.“ Ohne Protest nickt er nur und geht anschließend an mir vorbei…der betörende Geruch seines Parfüms steigt mir wieder kurzweilig in die Nase. Am Türrahmen bleibt er noch kurz stehen. „Wenn du jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben willst…dann verstehe ich das.“ Nicht mehr…also…nie mehr wieder? „Ta…“ Doch bevor ich was sagen kann, ist er schon verschwunden. Wieso habe ich nur das Bedürfnis ihn aufzuhalten, obwohl er sich gerade so benommen hatte...? Und wieder dieselbe Frage… Doch…was für einen Sinn sollte das ergeben? Ich halte ihn schließlich nicht auf und höre wie die Tür geschlossen wird. Ich sollte froh sein, dass er weg ist. Weg von mir. Ja…sollte. Doch ich weiß gar nicht was ich von ihm halten soll… Seine plötzliche Nähe…meine Abweisung…wie er beängstigend auf mich zugekommen ist…die ganze Situation… Mit fest zusammengekniffenen Augen warte ich, bis sich mein Herz langsam wieder beruhigt…und in einem normalen Rhythmus schlägt. Aber das Seltsamste…war… Er war so kalt…eiskalt. Sein Atem. Kapitel 6: Entscheidung ----------------------- Geistig abwesend gehe ich ins PS Company Gebäude… …eigentlich bemerke ich gar nicht wo ich hingehe…bis ich fast gegen unsere Bandtür gelaufen wäre. Mir schwirren so viele Dinge im Kopf herum…Ich befürchte, dass ich mich heute nicht allzu sehr auf die Arbeit konzentrieren kann… Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich blicke auf und sehe in das Gesicht von Reita. Er wirft mir einen warnenden Blick zu und drückt meine Schulter…bevor er vor mir ins Bandzimmer verschwindet. Ich grinse nur schwach…denn seine Warnung beeindruckt mich kein bisschen. Es lässt mich kalt. Kalt… „Heute kommt ein Reporter von einer Rockzeitschrift.“ Ein Interview…Ich werde mich so gut wie es geht heraushalten. „Und nachher...haben wir noch eine Besprechung mit dem Manager bezüglich der neuen Single. Später werden wir dann bis Feierabend wieder proben.“ Kai erzählt uns jeden Morgen den Tagesablauf… Und heute…werden wir wohl den ganzen Tag…in diesem Gebäude festsitzen. Ich habe keine Lust…aber was muss, das muss. Vielleicht…wird mich die Arbeit doch etwas ablenken können. Wenigstens etwas. Beim Interview schweifen meine Blicke manchmal zu Ruki…der bemerkt diese…schaut zurück. Aber nur um mir seinen bösen Blick zu präsentieren. Wieso macht er das? Am liebsten würde ich seinen Ipod manipulieren und alle Alben von Mucc draufladen… Betrübt versuche ich meine düsteren Pläne beiseite zu schieben und wieder dem Interview zu folgen, das anscheinend nur Kai und der Reporter führen. „Kai hat Recht. Genauso ist es.“ Aoi gelegentlich auch. Er macht eigentlich nur Zustimmungen…wahrscheinlich aus Langeweile. Und Reita? Vorsichtig lasse ich meinen Blick zu ihm schweifen und kassiere sofort einen weiteren tödlichen Blick. Wie es wohl aussieht haben sich nun Reita und Ruki verbunden und sich gemeinsam gegen mich verschworen…und das nur wegen…wegen… Leise seufzend blicke ich auf meine Hände, die Däumchen drehen. Dann streiche ich mit der Hand unter den Ärmel über die schmerzende Stelle, die einen blauen Fleck aufweist. Ich…war einfach nicht darauf gefasst gewesen…dass er… Ja, was wollte er eigentlich machen? Zuerst dachte ich…er würde mich küssen…aber das hat er sich dann nicht getraut…oder…wollte er mich gar nicht küssen? Vielleicht war es gar nicht seine Absicht gewesen…aber…was sollte es denn dann gewesen sein? Vielleicht spielt er nur mit mir… Nein…das passt gar nicht zu ihm. Oder…doch? Verwirrt kratze ich mich am Kopf. Ich…wusste einfach nicht genau, was das zwischen uns war. Wenn ich es wüsste…hätte ich bestimmt anders reagiert…Aber…seine Reaktion…nachdem ich ihn abgewiesen hatte… Sie war so beängstigend und überraschend gewesen. Hastig versuche ich die aufkommenden Bilder zu verdrängen und mich zu konzentrieren. Ich muss versuchen meine Gedanken irgendwie zu ordnen. Dieses Chaos ist kaum zum Aushalten. Also…was ist das jetzt zwischen uns? Wie es wohl aussieht will er was von mir…sonst hätte er nicht so einen misslungenen Kussversuch gestartet. Und ich…ich…habe ihn abgeschlagen, weil…hm… …er ein sehr brutaler Mensch ist! Verzweifelt versuche ich wieder einen klaren Kopf zu bekommen und schüttele diesen. Nein, weil mir das Ganze langsam zu viel wird. Nein, die Wahrheit ist, weil er ein Freund ist. Genau. Er ist ein Freund. Hm…bin ich mir denn sicher, dass er das ist? Über so was mache ich mir normalerweise nie so viele Gedanken. Ich verfolge immer eine klare Linie. Diese Linie heißt Freundschaft oder Affäre. Ganz klar und ganz einfach. So entstehen auch keine Missverständnisse. …Bei Tatsuro ist da wohl irgendwas schiefgelaufen… Als ich wieder aufblicke, starren mich die Anderen fragend an. Ohne auf sie groß zu achten, schaue ich ignorierend in die Luft, während sie das Interview wieder aufnehmen. Doch was…was soll ich jetzt tun? Ziellos wandere im Gang umher… ...bis ich vor einem hellen Fenster stehen bleibe und gedankenverloren in die Ferne blicke. Tatsuros Worte klingen mir in den Ohren… Wenn du jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben willst…dann verstehe ich das. Vielleicht…sollte ich wirklich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen… Immerhin hätte er mir fast das Handgelenk gebrochen, nur weil ich mich ihm entzogen habe… „Tss…noch schlimmer als Reita…“ Doch…er versteht es sogar…wenn ich den Kontakt mit ihm abbreche… Das heißt…er weiß, dass er sich…daneben benommen hat. Also ist er vielleicht doch nicht so schlimm? Was für ein Chaos… „Na du??“ Ohne Vorwarnung legt jemand die Arme um mich. Ich muss erst gar nicht hinter mich blicken, um zu wissen, dass es Aoi ist. Aoi… „Lass mich los!“ Mit zerknirschten Zähnen zerre ich an seinen Armen. Er lacht nur. Ich seufze. „Du weißt doch, dass ich das nicht mag…“ Er drückt mich noch einmal fest, dann lässt er mich endlich los. Wir blicken uns stumm an. Er völlig gelassen und mit einem leichten Grinsen auf dem hübschen Gesicht. Ich wütend. Dann geht er, während ich ihm grimmig hinterher schaue. „Oh, Uruha. Kommst du bitte kurz rein!“ Kai lugt aus einer offenen Tür und hat das Szenario anscheinend mit angesehen. Ich wollte weitergehen…wie ich es sonst auch getan hätte. Doch…erstaunlicherweise befolge ich seine Anweisung. Lächerlich…aber Tatsuros Worte erklingen mir wieder in den Ohren, als ich in den offenen Raum trete und Kai erblicke. Das zeigt, dass er ein guter Bandleader ist. Wie immer auch in der Pause in vollem Einsatz. Er hält verschiedene Stofffetzen in den Händen und in seinen Haaren haben sich farbige Fäden verfangen, während hinter ihm die schweren Gardarobenständer mit all unseren Bandoutfits ihn zu erschlagen drohen. Schnell eile ich hinter ihm und drücke die Ständer zurück. „Kai! Irgendwann wird dich dein Übermut noch umbringen.“ Lachend legt er die Stoffe auf den Tisch, der mitten im Zimmer steht. „Apropos umbringen. Vorher, da habe ich die Stoffe rausgesucht und da ist mir doch tatsächlich unser ganzer Stoffvorrat entgegen geflogen!“ Ich drehe mich zu ihm herum und ziehe ihm ein paar Stofffäden aus den Haaren. Die Fäden auf seiner Kleidung sollte man am besten erst gar nicht beachten. „Ja, so siehst du auch aus. Obwohl du weißt, dass du hier keine Schränke ohne Sicherheitshelm öffnen darfst…“ Mit einem mulmigen Gefühl muss ich an Aoi oder Reita denken, die beim Aufräumen einfach Dinge wahllos in den Schrank werfen und sofort die Tür zudrücken. Nicht an das arme Opfer denkend, das diesen Schrank wieder öffnen muss… „Uruha…Sag mal…was ist heute eigentlich mit dir los? Aoi…Er wollte dich doch nur trösten…“ Ich kneife die Augen zusammen. Er hat es also tatsächlich gesehen… „Wieso trösten?? Sehe ich etwa traurig aus??“ „Nein…jetzt nicht mehr.“ Sofort weiche ich etwas von ihm zurück. Verunsichert kratze ich mich am Nacken. Habe ich etwa wirklich…traurig ausgesehen? Um meine Irritierung zu überspielen, kümmere ich mich wieder um Kai und ziehe ihm die letzten Fäden aus den Haaren. „Du solltest wirklich besser auf dich Acht geben…“ Mit schiefgelegten Kopf schaut mich Kai an. „Du bist heute wohl echt mit dem falschen Fuß aufgestanden, oder? Du…machst dir doch sonst nie Sorgen um mich…“ Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist… Kai hat immerhin nicht Unrecht… Ich bin sogar derjenige, der ihn dazu auffordert, einer der Schränke zu öffnen! Und dann…wenn dieser am Boden liegt…noch mal draufzutreten. Ich unterdrücke ein Seufzen. Tatsuro beeinflusst mich eindeutig zu stark… Kai ist schon wieder über den Plänen für die neuen Bandoutfits und vergleicht die Stoffe. „Ach, ich habe dich übrigens hereingebeten, weil ich dich noch etwas fragen wollte…Bevor du dich mit dem Fotografen davon machst.“ Ich lehne mich gegen den Tisch und schaue ebenfalls auf die Pläne. Erstaunlich…aber ich habe heute tatsächlich noch gar nicht an den Fotografen gedacht… Wie seltsam. Aber keine schlechte Idee…Dann weiß ich ja, was ich mit der restlichen Pause anfangen kann… „Um was geht es?“ Er tippt auf die Ausarbeitung meines Outfits. Ich grinse, wenn ich daran denke, wie ich darin aussehen werde… „Mal wieder perfekt, nicht wahr? Es wird mir wieder ungemein schmeicheln…“ Kai verdreht die Augen. Er denkt, ich würde das vom Augenwinkel her nicht sehen. „Was soll die Hose noch mal für ein Stoff haben? Du hast vergessen es hin zu schreiben.“ Ich winke ab. „Natürlich Leder.“ Ich dachte das wäre klar, deswegen habe ich es nicht dazugeschrieben. Er kritzelt etwas auf einer Liste. Die Bestellliste nehme ich mal an. „Gut, dann hätte ich alles. Die Stoffe, die wir hier haben reichen nicht aus. Da muss ich was nachbestellen. Dann werde ich die ausgearbeiteten Skizzen und die Stoffe unserem Schneider übergeben.“ Schön, dann kann ich ja gehen. „Warte bitte noch.“ Mitten in der Bewegung erstarre ich. Der Fotograf wird bestimmt schon ungeduldig… „Was ich dich noch fragen wollte…“ Seine ernste Stimme lässt mich aufhorchen. „…heute beim Interview…Was…hat dich da so beschäftigt?“ Ich reiße mich zu einem Lächeln zusammen. „Ja, ich war in Gedanken. Ist aber nicht so wichtig. Darf ich denn nicht mal einen schlechten Tag haben? Oder wie du es so schön nennst: mit dem falschen Fuß aufstehen.“ Erleichtert faltet er die Stoffe zusammen. Doch dann bilden sich auf seiner Stirn wieder Falten. „Du weißt ja…ich bin der Bandleader. Und als Bandleader ist es meine Aufgabe auf euch aufzupassen…“ Ich unterdrücke ein Schmunzeln… Aber er hat Recht, das ist eine sehr wichtige Aufgabe… Ich war auch mal für eine kurze Zeit Bandleader…und ich war darin eine völlige Katastrophe. Gut, dass es Kai übernommen hat. „…und ich mache mir derzeit etwas Sorgen wegen dem Bandklima.“ Ich schlucke… Innerlich betend, endlich diesen Raum verlassen zu können… „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Kai. Wirklich. Das wird sich alles wieder einrenken. Ruki ist nur etwas sauer, weil ich mich ja mit einem aus Mucc treffe. Und Reita scheint sich jetzt mit ihm verbunden zu haben…Aber das wird alles schon wieder.“ Vielleicht werden die Zwei sogar noch eine Anti-Uruha-Kampagne gründen… Ach nein…haben sie schon längst. Besorgt stützt sich Kai mit den Händen auf den Tisch ab. „Bist du dir da sicher? Ruki scheint das alles nicht so auf die leichte Schulter zu nehmen…“ Ich klopfe ihm auf den Arm. „Wird schon. Wirst sehen. Und danke.“ Er hebt verwundert die Augenbrauen. „Danke?“ Ich zucke die Schultern. „Naja…Du weißt schon…Danke für alles und so…“ Entgeistert reißt er die Augen auf. Sowas ist er von mir gar nicht gewöhnt…und auch ich bin etwas von mir empört… Danke…gehört eigentlich nicht zu meinen Wortschatz. In diesem Moment hätte ich Tatsuro gerne zu Fassen bekommen… Kai stolpert nach hinten und hält sich an den Outfits fest, um nicht umzufallen. „Du…du…willst Sex von mir, nicht wahr?? Ist es das?? Reichen dir deine Affären etwa nicht mehr??“ Vor Entsetzen schreie ich auf. „N…nein!!“ Wieso denkt eigentlich immer jeder…dass, wenn ich mal nett bin, gleich von demjenigen Sex haben will?? Ok…bei meinen Affären ist das normal…aber doch nicht bei meinen Freunden! Und…ehe ich mich versehe…ist dieser lange, lange Arbeitstag ENDLICH zu Ende. Ich verabschiede mich von meinen Kollegen und bin blitzschnell aus dem Raum, ehe sie mein „Wiedersehen“ erwidern können. Nach dem stundenlangen Grübeln…bin ich nämlich zu einem Entschluss gekommen. Ich will ihn wieder sehen. Egal was war. Egal was ist. Denn ich will mehr von ihm wissen, ihn besser kennenlernen und herausfinden, wieso er so ist, wie er ist. Und wie er es schafft, mich so zu beeinflussen! Ich weiß…dass es dumm ist. Und ich weiß, dass es gefährlich sein kann. Doch wie schon gesagt… Neugierde… …ist mein größter Schwachpunkt. Kapitel 7: Ein neues Gefühl --------------------------- Frustriert schmeiße ich das Handy in die Ecke meines Zimmers. „Du Idiot!“ Erschöpft lasse ich mich auf das Bett fallen. Auch nach dem 100. Versuch geht er heute nicht ans Telefon. Und das schon seit einigen Tagen. Und das wiederum höchstwahrscheinlich absichtlich. Oder hat er sich schon ein neues Handy gekauft? Nein. Bekümmert vergrabe ich mein Gesicht ins Kopfkissen. „Niemand….niemand weist mich ab!“ Dann nach ein paar Sekunden fange ich mich endlich wieder und sitze mich schnell auf…mit einem frechen Grinsen im Gesicht. „Tss…Du denkst doch nicht wirklich, dass du mich so schnell wieder los wirst oder??“ Nun verlässt ein Kichern meinen Mund. Ich muss ihn endlich wiedersehen und ich weiß schon wie ich das am Besten anstelle. Ein Uruha lässt sich immerhin nicht so schnell unterkriegen… Summend und in bester Laune gehe ich die vollen Straßen entlang…immer näher meinem Ziel entgegen. Dann blicke ich wieder grinsend auf das mir bekannte Gebäude. Vorfreude und Aufregung durchströmen meinen Körper. Ohne zu Zögern laufe ich zielstrebig auf den Eingang zu und betritt diesen. Nach einigen Schritten begegne ich meinen alten Bekannten. „Hey, unbefugter Zutritt ist nicht erlaubt!“ Ich grinse ihn fröhlich an. „Hey, Takashi! Alles klar?“ Bei seinem Namen wird aus seinem ernsten Blick ein Stutzen. „Ach, du wieder!“ „Jep, genau der.“ Frech zwinkere ich ihm zu und husche an ihm vorbei. Er dreht sich noch einmal um, die Überraschung immer noch sichtbar in sein Gesicht gemeißelt. „Wieder zu Tatsuro?“ „Hai!“ Gekonnt elegant gleite ich die Stufen hoch und bleibe im 1. Stock stehen. Dort sehe ich die Bandzimmertür von Mucc und langsam steigt in mir die Spannung ins Unermessliche. Wartend lehne ich mich gegenüber der Tür an die Wand und blicke auf die Uhr. Übertrieben locker…so als würde mich das hier nicht so sehr interessieren. Als wäre das hier nicht wichtig…als würde es mir nichts ausmachen. Nicht mehr lange… Hibbelig werdend zupfe ich an meiner Hose. Ich kann die lockere Fassade nicht lange halten… Gleich ist Pause…und gleich werde ich ihn wieder sehen. Wie bei unserem ersten Aufeinandertreffen. „Tss…“ Wer hätte gedacht, dass ich hier wieder stehen werde? Und fast auf die Minute genau geht die Tür auf und… …ein kleiner Typ mit Kinnbart tritt aus dem Zimmer. Leicht verdutzt spannt er die Augenbrauen an. Erst blickt er nach links und dann nach rechts, bevor er mich fragend in die Augen sieht. Auch ich erwidere seinen Blick fragend…und so verharren wir für einige Sekunden in dieses bizarre und fragwürdige Szenario. Dann endlich löst er die Stille. „Wer bist du denn??“ Etwas beleidigt verschränke ich die Arme vor dem Körper und lasse eine kühle abweisende Stimme erklingen. „Ich gehöre zu Tatsuro. Wo ist er?“ Nochmal lässt er arrogant seinen prüfenden Blick über meinen Körper schweifen bevor er wieder die Tür öffnet und hineinruft. „Tatsu!! Da ist so ein komischer Typ hier, der dich sehen will!“ Mein böswilliger Blick trifft ihn am Hinterkopf. Dann endlich nach scheinbar endloser Zeit sehe ich ihn durch die Tür treten. Ihn…auf den ich gewartet habe. Ihn…wegen dem ich hier bin. Sofort muss ich den Atem stocken. Er hat seinen Blick auf seine Zigarette im Mund gerichtet, die er gerade mit einem Feuerzeug anzündet. Als er jedoch seinen Kopf hebt und mich erblickt, erstarrt er augenblicklich und verliert seine Zigarette, die er aber noch im Fall unglaublich schnell und reflexartig auffängt. „Du??!“ Hm…Heute scheinen alle bei meinem Anblick in blankes Entsetzen zu geraten… Der Mann mit dem Kinnbart hebt die Hände nach dem Motto >Ich habe damit nichts zu tun!< und rollt mit den Augen, bevor er genervt wieder ins Zimmer verschwindet und die Tür zuschlagen lässt. Ich stemme nun die Fäuste an die Hüfte. Unterstützend versuche ich auf den Zehenspitzen zu stehen, damit ich ihn wenigstens in gleicher Augenhöhe beschimpfen kann. „Wer war denn dieser unfreundliche Kotzbrocken?? Kein Wunder, dass du bei solcher Gesellschaft, immer so kühl bist!“ Nun ist es Tatsuro, der die Augen verengt. „Pass auf was du sagst. Das war Miya, unser Gitarrist.“ „Huuu.“ Sauer verfestige ich meine Fäuste, während er nur den Kopf schüttelt. Dass meine Beine nach kurzer Zeit nachgegeben haben und ich wieder zu ihm rauf schauen muss, verbessert meine Laune nicht gerade. „Willst du mir jetzt hier eine Szene spielen?“ Da platzt es aus mir raus. „Ich?? ICH??? Wer bitteschön hat letztens eine Szene gespielt, hm?? Du hättest mir fast das Handgelenk gebrochen! Und außerdem bist du seit Tagen nicht an dein Telefon gegangen!“ Er nimmt schulterzuckend einen Zug. Unbeeindruckt von mir… „Ja, und das absichtlich. Ich dachte, du würdest das bemerken.“ Doch zutiefst verletzt, presse ich nun meine Fäuste an die Seiten. In einem Bruchteil einer Sekunde habe ich nicht Tatsuro, sondern mich vor mir stehen. Jemand…dem es völlig egal ist, was Andere denken oder fühlen… „Was soll das, Tatsu??? Du hast mir gesagt, dass du verstehen würdest, wenn ich nichts mehr mit dir zu tun haben will…und dann bist du derjenige, der den Kontakt einfach abbricht!“ Gelassen zieht er an seiner Qualmstange. „Erstens, nenn mich nicht Tatsu. Und zweitens, ich sollte wohl eher dich fragen, was das soll. Jeder normale Mensch hätte den Kontakt abgebrochen. Ich habe nichts anderes von dir erwartet. Doch du…du überrascht mich. Du…weißt einfach nicht, was gut für dich ist.“ Ich knirsche mit den Zähnen…wie ein Tier, das in eine Ecke gedrängt wird. „Ich kann selber entscheiden, was für mich gut ist!“ Mit einem ruhigen sachlichen Ton beginnt er zu erklären, das mir wieder einen schmerzvollen Stich zusetzt. „Glaub mir, es ist besser so. Nein…es ist sogar notwendig, dass es so ist wie es jetzt ist. Wir sollten uns nicht wiedersehen. Noch besser, wir haben uns niemals kennengelernt.“ Zu meiner Verwunderung muss ich doch mit wässrigen Augen kämpfen. „Wie kannst du so was nur sagen…? Niemand weist mich ab…Du…du solltest dich doch glücklich schätzen! Ich bin ungemein beliebt! So viele wollen mit mir Kontakt haben!!“ Nur du nicht… Ohne auf meine Frage zu achten, dreht er sich um. In mir steigt der Drang auf, ihn einfach zu umarmen. Ihn…festzuhalten. Ihn…daran zu hindern, für immer wegzugehen… Doch, da ist sie wieder. Diese…tiefsitzende Sturheit…sich nicht ergeben zu wollen…keine Schwäche zu zeigen…egal…wie sehr es mich auch zusetzen wird. Egal was kommt. Ich will immer Recht haben und Recht behalten. Er kann mich nicht in die Knie zwingen…egal wie sehr ich der Versuchung unterliege, es doch zu tun…nur damit er sich vielleicht wieder zu mir umdreht. „Vergiss mich einfach.“ Hilflos und den Tränen so verdammt nahe klammere ich mich an meine letzte Frage. Halte mich wacker an der Stelle. „Wieso…tust du so was nur?“ Mir Schmerz zufügen… Seine kühle zugleich tiefe, wundervolle Stimme ertönt ein letztes Mal. „Für dich.“ „Für dich?!! FÜR DICH??!!“ Draußen trete ich ohne jegliche Beherrschung eine Tonne um. „Du verdammtes….!!“ Das Schimpfwort schlucke ich herunter. Ich sollte Ruhe bewahren…doch es geht nicht. Rücksichtslos hebe ich ein Brett auf und werfe es mit voller Wucht gegen die Mauer. „Scheiße!!“ Zu sehr hat er mich in Rage gebracht. Das kann doch nicht sein Ernst sein, oder?? Das will und kann ich mir nicht gefallen lassen. „Niemand weist mich ab!“ Niemand. „Und das auch noch unter so einem lächerlichen Vorwand!!“ Er wird es noch bereuen… Und wie er das bereuen wird. Erschöpft von meinem Wutanfall lasse ich mich zu Boden fallen und ringe nach Luft. Sein Gesicht vor Augen…da muss ich schwach mit letzter Kraft gegen die kalte Steinwand vor mir schlagen. Mein Herz rast wieder so sehr, dass ich Angst habe, dass es zerspringen könnte… Seit ich ihn gesehen habe…will es sich einfach nicht beruhigen… Genau wie ich. Fast schon wimmernd lehne ich mich gegen die Wand. „Verdammt…was machst du nur mit mir??“ Zum ersten Mal in meinem Leben…fühlte ich mich so…hilflos. Ja, hilflos. Ich war in eine Rolle hineingeraten…die eigentlich so gar nicht zu mir passte. Die mir eigentlich völlig fremd ist. So schnell…ist es passiert. Ohne das ich es hätte wirklich registrieren können… Ich…kannte dieses Gefühl nicht…abhängig zu sein. Abhängigkeit…das genaue Gegenteil von Freisein…von mir. Und während ich dieses Gefühl zum ersten Mal verspürte…hätte ich nicht mal zu träumen gewagt…dass noch mehr Neues auf mich zukommen wird. So viel Neues…dass ich niemals für möglich gehalten hätte… Kommentar der Autorin: So...das war jetzt vorerst das letzte Kapitel. Für ungefähr einen Monat. Ich fahre nämlich in den Urlaub ^o^ *freu* Doch wenn ich zurückkomme, werde ich das nächste Kapitel sofort hochladen. ^^ Kapitel 8: Im Lichte der Nacht ------------------------------ Lächelnd lauere ich an der kalten Mauer in der Seitengasse. Es ist schon dunkel geworden…und so bin ich mir sicher, dass er gleich herauskommen wird. Ich weiß…wie naiv ich bin. Einfach am Abend zurückzukehren und sich wie ein Stalker an einen Typen zu heften, der anscheinend schizophren ist und von einem nichts wissen will. Dennoch…kann ich nicht anders. Ich wäre nicht Uruha, wenn ich so schnell aufgegeben hätte. Ich muss wieder schmunzeln, wenn ich dran denke, dass ich doch eigentlich derjenige bin, der gestalkt wird… Als er nach seinem glorreichen Auftritt die Tür hinter sich geschlossen hatte, dachte ich eine Welt würde für mich zusammenbrechen…Erst da ist mir bewusst geworden, wie sehr ich schon an ihm hänge…wie sehr ich ihn schon brauche. Uruha und Abhängigkeit…das ist völlig widersprüchlich. Vorher bin ich keinem begegnet, der das geschafft hat… Wow…Respekt, Tatsuro. Diese ganzen langweiligen Affären sind Nichts im Gegensatz zu einer einzigen Sekunde mit ihm. Er ist einzigartig. Egal wie wortkarg und ruhig er auch sein mag, in seiner Gegenwart war mir nie langweilig. Nein…in seiner Nähe fühlte ich mich wohl…und ungezwungen. Auch…wenn er anscheinend irgendwo eine beängstigende Seite an sich hat. Und so jemanden wie ihn…kann ich nicht einfach vergessen. So leicht ist das nicht. Ich kann nicht so leicht aufgeben, ehe ich den Versuch gestartet habe, seine kühle Mauer zu durchbrechen und seinen warmen Kern zu finden. Ich will endlich sein wahres Ich sehen. Diese Herausforderung…kann ich nicht abschlagen. Wie aufregend… Wann kriege ich denn schon so eine Herausforderung?? Dann…endlich. Endlich treten die Bandmitglieder aus dem Gebäude in die Dunkelheit. Einer nach dem Anderen… Als Letztes Tatsuro, den ich mit meinen Augen fixiere. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, das er weiß, dass ich ihn beobachte…aber das ist natürlich nicht möglich. Sie gehen in die Richtung der hell erleuchteten und belebten Hauptstrasse. Dort verabschieden sie sich lachend und gehen getrennte Wege. Ich sehe wie Yukke in sein nahe geparktes Auto einsteigt. Auch die anderen werden wohl mit Autos hergekommen sein… Sich gegen den Kopf schlagend gehe ich ebenfalls zur Hauptstrasse. Wie dumm von mir…wenn Tatsuro ein Auto hat, werde ich ihn wohl schlecht zu Fuß verfolgen können… Doch zu meiner Erleichterung geht er den Gehweg entlang und verschwindet in der Menschenmasse. Ich habe Sorge ihn aus den Augen zu verlieren und versuche mit seinem zügigen Tempo Schritt zu halten. Immer wieder geht er in der lauten Menge unter…nur um wieder kurze Zeit später irgendwo anders aufzutauchen. Wie ein wandernder schwarzer Farbklecks in einem bunten Durcheinander, das sich nicht entscheiden kann, wo es liegen soll, damit das Bild auch gut aussieht. Zum Glück ist er im Vergleich zu anderen Japanern ein Riese… Ich konzentriere mich so sehr auf die Verfolgung, dass ich mehrfach den einen oder anderen Passanten unbeabsichtigt anremple. Die verärgerten Nachrufe nehme ich jedoch nicht wahr. Meine Aufmerksamkeit schenke ich allein ihm. Der Plan ist es, ihn am Ende bei seiner Wohnung abzupassen. Was ich dann aber genau tun werde, ist mir noch unklar. Das ist auch nicht so wichtig. Vielleicht werde ich ihn anschreien…und ihm Morddrohungen gegen den Kopf schmeißen…aber vielleicht wird es auch das krasse Gegenteil sein und ich werde mich letztendlich doch verzweifelt vor seine Füße werfen. Aber egal…egal, was ich auch tun werde…Es ist besser als gar nichts zu tun. Ich kann nicht zu Hause allein im Dunkeln hocken und schmollen. Ich bin nicht der Typ dafür. Ehrgeizig starre ich in die Menge, das Ziel vor Augen. Doch plötzlich taucht er nach einem abermaligen Verschwinden nicht wieder wie gewohnt auf. Hektisch schweife ich meinen Blick über die bunte Masse. Wie ein Kribbeln steigt die Panik in mir ins Unermessliche, als ich ihn nach mehreren Versuchen nicht wieder finde… „Nein…Nein!“ Wo ist der Farbklecks?? Die Panikattacke lässt mich unregelmäßig atmen und ich frage mich, wie lange mein eh schon belastetes Herz dieses dauernd abrupte Wechseln zwischen Stillstand und Raserei noch mitmachen wird… Aber es kommt…wie es kommen muss… Und am Ende muss ich die Erkenntnis desto trotz annehmen: Ich habe ihn endgültig verloren. Enttäuscht schlenkere ich weiter. Auf einmal so schwach… Die ganze Kraft und Energie, die ich in diese Sache rein gesteckt habe, scheint wie weggeblasen… Soll ich es am nächsten Tag noch mal probieren? Und…wo ist überhaupt mein Stolz geblieben…? Schließlich bleibe ich an dem Punkt stehen, wo ich ihn zuletzt gesehen habe, obwohl ich von rechts und links nonstop geschubst werde. Dann fällt mir die Seitengasse zu meiner Linken auf. Ist er etwa…? Natürlich ist das Blödsinn…aber sogar die allerdümmste Idee…erscheint einem auf einmal so plausibel, wenn sie auch nur einen klitzekleinen Hoffnungsschimmer aufblitzen lässt. Ein Versuch ist es immerhin wert. Was habe ich jetzt noch zu verlieren? Also gehe ich hoffnungsvoll in die dunkle Gasse. Mein Gehen…wird ein Laufen…und das Laufen…wird ein Rennen. Immer tiefer in die Finsternis hinein…bis der Lärm von der Straße endgültig verstummt. Ich weiß nicht, wieso ich renne…wahrscheinlich aus Frust. Es ist befreiend… …und mühselig. Als ich keine Luft mehr bekomme, schaltet sich mein Gehirn wieder ein. Ungläubig bleibe ich stehen. Was tue ich hier eigentlich? Eine Handlung aus Verzweifelung? Ja. Aus Verzweifelung. Aber Hey…was erwartet mich schon in meiner Wohnung? Außer eine schlaflose Nacht. Mpf! Was war das? Sofort spitze ich meine Ohren und versuche den Laut noch mal zu vernehmen. Und ja…da ist er wieder…Ganz in meiner Nähe. Unsicher blicke ich mich um. War es vielleicht…doch ein Fehler gewesen, die Gasse zu betreten? „Wo bleibst du denn?? Ich weiß, dass du hier bist…“ Erschrocken mache ich einen Hüpfer. Habe ich es mir nur eingebildet…? „T…Tatsuro?“ Ist es wirklich möglich, dass ich schon Halluzinationen bekomme?? Treibt mich…Tatsuro in den Wahnsinn…? Wird das…mein Ende sein? Uruha…der Selbstbewusste…der mit dem Modelaussehen und der immer einen frechen Spruch auf den Lippen hat… Uruha …dem die Männer zu Füßen liegen…und ergeben jedem Wunsch erfüllen… Dieser Uruha…wird dieser Uruha so enden? Wahnsinnig geworden, weil ihn ein Mann Paroli bieten konnte und ihn abwies…? „N…nein…“ Sich gegen diese Vorstellung verbissen wehrend gehe ich in die Richtung, wo die Stimme hergekommen ist…dann um die Ecke entweicht mir ein kleiner Schrei. Zu mehr habe ich es nicht gebracht. Er grinst hämisch, als er mein erschrockenes und bleiches Gesicht erblickt. Ich müsste eigentlich über seine Anwesenheit froh sein…den Beweis zu sehen, dass ich nicht verrückt geworden bin… Doch im Hinblick darauf was er tut…ist meine Reaktion mehr als nur berechtigt und ich wünsche mir, doch lieber verrückt zu sein. Bösartig grinsend hält er eine junge Frau in seinen Armen gefangen. Damit sie nicht schreien kann, presst er seine Hand auf ihren Mund. Trotzdem dringen ab und an wimmernde Laute durch seine Hand, die mich erschaudern lassen. Tränen, die ihre Wangen hinabfließen, bringen mich fast ebenfalls zum Weinen. Er muss sie wohl aus der Masse gezogen haben… „Verdammt…Tatsuro…W…Was tust du da??! Lass die Frau los!!“ Wieso tut er das?? Immernoch grinsend ergötzt er sich an meiner Fassung, die allmählich verloren geht. „Willst du denn nicht sehen…was ich mit ihr anstelle?“ Seine Stimme klingt kühl und amüsiert. Unmenschlich. Die aufstehenden Nackenhaare ignoriere ich, stattdessen balle ich aufbrausend die Fäuste. Wut…ist das einzige Gefühl, dass die Angst für eine gewisse Zeit besiegen kann… Aber leider ist auch sie…kein Allheilmittel. „Wie kannst du nur??? Was hast du vor??!!“ Wenn er denkt, ich werde tatenlos zusehen… „Beruhige dich…ich werde nicht das mit ihr tun, was du vielleicht denkst. Du Schmutzfink.“ Schmunzelnd unterdrückt er beim letzten Wort ein Auflachen. Ich beiße wortlos die Zähne zusammen, während ich darüber nachdenke, was ich tun könnte… Sein Gesicht wird unerwartet ernst. „Aber trotzdem…wird es keine sehr angenehme Show werden. Also entscheide dich…Du kannst jetzt noch gehen und so tun, als hättest du das hier niemals gesehen...“ Fast wäre mir ein Lachen rausgerutscht. Wie kann er nur so von mir denken?? „Ich werde erst gehen, wenn du diese Frau frei lässt!“ Im Gegensatz zu mir entweicht ihm ein lautes kaltes Lachen, dass die Gänsehaut verstärkt. Es ist gnadenlos. „Ach hör doch auf! Du solltest mein Angebot wirklich überdenken!“ Entschlossen versuche ich mein Gesicht regungslos zu halten. Ihn an meinen Gedanken und Gefühlen nicht teilhaben zu lassen. Ich muss versuchen Zeit zu schinden… Soll ich einfach auf ihn zu gehen und…ihn schlagen?? Ich bin kein Schlägertyp…in so einer Situation hätte ich Reita gut gebrauchen können… Doch andererseits…ist da dieses zutiefst unpassende Widerstreben, Tatsuro zu verletzen… Aber diese Frau…ich muss sie doch irgendwie befreien können! Während es in meinem Kopf unaufhörlich rattert, wendet er sich grinsend seinem Opfer zu. Beinahe fürsorglich streicht er ihr eine Träne aus dem Gesicht, während sie mich flehend anblickt. Ich kann ihren Blick nicht ertragen…genauso wie seinen. Den sarkastischen Ton hebt er besonders hervor. „Was für ein Held, nicht wahr?“ Meine Fäuste zittern. Er ist sich der Situation so sicher…so verdammt sicher… Und dieser Blick…es ist derselbe Blick, den er mir in meinem Wohnzimmer zugeworfen hatte…ein furchteinflößender Blick…voller Begierde. Das ist nicht mehr der Tatsuro, den ich kenne…das ist wieder der Andere. Der, der mich ängstigt. Zutiefst ängstigt…bis aufs Mark. Ich bin wie gelähmt. Abermals wandert sein intensiver Blick wieder zu mir, so…als würde er auf etwas warten. „Was ist?? Ich dachte, du willst mich abbringen?“ Auffordernd hebe ich meine Fäuste…will mir seinen Spott nicht gefallen lassen…doch…bleibe da wo ich bin. Möglicherweise glaube ich ihm ja…dass ich…nichts ausrichten kann… Aber der Grund ist einfach… Ich kann nicht…Ich kann ihn nicht angreifen…Nicht Tatsuro. Ich habe das Spiel verloren…schon von vorneherein… Und er…hat es von vorneherein gewusst. Fast bittend blicke ich ihn an. Keinen anderen Ausweg findend… „Bitte, Tatsuro…Lass sie einfach gehen. Bitte…“ Ich habe jetzt erwartet, dass er mich auslachen würde…sich weiterhin über mich ergötzt… Im Gegensatz zu meiner Erwartung verengen sich aber seine Augen…und ich habe das ungute Gefühl, dass sein gieriger dominanter Blick nicht nur seinem Opfer gilt. Nein…er gilt alleine mir. So als wäre die Frau in seinem Griff nur ein Vorwand. So…als sollte eigentlich ich dort sein… Sein bedrohliches Flüstern… „Wie du willst…“ …wird zu einem lauten Schrei. „…dann schaue eben zu!!!“ Bevor ich irgendwie auch nur ansatzweise reagieren kann, spritzt mir das Blut entgegen. Vor Schreck stolpere ich nach hinten und falle zu Boden…zu geschockt, um das Gesehene aufzunehmen…gar verstehen zu können. Ich hatte alles erwartet…alles…aber nicht das! Ich kann nicht glauben, was ich da sehe…Es kann nicht wirklich passieren… Die erschreckende Show, die man mir anbietet, lässt mich schwindeln und ich spüre wie mir der Magen umdreht. Die ekelhaften Geräusche und das dunkle Rot lassen mich schütteln. Es ist grausam und widerwärtig zugleich, ganz anders…als man es sich vorstellen könnte. Die Realität ist immer anders…naja…wenn es denn die Realität ist. Ich bin ein gezwungener Zuschauer. Ein Zuschauer mit einem schwachen Magen und den es nicht auf seinem Platz hält. Hektisch versuche ich mich an den Stahlzaun hochzuziehen, der aus der anderen Gasse hervorlugt. Mein einziger Gedanke ist, so schnell wie nur möglich hier weg zu kommen. Weg von diesem Albtraum. Von diesem Wahnsinn. Weit weg. Wenn es sein muss, sogar ans andere Ende der Welt. Ohne noch mal zurückzusehen renne ich in die Gasse, die in entgegen gesetzter Richtung liegt. Ich bin noch zu überrumpelt…um wirklich so was wie markerschütternde Angst zu verspüren… Trotzdem renne ich, als wäre der Teufel hinter mir her…die ganze Zeit mit dem Gefühl von einem gierigen leuchtenden Augenpaar auf dem Rücken starrend… Noch ein letztes Mal muss ich über meine Schulter blicken und sehe, wie Tatsuro die leblose Frau loslässt… Sie fällt stumpf zu Boden und hinterlässt eine lange sichtbare Blutspur an der Wand… Ich stelle mir vor es wäre Farbe. Genauso wie die Flecken auf meiner Kleidung. Genauso wie die Pünktchen auf meinem Gesicht, die ich bereits auf der Haut trocknen spüre… Ich wage es nicht, sie mit der Hand wegzuwischen…da sie nur umso realer werden würden. Doch dieses Bild…von ihm…über dem dunklen leblosen Schatten auf dem Boden…wird mir wohl für immer im Gedächtnis bleiben. Er bleibt reglos an der Stelle…mit gesenktem Kopf, während seine schwarzen halblangen Haare an den Seiten wie Seide herabfallen und rötlich im Lichte der Nacht schimmern. Kapitel 9: Der imaginäre Tatsuro -------------------------------- Leise schließe ich die Tür hinter mir und lehne mich keuchend dagegen. Meine Lunge brennt wie Feuer…den Schmerz spüre ich nicht. Wie hypnotisiert blicke ich stumm auf einen Punkt auf den eigentlich eher uninteressanten Boden. Parkett. Ich mache mir erst gar nicht die Mühe, den Lichtschalter zu suchen. Ich warte. Ich warte…auf wildes Geklopfe gegen die Tür…auf ein lautes kaltes Lachen…auf Geschrei…auf… Vielleicht auch nur auf einen Nervenzusammenbruch. So verhaare ich einige Minuten im Dunkeln…bis ich von der Trance erwache und hastig ins Badezimmer eile…nein wieder renne. So schnell wie vorhin…obwohl ich jedes Mal, als ich mich umdrehte, nur in die verwunderten Gesichter der Passanten geblickt hatte. Ich schrecke auf, als ich mein Gesicht im Spiegel erblicke. Vor mich her wimmernd drehe ich den Wasserhahn hektisch auf. „Oh mein Gott…oh mein Gott…“ Fest kneife ich die Augen zu und wasche mein Gesicht mit unnötig viel Seife. Doch als ich nochmals in den Spiegel schaue, habe ich trotzdem immer noch das Gefühl von Blut auf der Haut… Ich sehe es nicht…aber ich fühle es. Die Prozedur mit dem Gesichtwaschen mache ich noch einige Male…bis mein Gesicht schon ganz wund ist. Das Gefühl ist trotz allem immer noch da. Mir wird klar, dass ich es so nicht wegbekomme. Werde ich es jemals wegbekommen? Rücksichtslos reiße ich das Schränkchen auf und sofort fliegen mir verschiedene Medikamente und Zahnpastatuben entgegen…prallen an mir ab und fallen in das Waschbecken. Ohne groß zu versuchen leise zu sein, wühle ich lärmend in dem Chaos von Tabletten. Endlich finde ich das, was ich suche. Rettung. Die Erste schlucke ich trocken hinunter, was jedoch schmerzhaft ist. Also haste ich mit der Schachtel in die Küche und lasse mir ein Glas Leitungswasser ein, das ich bedingungslos ausleere. Gleich die Nächste hinterher…und die Nächste… Ich fühle mich plötzlich ungemein schwach…was aber bestimmt nicht nur an den Tabletten liegt… Torkelnd und Halt suchend taste ich mich durch die Wohnung ins Schlafzimmer. Als ich das Bett sehe, ziehe ich mir umständlich die Jacke und die Hose aus. Zu müde um mir noch das Hemd und die Socken auszuziehen falle ich erleichtert ins Bett. Sofort übermannt mich der Schlaf. Endlich…Erlösung. Bitte…möge ich nie mehr wieder aufwachen… Drrring! … Drrring! … Mürrisch drehe ich mich um. … Drrring! … Als das nervtötende Klingeln nicht aufhört, entschließe ich mich dran zu gehen. Zerknirscht strecke ich meinen Arm aus, ergreife kräfteringend den Hörer und lasse meine geknickte leise Stimme hören. „Moshi-Moshi?“ [Na endlich gehst du ran! Wir haben uns schon Sorgen gemacht, wieso du heute nicht bei der Arbeit erschienen bist.] Brummend verziehe ich das Gesicht. Kai. „Aber ich war doch schon gestern nicht in der Arbeit.“ [Ja, aber dass du zweimal hintereinander fehlst ist eben sehr selten, deswegen haben wir uns trotzdem Sorgen gemacht.] „Ich bin noch krank.“ [Ok…dann wir wissen nun Bescheid. Also gute Besserung und ich hoffe wir sehen dich morgen wieder.] „Jaja. Bye.“ Erschöpft lege ich den Hörer wieder auf das Telefon und streiche mir müde über das Gesicht. Ich gähne herzhaft und setze mich dann auf. Sonnenlicht scheint durch das Fenster und erhellt dieses. Sogar die Gardinen konnte ich letzte Nacht nicht mehr zu machen… Letzte Nacht… Aber ich muss zugeben, die Schlaftabletten hatten ihre Arbeit getan… Ich bin schnell eingeschlafen…und hatte keine Träume…auch wenn ich lieber in einen Schlaf gefallen wäre, aus dem ich nie mehr wieder aufgewacht wäre. Natürlich hätte ich eine Überdosis nehmen können…aber…das wäre unsinnig. Wie kann ich wegen etwas sterben, von dem ich nicht mal weiß, dass es tatsächlich passiert ist? Außerdem…was ist eigentlich genau passiert? Amüsiert muss ich den Kopf schütteln, wenn ich an diese lächerliche Szene denken muss. Als ob so was möglich wäre! Kein Mensch ist imstande so etwas zu vollbringen… Leise muss ich lachen… Das ist so makaber! Schnell wird mein übertriebenes Lachen lauter und ich lasse mich wieder rücklings aufs Bett fallen. Das alles spielte sich nur in meiner krankhaften Fantasie ab… In einer krankhaften Fantasie von einem Größenwahnsinnigen! Irgendwann…nimmt mein Lachen wieder an Lautstärke ab…und verstummt schließlich ganz. Das Ganze ist wirklich ironisch. Das kann ich nicht leugnen…doch irgendwie…ist es zugleich auch zum Heulen. „Scheiße…“ Ich will nicht verrückt werden. Verrückt…Mann. Ich könnte wieder loslachen. Was…bleibt mir schon anderes übrig? „Wieso lachst du wie ein Irrer?“ Bei dem plötzlichen Ertönen seiner kalten unheimlichen Stimme höre ich abrupt mit dem Lachen auf und spanne sofort alle meine Sinne an. Meine Hände krallen sich in die Bettdecke ein und ich spüre wieder die altbekannte Panik hochkommen. Fange ich jetzt wieder an zu halluzinieren?? Mein Gott…Wie oft werde ich diese Anfälle bekommen?? Jeden…Tag? Werde ich…jedes Mal…etwas Schreckliches sehen? Am liebsten würde ich mich jetzt übergeben. „Jemand zuhause?“ Ich bin leicht verblüfft. Es klingt so…normal. So echt. Ich hatte vorher nie Halluzinationen, deswegen bin ich jedes Mal so überrascht, dass es mir so…realistisch vorkommt. So…als wäre jemand wirklich im Zimmer. Bei mir. Vielleicht…wenn ich nicht mitspiele…geht er wieder weg. Doch ich glaube nicht. Er wird mir solange zureden bis ich antworte. „Geh weg.“ Man muss es wenigstens versucht haben… Seine tiefe Stimme gluckst. Irritiert setze ich mich wieder auf und erschrecke als ich ihn in der Ecke des Zimmer wahrhaftig stehen sehe. Aufschreiend springe ich auf und renne an die andere Seite des Zimmers. Ich habe Angst…egal ob nun Wahnvorstellung oder nicht. Ihn nur reden zu hören, kann ich noch verkraften…ihn aber zu sehen. Das ist etwas…ganz Anderes. Es macht alles so handfest…dass ich befürchte, zwischen Realität und Halluzination irgendwann nicht mehr unterscheiden zu können. „W…Wie bist du…??“ Logischerweise hat es eine Wahnvorstellung nicht nötig durch eine Tür hereinspazieren zu müssen…trotzdem…hätte sie sich wenigstens ankündigen können. Vielleicht…sollte ich anfangen mit meiner Halluzination Termine zu vereinbaren? Fast wäre mir bei diesem Gedanken wieder ein Lachen rausgerutscht… Vorsichtig gehe ich langsam zur offenen Tür und bleibe vor dieser stehen, während ich ihn nicht aus den Augen lasse. Kann ich überhaupt von ihm weglaufen…? Bestimmt nicht. „Na, hast du jetzt endlich Angst vor mir?“ Beim wiederholten Erklingen seiner eisigen Stimme beiße ich mir fest die Zähne zusammen. Das letzte Bild, das vor meinem inneren Auge huscht zeigt wie er mit gesenktem Kopf vor der blutigen Leiche steht. Ja. Ja, ich habe Angst. Aber…eine Halluzination ist nicht imstande mich zu verletzen…oder? Er steht jetzt im Schatten, abseits vom Fenster…so kann ich seine Gesichtszüge nur deuten…aber er scheint sein normal ausdrucksloses Gesicht zu haben. Ich weiß nicht, wie man seine Vorstellungen wieder los wird…doch in den Horrorfilmen ist es immer so, dass die Geister verschwinden, wenn man ihnen zuhört und erfährt, was sie eigentlich von einem wollen. Mutig gehe ich ein Schritt vor. „Wieso…bist du hier?“ Oh nein…ich rede doch nicht gerade wirklich mit einem imaginären Typen? Der imaginäre Typ antwortet nicht. Nächste Frage. „Was…willst du von mir??“ Keine Antwort. Anscheinend wieder die falsche Frage… Mich friert es plötzlich und ich stelle die nächste Frage. „W…Wieso…hast du das…gestern getan?“ Die Frage wollte meinen Mund nicht verlassen…Ich musste mich zwingen. Dann endlich eine Reaktion. Ich gehe den einen Schritt wieder zurück, als er lächelt und ein bedrohliches Flüstern ertönen lässt. „Was…getan?“ Laut muss ich schlucken und mir entkommen nur klanglose Wortfetzen. „Sie…umgebracht.“ Ich erschrecke als er bei dieser Tatsache schmunzeln muss… Entspringt das Ganze wirklich meiner Fantasie?? Wie…krank muss ich sein…? Ich schlucke wieder. Ich…erkenne einfach den Sinn von alldem nicht… „Weil du…mich verlassen hast…bin ich wahnsinnig geworden…Du…hast aus mir einen Verrückten gemacht…Das ist doch nicht normal!“ Plötzlich regt sich der Schatten und er scheint zum ersten Mal etwas verwirrt zu sein…So als ob er selbst nicht ganz verstehe, was er in meinem Zimmer zu suchen hat. „W…Was?“ Ich will nicht…aber ich muss grinsen. „Was? Weiß etwa meine eigene Halluzination nicht mehr, was sie tun soll?? Ich bin wohl noch ein Tick bekloppter, als ich gedacht habe…“ Dann verschränke ich die Arme vorm Körper und grinse noch breiter, während die Wahnvorstellung noch immer nachzudenken scheint. „Aber…wenn du nicht weißt, was du jetzt tun sollst. Ich weiß da schon etwas…“ Da stolpere ich nach hinten und falle durch den losen Türrahmen, als sich meine Halluzination plötzlich bewegt und sich auf mich stürzt. Seine Handballen knallen einmal links und einmal rechts von meinem Gesicht in das Parkett, das laut knackt und unter der Wucht zerbirst. Das ging so schnell, dass ich nicht mal schreien konnte. Ich konnte nur noch fest die Augen zusammenkneifen, als die Holzsplitter neben mir in die Luft flogen. In der nächsten Sekunde habe ich schon das wutentbrannte Gesicht von Tatsuro über mir. „Ich bin keine Halluzination!“ Der Überraschungslaut bleibt mir im Hals stecken. Von den einen auf den anderen Moment wünsche ich mir er wäre es doch. Wie um sich an diesen Glauben noch festzuklammern, schaue ich neben mir skeptisch auf die Löcher, die er in mein Parkett geschlagen hatte. Sie sind nicht echt. Nein, sie sind nicht echt. Doch als ich mit einer Hand über eines fahre, fühle ich die Vertiefung und die Splitter, die sich in meine Haut bohren. „Sie…sind echt…“ Ich blicke wieder auf das Gesicht vor mir. „Du…du bist…echt…“ Mit aller Kraft versuche ich es zu unterdrücken…aber mein Herz kann nicht aufhören zu rasen. Seine Nähe ist unerträglich…besonders jetzt, da ich weiß, dass er es wirklich ist. Müsste ich mich nicht eigentlich abgeneigt von ihm fühlen…?? Er ist immerhin ein Mörder! Meine Reaktion auf ihn…widert mich an. Zum Glück steht er wieder auf, als er sich nun sicher ist, dass ich ihn nicht mehr als eine Halluzination wahrnehme. Zitternd setze ich mich leicht auf und schlinge meine Hände um die Beine. Ich bin aufgewühlt und der Schock sitzt tief… Es ist schwer…das Gesehene von letzter Nacht…Glauben zu schenken. „Also…ist das…gestern…wirklich passiert?“ Ich sehe seine Beine vom Augenwinkel her zur Wand schreiten, wo er sich anlehnt. „So wahr ich hier stehe.“ Ich ziehe meine Beine näher an mich. „Und…du…du willst mich jetzt auch umbringen? Weil…ich bin ein…Zeuge…“ Verwundert sehe ich zu, wie er seine Augen verdreht. War das jetzt ein Nein? Oder ein…Aber natürlich? Dann wird sein Gesichtsausdruck verdammt ernst… „Ich hoffe das, was du gesehen hast, war jetzt Warnung genug für dich.“ Ich erwidere seinen ernsten Blick, aber mit einem Schwung von Wehmütigkeit. „Tust du das öfters? Bist du…ein Mörder, der einfach Spaß daran hat? Und noch wichtiger…Wie…wie hast du das eigentlich gemacht??“ Wie schon gesagt…ein Mensch kann so was nicht. Also wie konnte er dann diese Frau so töten? Oder…ist da irgendwas mit mir durchgegangen und ich habe falsch gesehen…? Dann blicke ich auf die Parkettlöcher neben mir. Kann denn…ein normaler schlanker Mensch…überhaupt beim Fallen solche Löcher in den Boden schlagen? Das Parkett war immerhin nicht gerade billig und sehr robust. Ich blicke wieder hoch in sein im Schatten verhülltes Gesicht. Irgendwas…stimmt nicht. Aber…es kann nur etwas mit ihm nicht stimmen. Denn ich habe keine Halluzinationen. Er ist echt. „Du antwortest nicht. Doch ich habe schon eine neue Frage…“ Steif sitze ich da und schaue ihn an. „Tatsuro…Was…bist du?“ Ja…was ist er. Das ist eine absurde Frage und doch muss ich sie ihm stellen…denn wie er die Frau umgebracht hatte, war alles andere als normal oder im Bereich des Möglichen. Und seine Kraft…die aus dem Nichts zu kommen scheint, kann auch nicht möglich sein. Sein kühles Lächeln huscht ihm wieder kurz über das Gesicht. „Endlich…scheinst du langsam zu verstehen…“ Er lehnt sich etwas vor, während seine Hände sich an der Wand abstützen. „Doch wie schon gesagt…Du solltest meine Worte und Warnungen ernst nehmen. Vergiss mich.“ Er dreht sich von mir weg und streicht ausdruckslos mit einer Hand über die Wand. Die nächsten Worte sind schon beinahe gehaucht… „Wir haben uns niemals getroffen.“ Langsam wird aus meiner Angst verzweifelte Wut. Ich stehe abrupt auf. Immer diese Worte hören zu müssen…bringen mich zum Kotzen. „Hör auf das zu sagen! Ich will dich nicht vergessen! Ich will endlich wissen, wieso du diese Frau umgebracht hast und was hier überhaupt los ist!!“ In der nächsten Sekunde schießt mir plötzlich Die versteckte Kamera durch den Kopf. Ich wünsche mir diese Möglichkeit so sehr…dass alles…nur ein blöder Scherz ist. Das man mich verschaukelt. Und das nur…weil ich ihn nicht verlieren will. Nur deswegen bin ich ihm doch erst in diese blöde Gasse gefolgt! „Hey…das hier ist doch eine ganz blöde Verarsche, nicht?? Gib es doch endlich zu! Du hattest deinen Spaß!“ Ich habe seine Wut wohl weit unterschätzt und erschrecke als er auf einmal genau vor mir steht und mich am Kragen packt. Überrascht muss ich feststellen, dass meine Beine nicht mehr auf dem Boden stehen. „Du solltest das Ganze lieber ernst nehmen! Wieso ich das getan habe oder was ich bin, ist jetzt irrelevant! Du sollst dich einfach von mir fernhalten und nie mehr wieder zu mir kommen!! Was ist daran so schwer zu verstehen??“ Krampfhaft versuche ich mich aus seinem Griff zu befreien, aber ich weiß schon, dass er nicht so schwach ist, wie er aussieht. Wieso wehre ich mich überhaupt? Gereizt lässt er mich überraschend fallen und ich plumpse aufjauchzend zu Boden. Eilig geht er mit dem Rücken zu mir wieder auf Entfernung und stützt seinen Kopf an einer Hand ab, so als würde er Kopfschmerzen haben. Doch das entmutigt mich nicht, wieder aufzustehen. „Ich weiß, wieso du es getan hast.“ Verdutzt hält er inne. „Du…hast gewusst, dass ich dir gefolgt bin…In der Gasse hast du...dann gewollt, dass ich zusehe, weil du willst, dass ich Angst vor dir bekomme und dich nie mehr wieder sehen will. Du willst mich auf Abstand halten.“ Es war alles Absicht…nicht wahr? Sag mir, dass es Absicht war. Von meinen Worten ermutigt, gehe ich auf ihn zu, während er noch immer in seiner Position verharrt. „Und jetzt…will ich wissen…wieso du das willst? Wieso willst du nicht, dass wir in Kontakt bleiben? Wieso…offenbarst du mir sogar, dass du…ein Mörder oder was auch immer bist und zeigst mir solche grausamen Dinge?“ Er dreht sich nicht um und bleibt stumm. Kurz hinter ihm bleibe ich stehen. Als er immer noch nicht antwortet…kann ich mich nicht zurückhalten. Das dringende Bedürfnis macht sich in mir breit, ihn berühren zu müssen. Ich strecke meine Hand aus... Mir ist klar, dass er es mir verwehren wird…aber wenigstens hatte ich die Gelegenheit dazu gehabt. Wie zu erwarten dreht er sich herum und schlägt diese ab. Doch statt Zorn finde ich in seinen Augen nur endlose Begierde, das mich schmeichelt aber zugleich gewohnt ängstigt. „Wieso?? Du willst wissen, wieso???“ Schwach nicke ich nur. „Damit ich mit dir nicht dasselbe anstelle, wie mit dieser Frau!! Ist das denn so schwer zu kapieren???“ Dann als er an mir vorbeieilt wandelt sich sein Blick von Begierde in Ausdruckslosigkeit…in Kälte…doch…Tatsuro…sag mir eines. Wieso schimmern deine Augen dann so? „Also wenn du überleben willst…dann halte dich gefälligst von mir fern!“ Ich versuche ihm hinterher zu eilen, doch ehe ich mich versehe, ist er schon verschwunden. Kraftlos lasse ich mich zu Boden fallen. Und was ist…wenn ich mich nicht von ihm fernhalten kann? Es…vielleicht erst gar nicht will? Und da stelle ich mir wieder dieselbe Frage… Wie krank…muss man eigentlich sein? Kapitel 10: Die Verfolgung -------------------------- Nur mit Widerwillen betrete ich diesmal das PSC Gebäude. Ich wäre lieber weiterhin „krank“ gewesen…aber wenn meine Kollegen schon beim 2. Fehltag beinahe in Panik geraten, wie soll es dann erst beim 3. Tag aussehen?? Da wäre wohl die Welt zusammengebrochen. Außerdem klang Kais Stimme ziemlich ermahnend gestern…Ich muss den Leader ja nicht unbedingt herausfordern…noch nicht. Ich schmeiße die Zeitung, die ich soeben erst gekauft hatte, achtlos in den Mülleimer. Ich habe sie nur oberflächig durchblättert und nach einem Bericht oder gar einer Schlagzeile gesucht, doch es war kein Sterbenswörtchen über die Leiche der Frau zu lesen. Entweder sie ist noch gar nicht entdeckt worden…oder die Mordtat sieht zu unspektakulär aus, was ich jedoch bezweifle. „Hey, Uruha!“ Lächelnd winkt mir der Tontechniker zu. Ich verdrehe die Augen und tue so als hätte ich nichts gehört. Nicht sehr nett…ich weiß, aber das Interesse an jegliche Verehrer ist mir schon längst abhanden gekommen. Wenn ich ehrlich bin, war das Ganze eh nur als Zeitvertreib gedacht und später dann nur noch um Kai regelmäßig an die Decke springen zu lassen. …Und hallo. Die nächste Hürde lässt sich nicht lange auf sich warten. „Uruha! Wo warst du letztens?“ Seufzend atme ich aus. „Ich war krank.“ Der Fotograf lächelt besorgt. „Na ich hoffe, dass es dir jetzt wieder besser geht?“ „Ja.“ Dann wird sein Lächeln unerwartet frech. „Gut…denn…ich habe dich schon vermisst…“ Und auch seine Hand auf meinen Hintern ist nicht gerade sehr angemessen. Leicht gereizt schlage ich diese aus. Sehe ich so aus als könnte ich jetzt an Sex denken?? Überrascht weicht dieser zurück. Ich setze nur eine entschuldigende Unschuldsmiene ein und zucke hilflos mit den Schultern. Es ist vorbei…hoffentlich kann er damit leben. „Shit happens, Süßer. Also habe noch ein glückliches Leben.“ Seine Augen weiten sich noch um ein Stückchen ehe ich gekonnt geschickt um die Ecke schwinge. „Oh, wieder da?“ Ich lege verwundert meinen Kopf schief, als ein kleinerer etwas pummeliger Mitarbeiter mich überaus freundlich anstrahlt. Hatte ich etwa mit ihm…auch? Meine Gedanken bekommen ein Knick, als er sich einen fettigen Dougnat in den Rachen steckt und dabei die Hälfte der Schokolade an seinen Mund kleben bleibt. Nein. Definitiv nicht. Der fragt nur aus Höflichkeit. Ganz sicher. „Ja, ich war nur krank gewesen.“ Nach einem Hin- und Her und weiteren Beteuern, dass ich nur krank gewesen war, komme ich endlich ins Bandzimmer. Geschafft. Trotz meines überdimensionalem Selbstbewusstseins frage ich mich wieso die Menschen mich so gern haben…Klar, ich sehe gut aus. Keine Frage. Aber…ist gutes Aussehen wirklich alles? Sind die Menschen wirklich nur auf das Äußere fixiert? Ich könnte das größte Arschloch sein…und den Leuten wäre es scheißegal. Mal davon abgesehen, dass ich ansatzweise echt ein Arschloch bin. Aber für mich ist das gut. Sehr gut. Denn genau in so eine Welt passe ich rein und fühle mich wohl. Man könnte meinen, dass sie geradezu für mich geschaffen wäre… Wenn… Ja, wenn da nicht diese eine Person aufgetaucht wäre…die so gar nicht in meine Welt passt. „Heeeey!“ Fast synchron begrüßen mich meine Kollegen, was mir noch mehr Kraft kostet. Wenn das so weitergeht, kriege ich noch einen Kollaps. „Hey, Leute.“ Kai steht extra auf und legt kumpelhaft seine Hand auf meine Schulter. Aufmunternd nickt er mir mit seinem breiten Kai-Lächeln zu. Kai…der unangefochtene Strahlemann. Sein strahlendes Lächeln kann ich jedoch nur schwach erwidern. Er weiß, dass dieses konkurrenzlos ist. Aois Reaktion hingegen ist da schon direkter. „Wow…siehst du scheiße aus. Du musst ja echt krank gewesen sein.“ Dankend zwinkere ich ihm sarkastisch zu. „Du bist der Erste, der mir heute ein Kompliment macht!“ Ich muss wohl doch ganz schön fertig aussehen…aber so fühle ich mich auch irgendwie. Diese ganze Sache zerrt an meinen Nerven. Ich hoffe nur, dass man mir wenigstens die Verzweifelung nicht ansieht, an der ich nage. Zum Glück hackt keiner genau nach, weshalb ich nur halb bei der Sache bin. Sie schieben alles auf die Krankheit, die ich hatte und das ich mich bestimmt noch in der Genesungsphase befinde. Ich bin eher seltener krank…also verzeihen sie mir. Der Einzige, der etwas skeptisch scheint, ist wohl Ruki. Aber da er immer noch nicht mit mir redet, ist das eher weniger ein Problem. Ich wollte erst nicht hierher kommen…aber es tut gut. Dieses Gefühl von alltäglicher Arbeitsroutine. Das Gefühl, dass alles in Ordnung ist. Dass…hier die Welt nicht Kopf steht. Ich weiß ehrlich gesagt nicht…was ich mir wünschen soll. Soll ich mir wünschen, dass sich auch bei mir nichts geändert hat…? Dass ich hier ganz normal reingekommen wäre…ohne jegliches Wissen von irgendwelchen unnatürlichen Geschehnissen, die gar nicht existieren können? Oder…sollte ich froh sein, dass mir das passiert ist? Dass mir irgendein Typ begegnet ist…der Sachen vollbringen kann…die nicht sein können. Die mir zeigen…dass diese Welt hier…zu kippen droht? Die Welt…in der sich alles ganz natürlich erklären lässt. Von einem Moment…in den anderen…zerstört. In der Pause lege ich mich müde auf das gute alte Bandsofa. Die Anderen lassen mich zum Glück gewähren und sind in die Cafeteria abgehauen. Sie denken, ich bräuchte etwas Ruhe. Aber was ich wirklich brauche…wäre wohl eine Rückspultaste…oder ein gelöschtes Gedächtnis. „Du verdammter Idiot…Du hättest das viel, viel, viel früher machen sollen. Da…wo ich noch nichts von dir wissen wollte…“ Meine Augen halten sich wacker halboffen…doch gegen die Müdigkeit kommen sie einfach nicht an. Zufrieden streiche ich über die Sofalehne, die ich nun als Stütze für meinen Kopf missbrauche. Ich hatte den ganzen Tag schon versucht, mich abzulenken, um nicht an die mir jetzt unwirklich vorkommenden Ereignisse denken zu müssen. Geholfen hat es nicht so wirklich. Aber ein Nickerchen denke ich, wird helfen. Für eine Weile… Ein Schaf…Zwei… Klack … Oder auch nicht. Genervt muss ich die Augen aufreißen, als sich die Bandzimmertür öffnet. Die Zweisamkeit mit der Coach hat nicht lange gewährt. Trauernd streiche ich über die Lehne. „Es waren erst zwei Schafe…“ Überrascht hebe ich dann eine Augenbraue, als ich den Eindringling sehe. „Taka…“ Besorgt setzt er sich gegenüber von mir auf den knallroten Sessel. „Denke jetzt bloß nicht, dass…unsere Geschichte aus der Welt ist…aber…ich mache mir Sorgen um dich. Ist wirklich alles ok mit dir?“ Ein Anflug von Dankbarkeit und Zuneigung überwältigt mich und lässt meine innerliche Wut verblassen. So gerne würde ich ihm alles erzählen…jedes Detail…doch es wäre keine gute Idee. Wer glaubt einem schon, dass man jemanden kennt, der anscheinend als Hobby das Aufreißen von Frauenhälsen hat? Als hätte ich noch nicht den Gedanken daran verschwendet, den Mord bei der Polizei zu melden. Nein…das kann ich nicht tun. Ich kann es niemanden erzählen. Es würde mir keiner glauben. Ich frage mich…ob ich es überhaupt selber richtig glauben kann. „Ich habe dich…selten so fertig gesehen.“ Wieder ein wundervolles Kompliment. Ich schließe kurz die Augen und öffne sie dann wieder. Wie er wohl aussehen würde?? „Es ist nichts. Ich war nur krank gewesen und das hat mich etwas geschwächt.“ Man kann ihm deutlich ansehen, dass er mir das nicht abnimmt. Zu Recht. „Lüg mich bitte nicht an.“ Tja…Er kennt mich eben sehr gut. „Tut mir Leid, Taka…aber ich muss damit alleine klarkommen. Du kannst mir nicht helfen.“ Anscheinend ist ein Geduldsfaden gerissen… Ich konnte den Riss und den schlagenden Laut des zurückgeworfenen Fadens förmlich hören. „Uruha! Sag mir endlich was passiert ist!!“ Ich kann den plötzlichen Ausbruch nicht nachvollziehen, erhebe mich aber ebenfalls. „Willst du mit mir wieder streiten??“ Und dann kommt die Anspielung auf die ich schon gewartet habe. Ich habe es gewusst. „Hat es was mit Tatsuro zu tun??!“ Nur deswegen, ist er zu mir gekommen…nur um wieder einen Grund zu suchen, damit ich Tatsuro aus dem Weg gehe… „Das hättest du wohl gerne!“ Das wünscht er sich. Aber ich werde ihm nicht die Gelegenheit geben sich zu freuen…Er wird nie erfahren, dass es wirklich etwas mit Tatsuro zu tun hat. Und ich dachte…ich dachte, Ruki würde sich besinnen. Stattdessen…führt er diesen unsinnigen Streit weiter…der sich nur um Tatsuro dreht…und keiner weiß weshalb. Wieso Ruki…? Wieso…lässt du es nicht gut sein? Wir sehen uns stumm und zornig an. Keiner bereit, aufzugeben. Ruki ist dann der Erste, der den Blick abwendet. Seine Stimme klingt aufeinmal verhältnismäßig leise. „Weißt du Uruha…Das einzige was ich will ist…dass du mir die Wahrheit sagst. Mehr nicht. Ich…mache mir nun mal Sorgen.“ Verächtlich schnaube ich. Wie kann er denken, dass ich ihn jetzt noch ernst nehmen kann? „Nein, Ruki. Du bist ein Egoist. Das einzige was du willst ist, dass ich Tatsuro fallen lasse. Nur weil du nicht ertragen kannst, dass ich glücklich sein könnte.“ Rukis Gesichtsausdruck ist erst überrascht…dann für eine Viertelsekunde erschüttert…und letztendlich erzürnt. Bevor die Tür zuschlägt, hatte ich schon den Knall in den Ohren. Ich wollte nicht, dass es so endet. Wie so oft. Er erschüttert und aus dem Zimmer eilend. Ich alleine zurückbleibend mit einem schlechten Gewissen, das ich nie zugeben würde. Keiner der Parteien mit dem Ende der Debatte zufrieden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ruki nicht will, dass ich glücklich bin…aber…einen anderen Grund will er mir wohl nicht geben. So ist der Schlaf in den ich falle…ziemlich unruhig. Mit vorsichtigen Schritten schleiche ich lautlos durch die Dunkelheit. Um mich herum ist Stille…nur meine Schritte hallen im Vergleich relativ laut an den engen Wänden wider. Schnell…schneller…und noch schneller…husche ich durch das bedrückende Schwarz. So als hätte ich ein Ziel vor Augen. Nach schier endloser Zeit bleibe ich endlich stehen, doch ich bin nicht mal annähernd außer Puste und blicke mich prüfend um. So als würde ich nach etwas suchen. Dann höre ich den hohen Schrei. Unbeeindruckt eile ich in die nächste Gasse und da sind sie. Wie zu erwarten steht Tatsuro dort mit seinem blutleeren Opfer, dass er unbekümmert fallen lässt. Doch als er sich zu mir umdreht, setzt mein Herzschlag für einen Moment aus. Ich blicke nicht in das Gesicht von Tatsuro…sondern in meines. In mein eigenes. Blutverschmiert und aggressiv. Voller Angst renne ich davon und höre wie er mich gackernd lachend verfolgt. Wie ich mich verfolge. Wie ein hungriges Tier. „Ich bin du! Du bist ich! Du kannst mir nicht entkommen…“ Unerträgliche Angst mit Panik gemischt, treibt mich weiter. Schnell…schneller…und noch schneller…renne ich durch die nicht aufhörende Finsternis. Hinter mir das schallende Gelächter. Ich habe das Gefühl im Kreis zu rennen. In einem Kreis aus dem es kein Ausgang gibt. Das Lachen verstummt. Ich stolpere und…falle. Tief. Aufeinmal erhebe ich mich wieder. Erschreckt zucke ich auf als ich auf meine blutverschmierten Hände blicke. Blut tropft aus meinem Mund. Nein…Nein…NEIN! Hat er…Habe ich mich doch noch erwischt…? „Uruha…“ Eine vertraute kühle Stimme dringt in mein Ohr. Ich blicke auf. Hoffnungsvoll. Weinend. Zerstört. Und da steht er wirklich. Genüsslich leckt er sich das rote Blut von den Lippen. „Dein Blut war köstlich…geradezu unwiderstehlich…aber dafür…hast du deine Menschlichkeit verloren. Genauso wie ich sie verloren hatte.“ Böswillig grinsend lässt er etwas aus seiner Hand fallen, das schmatzend vor mir auf den Boden aufkommt. Mir steigt die Übelkeit hoch, als ich sehe was es ist. Ich taste schnell an mir und spüre die tiefe Aushöhlung… Es ist ein Herz. Aber nicht irgendein Herz. Es ist mein Herz. Frisch. Blutig. Schmackhaft. Schreiend falle ich von der Coach und bleibe erstmal schockiert liegen. Natürlich war es nur ein Traum. Gott sei Dank! Irgendwann muss ich ja das Gesehene verarbeiten… Doch…wieso kriege ich das Gefühl nicht los, dass es kein normaler Traum war…dass er irgendeine wichtige Bedeutung beinhaltet…? Kapitel 11: Es ist eröffnet --------------------------- Am späten Nachmittag betrete ich wieder meine Wohnung…mit Unbehagen. Skeptisch sehe ich in den Flur. Einerseits habe ich keine Lust von seinem plötzlichen Auftauchen wieder erschreckt zu werden…doch andererseits wünsche ich mir nichts sehnlicher…außer…das er kein Mörder ist. Nachdem ich mir ziemlich sicher bin, dass ich alleine bin, hänge ich meine Jacke auf und ziehe die Schuhe aus. Unter meinem Arm ist die Abendzeitung geklemmt. Ich hoffe, darin nun einen Bericht zu entdecken. Zielstrebig gehe ich in die Küche und setze den Wasserkocher für meinen Tee auf. Während das Wasser anfängt zu sprudeln, nehme ich am Küchentisch Platz und schlage zügig die Zeitung auf. Die ersten Seiten durchblättere ich desinteressiert…nichts Wichtiges, was auch nicht schon in der Tageszeitung gestanden wäre. Auf einer Seite mit vielen kleinen Artikeln bleibe ich hängen. Mir ist klar, dass sie es wohl nicht an die große Glocke hängen würden…und wenn doch, dann wäre es eine nicht übersehbare Schlagzeile gewesen. Als der Schalter vom Wasserkocher laut umschlägt, zucke ich mit den Schultern auf. Fortwährend habe ich auf jedes einzelne Geräusch in der Wohnung geachtet…jede Sekunde bereit hochzuspringen und aus der Wohnung zu rennen, obwohl mir bewusst ist, dass Tatsuro das nicht hindern würde… Aber nach seinen Worten zu urteilen, dass ich ihn in Ruhe lassen soll, hat er nicht die Absicht mich zu töten. Wenn es so wäre…hätte er es schon längst getan. In Gedanken mache ich mir meinen Tee und setzte mich schnell wieder an meinen Platz. Erfrischend nehme ich einen großen Schluck, der meine zu trockene Kehle befeuchtet. Der beruhigende Tee bewirkt, dass meine Anspannung etwas nachlässt. Ich schlage die nächste Seite um. Oberflächig überfliege ich die Artikelüberschriften…bis ich bei einer hängen bleibe. Als würde ich die Ziffern nicht richtig erkennen, beuge ich mich tief über die Zeitung. Mein Körper spannt sich wieder an, als ich die Ziffern wiederholt lese und meine Lippen sie leise nachflüstern. „Verwirrte Frau in Gasse gefunden“ Etwas in mir sträubt sich den Artikel zu lesen…doch ich muss es tun. [Ein weiterer Fall von vielen unerklärlichen Fällen in Tokyo, die wohl für immer unerklärt bleiben werden: Die 22-jährige Frau wurde am Morgen von einem Passanten völlig aufgewühlt in der Gasse nahe der Takanawa Straße entdeckt. Sie schien dort genächtigt zu haben, wusste jedoch nicht wo sie sich befand oder über Begebenheiten Kenntnis zu haben, die ihr abstruses Auftreten erklären könnten. Ein Arzt bestätigte später, dass sie eine Gedächtnislücke vom späten Vorabend bis zur heutigen Frühe aufwies. Möglicherweise könnte es eine Folge von einem Schock sein. Doch was genau konnte dies verursacht haben?] Bewegungsunfähig bleibe ich noch sitzen…bevor ich schließlich erleichtert aufatme. „Sie lebt noch!“ Ohne den Artikel fertig zu lesen und mich mit irrelevanten Spekulationen aufzuhalten, schlage ich die Zeitung zu. Freude macht sich in mir breit und ich spüre wie die ganze Anspannung von mir ablässt. Lächelnd lasse ich mich in den Stuhl sinken und verschränke die Arme hinter meinem Kopf. Neben der Tatsache, dass die Frau noch lebt, erleichtert es mich zunehmend, dass sie anscheinend auch noch von der Sache unversehrt entkommen war. Aber wie ist das möglich?? Hatte ich nicht gesehen, wie Tatsuro die Frau getötet hat?? Das ganze Blut…ihr lebloser Körper auf dem Boden… Meine Fantasie kann nicht mit mir durchgegangen sein…dafür war es zu real. Das Blut…war zu real. Es klebte an mir. Und auch Tatsuros Warnung am nächsten Morgen…war echt. Also was wird hier gespielt…?? Es gibt da nur eine Möglichkeit…das herauszufinden. Mit den Fingern auf dem Tisch trippelnd stehe ich eine Stunde später aufgekratzt vor meinem Telefon. Mit Mühe halte ich mich an den Tischenden fest, um nicht wieder stupide Hin- und Hergehen zu müssen. Ich weiß…Er wird nicht rangehen. Es hat keinen Sinn. Ich sollte aufgeben. Ich sollte alles vergessen. Die Frau hat überlebt und gut ist. Ich sollte seinen Rat befolgen. Ich sollte mich nicht mehr mit ihm treffen. Die Warnung sollte ich ernst nehmen. Meine Hände umklammern die Tischecken. Aber…ich kann nicht einfach aufgeben. Da bringt mir auch das ganze Sollen nichts. Meine zweite Schwachstelle neben der verhängnisvollen Neugierde. Also wähle ich konzentriert seine Nummer. Ich muss aufpassen, die richtigen Zahlentasten zu erwischen. Mein Atem setzt aus, als es dann anklingelt. Einmal… Zweimal… Dreimal… Viermal… Jemand geht ran. Überrascht muss ich aufkeuchen, doch hätte mich sofort dafür eine scheuern können. Stumm warte ich auf eine Antwort, doch auf der anderen Leitung bleibt es still. Ich weiß jedoch, dass er am Apparat ist. Sein Schweigen ist unheimlich, also komme ich schnell mit meinem Anliegen. Die Worte brechen so selbstverständlich und hartnäckig aus mir heraus, dass es mich selber überrascht. „Ich muss dich sehen.“ Zu meiner Erleichterung regt es sich auf der anderen Leitung und ein unverbesserlicher Seufzer tritt an mein Ohr. „Du…gibst wohl nie auf?“ Mein Ton ist wieder sehr bestimmend. „Nein, niemals.“ Besonders jetzt. Es bleibt wieder still. Aber lange lasse ich das nicht zu und werde direkter. Nun überrascht mich die hörbare Gelassenheit in meiner Stimme. „Ich will alles über dich erfahren. Ich will wissen, wer oder was du bist. Ich will endlich wissen, was hier los ist. Und solange…ich das nicht weiß, werde ich dich nicht in Ruhe lassen. Und das ist kein Versprechen…sondern eine Tatsache.“ Ich habe die Befürchtung, dass er einfach auflegt…doch er bleibt weiter in der Leitung. Schließlich nachdem meine Nervosität fast seine Obergrenze erreicht hat, antwortet er. Seine kühle Stimme klingt leicht verärgert. „Heute 21.00 Uhr vor dem Universal Music Gebäude.“ Ehe ich fröhlich antworten kann, legt er schon auf. Erfreut springe ich durch das Zimmer und muss mich breit grinsend auf das weiche Bett fallen lassen. Glücklich nehme ich mein Kissen und umschließe es fest. Ich bemerke selber, dass ich mich wie ein verliebter Teenager benehme…aber das ist mir grundsätzlich egal. Ich habe mich eh schon damit abgefunden, dass mit mir etwas nicht stimmt und ich eigentlich in die Klapsmühle gehöre. Aufgeregt dränge ich mich durch die Menge. Doch als ich an unserem Treffpunkt ankomme ist niemand da. Nicht mal in dem Gebäude brennt mehr Licht. Sieht so aus…als hätten die alle heute schon früh Schluss gemacht. Alleine vor dem Eingang stehend, ziehe ich den Reißverschluss meiner grauen Kapuzenjacke zu. Die einzige Lichtquelle, flackert leicht neben der verschlossenen Tür. Ich komme mir so dämlich vor… So…verarscht. Und kühl ist es auch noch… Enttäuscht lasse ich den Kopf sinken. Er hat mich hereingelegt…aber was war schon anderes zu erwarten? Er will mich los werden…und dafür ist ihm jedes Mittel recht. Ich blicke traurig nach oben und beobachte zwei Raben, die sich um einen Fenstersims streiten. Da es dunkel ist, sehe ich nur ihre Umrisse. „Buuh!“ Aufgeschreckt springe ich einen Schritt nach vorne, als Tatsuro plötzlich nahe hinter mir auftaucht. Belustigt muss er sich ein Schmunzeln unterdrücken und mich mit erfreuten Augen anblicken, während ich versuche einen Herzinfarkt zu überleben. Seine Überlegenheit gegenüber mir ist wohl das einzige, was ihn abrupt erheitern kann… Beleidigt verziehe ich das Gesicht. „Also…reden wir jetzt?“ Sein Lächeln verschwindet. „Wer sagt, dass wir reden werden…?“ Mir entweicht die Farbe aus dem Gesicht. Er macht eine abweisende Handbewegung. „Na gut. Ich höre besser auf damit, sonst stirbst mir noch, bevor ich irgendwas gemacht habe.“ Meine Augen verengen sich und die Farbe kehrt zurück. Nun ins andere Extreme. Er spricht dann mit solch einer Selbstverständlichkeit, dass mein genervtes Auge wieder kurz aufzuckt. „Aber sei nicht albern. Wir werden ganz sicher nicht hier reden.“ Ohne näher darauf einzugehen dreht er sich elegant um und geht schnellen Schrittes auf die Straße. Das hatte ich schon vermisst… Wieder muss ich ihm zügig auf Schritt und Tritt folgen…oder eher hinterher trotten. Im Vergleich zu seinen grazilen Schritten, sehen meine irgendwie verdammt tollpatschig aus. Neidisch brumme ich vor mir her. Was erlaubt er sich eigentlich?? Der Weg kommt mir bekannt vor. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir wieder zu seiner Bar gehen. Mühelos hält er vor mir ein konstantes Tempo. Es kommt mir so vor als wäre er eine Art Wegweiser in der Dunkelheit. Wenn ich seinen unsichtbaren Pfad verlassen würde, würde ich in den Abgrund stürzen. Dieser Abgrund wäre so tief, dass ich niemals den Boden erreichen würde… Er reißt mich aus meinen absurden Vorstellungen, als er plötzlich stehen bleibt und ich ungeschickt gegen ihn laufe. Der unerwartete Köperkontakt ist mir so peinlich, dass ich schnell alles auf meine Frage lenke. „Sind wir schon da?“ Ohne auf mich zu achten, schaut er auf die Tür der Bar. Mein Erröten war also völlig umsonst. „Ja…aber warte.“ Die anderen Leute, die an uns vorbeigehen, bemerken die Bar erst gar nicht. Ich…wäre wohl auch einfach unaufmerksam an ihr vorbeigelaufen, obwohl ich schon einmal in ihr gesessen bin. Plötzlich springt die Tür auf und ein seltsamer Mann verlässt die Bar. Seltsam insofern, dass er ziemlich absonderlich gekleidet ist. Orangegelber Anzug…schwarze Lackschuhe…und ein zu kurz geratener Zylinder, wobei man immer noch eine Glatze erkennt. Aus seiner Jacketttasche lugen ein Paar smaragdgrüne Handschuhe hervor. Die golden leuchtende Rolex an seinem Handgelenk zeigt seinen gehobenen Status. Seine Haut wirkt blass und…befremdlich feucht, wobei man nur seine Hände inspizieren kann. Der leicht geneigte Kopf und der Schatten von seinem Hut verbergen sein Gesicht, was ihn noch mehr skurril erscheinen lässt. Er ist fast so groß wie mein Begleiter, also…riesig. Als er seinen geneigten Kopf in meine Richtung lenkt, streckt Tatsuro unerwartet schnell seinen Arm vor mir aus, so als würde er mich vor ihm beschützen. Kurz hebt er seinen Kopf an und dann wird mir klar, wieso Tatsuro so auf Abstand geht. Ohne uns weiter zu beachten geht der Mann an uns fröhlich pfeifend vorbei. Ich drehe mich neugierig um, doch da hat er sich schon in Luft aufgelöst. Unheimlich…denn so einen komischen Kauz müsste man normalerweise noch einige Meter weiter aus der Masse aufblitzen sehen. „Er…hatte gelbe Augen…“ Nun schaut mich Tatsuro ernst an. „Gehe niemals alleine in diese Bar, verstanden?“ Ich nicke verstehend. Es ist mir schon bei meinem ersten Besuch aufgefallen… „Diese Bar ist keine normale Bar, oder? Ich meine-“ Wieder zu schnell für mein Auge, legt er einen eisigen Finger auf meine Lippen. Die Geste irritiert mich so sehr, dass ich nur stumm nicken kann. „Nicht hier draußen. Drinnen werde ich dir all deine Fragen beantworten.“ Als wir die Bar betreten, blickt der Barkeeper wie gewohnt auf und nickt Tatsuro zu. Bei meinem Anblick macht sich jedoch Verwunderung auf seinem Gesicht breit. Er hat wohl nicht erwartet, mich wieder zu sehen… Jetzt kann ich diesen Blick deuten. Routiniert zeigt ihm Tatsuro zwei Finger. Das Zeichen für zwei Drinks. Wie beim letzten Mal gehen wir an einen etwas abgelegenen kleinen Tisch am Fenster für zwei Leute. Auch heute ist die Bar nicht auffällig voll und doch sitzt hier und da eine zwielichte Gestalt. In dem anderen Zimmer erkenne ich dieselbe laut lachende Gruppe wieder. Doch jetzt erst bemerke ich die befremdliche Sprache, die ganz und gar ungewöhnlich klingt…Diese kann ich nicht mal ansatzweise irgendwo zuordnen… Meine Aufmerksamkeit wird jedoch schnell auf etwas anderes gerichtet. Etwas hat meine auf dem Tisch liegende Hand berührt. Es war kaum bemerkbar und doch nicht zu ignorieren. Mein Gegenüber betrachtet mich mit seinen dunklen Augen. Wie hypnotisiert fixiere ich diese. Weiß er eigentlich, wie fertig er mich macht? „Beim letzten Mal…habe ich deine neugierigen Blicke zugelassen, weil du hier das erste Mal warst…Aber noch mal werde ich das nicht tolerieren.“ Enttäuscht hebe ich eine Augenbraue. Ich hatte jetzt eher auf ein Liebegeständnis gehofft. „Was?“ Unheilvoll verschränkt er die Arme auf dem Tisch. „Hier wird es nicht gut geheißen, wenn man sich in Dinge einmischt, die einen nichts angehen. Erstmal macht das verdächtig und zweitens beleidigst du die anderen Gäste.“ „Das soll heißen…Ich soll meine neugierigen Blicke für mich behalten?“ „Erfasst.“ Seufzend stutze ich meinen Kopf auf meinen Händen ab. Nicht leicht für einen so neugierigen Menschen wie mich. Um nicht in Versuchung zu geraten blicke ich aus dem Fenster. Im Gegensatz zum letzten Besuch zeigt Tatsuro hingegen kein Interesse an den Ausblick, der das Fenster bietet. Langsam werde ich unter seinen verharrenden Blicken nervös. Ich sehne mich nach seiner Aufmerksamkeit…aber wenn ich sie einmal habe, verfluche ich sie. Dann endlich kommen die Getränke, die von der scheinbar normalen Kellnerin gebracht werden. Seine Blicke bleiben jedoch auf mich haften. Ich schnappe mir mein Glas und lasse meine ungehaltene Art kurz freien Lauf. „Was ist??!“ Statt eines Lächelns, bleibt sein Gesicht ausdruckslos. Sein Satz klingt aber fragend und nachdenklich. „Du weißt schon…dass du nicht bei Sinnen bist?“ Ich verziehe meinen Mund zu einen schiefen Lächeln, ohne dass ich es wirklich merke. „Sagt der Massenmörder.“ Endlich huscht eine kurze belustigte Regung über sein blasses Gesicht. „Also leg schon los.“ Die Fragestunde ist eröffnet. Tja…womit soll ich nur anfangen? Kapitel 12: Wieso...lässt du mich nicht einfach in Ruhe? -------------------------------------------------------- Es gibt so viele Fragen, dass es schwer ist mit einer anzufangen. Immer wenn eine in den Vordergrund rückt, ersetzt wieder eine andere ihren Platz. Dann…muss ich innerlich lächeln, als ich daran denke…dass er eigentlich alles umsonst gemacht hat. „Sag mal…bist du irgendwie naiv?“ Für einen Moment entgleisen ihm die Gesichtszüge. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Ich an seiner Stelle wohl auch nicht… Als ich weiterhin auf eine Antwort warte, setzt er wieder sein Pokerface auf und verengt schließlich verärgert die Augen. Er kann sich damit sichtlich nicht anfreunden, dass ich Dinge tue oder sage, die er ganz und gar nicht erwartet hat. „Wieso?“ Nun kann ich mich nicht mehr halten. Ich setze mich wieder gerade hin und gestikuliere wild mit den Armen, obwohl mir bewusst ist, dass ich da eine nicht gerade ungefährliche Person zur Weißglut bringe. „Hast du…etwa wirklich gedacht, es würde sich irgendetwas ändern?? Dachtest du…es würde sich wirklich etwas ändern, wenn du diese Frau nun am Leben gelassen hättest oder nicht?? Dachtest du wirklich es würde sich auch nur etwas im Geringsten ändern, egal was du auch tust??“ Ob sich Gefühle durch Gegebenheiten ändern könnten… Verwirrung spiegelt sich in seinem Gesicht wider und ich versuche ruhiger zu sprechen. Versuche…es ihm begreiflich zu machen. „Was ich sagen will ist…“ Ich lege meine Hände sachte auf dem Tisch und lasse sie beruhigend ineinandergreifen. „Es…wird sich niemals etwas an meiner Sicht auf dich ändern, egal was auch ist oder war. Also hör auf dir umsonst Mühe zu machen.“ Fast schon verächtlich verdreht er die Augen. Er glaubt mir nicht. Als würde er eine Trumpfkarte auf den Tisch klatschen, blickt er mich wieder selbstsicher an. „Ah ja. Du willst mir also sagen, dass es dir scheißegal ist, ja? Das was du gesehen hast…wie ich diese Frau vor deinen Augen getötet habe…ist dir also völlig egal. Menschenleben sind dir völlig egal.“ Ich unterdrücke ein Schlucken, während er mich weiter fixiert und auf jede klitzekleine Regung in meinem Gesicht achtet. „Schön und gut. Aber…dein Gesichtsausdruck…als das Blut der Frau auf dein Gesicht spritzte…das sah ganz und gar nicht gelassen aus. Es war genauer genommen sogar…entsetzt. Man könnte meinen…verzweifelt.“ Sofort kommen mir abermals Bilder dieser grausamen Szene in den Sinn. Dieses widerwärtige Geräusch von dem Schlürfen…und dieser Übelkeit erregende Geruch von dem Blut… Aber am Schlimmsten…waren ihre Augen, die mich angesehen hatten…so flehend…und dann…so leer… Es ist egal, ob sie überlebt hat oder nicht…diese Szene war einfach schrecklich…Sie war so…real. Vom Augenwinkel her sehe ich eine Bewegung. Tatsuro lächelt. Er hat mich erwischt. „Ich habe doch gewusst, dass du lügst. Es kann dir nicht egal sein.“ Ich nippe an meinem Drink, um etwas Zeit zu schinden. Ich weiß nicht…wie Tatsuro das hingekriegt hat. Die Frau ist aus dieser Sache unversehrt entkommen…aber wie?? In dem Zeitungsartikel stand nichts über Wunden oder über einen Blutverlust. Also…wie hat er das nur angestellt? Natürlich könnte man denken, dass es eine andere Frau gewesen ist…aber das ist sehr unwahrscheinlich, zumal beide Frauen in derselben Gasse gewesen wären. Ich entscheide mich, mein Wissen Tatsuro jedoch erst später preiszugeben. Immerhin will ich ihm erstmal erklären, dass er so was nicht mehr zu tun braucht. Er wird mich durch so was nicht los werden. Laut stelle ich das Glas wieder auf den Tisch ab. „Es ist mir auch nicht egal! Aber…es ändert auch nichts! Ich will trotzdem nicht…“ Die Worte werden hörbar leiser und zögernder. „…von dir getrennt sein.“ Sogar ich selber habe das letzte Stück vom Satz nicht mehr gehört, er aber schon. Ungläubig lässt er seine Hände auf den Tisch fallen. „Ich sags doch, du bist verrückt!“ Zufrieden über seine Fassungslosigkeit stütze ich meinen Kopf auf meinen Händen ab. „Nicht verrückter als du.“ Aber auch er scheint nicht schnell aufzugeben. Unerwartet schlägt er eine neue Taktik ein. „In meiner Freizeit tue ich nichts lieber als Menschen zu töten. Es ist toll. Es ist befreiend. Es macht Spaß. Und wenn du mich nicht langsam aber sicher endlich in Ruhe lässt und das einsiehst, wirst auch du auf meiner Liste stehen. Ganz, ganz weit oben.“ Ich halte seinem Blick locker stand. Jetzt sind wir also schon bei Drohungen angelangt… Es ist so offensichtlich, dass er wieder versucht mich einzuschüchtern…mich zu überzeugen, ihn fallen zu lassen. Es ist nur Show…genauso wie es mit der Frau nur Show war. Ich habe ihn durchschaut. Und es fühlt sich gut an, ihm Paroli bieten zu können. „Du hast mir anscheinend nicht richtig zugehört, Tatsuro. Ich will dich nicht in Ruhe lassen.“ Als er sieht, wie ich all seine Trumpfkarten zunichte gemacht habe, blickt er doch leicht irritiert drein. So überrascht… „Und du bist doch verrückter als ich …“ Dann denkt er, des Rätsels Lösung gefunden zu haben und wirkt nun leicht gereizt. Man könnte meinen, er fühlt sich ausgenutzt. „Du bist ein Selbstmörder. Du willst sterben. Du willst, dass ich dich umbringe.“ Ich schüttele den Kopf. Dafür bräuchte ich ihn nicht, das würde ich auch noch alleine schaffen. Es ist lustig, zu sehen, wie er das Ganze so missversteht und hoffnungslos nach plausiblen Antworten sucht. Er kapiert einfach nicht…dass meine Handlung nicht plausibel zu erklären ist. Im Gegenteil…ich handle gegen jegliche Vernunft. Ich entschließe mich jetzt mit offenen Karten zu spielen. Die Trumpfkarten sind eh schon verspielt und wer weiß, was er mir noch an den Kopf werfen würde. „In der Zeitung…stand ein Artikel über die Frau. Sie hat überlebt. Und nicht nur das…Sie ist völlig unversehrt.“ Mir kommt es so vor, als würde sich die eintretende Pause minutenlang hinziehen… Dann verfinstert sich sein Blick und ich nicke nur unschuldig. „Ach so ist das…aber das war gar nicht beabsichtigt. Sie sollte sterben. Es ist ein Wunder, dass sie das überlebt hat.“ Ich seufze. Seine schwache Widerrede kommt zu spät. „Ich weiß, dass du mir nur etwas vorgemacht hast. Gib es auf. Und wie schon gesagt…auch wenn du ein Mörder wärst, ich könnte dich so oder so nicht vergessen.“ Bei meiner Hartnäckigkeit wird er sich wohl die Zähne ausbeißen müssen. Zur Sicherheit rücke ich dennoch ein Stückchen zurück und hebe mein Glas, als er seine Hand auf dem Tisch zu einer festen zitternden Faust ballt. Wenn er die Absicht haben sollte, den Tisch zu zerschmettern, dann bitte ohne meinen Drink. Der Drink kann schließlich nichts dafür. „Du denkst jetzt ich wäre kein Mörder, nicht wahr? Du glaubst dieser Frau hätte ich niemals etwas angetan…Aber…du weißt nichts. Garnichts. Aber…wie du es so gerne wiederholst…es wäre sowieso egal. Aber…sag mir eines…wäre es dir auch egal…wenn ich ein Monster wäre?“ Nun beuge ich mich ebenfalls vor. Seine Behauptung ist so schwachsinnig, dass ich ohne Nachdenken antworte. „Du bist kein Monster.“ In seinen Augen beginnt ein bedrohliches Funkeln. „Oh doch.“ Ich lehne mich erschöpft zurück. Ich würde mich niemals in ein Monster verlieben. Monster sind normalerweise diese grässlichen Dinger, die nichts Besseres zu tun haben, als sich in Wandschränke zu verstecken, um kleine Kinder Angst einzujagen. Und Tatsuro…gehört eindeutig nicht dazu. Er ist nicht abstoßend, sondern eher hübsch und elegant und anziehend und…naja, alles was eben eine Person ist, in der man verliebt ist. Ja, er ist genau wie ich. „Was für ein Selbstbewusstsein!“ Ich verschränke die Arme vorm Oberkörper. Immernoch leicht darüber empört, für was sich Tatsuro hält. Sein Blick bleibt hartnäckig düster. Er ist zu stur. „Ach, beharre doch darauf nicht so!“ Er entspannt seine Hand wieder. Ein seltsames kühles und zugleich arrogantes Lächeln umspielt nun seine Lippen. „Du kennst mich nicht…Ich bin…kein Mensch.“ Gut, ich bin also nicht wahnsinnig. Die andere Möglichkeit wäre noch, dass wir beide wahnsinnig sind und das nicht wissen…aber das wäre glaub ich etwas zu schräg. Ich blicke ihn aufhorchend an und warte auf eine nähere Erläuterung. Lange muss ich nicht warten. „Ich wollte dich schon…beim ersten Mal als wir uns begegnet sind. Du standest dort unten mit Takashi…und ich habe dich von der Treppe aus betrachtet…Du warst so faszinierend…“ Gespannt erwidere ich seinen intensiven Blick und spüre wie meine Wangen erröten. Mit so einem Geständnis habe ich am Wenigsten gerechnet…mir aber am meisten erhofft. Hey…Moment mal. Lass ich mich da etwa gerade einwickeln? Verträumt schließt er seine Augen und versucht sich wohl genau zu erinnern, was mich noch mehr schmeichelt. „Dieser Geruch…dieser unwiderstehliche Geruch von deinem Blut…“ Sofort schlägt meine Stimmung um und mir fährt eine unangenehme Gänsehaut über die Haut. Er sagt diese Worte so voller Sehnsucht, dass sie nicht gelogen sein können. „…Er ist unverkennbar. Er ist…gar wie eine Droge. Ja…ich wollte dich sofort besitzen…und dir jeden einzelnen Tropfen aus deinen Adern saugen...Du warst so unwiderstehlich…und doch konnte ich mich mit aller Kraft beherrschen, als du die Treppe hochgekommen bist. Es war ein harter Kampf. Aber du hast nichts bemerkt. Als du gehen wolltest, war mir klar, dass ich dich unbedingt wieder sehen muss…Ich dich besitzen muss…Dein wertvolles süchtig machendes Blut…Und ja, Uruha. Es gab so ungemein viele Gelegenheiten.“ Ich unterdrücke das Zittern und versuche gelassen zu bleiben. „Auf dem Weg zur Bar…auf dem Weg von der Bar…in der Gasse…in deinem Zimmer…abermals. Ich wollte es wirklich tun. Jedes Mal wartete ich auf eine Gelegenheit…lauernd…mich meinem Verlangen endlich hingeben zu können…deine wohltuende Wärme zu spüren…deine zarte Haut zu durchbeißen…und dir jeden einzelnen Tropfen aus deinen schönen zerbrechlichen Körper zu pressen…Diesem Verlangen, das mich beinahe um den Verstand bringt…Es ist schmerzhaft, Uruha.“ Sein gieriger gefährlicher Blick durchbohrt mich und ich drücke mich ängstlich gegen die gepolsterte Stuhllehne. Mir ist nun klar, dass ich im Gegensatz zu der Frau seinen Angriff wohl nicht so leicht überlebt hätte. Desto trotz klammere ich mich verzweifelt an die gegebenen Tatsachen. „Aber…du…du tötest doch gar keine Menschen, oder? Ich meine, dann hättest du doch die Frau nicht verschont…? Mein Gott, sie war doch völlig unversehrt!“ Er lässt ein kühles leises Lachen ertönen, was mich noch mehr erfrieren lässt. Jetzt da ich weiß, dass er kein Mensch ist…scheint er sich mir wohl allmählich zu öffnen und entspannter zu sein…leider nur nicht in die Richtung, in der ich es gerne hätte. „Die Frau, die du gesehen hast…war echt. Aber die Szene an sich war eine Illusion. Ich wollte dich erschrecken. Aber…das heißt nicht, dass ich keine Menschen anfalle.“ Ich nehme einen tiefen Atemzug. „Was heißt…dass du doch Menschen tötest?“ Langsam gelangweilt sitzt er etwas schräg im Stuhl. „Ich würde jetzt gerne Ja sagen. Aber das würde keinen Unterschied machen. Also Nein, normalerweise nicht. Man versucht immer nur so viel Blut zu nehmen, dass der Mensch es überlebt. Sonst würde man ja einem ziemlich schnell auf die Schliche kommen…Doch Uruha…Denkst du wirklich bei dir…könnte ich mich zurückhalten?“ Ich beiße mir auf die Unterlippe, als mich wieder einer seiner intensiven Blicke treffen. Die Tatsache, dass er immerhin versucht, die meisten Menschen am Leben zu lassen ist schon mal etwas ungemein Positives. Die andere Tatsache hingegen, dass ich nicht zu diesen Menschen gehöre, eher nicht. Ich versuche das Ganze etwas lockerer zu sehen…wahrscheinlich um diese markerschütternde Angst zu verdrängen. „Tja, das fasse ich mal als Kompliment auf.“ Dann fliegt der klägliche Versuch auf. Meine Stimme ist nur noch ein zittriges Flüstern und doch hat er jede einzelne Silbe des nachfolgenden Satzes genau verstanden. „W…Wieso hast du es dann bisher nicht getan?“ Auch er lehnt sich wieder zurück und lässt ein überflüssiges Lächeln aufblitzen. „Also erstmal bist du bekannt. Immerhin spielst du in Gazetto die Lead Gitarre. Und man darf nicht vergessen, dass eure Band sogar im Ausland einige Fans hat. Dein Mord wäre also ziemlich publik. Außerdem…wäre es doch auch ziemlich unsportlich, die Konkurrenz einfach umzubringen, oder? Wo bleibt dann noch der Spaß?“ Ich kann meine Enttäuschung nicht verbergen. Es sind Gründe, keine Frage. Aber es nicht der Grund dabei…der mir so wichtig ist. Er sagt, er tut es nicht, weil ich ziemlich berühmt bin…aber nicht wegen meiner Person an sich. „Ist das alles?? Nur wegen diesen lächerlichen Gründen, hast du es nicht getan?“ Dann schaut er mich mit einem unergründlichen Blick an. „Nein.“ Als keine Antwort kommt und mein Herz mal wieder ein Tick zu schnell pocht, hacke ich ungeduldig nach. „Wegen welchen denn noch?“ Er sieht meine Ungeduld und ergötzt sich lächelnd daran. Ich bemerke dies und versuche gelassener zu wirken. Wohl ohne Erfolg… „Gibt es keine interessanteren Fragen? Willst du gar nicht wissen, was ich bin?“ Als ob ich das nicht schon wüsste. „Jemand der in Hälse von Menschen beißt und deren Blut trinkt…tja…was kannst du nur sein?“ Sarkastisch schlägt er zurück. „Hm…und ich dachte es wäre offensichtlich?“ Ich verdrehe die Augen. Spätestens seit diesem Typen vor der Bar muss man mir nicht erst erklären, dass es Geschöpfe oder Dinge gibt, die der realistischen Vorstellungskraft der Menschen weit übersteigen. „Du bist ein ausgebrochenes Experiment von einem verrückten Wissenschaftler. Gebs zu!“ Sein Gesicht erstarrt. Ich muss kichern. „Nein, du bist natürlich ein Vampir.“ Erst wollte ich es nicht wahr haben…aber spätestens als er am Morgen nach dem vorgetäuschten Mord in meinem Zimmer aufgetaucht ist…war es eigentlich klar. Vampire sind nun mal die typischen Blutsauger. Unglaublich…aber ich habe tatsächlich einen Vampir vor mir sitzen. Einen Vampir, der mich so beeindruckt, dass ich mich in ihn verliebt habe… Die Frage ist nur…ob ich Tatsuro als Mensch auch geliebt hätte? Trotz aller Offensichtlichkeit wirkt dieser unruhig. „Wieso…nimmst du das eigentlich so selbstverständlich hin?“ Nun bin ich derjenige, der lächelt. „Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der dir auch nur ansatzweise ähnelt…Und…ich muss zugeben, ich war schon immer sehr abergläubisch.“ Ein Lachen entweicht mir und Tatsuro muss doch eine leichte Bewunderung zu Erkennen geben. „Also…hast du schon immer an die Existenz von Vampiren geglaubt?“ Doch etwas peinlich berührt kratze ich mich am Nacken. „Naja…es hat sich ja gezeigt, dass meine angeblich lächerliche Vermutung richtig ist.“ Ich brauchte nur noch die Beweise…um endgültig sicher glauben zu können. Ich bemerke in seinem Blick, dass er sich immer noch innerlich über mich amüsiert, also wechsele ich vorzeitig das Thema. „Diese Bar ist also eine Bar für Vampire, was?“ „Nein, auch für andere Wesen.“ Neugierde macht sich in mir breit. „Andere…Wesen?“ Was es wohl noch so alles gibt, wovon die naiv wirkenden Menschen keine Ahnung haben? Hm…will ich das überhaupt wissen? Er grinst sadistisch, als er meine Besorgnis sieht. „Ach, darauf müssen wir jetzt nicht näher eingehen. Also…lässt du mich nun in Ruhe und wir sehen uns nie mehr wieder?“ Empört verschränke ich die Arme vor meinem Körper. Netter Versuch. Er zuckt nur mit den Schultern, so als hätte er meine Reaktion vorhergesehen. „War ja nur eine Frage.“ Desinteressiert schaut er aus dem Fenster. Ich hingegen muss jetzt nun wirklich etwas lauter lachen. „Seit wann hast du eigentlich so was wie Humor?“ Mit den Augen rollend leert er sein Glas. „Irgendwie muss ja ein Vampir mit seinem deprimierenden Leben zurechtkommen.“ Indirekt, aber gut. Wissbegierig lehne ich mich dann wieder vor. „Und…wie bist du zu dem geworden, was du jetzt bist?“ Nur von den Augenwinkeln her betrachtet er mich. „Das ist eine sehr lange Geschichte.“ Ich lächle aufmunternd. „Ich habe Zeit.“ Kapitel 13: Seine Geschichte... ------------------------------- Gleißendes Sonnenlicht erstrahlte über die großflächigen Felder und ließ diese in ein unbeschreiblich helles Grasgrün oder Weizengelb glänzen… Die Vögel flogen in der klaren frischen Luft und verbreiteten unbekümmert ihren fröhlichen Klang… Lebhafte Schmetterlinge, die über die angrenzenden bunten Blumenfelder des kleinen Dorfes umher flogen, machten das traumhaft wirkende Bild einer idyllischen Landschaft perfekt. Welch ein wundervoller Sommertag… Auf dem kleinen Trampelpfad inmitten der zahlreichen Weizen- und Reisfeldern ging ein anmutiger ungewöhnlich schöner Mann langsam auf das Dorf zu. So langsam schlendernd…als hätte er alle Zeit der Welt. Mit seinem rabenschwarzen langen Kimono wirkte er so unpassend in dieser farbenfrohen Kulisse… Verträumt strich er sanft über das wehende weiche Weizen. Die andere Hand ruhte gelassen auf seinem Schwert, das an seiner Seite seelenruhig hing. Ein weiter geflochtener Hut verzierte seinen Kopf und schützte ihn vor der Sonne. Da er in Windrichtung wanderte, wehte sein langes geschmeidiges Haar vor seinem Gesicht und verdeckte es beinahe vollständig. Über ihm flatterten zwei spielende Schmetterlinge und er genoss sichtlich die leichte Brise. Ein heimatloser Wanderer auf Umwegen und doch…schien das Schicksal ihn zu führen...ihn zu lenken. Er erweckte einen harmlosen Eindruck…wenn er nicht etwas Beunruhigendes verströmt hätte… Seine Anwesenheit schien das Bild der Idylle zu stören. Die arbeitenden Bauern auf den Feldern betrachteten ihn skeptisch und fühlten sich unwohl in seiner Gegenwart. Fremde kamen zwar in dieses Dörfchen nicht selten...da es nicht allzu entfernt von einer Handelsroute lag…aber dieser Mann sah aus wie ein Krieger und sein dunkler Kimono mit den blumenartigen Muster war aus einem teueren Stoff. Zwar besuchten kaiserliche Soldaten ab und zu den Ort um nach den Rechten zu sehen und Steuern einzutreiben, aber Samurai und andere Schwertträger betraten das Dorf nur um zu rasten oder...um Ärger zu machen. Auch wohlhabende Leute waren den Bewohnern suspekt, da sie selber in bescheidenen Verhältnissen lebten. Aber dieser junge Mann verbreitete noch etwas anderes...etwas Kaltes…etwas Fremdes...etwas…Unbeschreibliches… Im Dorf selber achteten die Dorfbewohner ihn nicht…und gingen ihren alltäglichen Beschäftigungen nach. Die Ernte war sehr reichlich und so zog es den einen oder anderen reisenden Händler dorthin, der vorbeikam. Diese stellten ihre Stände auf und auch die Dorfbewohner fingen an ihre überschüssigen Ernteerträge an Reisende zu verkaufen. Das Dorf befand sich in einem aufkommenden Aufschwung. So nahm das arbeitsreiche hektische Leben die Leute zu sehr ein, als das sie die gut getarnte Bedrohung wirklich erkannt hätten…Nur ein kleiner Junge, der sich vor der Feldarbeit drückte und auf einer Kiste zwischen den Ständen saß, stand auf und zeigte ängstlich auf den Fremden. Keiner beachtete ihn. Der Mann stolzierte unbeirrt weiter und würdigte den Ereignissen um ihn herum nur einen halbherzigen Blick. Die nichtsahnenden Bewohner hinter sich lassend. Niemand…der einen Gedanken daran hegte, ihn aufzuhalten… Als das jemand dazu in der Lage gewesen wäre… Er war schon fast wieder aus dem Dorf heraus…fast wäre die Bedrohung ohne einen Schaden verursacht zu haben einfach über das Dorf lautlos hinweg geweht, als er ohne erdenklichen Grund inne hielt. Ihm war etwas ins Auge gefallen…etwas…was ihn nicht weitergehen ließ. Lauernd blieb er vor einem kleinen japanischen Haus mit einem großen Garten stehen. Seine Aufmerksamkeit beruhte aber nicht auf den Garten, der mit seinen vielen Blumen und rosa leuchtenden Kirschbäumen einem Abbild aus einem Bilderbuch glich… Ihn interessierte etwas, was sich in dem Garten befand… Nicht der Brunnen inmitten dieses Gartens, der leicht plätscherte…und auch nicht die gestreifte Katze, die durch ein Loch im Zaun über die Straße huschte. Es war…vielmehr die Person, die im Garten die Blumen goss. Eine Person, die unvorstellbare Fröhlichkeit und Schönheit ausstrahlte. Sie war so lebendig…so glücklich…so unschuldig. Der traumhafte Garten wirkte neben ihr blass…nebensächlich. Plötzlich gesellte sich ein junger Mann zu der bildhübschen Frau, der ihr anscheinend bei der Gartenarbeit half und etwas Erde umhäufte. Als er neben ihr trat, trafen sich ihre Blicke. Nur für einen kurzen Moment…und doch so vielsagend. Auch er erstrahlte in einer unwirklichen Glückseligkeit und Naivität, fernab jeglichen Leids. Es war…sorgenfreies…vollkommenes Glück. Dieser Fremde…der so abseits auf dem Weg stand und diese perfekte Szenerie betrachtete, war der Einzige im Dorf, der es zur Kenntnis nahm. Der unbemerkte Beobachter drehte sich nach einer Weile um und ging…auf seinem Gesicht ein belustigtes Grinsen. Ein unheilvolles Grinsen…dass das Bild des Glücks verdüsterte. …Spät in der Nacht kehrte der Beobachter zurück. Lautlos überstieg er den Zaun… Dunkle unreine Gedanken beflügelten ihn...brachten ihn langsam in vorfreudiger Ekstase…ließen ihn innerlich erbeben…ließen ihn zügig weitergehen. Unbehaglich und leise fauchend fixierte ihn als einziger Zeuge, die gestreifte Katze in einer der Bäume. Nur ihre leuchtenden Augen waren in der Dunkelheit zu erkennen… Ungeachtet tritt der voranschreitende Schatten auf die sorgfältig gepflanzten Blumen, in denen soviel Mühe und Liebe steckten…immer dem Ziel näher entgegen… Wissend und bedacht darauf eine kleine heile Welt für immer zu zerstören. Denn dieses vollkommene Glück…das er gesehen hatte, war ihm zuwider. Es entfachte in ihm ein Brechreiz…einen unaufhörlichen Hass…ein unstillbares Verlangen… Ahnungslos und glücklich von seiner zukünftigen Frau träumend wälzte sich der junge Mann derweil in derselben Straße in seinem Bett. Niemals auch nur annährend ahnend was ihn bevor stehen würde…wie es in dieser Welt wirklich zuging… Ein lauter hoher Schrei weckte ihn aus seinem Traum von einer schönen Zeit. Dann wurde ihm bewusst, dass er die Stimme kannte. Eine panikvolle Angst ließ ihn erschüttern, als er hektisch zu dem Haus am Ende der Straße eilte…zu dem Haus mit dem prachtvollen Garten… Beim Rennen…den Namen seiner Geliebten laut rufend… Die Hoffnung in ihm lodernd, dass nichts Schlimmes passiert war…dass er rechtzeitig bei ihr sein würde… Doch als er ankam…entdeckte er die offenen Schiebetüren und das viele Blut… Der Vater der jungen Frau mit seinem eigenen Schwert enthauptet auf den Boden liegend… In Wahrheit ein damaliger General einer Einheit der kaiserlichen Armee gewesen…der nach einer der brutalsten Schlachten nie mehr wieder kämpfen wollte und sein Glück auf dem Land fand. Der schwor…sein gefallenes Schwert nie mehr wieder aufzuheben…seinen Schwur jedoch brach mit dem besten Willen, seine einzige Tochter zu beschützen. Sie selbst lag bereits tot in ihrem Schlafzimmer…entblößt, blutleer und mit ausdruckslosen Augen auf dem kalten Holzboden…wie eine bedeutungslose Puppe. Zu spät. Er kam zu spät. Für beide und besonders für sie. Der Mörder sitzend und höhnisch grinsend auf ihrem Bett…ihn erwartend…sich an seine Reaktion ergötzend. Lachend stand dieser auf, während der junge Mann ohne klaren Verstand verzweifelt vor ihm auf die Knie sank…nicht imstande das zu verarbeiten, was er da sah. Nicht imstande…zu verstehen. Wehrlos… Leichte...wehrlose Beute… Aber es war keine Zeit mehr. Keine Zeit für einen weiteren Mord…keine Zeit für ein weiteres Gefühl der süchtig machenden Ekstase… Die Dorfbewohner eilten zu Hilfe und stürmten das Zimmer. Daraufhin verschwand der Mörder schneller als jedes menschliches Auge aus dem offenen Fenster…das Chaos…und das Leid hinter sich lassend. Er ließ das Dorf in einer nun unvollkommenen gar grausamen Idylle zurück. Der kleine Ort hatte seine harmlose Pracht verloren… Der apathische zerstörte Mann wurde nun alleine in dem Zimmer entdeckt…des Mordes beschuldigt wollten ihn die Dorfbewohner als gerechte Strafe töten…ihn von seiner unmenschlichen Tat und seinem Wahnsinn erlösen. Entschlossen, aber auch trauernd, hielten sie ihre Werkzeuge, nun tödliche Waffen, fest in den Händen. Immernoch betäubt von der harten Realität und dem Irrsinn verfallend stand der Mann vom Boden auf und eilte in das Zimmer des Vaters…die Bewohner auf seinen Fersen. Dort sah er seine einzige Rettung…ein weiteres Schwert…ein Samuraischwert an der Wand. Ein Schwert…das für massakergleiche Schlachten verwendet wurde…an dem das Blut zahlreicher Menschen klebte…und das…weiterhin nach Blut dürstete. Es hatte auf ihn gewartet. Ohne nachzudenken nahm er es wie in Trance an sich…seine Verfolger dicht hinter ihm…zu dicht. Ein Schwert streifte ihn am Arm. Er bemerkte es nicht. Schreiend und wie ein Tier schlug er dann wild um sich…nicht per Zufall, sondern gezielt erwischte er seine Feinde…die noch vor einer Minute seine Freunde gewesen waren…Menschen, mit denen er aufgewachsen war…Menschen, mit denen er so Vieles erlebt hatte… Diejenigen, die schon am Boden lagen, aber noch atmeten erstach er qualvoll…und geriet das erste Mal in einem unaufhörlichen Blutrausch…nie enden wollend. Der Geschmack hat ihn angetan. Unbewusst hatte er Spaß an das Töten gefunden. Seiner grausamen Taten bewusst flüchtete er in der gleichen Nacht aus seinem Dorf…aus seiner Heimat, die nun nicht mehr seine Heimat war. Es nie mehr wieder sein würde… Trauer…und den Tod hinter sich lassend. Welch eine schöne Nacht… Eine Nacht, die ein gefühlloses Monster hervorgebracht hatte. Nach dem ehrenvollen Tode sehnend und den unerträglichen Schuldgefühlen erliegend meldete er sich freiwillig für die Schlacht. Im Gegensatz zu den anderen vielen jungen Männern, die brutal aus ihren Dörfern…von ihren Verlobten und Familien gerissen und gezwungen wurden ihr Leben für das Kaiserreich zu opfern, stürzte er sich als unabhängiger Soldat in das menschenverachtende Gemetzel…ohne jegliche Angst…wieder diesem unstillbaren Rausch verfallend… Dieser ließ ihn allen Schmerz und jede Wunde vergessen…doch zugleich wünschte er sich nichts sehnlicher als jemand, der ihn besiegen konnte und den endgültigen Todesstoß ansetzte…sein qualvolles Dasein beendete. Für immer. Trotz des größten Sterbewillens…war er ein Überlebender der Schlacht…in dem Blut seiner Feinde getränkt und in einer betrübten Kälte…Sein Herz konnte schon lange nicht mehr fühlen. Wie…könnte er dann so was wie Gnade und Barmherzigkeit verspüren? Gefühlskalt versetzte er einem auf dem Boden liegenden Verletzten den letzten Hieb. Lächelnd. Suchend blickte er weiter auf die Leichen…erhoffte sich irgendwo noch ein Lebenszeichen. Solange er lebte…solange würde er nicht aufhören können… Er würde es immer und immer wieder tun. Seine Gefühle…seine Liebe…nie mehr wieder findend. Die Leere mit Mordlust und Hass füllend. Auf dem weiten menschenleeren Feld voller entstellter Leichen bildet sich ein unwirklicher Nebel…und dennoch hörte er nicht auf nach Verletzten zu suchen. Nach jemanden, dem er das Leben nehmen konnte… Nach jemanden, der ihm das Leben nehmen konnte. Dann ohne Vorwarnung tauchte wie aus dem Nichts ein Reiter auf. Sein schwarzes graziles Ross überstieg mit einer irrealen Leichtigkeit die Unmenge an leblosen Menschen…den grauen Dunst hinter sich herziehend. Genauso anmutig erscheinend stieg der geisterhaft scheinende Reiter lautlos ab…seine japanische Rüstung fleckenlos glänzend…das lange seidene Haar offen in der Luft wehend…ein amüsiertes Lächeln auf den blassen Lippen… Ein hübsches Gesicht…so harmlos…so unschuldig… …so trügerisch. „Ich habe doch gewusst, dass du ein guter Kämpfer bist…“ Als der Schwertkämpfer den Reiter vor sich erkannte, quoll der Hass in ihm ins Unermessliche an. Abermals zog er energisch sein Schwert…und stürzte sich laut schreiend auf diesen. Ohne Erfolg. Mühelos schleuderte ihn der Angreifer zu Boden. Ohne…seine Waffe gezogen zu haben. Ist dieser Mann also derjenige, der ihm ebenbürtig ist und den heißersehnten Gnadenstoß versetzen wird? Derselbe Mann…der ihn erst zu dem gemacht hatte, was er nun war…? Wird er durch dieselben Hände sterben wie seine ehemalige Liebe? Wenn er nur daran dachte…glaubte er sein Herz zerreißen zu hören… Er war darauf gefasst. Endlich wollte er dieses leidvolle Leben hinter sich haben…Endlich Erlösung. Doch das, was ihm der Mann anbot, war nicht der Tod, den er so sehnlich willkommen geheißen hatte. „Diene mir und du wirst unsterblich sein. Für die Länge der Tage wirst du deinem Blutrausch nachgehen können. Töten können.“ Ein Leben bis ans Ende der Tage…sich seinem Verlangen nachgebend…ein tägliches Töten…ohne jeglichen Sinn und Verstand. Kein…Töten, um zu leben…sondern ein endloses Leben, um zu töten. Nein. Das entsprach nicht dem Wunsch des jungen Kämpfers. Dem Wunsch zu sterben. Er hatte genug getötet…genug Blut vergossen. Der Reiter ließ ein kurzzeitiges kühles Lachen ertönen. „Oh doch, du wirst sterben. Keine Sorge…“ Bei dieser Nachricht zutiefst erleichtert, schmiss der Kämpfer erschöpft sein Schwert zur Seite…unerreichbar und für immer verloren in den Dunst verschwindend. „So bringt es hinter Euch.“ Um Erlösung bittend stellt er sich mit von Körper ausgestreckten Armen vor dem Reiter hin. Er fühlte sich plötzlich so müde…so müde und schwach, so…als wäre seine letzte Kraft aus ihm gewichen… In ihm verblieb nur noch das Gefühl der Ungeduld. Er sollte es schnell vollstrecken und ihn nicht mehr länger warten lassen. Ein Schwerthieb…und alles wäre vorbei. Gegen seine Erwartung sah er ein gieriges Funkeln in den dunklen Augen seines Vollstreckers. Als wäre er eine Frau, schmiegte sich der Andere leicht an ihm und strich ihm mit einem Finger unvorstellbarer Kälte über die Wange. Sein besessener Blick wanderte langsam von seinen glasigen Augen bis runter zu dessen Mund. Dürstend fixierte er schließlich seinen Hals und leckte sich über die ebenso kalten Lippen. Der junge Mann verstand nicht…verstand nicht, was der Andere da tat. Verstand nicht wieso dieser zögerte und sein Schwert nicht zog. Er verstand erst als er dankend den tödlichen Schmerz spürte und sein eigenes Blut in seine aufgerissenen Augen spritzte… ... „Er…hat dich gar nicht getötet…Er hat dich…verwandelt…“ Eher zu mir selber sprechend blicke ich entsetzt zu ihm auf und sehe ihm zu, wie er seine Zigarette in dem Aschenbecher ausdrückt. Traurig muss ich das Gesicht verziehen. Was für ein Schicksal…was für eine schreckliche Geschichte… Der Tod seiner Liebe hatte ihn erkälten lassen…ihn wahnsinnig gemacht… Er suchte vergeblich nach den ehrenvollen Tod im Kampf…nach Erlösung, stattdessen…wurde ihm ein neues Leben geschenkt. Ein unsterbliches Leben. Ich frage mich…ob er wegen dieser Geschichte noch immer leidet… Vergeblich versuche ich Tatsuros Blick einzufangen, der jetzt nachdenklich aus dem Fenster starrt…durch die Passanten hindurch. Sein Gesichtsausdruck ist kühl…ausdruckslos…aber ich spüre die Wehleidigkeit und den Schmerz hinter seiner Fassade… Sie ist fast greifbar… Egal wie gefühllos er auch sein mag…seine Geschichte…wird ihn für immer begleiten. Das Leid setzte sich in seinem Leben als Mensch fest…und lässt ihn auch nach dem Tod nicht los. Schuldig fühlend kratze ich mich am Unterarm. „Es tut mir Leid…Ich hätte dich nicht auffordern sollen, mir die Geschichte zu erzählen.“ Er dreht sich wieder leicht lächelnd zu mir, doch seine Augen blicken qualvoll. Es ist so absurd…ihn so zusehen. „Ist schon gut. Ich…erzähle sonst niemanden meine Geschichte…also fühle dich geehrt.“ Das ist doch etwas unerwartet. „Niemanden? Also wissen auch deine Bandkollegen nichts davon?“ „Nein.“ Bandkollegen stellen für mich sehr enge Freunde da, mit denen man fast das ganze Jahr täglich zusammenhockt. Vor ihnen Geheimnisse zu bewahren, kommt mir schwierig und fast unmöglich vor. So fühle ich mich noch mehr als nur geehrt. Wobei…meine Bandkollegen wissen auch nicht, dass Tatsuro ein Vampir ist…aber das ist glaub ich, unmöglich zu vergleichen mit einer Jahrhunderte alten Lebensgeschichte. „Wow…“ Ich merke, dass er selber etwas erstaunt ist über seine Offenheit zu mir, aber mich macht dieser Gedanke unglaublich glücklich. Ihm bleibt meine Freude nicht verborgen. „Spätestens jetzt…müsste dir doch klar sein, dass ich ein Monster bin…Ich habe so viele Menschenleben auf dem Gewissen…und du…du grinst nur.“ Bei diesem Vorwurf kann ich nicht anders und muss noch breiter grinsen. Am liebsten hätte ich Tatsuro in den Arm genommen…aber ich weiß natürlich, dass das nicht möglich ist. Er könnte einem beinahe leid tun, dass er es nicht schafft, mich zu überzeugen. „Tatsuro…natürlich war dein Morden schrecklich. Aber…es war nicht deine Schuld. Da wäre womöglich jeder ausgeflippt…bei dem…was passiert ist. Manche sind da sensibler als andere. Außerdem wollten dich die anderen Dorfbewohner umbringen…du musstest dich also verteidigen…“ Sachte schlägt Tatsuro mit der flachen Hand auf den Tisch. Sachte insofern, dass dieser nicht kaputt gegangen ist. „Hör auf, das Ganze herunterzuspielen! Es muss dir doch als Mensch grausam vorkommen! Du müsstest schreiend aus dieser Bar rennen!! Stattdessen bleibst du unbeeindruckt hocken und grinst mich an!“ Ich beiße mir auf die Lippe. „Es…es ist nicht so, dass ich dich nicht ernst nehme Tatsuro. Ich finde es auch wirklich schrecklich…aber genauso bin ich davon überzeugt, dass es nicht deine Schuld war! Du kannst nichts dafür…für das was passiert ist.“ Ich spüre wie meine Augen wässrig werden, wenn ich daran denke, wie sich Tatsuro gefühlt haben muss. Wie ich…mich fühlen würde. Die Liebe des Lebens…tot. „Es…es tut mir so wahnsinnig Leid was passiert ist…“ Überrascht reißt er bei meiner zittrigen Stimme die Augen auf. „Du…du wirst doch jetzt nicht etwa…weinen??“ Schnell streife ich mit meinen Ärmeln abermals über die Augen, aber es kommen immer wieder neue Tränen nach. „N…nein!“ Verzweifelt merke ich, dass ich gegen die Tränen nicht ankomme. Mit dieser Situation total überfordert, blickt sich Tatsuro hektisch um. Ich habe ihn bisher noch nie so…hilflos erlebt. Wenn ich nicht weinen würde, hätte ich bestimmt gelacht. Panisch greift er zu dem nächstgelegenen leeren Tisch. Verschwommen sehe ich, wie er mir etwas Weißes reicht. Ich greife danach und fühle den weichen Stoff. Eine Serviette. „D…danke.“ Ich wische mir damit über die Augen…und wie ein Wunder hilft es. Es kommen keine neuen Tränen mehr nach und ich fühle mich besser. Wahrscheinlich…weil mich die Geste von Tatsuro zu sehr erfreut. Dankend strahle ich ihn an. „Sorry…Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen…“ Etwas beschämt blickt er zur Seite. „Du bist ja einer…“ Ich muss lachen. Verwundert von meinen wechselhaften Launen sieht er mich wieder an. Die nächsten Worte aus seinem Mund, lassen nun mich die Augen aufreißen. „Du magst mich, nicht wahr?“ Sofort spüre ich wieder die Hitze in mein Gesicht hochschießen. Ich senke automatisch den Blick. „Ja…“ Ich warte auf irgendeine Antwort…oder Reaktion. Doch es passiert nichts. Da ich mich nicht traue den Kopf wieder zu heben, sehe ich mir die Rillen von dem Holztisch an. Ein schöner geschliffener Tisch und so mehrfarbig. Bestimmt nicht billig… Tock Fragend drehe ich leicht den Kopf und spähe auf das Glas. Erst ein Laut…dann allmählich mehrere…bis zu einem konstanten Klopfen. Na toll…Es regnet. Nebenher höre ich wie Tatsuro sich zurücklehnt. Langsam traue ich mich wieder aufzuschauen und sehe ihn wortlos in den Regen hinausstarren. Ich tue es ihm gleich und sehe wie das anfängliche Rieseln stärker wird. Ein Mann ohne Kapuze eilt schnellen Schrittes mit hochgezogenen Schultern an uns vorbei. Ein Anderer in einem Anzug hält seinen Aktenkoffer über den Kopf. Ein streuender zotteliger Hund schüttelt sein Fell beim Vorbeilaufen. „Du solltest…für mich keine Zuneigung empfinden.“ Seine plötzliche Stimme lässt mich aufzucken. Hat er etwa über meine Antwort nachgedacht, als er in den Regen hinausgeschaut hat? Mir selbst fällt darauf nichts ein…außer…dass er irgendwo doch Recht hat. „Ich weiß.“ Er nimmt einen Schluck von seinem Glas und verschränkt seine Arme auf den Tisch. Ich frage mich, wie viel wir schon getrunken haben…irgendwie…fühle ich mich komisch. „Hast du noch irgendwelche Fragen?“ Empört jauchze ich auf. „Aber selbstverständlich! Ich habe noch soooooo viele Fragen an dich!“ Wehe, er verdrückt sich jetzt… Er seufzt kurz. „Na, dann los.“ Ich denke noch mal kurz über seine Geschichte nach. Meiner Meinung nach sind da ein paar Fragen offen geblieben… „Wenn es dir nichts ausmacht…hätte ich da noch die eine oder andere Frage zu deiner Geschichte…“ Aufeinmal scheinbar unberührt zuckt er mit den Schultern. Dieser Schauspieler. „Frag.“ Ich setze mich aufrecht hin. Ich weiß nicht warum aber…diese Frage schwirrt mir schon die ganze Zeit im Kopf herum. „Wie…hieß sie?“ Zum ersten Mal höre ich so was wie Wärme in seiner Stimme mitschwingen, als er ihren Namen nennt. Es sollte unbedeutend klingen…aber mich kann er nicht täuschen. Ich habe es gewusst. Bei ihr…kann er nicht kalt sein… „Yoko.“ Im Gegensatz zu Yoko…werde ich für ihn nie mehr sein, als seine Beute. Als eine gut riechende Droge… Ich bin mir nicht sicher, ob ich Yoko jetzt bemitleiden…oder beneiden soll. „Alles ok?“ In diesem Moment hasse ich es, dass er mich so leicht durchschauen kann. Schnell stelle ich ihm schon die nächste Frage. „Klar. Ähm…wieso denkst du hat dieser Vampir euch das angetan?“ Wieso gerade sie…? Es hätte jeden anderen treffen können. Er hält das Glas mit beiden Händen fest und betrachtet konzentriert den Inhalt. „Er hat es getan…weil er unser Glück nicht ertragen konnte.“ Er nimmt wieder einen Schluck. Ich schließe die Augen… „Und weil…er mich wollte.“ Schnell hole ich meine Zigarettenschachtel hervor und zünde mir eine Qualmstange an. Erst als ich einen Zug genommen habe, spreche ich weiter. „Er wollte dich, damit du ihm dienst…weil du ein guter Krieger warst. Aber ich verstehe nicht so ganz…wofür brauchte er dich? Als Vampir war er doch stark genug…“ Er schüttelt leicht den Kopf. „Er wollte mich nicht als Leibgarde haben, sondern als Soldat. Für seine Armee.“ Vor Staunen das Gesicht verzogen ziehe ich noch mal an der Zigarette. „Was?? Er hatte eine Armee??“ „Ja…Ich war nicht der Einzige, den er verwandelt hat. Er hat eine kleine Armee aus Vampiren erschaffen…Du weißt, dass die Kräfte eines Vampirs die eines Menschen weit übersteigt. Ob wir es wollten oder nicht, mussten wir ihm dienen und für ihn an Schlachten teilnehmen, wo wir natürlich als Sieger hervorgingen. Es waren keine großen Schlachten, aber Schlachten, aus denen er Gewinn schlagen konnte.“ Hasserfüllt beiße ich fest die Zähne zusammen. „Er hat sich ein gutes Leben gemacht, während ihr wie Sklaven für ihn in den Schlachten kämpfen musstet…“ Er blickt vom Glas auf. „Er war furchtbar arrogant und selbstgefällig. Die Drecksarbeit überließ er uns. Er selbst wollte sich nicht die Hände schmutzig machen…“ Ich schlage nur halb so stark wie Tatsuro vorhin auf den Tisch, obwohl mit voller Kraft. Autsch. „Dieser Mistkerl! Nur weil er Diener wollte, hat er dein und das Leben der anderen Menschen zerstört…“ Wer auch immer dieser Vampir gewesen war…ich hasse ihn. Abgrundtief. Als würde Tatsuro sich von meinen Wutausbruch nicht anstecken lassen, verschränkt er locker die Arme vor dem Körper. „Wenn das doch nur der einzige Grund gewesen wäre…aber er wollte mich in vielerlei Hinsicht…“ Mein Mund klappt auf, ohne das ich etwas gemacht hätte. Hatte…ich seine Worte gerade richtig verstanden…?? Ich wollte nachhaken, doch sein ernster lodernder Blick, schreckt mich ab. Eines ist sicher…Tatsuro war in vielerlei Hinsicht schlecht auf diesen Vampir zu sprechen. Und da hat er verdammt Recht. „Ich hoffe…du musstest nicht lange für dieses Arschloch arbeiten?“ Erleichtert atmet er aus. „Nein, zum Glück nicht. Nur ein paar Jahrzehnte oder so. Vielleicht auch ein oder zwei Jahrhunderte. In Vampirjahren wird das ja wie Wochen gemessen, wenn überhaupt.“ Ich muss grinsen. Also für einen Menschen wäre ein Jahrhundert eine Ewigkeit und noch mehr gewesen. „Und wieso nur so kurz? Ich hoffe, ihr konntet ihn stürzen.“ Der Gedanke gefällt mir… „Nein…das war etwas anders. Wie du dir bestimmt vorstellen kannst, wird eine Armee, die immer gewinnt…und dazu noch…aus so wenigen Soldaten besteht…in dieser Zeit ziemlich bekannt. Anfangs dachten die Menschen noch, das wäre nur eine Legende von vielen. Aber durch unsere anhaltenden Schlachten wurden wir immer bekannter und gefürchteter. Bald schon…wurden den Leuten bewusst, dass wir wirklich existieren. Und das mit uns irgendwas nicht stimmte. Das so etwas normalerweise nicht existieren konnte…“ Ich öffne die Augen und schlucke. „Was ist dann…geschehen?“ „Er hat die Armee aufgelöst.“ Ich zünde mir die nächste Zigarette an. „Echt?? Einfach so?“ Tatsuro gluckst kurz auf. „Nicht ganz. Ein paar von uns durften ziehen. Diejenigen, die er vertraute und von denen er wusste, dass sie sich einigermaßen beherrschen konnten. Diejenigen…die eben alleine zurechtkommen konnten und die Existenz von Vampiren vor den Menschen bewahrten.“ Meine Stimme bringt nur noch ein Flüstern hervor… „Und…die…die das nicht konnten?“ Er leert das Glas und… Poch! …stellt es laut auf den Tisch. Meine Schultern zucken hoch. „Die hat er eigenhändig vernichtet.“ Ich fächle mir mit einer Hand übertrieben Luft zu. „Also langsam mutiert dein Drama zu einem Massaker.“ Ich lache laut auf, während er mich nur bescheiden angrinst. „Ein Massaker war es schon von Anfang an.“ Kichernd leere ich auch mein Glas. „Mh…da muss ich dir wohl echt mal zustimmen! Vielleicht eine gute Story für ein Splatter, findest du nicht? So wilde Typen auf dem Schlachtfeld und hier und dort fliegende Körperteile! Das Blut spritzt nur so durch die Gegend!“ Grinsend beißt er sich auf die Unterlippe. Ich weiß, dass ihn die Vorstellung reizt… „Ja, vielleicht.“ Sein Grinsen erwidernd zünde ich mir die nächste Zigarette an. Moment mal…habe ich nicht schon gerade eine angezündet?? Was solls… Ich hebe blitzartig die Hand und schaue auf die Kellnerin, die an der Theke lehnt und sich mit dem Barkeeper unterhält. Ungeduldig trippelt sie mit den Fingern auf die Theke und schaut auf ihre Uhr. „Hey, Kellnerin! Noch ein Glas! Äh, zwei Gläser!“ Ich mache es wie Tatsuro und zeige zwei Finger. „Oder Hey, wieso nicht gleich mehr! Wie wäre es mit zehn??“ Zehn, weil ich nicht mehr Finger habe. Ich öffne meine Hände und hebe sie demonstrativ nach oben. Plötzlich spüre ich kalte Hände meine Handgelenke greifen, die sie nach unten ziehen. „Jetzt ist aber gut, Uruha.“ Beleidigt und schmollend verziehe ich das Gesicht. „Nein, ist es nicht!“ Mich ignorierend hebt er die Hand. „Bezahlen, bitte!“ Ich versuche meine Hände aus seinem Griff zu befreien, was aber trotz nur einer Hand so gut wie unmöglich ist. „Nein, nein! Ich will noch bleiben.“ Mit verengten Augen sieht er erst auf den Tisch und dann mich an. „Und wie viele Zigaretten willst du dir noch anzünden??“ Wie viele?? Verwirrt schaue ich auf den Tisch und erblicke drei brennende Zigaretten auf den Aschenbecher liegen. „Also Tatsuro…schäm dich.“ Er blickt erzürnt nach oben und lässt ein tiefes Grunzen erklingen. Darüber muss ich wieder lachen. Wenn man es so bedenkt…ist dieser Typ echt lustig! Wow…ein lustiger Vampir! „Sorry, ich konnte es mir nicht verkneifen. Es ist nur so, dass ich einschlafe, wenn ich nicht rauche…“ Als hätte jemand auf die Vorspultaste gedrückt, stehe ich auf einmal vor der Bar im Regen. „Hey…das ging aber schnell…“ Mit einem zornigen Gesichtsausdruck steht er neben mir. „Nicht schnell genug…Du konntest noch auf den Tisch springen, während ich bezahlt habe.“ Entsetzt lege ich meine Hand vor den Mund. „Ich hoffe nicht nackt…“ Er zieht seinen schwarzen Mantel aus und hält ihn über uns, damit wir nicht nass werden. „Noch ein paar Minuten länger und du wärst es gewesen…“ „Oh mein Gott…“ Ich drücke mich unter dem Mantel näher an ihn, während wir den Rückweg entlanggehen. Wenn ich mich nicht an ihn festhalte, falle ich. Ja…gute Ausrede. Die Hitze übermannt mich wieder und lässt mein Gesicht glühen. Mein Herz höre ich laut in den Ohren pochen. Es ist ein Wunder, dass ich Tatsuros Worte noch hören kann… „Keine Sorge. Wir waren so gut wie die Letzten.“ Ich blicke zu ihm hoch. „Was? Die Letzten??“ Wir bleiben kurz vor der Straße stehen, als ein Auto vorbeifährt. „Hast du die ganze Zeit kein einziges Mal auf die Uhr geschaut?“ Erst jetzt wage ich einen Blick. Ich hätte es nicht tun sollen… „4:15 Uhr!!!“ Unbeeindruckt von meinen lauten Ausruf geht Tatsuro weiter. „Die Bar hat solange auf, sowie Gäste noch da sind. Aber die Kellnerin war etwas gereizt, dass sie wegen zwei Leute die Bar noch offen lassen mussten.“ „Ich…ich habe gar nicht bemerkt, dass die anderen Gäste gegangen sind!“ „Du bist wirklich ein guter Zuhörer.“ Ich grinse. „Und du wirklich ein guter Geschichtenerzähler.“ Er räuspert sich glucksend. „Ist dir eigentlich bewusst, dass du die ganze Zeit getrunken hast…?“ Erschüttert lege ich meine Hand auf die Stirn. „Ah…jetzt weiß ich vorher meine Aussetzer kommen!“ Halleluja… „Ja…einmal dachte ich sogar, du wärst schon weggetreten und würdest mit dem Kopf auf den Tisch knallen.“ Schön, dass ich jemanden amüsieren konnte… „Oh danke, dass du mich gewarnt hast.“ Als er mich vor meiner Haustür absetzt, klammere ich mich noch niedergeschlagen an ihn. „Tatsuro??“ „…Ja?“ „Wie…schaffe ich es jetzt um 8:00 Uhr aufzustehen…??“ Er gibt mir einen kleinen Klaps auf den Oberarm. „Gar nicht.“ Kapitel 14: Drama-Queen ----------------------- In dieser kurzen Nacht schlafe ich sehr unruhig. Bevor ich Tatsuro getroffen habe…habe ich immer wie ein Stein geschlafen. Diese schöne Zeit ist leider vorbei. Zu viele Dinge gehen mir durch den Kopf. Dinge…die es eigentlich gar nicht gibt. Manchmal frage ich mich insgeheim, ob das alles wirklich die Realität ist. Vampire…und andere Wesen…in unserer Zeit…auf dieser Erde…von dessen Existenz ich zwar geglaubt…aber nie wirklich völlig überzeugt gewesen war. Vielleicht befinde ich mich nur in einem nie enden wollenden Traum…? Ein Traum…aus dem ich nie mehr aufwache? Wäre es dann ein Traum oder ein Albtraum…? Aber…was hätte das alles für einen Sinn…? Die Träume plagen mich wieder… Diesmal handeln sie nicht von der Gegenwart… Bildfetzen tauchen vor meinem inneren Auge auf… Bilder…von dem alten Japan…ein junger Mann in einem kleinen idyllischen Dorf…ein so glücklicher Mann…ein verliebter Mann…dessen Glück auf eine grausame Art und Weise zerstört wurde… Es hat aus ihm einen rücksichtslosen Mörder gemacht…ohne jegliches Gefühl für Hoffnung oder der Realität…verloren in einer Welt, die er nicht mehr verstand…nicht mehr wieder erkannte. Eine schreckliche Welt. Für ihn…die Hölle. Die Hölle auf Erden… Ganz kurz. Nur für einen ganz kurzen Moment wache ich auf. Meine Hände krallen sich in das feuchte Kissen. Ich spüre eine Träne meine Wange entlanglaufen… Dieser Mann wollte doch nur…Erlösung. Und was fand er? Das unendliche Leben…eine unendliche Qual. Als Mensch dieses Leben nicht länger aushaltbar…als Vampir eine aufgezwungene Last. Wer hätte nicht den Tod bevorzugt? Aber Selbstmord scheint bei Vampiren nicht so leicht zu funktionieren…denn dann wäre Tatsuro nicht mehr hier…und ich hätte mich nicht in ihn verlieben können… „Hey, pass doch auf wo du hinläufst!“ Entschuldigend setze ich ein Lächeln auf. „Sorry.“ Fast wäre ich gegen einen Mitarbeiter gelaufen, der überanstrengt eine schwere Kiste trägt. „Hey!“ Ups…fast wieder gegen jemanden. Ich bin so schwach…die Müdigkeit ist einfach zu stark für mich. Das einzig Gute ist, dass ich von den Drinks keinen Kater bekommen habe. Dafür braucht es schon härtere Sachen… Plötzlich fasst mir jemand an den Unterarm und zieht mich in die richtige Richtung. Fast wäre ich nämlich gegen die Wand gelaufen… „Mann, Alter. Wo hast du heute nur deine Augen?? Oder bist du einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden?“ Aoi…mein Lebensretter. Ich erwidere sein Grinsen. „Ja, so was in der Art wird es wohl sein.“ Er legt seinen Arm um meine Schulter und verhindert so, dass ich irgendwelche Unfälle baue. Ich merke nicht, wie ich leicht schlafgetrunken, meinen Kopf zu ihm neige. Ich bin froh, dass ich seine Stimme höre, die mich auf den Boden der Tatsachen hält. „Ich hoffe dich bringen ein paar Tassen Kaffee wieder auf die Beine. Normalerweise bestehst du ja immer so auf deinen Schönheitsschlaf. Du weißt wohl, dass dir Augenringe nicht stehen.“ Ich lasse ein leises Knurren ertönen. Aber solange er nicht genau nachfragt, wieso ich denn solange wach geblieben bin, ist es nur halb so schlimm. „Sag mal, wie lange wollt ihr beide eigentlich noch streiten?“ Verwirrt verziehe ich das Gesicht. Ich kann den Zusammenhang dieser plötzlichen Worte nicht ganz nachvollziehen… „Was?“ „Ja, du und Ruki! Wie lange wollt ihr euch noch anschweigen? Oder ist das so eine Art Wette?“ Ach, stimmt. Ich und Ruki …wir haben Streit...aber… „Wette?“ „Ja, wer zuerst redet, verliert oder?“ Ich lache…doch ich denke man kann meine Verzweifelung heraushören. Tatsuro hat mich so abgelenkt…dass ich nicht mehr an unseren Streit gedacht habe. Wenn es doch wenigstens…ein sinnvoller Streit wäre. Irgendein Streit…mit einem Grund. „Nein. Es geht immer noch darum, dass ich mit Tatsuro befreundet bin.“ Er hebt die Augenbrauen. „Ach, immer noch deswegen? Ich verstehe nicht, wieso ihr beide daraus so einen Wirbel macht?“ Ich zucke mit den Schultern. Da ist er nicht allein mit seiner Meinung. „Ich verstehe es auch nicht. Frage am besten ihn.“ Doch Aoi lässt nicht ab. Auch er ist ziemlich neugierig, was ich ihm aber nicht verübeln kann. „Und was ist mit Reita los? Beteiligt er sich jetzt auch bei eurem Streit? Der ist nämlich auch nicht sehr gut auf dich zu sprechen…“ Ein Seufzen kann ich nicht unterdrücken. Es ist schon schlimm genug mit Ruki auf Kriegsfuß zu stehen…Wieso muss Reita da noch mitmischen? Schließlich geht ihm das nichts an… „Sag es ihm nicht, aber er ist ein Idiot.“ Aoi muss lachen. Ein echtes Lachen. Sein typisches lautes naives Lachen, das mich bis heute immer noch zum Lächeln bringt. Ich weiß zwar nicht wie er das macht…aber sein Lachen…klingt immer so frei und unbeschwert. Auch in schlechten Zeiten, hat sich sein Lachen nie ein Stückchen verändert… Es steckt an…und dafür liebe ich es. Für eine Sekunde kann man jegliche Sorgen vergessen…und das nur, weil man in sein Lachen einstimmen muss…einstimmen will. Vor dem Bandzimmer boxt er mir noch mal glucksend in den Arm, bevor er dieses betritt. Ohne groß über die Differenzen mit Ruki und Reita nachzudenken, folge ich ihm. Es tut gut über Probleme lachen zu können… Ob man es glaubt oder nicht…aber der Kaffee hat mich einigermaßen arbeitstauglich gemacht. Der und die Gedanken an Tatsuro. In der Pause schaffe ich es mich heimlich davon zu schleichen, bevor mich die Anderen zur Cafeteria schleifen konnten. Wir nehmen gerade im Studio die neue Single auf und nach der Pause sollen die Aufnahmen komplett fertig sein. Zwar ist die Single schon auf unserem aktuellen Album enthalten, aber Kai wollte unbedingt noch ein oder zwei weitere Versionen einarbeiten. Um meine Ruhe zu haben gehe ich zum Hintereingang des Gebäudes nach draußen und zünde mir eine Zigarette an. „Mist…“ Es regnet noch immer. Seit gestern Nacht hat sich das Wetter kein bisschen verbessert. Ich bleibe unter dem Vordach und stecke trotzig die freie Hand in die Hosentasche. Es ist nicht so, dass ich den Regen nicht mag…aber das graue Wetter das es mit sich bringt…dieses Grau in Grau…Es ist einfach farblos. Hoffnungslos. Was aber nicht heißt…dass der Regen keine schönen Seiten an sich hat. Die Zigarette lasse ich kurz ruhen, um den Geruch des Regens in mir aufzunehmen. Der Regen riecht immer so gut…so frisch. Ich beobachte wie die Regentropfen auf der naheliegenden Pfütze leichte kurzzeitige Wellen hinterlassen… Wer nimmt heutzutage eigentlich noch wahr, wie kunstvoll die Natur ist…? Horchend schließe ich die Augen… …achte auf das regelmäßige Aufschlagen der Wassertropfen auf den Boden…auf das alltägliche Brummen und Hupen der Autos auf der Straße ein paar Meter vor dem Gebäude entfernt…auf die lärmende Menschenmenge, die sich auf den Gehwegen drängelt… Wieso…wieso habe ich nur das Gefühl, dass er hier ist? Hier bei mir. Ganz nah… Lautlos… Als ich langsam wieder die Augen öffne, bin ich aber immer noch allein. Ich tippe mit dem Zeigefinger auf die Zigarette, damit sich der abgebrannte Teil löst. So gerne…wäre ich jetzt bei ihm. Einfach in seiner Nähe. Und es wäre mir egal, ob er mich beachten würde oder nicht… Wie von selbst holt meine Hand das silberne Handy aus der Tasche. Hastig tippe ich drauf los. SMS: hi… Da ich nicht weiß, ob er auch Mittagspause hat und ich ihn nicht bei der Arbeit stören will, schreibe ich ihn lieber an, statt anzurufen. Ich brauche nicht lange zu warten bis die Antwort kommt, auf der ich so gehofft habe. Antwort: hi Sehr einfallsreich… SMS: Was macht ihr gerade? Hibbelig fahre ich mit dem Fuß einen Kreis auf dem Boden nach. Antwort: Wir haben gerade Mittagspause. Ich lächle. SMS: Wir auch. Dann schicke ich schnell eine weitere Nachricht hinterher. SMS: Heute nach der Arbeit wieder? Erwartungsvoll beiße ich mir auf die Unterlippe. Diesmal dauert es jedoch etwas bis die Antwort kommt. Antwort: Die Bar hat leider zu heute. Ich grinse. Was für ein naiver Versuch. SMS: Das ist mir egal. Ich will dich trotzdem sehen. Die nächste Antwort lässt mich wütend eine Schnute ziehen. Antwort: Heute nicht. Du hast doch kaum geschlafen oder? Hole das besser nach. SMS: Ich will aber nicht schlafen. Ich will dich sehen. Hartnäckig bleibe ich dran. Wenn er nicht bald zustimmt, werde ich ihn anrufen und dazu zwingen. Naja…soweit man eben einen Vampir zwingen kann. Antwort: Na gut. Aber erst morgen. Heute schläfst du. Seufzend gebe ich nach. Einen Tag werde ich ja wohl noch ohne ihn überleben können…oder? Irgendwie. SMS: Ok, kommst du dann zu mir? Nun muss ich auf der Stelle mit den Beinen hin und herkippen, um die Wand hinter mir nicht hoch zu rennen. Wie kann ich ihn das nur fragen?? Ich hoffe, er versteht das nicht falsch… Grinsend lege ich die Hand auf die glühende Wange. Und wenn schon…was solls? Als die Antwort kommt, verhaare in der Position und wäre beinahe umgekippt. Rechtzeitig stütze ich mich mit einem Bein ab. Antwort: Willst du nicht lieber…unter Leute? Ich schüttele heftig den Kopf, so als könnte es Tatsuro sehen. SMS: Wir wollten doch schon beim letzten Mal einen Film bei mir ansehen. Das könnten wir doch nachholen. Ich hoffe, er kann sich diesmal besser beherrschen… Als keine Antwort mehr kommt lasse ich die Schultern hängen. Hat er mich abserviert? Nach längerem Warten schlendere ich enttäuscht wieder in das Gebäude, Richtung Cafeteria. Dort hole ich mir womöglich aus Frust ein riesiges Sandwich, das mit all Erdenklichem belegt ist. Zurück im Bandzimmer werde ich sofort von zwei erstaunten Augenpaaren fixiert. Aoi sitzt auf der Coach mit einer Chipstüte, während Reita gegenüber auf einem Bürostuhl mit Rollrädern hin und her schwenkt. Bevor ich den Raum betreten habe, hatten sie sich noch ausgelassen unterhalten, wobei jetzt eine seltsame Stille herrscht. Nichts anmerkend setze ich mich neben Aoi auf die Coach und knabbere leicht frustriert an meinem Sandwich. Dem Bassisten versuche ich keines Blickes zu würdigen, der wohl dieselbe Idee hat. Die bedrückende Stille zwingt ihn schließlich zum Verlassen des Raumes. Sofort wirkt die Atmosphäre gelassener und Aoi fängt wieder an zu sprechen. „Was ist los? Vergnügst du dich heute mit keinem?“ Die übertriebene Verwunderung in Aois Stimme versuche ich zu ignorieren und zucke nur beiläufig mit der Schulter. „Nö.“ Ich bemerke, dass er mich immer noch wartend fixiert also drehe ich mich fragend zu ihm um. „Was ist?“ Er muss sein belustigtes Lächeln aufsetzen. „Nun ja…Sonst bist du in der Pause nie im Bandzimmer anzutreffen und auf nimmer Wiedersehen mit irgendwelchen Typen verschwunden…und jetzt plötzlich sitzt du überpünktlich auf dem Bandsofa mit einem übergroßen Sandwich in der Hand. Das ist doch merkwürdig…findest du nicht?“ Ich verdrehe die Augen. Seine Anspielung klingt beinahe schadenfreudig. „Ich wurde nicht abserviert, Aoi.“ Als ob das bei mir möglich wäre… Mir kann keiner widerstehen…außer eben Tatsuro. Aber er ist auch ein Vampir. Wenn man das als Ausrede gelten lassen kann…? „Was ist dann los?“ Ich versuche beiläufig zu klingen. „Ach, ich will das eben nicht mehr.“ Nun höre ich, wie ihm die Chipstüte aus der Hand fällt. „Was?!!“ Wenn diese ungünstig gefallen wäre und sich die ganzen Chips auf den Teppich verteilt hätten…dann wäre ich wieder aus dem Zimmer gegangen und erst eine Stunde später wiedergekommen, nur um Kais hysterischen Wutschrei zu entgehen. Ich drehe mich mit verengten Augen zu den Anderen herum, der sofort seine Reaktion erklärt. „Ich meine…Uruha! Du lebst doch von Affären und Sex!“ Der alte Uruha vielleicht… Ich nehme einen großen Bissen von meinem Sandwich, um ihn nicht anschauen zu müssen. „Es ist eben langweilig geworden. Es ist immer dasselbe gewesen.“ Sein erstaunter Blick brennt mir im Nacken. „Uruha…Hast du…etwa jemanden kennengelernt?“ Ich fühle mich ertappt, aber lasse mir nichts anmerken. Wenn ich ihm jetzt alles erzählen würde, würde es spätestens morgen auch Reita wissen und dann auch automatisch Ruki…und dann…dann würde die Hölle ausbrechen. Zum zweiten Mal. Sie akzeptieren Tatsuro nämlich nicht mal als normalen Freund…wie dann erst als meine Liebe…?? Das möchte ich wirklich nicht wissen. „Nein, hab ich nicht.“ Klack Gerade im richtigen Moment öffnet sich die Tür und meine beiden Feinde treten ein. Ohne mich zu beachten gehen sie an das Sofa vorbei…nur Ruki wirft mir kurz einen verblüfften Blick zu. An dem weiten Tisch, der am Fenster steht, bleiben sie stehen. Dort tun sie als wären sie beschäftigt und begutachten ein paar Broschüren und Notizen, die auf dem Tisch liegen. Nach ein paar Minuten, in denen Aoi und ich schweigsam aufgegessen haben, kommt überpünktlich der Bandleader in den Raum. Er hält eine Musikzeitschrift vor sein Gesicht…wahrscheinlich ist er gerade auf den Seiten, wo die Neuheiten an Schlagzeugen aufgelistet werden. Kaum vernehmbar schließt er die Tür hinter sich. Er bleibt noch vor der Tür stehen und liest aufmerksam. Dann ist er fertig und faltet das Magazin in seinen Händen zusammen. Sein ahnungsloses Gesicht ist noch in Gedanken, bevor er seine dunkelrotumrandete Brille – Kontaktlinsen trägt er nur bei Publicity-Arbeit - zurechtrückt und mich dann auf dem Sofa erblickt. Er verhaart augenblicklich an der Stelle und lässt sogar seine Kinnlade fallen. Man sieht ihm an, dass er etwas sagen wollte, verstummt jedoch wieder und schaut hektisch auf seine Armbanduhr. „Was ist nur mit meiner Uhr?? Sie scheint wohl kaputt zu sein…“ Ich wechsele mit Aoi einen Blick, der belustigt versucht ein Lachen zu unterdrücken. Im Gegensatz zu ihm bleibe ich bei einem dezenten Grinsen. „Sie geht richtig, Kai.“ Wie vom Blitz getroffen eilt er verdattert auf den freien Sessel neben uns. Ich muss an Schizophrenie denken, als er sich dann mit einem ernsten Blick über den Coachtisch beugt und mich besorgt begutachtet. „Uruha…Wie geht es dir? Ist bei dir alles in Ordnung?“ Als sich meine Augen überrascht weiten und Aoi neben mir schließlich doch in Lachen ausbricht, redet er bekümmert weiter. „Du weißt doch, dass du mit mir über alles reden kannst, oder nicht? Oder nicht??“ Ich bewahre Sicherheitsabstand und rücke ein Stück weg. „Doch natürlich, weiß ich das. Aber es gibt nichts zu reden. Es ist wirklich alles ok…“ Erschrocken muss ich aufschreien, als Kai sich unter Aois fortbestehendem Gelächter zwischen die Coach und dem Tisch zwängt und vor mir auf die Knie geht. Mit einem dramatischen Gesichtsausdruck umschließt er meine Hände. „Bist du dir denn auch wirklich sicher?? Wie schon gesagt, du kannst mit mir reden, Uruha!“ Ich runzle die Stirn. „Ich weiß.“ Erst jetzt bemerke ich, dass Kai mich gerade nur veräppelt. Also…hoffe ich mal. Eine weitere Falte legt sich auf meiner Stirn, denn ich bemerke wie sich meine beiden Feinde vor dem Coachtisch stellen und die Szene lächelnd betrachten. Ich höre sogar die flüsternde Frage von Ruki, ob Kai mir wohl gerade einen Heiratsantrag mache. Genervt reiße ich mich von Kai los und stehe abrupt auf. Wenn ich schon jemanden heirate, dann wohl Tatsuro! „Mann! Nur weil ich heute pünktlich von der Pause gekommen bin, müsst ihr alle doch nicht gleich so ein Theater machen! Ich habe halt die Affären satt! Was ist daran so schlimm???“ Kai steht nun ebenfalls auf und verengt die Augen. „Tja, das kommt halt davon, wenn man das ganze Jahr sonst immer unpünktlich ist! Sehe unsere Reaktion als eine Art Strafe. Und außerdem…wie denkst du denn würden wir reagieren?? Das ist eben äußerst ungewöhnlich.“ Geschlagen gebend kratze ich mich am Nacken. „Naja…Tut mir Leid, aber ich werde jetzt wohl öfters rechtzeitig von der Pause kommen.“ Er grinst. „Wer hätte gedacht, dass sich meine Wünsche irgendwann erfüllen werden?? Aber hey, du hättest mal deine Drama-Aktionen sehen sollen, als du immer zu spät gekommen bist.“ Ich erwidere sein Grinsen und hoffe wieder seinen wütenden Gesichtsausdruck für einen Moment zu sehen, an den ich mich schon so sehr gewöhnt habe. „Sorry, aber ich bin immer noch der bessere Schauspieler zwischen uns.“ Aoi, der sich glücklicherweise längst vom Lachen erholt hat, stützt seinen Arm erschöpft auf meiner Schulter ab. „Unsere Drama-Queen.“ Ich kneife ihn leicht in seinen Arm, aber das macht ihm nichts aus. „Also…arbeiten wir jetzt weiter?“ Kapitel 15: Fast ---------------- Diesmal schenke ich mir daheim nach dem langen Arbeitstag nur ein Wasser ein. Während das Wasser sprudelnd das Glas füllt, schaue ich enttäuscht aus dem Fenster. Die Sonne ist längst untergegangen und nur das künstliche Licht der Stadt verdrängt die Dunkelheit, die uns zu überwältigen droht. Ich frage mich… …wie Tatsuro mich nur fallen lassen kann? Fluchend drehe ich den Wasserhahn zu, als das Wasser schon über meine Hand fließt. „Idiot!“ Das Schimpfwort war eher an Tatsuro gerichtet. Wütend trockne ich das Glas mit einem Tuch ab. Ich nehme einen kräftigen Schluck und entscheide mich noch ein bisschen auf der Coach zu relaxen und den Fernseher anzuschmeißen. Aber ich bezweifle, dass irgendwas Interessantes läuft…irgendwas, was mich beruhigen könnte. Im Türrahmen zum Wohnzimmer bleibe ich erschrocken stehen und lasse dabei das Glas zu Boden fallen. Zum Glück beinhaltet es nur Wasser und zum Glück habe ich im Wohnzimmer Teppiche. Scherben bringen schließlich kein Glück. „Du hast sehr schlechte Reflexe.“ Ich hebe das unversehrte Glas wieder auf und versuche dabei, das freudige Zittern zu unterdrücken…den Drang…auf der Stelle zu springen und zu tanzen. Ist das nur ein Traum? „Ich bin eben kein Vampir wie du.“ Dann entschließe ich mich etwas zu tun, was ich Tatsuro als Mensch natürlich nicht zugemutet hätte. Aufgebracht doch zugleich neugierig schmeiße ich ihm das Glas entgegen. Mühelos fängt er es kurz vor seinem Gesicht auf und grinst mich dabei an. Genau das was ich erwartet habe. „Was ist los? Ich bin doch gekommen, wie du es wolltest.“ Ich schnaufe auf, lasse jedoch einen beeindruckten Blick über ihn schweifen. „Aber ich dachte, du wolltest erst morgen kommen? Außerdem hast du nicht mehr geantwortet…und stattdessen erschreckst du mich wieder unangekündigt in meiner eigenen Wohnung! Irgendwann bekomme ich wegen dir noch einen Herzinfarkt.“ Meine etwas zu schnellen Sätze verhaspeln sich fast ineinander, aber ich lasse mir nichts anmerken. Er kann sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue… Um meinen Sätzen etwas Nachdruck zu verleihen, verschränke ich die Arme. Unbekümmert bleibt er auf der Coach sitzen. Wie als würde er bei sich zu Hause sein, hat er sich locker zurückgelehnt und einen Arm über die Coachlehne gelegt. „Ich hatte kein Geld mehr auf dem Handy. Außerdem ist es sowieso besser wenn du durch einen Herzinfarkt als…durch einen Übergriff stirbst oder?“ Ich rolle mit den Augen. Er schafft es doch immer wieder dieses alte Thema anzuschneiden und das obwohl ich bisher keinen einzigen Kratzer abbekommen habe. Er hat mich nicht mal ansatzweise verletzt. Gut…das fast gebrochene Handgelenk kehre ich mal unterm Teppich. „Naja, ist ja völlig egal wie ich sterbe. Hauptsache letztendlich tot, oder?“ Besserwisserisch grinsend verzieht er nur kurz das Gesicht. „Es ist deine Entscheidung.“ Ich winke ab und versuche ihm nicht am Ende doch noch einen Grund zur wiederholten Diskussion zu geben. „Aber du hättest auch einfach Geld auf dein Handy laden und dann antworten können.“ Kurz zuckt er unernst mit den Augenbrauen. Er wäre nur allzu gern auf eine Diskussion eingegangen. „Und…wenn ich dir sage, dass der Akku leer war?“ Ich verenge meine Augen zu Schlitzen. Ich hasse es, wenn er anfängt mit mir zu spielen und auf irgendeinen Wutausbruch wartet. Vielleicht denkt er, er könnte mich damit vergraulen. Leider weit gefehlt. Halb wütend, halb zögerlich schaue ich ihn an, während er nur reglos zurückstarrt. Als sich nichts tut, senkt er ohne Vorwarnung den Blick und steht gezwungen von der Coach auf. „Aber du hast Recht…Ich hätte mich vorher ankündigen sollen.“ Was?? Sofort setze ich mich in Bewegung. Denn das er jetzt geht…ist das letzte was ich gewollt habe. „Warte! Geh nicht!“ Bitte… Leicht erstaunt schaut er auf meine zittrigen Hände, die seinen Arm gepackt haben. Peinlich berührt lasse ich ihn wieder los. Mein Gott, was tue ich da?? Wir verharren noch einige Sekunden, bevor er antwortet. „Du willst…also wirklich, dass ich bleibe?“ Nichts lieber als das. Ich schaue zu ihm hoch und nicke zurückhaltend. Darauf bedacht keine hektischen Bewegungen zu machen…so als würde er wie ein scheues Reh einfach von mir davonlaufen… „Du bist jederzeit willkommen. Ich war nur etwas aufgebracht…weil du mir nicht mehr geantwortet hast und ich schon…das Schlimmste befürchtet habe…“ Fragend dreht er sich zu mir. „Das Schlimmste?“ Ich will es nicht ausführen…oder gar länger darüber nachdenken. Es ist einfach ein schrecklicher Gedanke. Also zucke ich nur beiläufig mit den Schultern. „Ach…das du halt wieder versucht, den Kontakt abzubrechen oder sowas.“ Er setzt sich wieder auf die Coach, diesmal aber völlig steif. So als würde er sich bereit halten, jeden Moment aufzuspringen. „Du willst darüber nicht reden…Ich weiß. Aber…das wäre viel gesünder für dich…wenn-“ Ich schüttele heftig den Kopf. Um meine Reaktion zu verstärken, würde ich sogar, wenn ich könnte, die Zimmerwand hochlaufen, über die Decke rennen, und auf der anderen Seite wieder abspringen. „Ich will darüber nicht diskutieren, weil das Thema schon längst abgehakt ist!“ Betonend setze ich mich neben ihm auf das Sofa und umschlinge besitzergreifend seinen Arm. Angestrengt kämpfe ich dagegen an ihn wieder loszulassen. Sichtlich verwirrt schaut er auf mich herab, dann seufzt er kurz. Ich beiße mir auf die Unterlippe, als ich von der Seite her seinen undefinierbaren Blick sehe. Es tut irgendwie weh… Seine darauffolgende Stimme klingt irgendwie komisch…so als wollte er eigentlich etwas anderes sagen. „Ist dir nicht kalt?“ Ich umklammere seinen Arm fester. „Nö.“ Seine Temperatur ist kühler als meine, aber es ist nicht so, dass ich erfriere. Und auch wenn? Das Erfrieren nehme ich gerne in Kauf. Als würde ich nicht schon jetzt in jeder Sekunde mit ihm den Tod herausfordern… Jetzt klingt seine Stimme wieder leicht ironisch. „Du…bist wie ein Kind.“ Ich grinse. „Mir doch egal.“ Ding Dong! Fast flehend versuche ich Tatsuro auf dem Sofa zu halten, doch er steht mühelos auf und reißt mich mit nach oben. „Du musst aufmachen, Uruha.“ Stur klammere ich mich weiter an seinen Arm. Denn wann werde ich wieder die Gelegenheit dazu haben seine normalerweise unantastbare Nähe zu genießen? „Nein!“ Mit Leichtigkeit zerrt er mich von sich weg. Als würde ich freiwillig nachgeben. Ding Dong! „Du musst.“ Hartnäckig bleibe ich bei ihm stehen. Wenn er schon hier ist…dann muss er auch bleiben. „Ich…ich gehe nur, wenn du nicht abhaust!“ Nach kurzem Überlegen gibt er sich geschlagen. Was anderes hätte er nicht erwarten können. „Na gut…Wenn der Besuch weg ist, bin ich wieder hier, ok?“ Begeistert kneife ich die Augen zusammen und unterdrücke einen zu lauten Jubelschrei. „Yeah!“ Doch als ich wieder die Augen öffne, bin ich allein. Ich hoffe…er hält sich an die Abmachung… Ding Dong! „Mann, was für eine hartnäckige Person!“ Wütend blicke ich auf die Uhr, während ich zur Tür eile. Welcher Idiot nimmt sich das Recht meine Zweisamkeit mit Tatsuro zu stören?? Und noch zu dieser Uhrzeit… Mit unnötiger Gewalt reiße ich die Tür auf. Und mit einer unnötigen Geschwindigkeit schlüpft der Besucher schnell an mir vorbei in meine Wohnung. „Hey!“ Ich drehe mich um und erblicke Reita, der mich nett anlächelt. Aber ich erkenne, dass es hinter seiner Fassade mächtig brodelt… „Hey, wie geht’s so? Ich dachte mir mal, dass ich dich besuche.“ Grummelnd verenge ich die Augen. Bevor ich antworten kann, eilt er schon von einem Fleck zum Nächsten und sieht sich neugierig in meiner Wohnung um. Zerknirscht laufe ich ihm nach. Er kennt doch meine Wohnung schon oder erwartet er Tatsuro hier zu finden? Tss…da kann er aber lange suchen. Vielleicht schafft er es mit einem Vampirradar. Aber genug damit. Mein gutes Recht ausnutzend zerre ich an sein ärmelloses graues Kapuzenshirt. Dabei muss ich denken, dass es so typisch für ihn ist, dass er seine trainierten Oberarme zeigen muss. „Hey, jetzt bleib mal stehen. Was willst du hier, Muckiboy?!“ Hat er etwa vergessen, dass wir derzeit Feinde sind? Der Andere kann nicht so einfach in das Terrain des Anderen eindringen und so tun als wäre alles in Ordnung. Das ist ein schwerwiegender Regelverstoß. So…funktioniert Krieg nicht. Er bleibt tatsächlich stehen und schaut mich wieder übertrieben lächelnd an. Es ist so falsch, dass mir kurz ein Bild des Trojanischen Pferdes in den Sinn kommt. Seine Antwort lässt mich stutzen. „Ich möchte mit dir reden.“ Wenigstens kennt er die Spielregeln: Umgehung des Regelverstoßes durch Hissen der weißen Flagge. Bevor ich aber agieren und ihm zugleich Glauben schenken kann, geht er schon in Richtung Küche. Leise fluchend folge ich ihm. Ist er hierher gekommen, um zu reden oder um Fangen zu spielen? In der Küche setzt er sich schnell an den Tisch und zeigt auf den Platz gegenüber von ihm. Ich wäre lieber stehen geblieben. „Ähm…nur aus Höflichkeit, aber willst du irgendwas trinken?“ Ich stelle diese Frage wirklich aus Höflichkeit, aber zugleich auch um die Lage zu überprüfen. „Ne.“ Gut, das heißt, dass er nicht lange bleiben wird. Erleichtert gehe ich seiner Aufforderung nach und setze mich stumm hin, wartend darauf, dass er anfängt mir ein Friedensangebot zu machen. Lange warten muss ich nicht. „Weißt du…ich habe nachgedacht. Dieser ganze Streit…das muss endlich ein Ende haben, findest du nicht auch?“ Ich merke wie ich leicht ungehalten werde und ihn gereizt fixiere. Ein Ende des Streites ist genau das was ich will…aber…nicht so. An seiner Stimme…und an seiner Haltung merke ich, dass er nicht einverstanden ist. Seine Worte sind völlig widersprüchlich zu seinem Denken. Also wieso sagt er das dann? „Wenn du es nicht so meinst, dann sage so was nicht.“ Sein Gesicht wird ernst und er lehnt sich leicht vor. Die gespielte Freude ist wie weggeweht. Sein Zorn aber immer noch gut versteckt. „Ich tue das für Ruki.“ Ich kann es einfach nicht glauben. Soll er etwa eine billige Vertretung darstellen?? Das reizt mich so sehr, dass ich gar nicht darauf achte was ich sage. „Wenn Ruki sich mit mir vertragen will, dann soll er gefälligst persönlich zu mir kommen und nicht irgendein Schoßhündchen schicken!“ Etwas zu angriffslustig. Aber Reitas Wutgrenze habe ich ohnehin schon längst überschritten. „Pass auf, was du da sagst! Ruki hat mich nicht geschickt, ich bin selber auf diese verdammt blöde Idee gekommen!“ Er ist von seinem Platz aufgestanden, ich tue es ihm gleich. „Ja, man merkt wie sehr du an eine Versöhnung interessiert bist! Wieso könnt ihr beide mich nicht endlich in Ruhe lassen?!!“ Ich habe echt keinen Bock auf das Ganze. Wenn sie schon keinen Frieden haben wollen…dann sollen sie mich wenigstens nicht nerven. Als hätte er mich überhört, sieht er mich vorwurfsvoll an. So vorwurfsvoll…als würde er mich eines Mordes beschuldigen. „Aoi hat mir erzählt, dass du jemand kennen gelernt hast! Wer ist es Uruha?? Wer?“ Aoi, diese Plappertasche. Habe ich ihn nicht angelogen?? Aber er kennt mich wohl zu gut…und Reita schließt daraus leider die falschen…beziehungsweise die richtigen Schlüsse. Ich will es nicht…aber ich schreie ihn an. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr mich der Streit zusetzt. „Das geht euch ein Scheißdreck an!! Wieso mischt ihr euch da überhaupt ein?? Das ist ja wohl mein Problem!“ Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte… Wütend schlägt Reita lärmend auf den Tisch. „Ist es also doch Tatsuro?? Bitte sag mir, dass du dich nicht mehr mit ihm triffst!“ Trotzig schnaufe ich auf. „Tue ich aber.“ „Sag es, Uruha!“ Auffordernd geht er um den Tisch und fixiert mich bedrohlich. Der Tisch ist nicht mehr zwischen uns. Es gibt keinen Schutz mehr. Trotz meiner Angst weiche ich keinen Schritt zurück. Ich habe es satt, Tatsuro zu leugnen. „Ich treffe mich mit ihm und das so oft wie nur möglich!!“ Aufschreiend schubst er mich und ich knalle schmerzhaft gegen die Theke. Mindestens ein blauer Fleck ist mir sicher. „Wie kannst du das nur tun??? Gibt es für dich denn nicht schon genug Männer??! Du kannst doch jeden haben! Wieso gerade ihn?? Wieso??? Du machst alles kaputt und das nur weil du so verdammt notgeil bist!!“ Ich halte das nicht mehr aus. Ehe ich registriere was ich da tue…ist es schon geschehen. Und es verblüfft mich. Und…es tut mir Leid. „Reita…Ich…Ich wollte das nicht. Es tut mir-“ „Wag es bloß nicht!“ Auf Abstand haltend streckt mir Reita seine Hand entgegen. Nicht um sich zu schützen…sondern um mich zu schützen. Seine andere Hand liegt auf seiner spärlich blutenden Nase. Wenigstens ist sie nicht gebrochen. „Reita…“ Bedrohlich blitzen seine Augen auf und der Zorn ist ihm ins Gesicht geschrieben. Diesen Blick kenne ich ganz genau. Reita ist nicht mehr berechenbar. Ich gehe ein paar Schritte zurück. „Wenn du…Wenn du nicht zu meinen besten Freunden gehören würdest, Uruha…Ich würde dir jeden Knochen einzeln brechen.“ Ich unterdrücke ein Zittern und blicke seufzend zur Seite. „Ich weiß.“ Den Windzug spüre ich nur kurz an mir vorbeiwehen dann wird die Tür laut zugeknallt. So laut, dass ich befürchte das diese kaputt gehen würde. Dann ist Stille. Die Angst sitzt immer noch tief…aber ich bin so dankbar, dass nichts weiter passiert ist. Ich vertraue zwar Reita…aber seine Wutausbrüche, die meistens mit Gewalt enden, hat er immer noch nicht perfekt im Griff. Die Jahre der Therapie, die für den Ruf von Gazetto unausweichlich waren…konnten ihn nicht vollständig heilen auch wenn er sich jetzt um einiges besser unter Kontrolle hat. Die sinnlosen Schlägereien auf den Straßen…die Frauen, die ihn anzeigten…so hätte es niemals weitergehen können. Doch was mache ich…? Ich provoziere ihn auch noch und fast... Und das alles nur wegen dieses blöden Streits! Es hätte richtig schief gehen können. Kraftlos stutze ich mich am Tisch und verberge mein Gesicht hinter einer Hand… Reita, Ruki und ich…Wir kennen uns seit unserer Kindheit…wir sind beste Freunde…und jetzt…jetzt scheint alles auseinanderzubrechen… …und ich weiß nicht mal weshalb. Klirr! Plötzlich zerbricht etwas hinter mir auf dem Boden und ich drehe mich erschrocken um. „Tatsuro?“ Angestrengt schaut er in Richtung Tür, während sich eine Hand auf seinen Mund presst. Die Andere hält sich so stark an der Theke fest, dass die Handknöchel weiß hervor scheinen. Aber nicht so fest, dass etwas kaputt geht. Das hätte ich ihm sowieso übel genommen… Dann verstehe ich. „Tatsuro!“ Ohne zu zögern werfe ich mich zwischen ihm und der Tür und klammere mich flehend an ihn. „Bitte! Bitte verschone ihn, Tatsuro! Er gehört zu meinen besten Freunden!!“ Er hat immer noch die Hand fest auf den Mund gepresst, sodass seine Stimme gedämpft klingt. „Sein Blut…Dieser Geruch…Die ganze Küche riecht danach!“ Ich spüre wie mir hilflose Tränen entringen. Ich muss etwas tun! Schnell! So schnell wie ich kann renne ich zur Schublade und öffne diese. Doch Tatsuro ist schneller. Natürlich. „Was hast du vor???“ Seine Hand schnappt rasant schnell nach Meiner, sodass mir das Messer aus der Hand entgleitet und laut zu Boden scheppert. Mit verweinten Augen wende ich mich zu ihm. „Ich muss dich ablenken!“ Seine Augen weiten sich. „Auf dich?“ Ich muss mir kurz das Schlimmste ausmalen. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn Reita jetzt etwas zustößt! Es…Es wäre dann nämlich meine Schuld.“ Ich könnte es mir niemals verzeihen…Trotz allem wird Reita immer mein Freund sein. Während ich rede, geht Tatsuro an mir vorbei ans Fenster und öffnet dieses. Als ich verstumme, hängt er gerade aus dem Fenster. „Das hätte auch gereicht.“ Erstaunt…lasse ich mich zu Boden sinken. Es hätte so eine viel einfachere Lösung gegeben…und ich…ich hätte…beinahe… „…beinahe…“ Er lässt von dem Fenster wieder ab und lehnt sich daneben an die Theke, bedacht darauf beim Luftzug zu bleiben. Die plötzliche Stille und sein prüfender Blick irritieren mich etwas. Erst Sekunden später bemerke ich, dass meine Wangen ungewöhnlich heiß sind. Mein ganzer Körper brennt. Ich atme kräftig durch und beruhige mich langsam wieder…warte darauf, dass das Herzrasen aufhört und die Panik verschwindet. Als meine Atmung wieder regelmäßig ist, spreche ich wieder. Ich schaue ihn dabei vorwurfsvoll an. „Denkst du, wenn ich in Panik bin, denke ich groß nach?“ Erst jetzt lässt er den reglosen Blick von mir ab. „Wieso war er so aufbrausend?“ Die Tränen zurückhaltend schlage ich enttäuscht mit der Faust sachte auf den Boden. „Er?? Ich war doch so dämlich ihm eine zu verpassen…“ Ich erhebe mich zögerlich wieder vom Boden. „Ich bin so ein Idiot.“ Meine Vorwürfe überhörend, dreht er sich fragend zu mir. Hartnäckig. „Wieso habt ihr gestritten? War…ich der Grund dafür?“ Ich erwidere seinen Blick und schüttele den Kopf. „Nein! Aber ist jetzt egal.“ Ich kann ihm nicht sagen, dass meine Bandkollegen nicht wollen, dass ich mit ihm verkehre…Ein Glück, dass er nicht gelauscht hat… Ausdruckslos fixiert er mich. „Ihr Menschen…seid so verdammt emotional.“ Verwundert verziehe ich das Gesicht. Dann breitet sich in mir eine erneute Wut aus. Mein bester Freund hätte getötet werden können…und er…er sagt ich sei emotional?? Da alle Reserven aufgebracht sind, entkommt mir nur ein lauter Seufzer. Tatsuro ist ein Vampir…kalt…Er kann es einfach nicht nachvollziehen. „Ich will einfach nur nicht...dass ein mir nahestehender Mensch stirbt.“ Ich höre, wie er die Beine überkreuzt. Seine Stimme klingt jetzt nachdenklich. „Das Leben anderer…ist dir also wichtiger, als dein eigenes?“ Ich suche in seinem Gesicht irgendein Anzeichen für Belustigung…aber er hat diese Frage ernst gemeint. Verwirrt ziehe ich einen Stuhl zu mir und setze mich. Meine Beine fühlen sich noch etwas schwach an. „War dir…Yokos Leben nicht wichtiger als deines?“ Ein ganz kurzes unmerkliches Zucken huscht über sein Gesicht. Ich will, dass er versteht… Die Luft im Raum muss nun erträglicher sein, denn er kommt wieder auf mich zu. Genau wie ich zieht er ein Stuhl zu sich und setzt sich verkehrt herum drauf. Locker legt er die Unterarme über die Stuhllehne und legt sein Kopf etwas schief. Ich halte den Atem an, als er eine Hand nach meinem Gesicht ausstreckt und mir eine Träne von der Wange entnimmt, die noch nicht getrocknet ist. In Gedanken begutachtet er diese und verreibt sie schließlich zwischen seinen Fingern. „Mir kommt es so vor…als würdet ihr immer weinen. Jedes Mal…wenn ihr denkt, dass ihr das Leben nicht bewältigen könnt oder euch ein anderer Mensch verlässt…weint ihr. Wenn ihr Schmerzen verspürt…weint ihr. Ob nun körperlicher oder seelischer Schmerz. Ihr könnt sogar auf Knopfdruck weinen…ohne den Grund dafür zu wissen.“ Dann blickt er mich an. „Und…manchmal frage ich mich…wie viel Tränen ein Mensch vergießen kann? Sind sie wirklich so…endlos?“ Ich verstehe das nicht. „Weinen Vampire nicht?“ Er schüttelt leicht den Kopf. „Nein, niemals.“ Wirklich nie? Ratlos blicke ich in seine dunklen wunderschönen Augen… In Augen, die niemals weinen. „Aber…du warst doch einmal ein Mensch gewesen? Ich meine…kannst du dich denn kein bisschen daran erinnern, wie es war ein Mensch zu sein?? Wie ein Mensch zu weinen…wie ein Mensch zu fühlen…?“ Wieso kann er meine Sichtweisen nicht annähernd verstehen…? Sein Blick wirkt auf einmal so leer. „Das alles ist schon viel zu lange her…Ich…kann mich nicht erinnern. Ich…kann euch Menschen nicht verstehen. Ich kann nicht verstehen…wieso ihr so sehr an Belangloses hängt…an Unwichtiges festhaltet…und…auf alles so stark reagiert.“ Traurig betrachte ich sein Gesicht. „Aber…kannst du dich denn auch nicht mehr an Yoko erinnern?“ An seine Liebe…muss man sich erinnern können. Wie kann man seine Liebe vergessen?? Er legt seinen Kopf auf seinen Unterarmen ab. „Yoko…Wenn ich diesen Namen höre…oder ihn selbst sage, spüre ich etwas. Einen ganz kurzen kleinen stechenden Schmerz…ganz tief in mir. Aber das ist auch schon alles. Ich weiß nichtmal mehr wie sie aussah…geschweige denn, was ich für sie gefühlt hatte.“ Ich senke den Blick und schlucke. Zu gern…würde ich…ihm nahe bringen, wie es ist. Ihn daran erinnern, wie es ist zu fühlen und wie ein Mensch zu sein. Doch…wäre das wirklich gut? Ist es…vielleicht nicht sogar besser, es nicht zu wissen…? Denn ohne Gefühle…ohne jegliche Wertschätzung…kann man auch nicht leiden oder unglücklich sein…oder etwas verlieren. Ich reibe mir kurz das Gesicht und stehe auf. Ich fühle mich irgendwie…leicht schwindelig…so als würde ich gleich umkippen… War die Küche schon immer so schief? „Uruha!“ Wow…ich bin wirklich fast umgekippt. „Tut mir Leid…“ Tatsuro rollt mit den Augen. „Genau deswegen wollte ich erst morgen kommen…Du brauchst deinen Schlaf.“ „Nein…ich brauche nur einen weiteren Kaffee…“ Ich spüre wie er mich herumdreht, hoch nimmt und ich plötzlich in seinen Armen liege. Rotanlaufend und erstarrt halte ich mich bei ihm fest. „Kaffee ersetzt keinen Schlaf.“ Ich schlucke nervös, als er mich in mein Schlafzimmer trägt. „T…Tatsuro…“ Ich mache mir keine Sorgen darüber, dass mein Zimmer unaufgeräumt sein könnte…das ist es nämlich fast nie...Und ich mache mir auch keine Sorgen wegen ihm … Worüber ich mir aber Sorgen mache ist, dass…ich etwas Unüberlegtes tun könnte… „So…“ Sachte legt er mich in mein Bett. Doch als er sich wieder aufrichten will, halte ich ihn fest. Natürlich sind meine Arme kein Hindernis für ihn, doch meine Geste irritiert ihn und lässt ihn innehalten. Er ist mir so nahe…dass mich neben dem Schwindel der Müdigkeit…noch ein anderes Schwindelgefühl überwältigt… Seine Hand drückt sich leicht gegen meine Brust, aber viel zu zaghaft, als hätte es wirklich eine Aufforderung sein können… Er weiß gar nicht, wie sehr ich mich nach jede Berührung von ihm verzehre…egal, was sie bedeutet. Sich beherrschend halte ich die Luft an, um sein betörend duftendes Parfüm nicht weiter einatmen zu müssen. Laut und rasend spüre ich mein Herz schlagen…und die Halsschlagader an meinem Hals unruhig und unaufhaltsam pulsieren…im Gegensatz zu ihm. Sein Körper reagiert nicht…aber sein regloser Körper sehnt sich nach der Wärme…sehnt sich nach der Lebenskraft. Seine glatte kühle Haut zieht an meiner Wange sanft vorbei…sanft und fordernd. Ich keuche leise auf, die Kühle ist so erfrischend. Plötzlich gibt Tatsuro einen überraschten Laut von sich und richtet sich auf. Im nächsten Moment steht er am Bettende. Ich richte nur meinen Oberkörper auf und kralle meine Hände fest in das Bettlaken. Die Sehnsucht in mir ist noch lange nicht verebbt. „…Hättest du mich gerade fast…?“ Seine Antwort klingt gefasst…wieder völlig kontrolliert. „Ja.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe. Der Schmerz bringt mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Wieso…hatte ich diesmal keine Angst?? Nein…ich wollte sogar, dass er es tut… Wie krank. „Also…dann bis morgen? Oder bist du endlich zur Besinnung gekommen?“ Erschreckt schaue ich hoch. „Niemals! Wir sehen uns morgen, wie vereinbart.“ Er nickt mir zu mit einem leichten Grinsen. „Das war ja klar…Schlaf dich aus.“ Beim nächsten Blinzeln ist er schon verschwunden. Mein Atem geht noch immer stockend… Ich wollte eigentlich noch darüber nachdenken, was da gerade fast passiert wäre…doch meine Müdigkeit übermannt mich… Ich kann nur noch eines denken…bevor ich mich ins Land der Träume begebe…. Noch nie zuvor, habe ich jemanden so sehr begehrt… Kapitel 16: Unmöglich --------------------- Ich beuge mich über meine Gitarre und beginne diese zu stimmen. Immer wieder zupfe ich an einer Saite bis der Ton so klingt, wie er klingen soll. „Hey.“ Jemand streicht mir kurz über den Arm und setzt sich neben mir. Es ist Aoi. Auch er hebt seine Gitarre auf den Schoß und stimmt sie. Der nächste Ton, den ich anspiele, klingt so schief, dass sogar Aoi kurz mit den Schultern zuckt. Kaum hörbar seufze ich und lasse meine Blicke ab und zu zögerlich zu Reita wandern. Unnötig energisch zieht er an den Basssaiten und man merkt ihm an, dass er nicht gerade gut gelaunt ist. Ruki sitzt neben ihm und versucht ihn leise flüsternd zu besänftigen. Warme Luft umfächert mein Ohr, als Aoi sich kurz zu mir rüberbeugt. „Reita ist heute anscheinend mit dem falschen Fuß aufgestanden.“ Ich korrigiere die nächste Saite. Halte mein Blick auf die Gitarre geheftet. Auch wenn ich immer noch nebenbei darauf achte, dass Reita nicht irgendeine ruckartige Bewegung macht. „Kann sein.“ Ich spüre neben mir, wie er sich verwundert räuspert. „Hast du etwas damit zu tun?“ Neugieriger Typ. „Nein.“ Ich klappe das Handy auf und hoffe vielleicht auf eine Nachricht. Nichts. Ich klappe es wieder zu und widme mich nun meinem Sandwich. Schnell nehme ich einen Bissen und blättere auf die nächste Seite des Modemagazins. Mode ist für mich sehr wichtig und mich interessieren immer die aktuellsten Trends. Zurzeit haben es mir Hemden angetan. „Ja, diese Hose sieht gut aus, findest du nicht?“ Der Finger tippt auf die zerrissenen verblichenen Jeans. Ich verdrehe die Augen. Wenn er wie ein Penner aussehen will, ist das sein Problem. Das Blöde ist…wie sehr ich mich auch auf die modischen Kleidungsstücke konzentriere…und mir gedanklich irgendwelche Outfits zusammenlege…ich kann das was gestern beinahe passiert wäre, nicht vergessen. Es schwirrt mir im Kopf umher…wie eine lästige summende Fliege. Das Schlimme ist noch immer…dass ich es zugelassen hätte. Ich hätte zugelassen, wie Tatsuro mich beißt…wie er mein Blut trinkt… „Wie findest du dieses Kleid?? Das ist ja megasüß!“ Ich hätte zugelassen…dass er mit tötet. „Und diese Rüschen erst!“ Es…war wie ein Rausch. Ich wollte fühlen, wie sich seine scharfen Zähne durch mein Fleisch bohren. Den Schmerz. „Oh mein Gott…diese Schuhe!!“ Klatsch! Laut klappe ich das Heft zu. Aoi zuckt wieder auf. „Sag mal…was machst du eigentlich hier? Willst du mich ärgern??“ Übertrieben schmollend lässt er eine empörte Stimme erklingen. „Wieso?? Darf ich etwa nicht hier sein??“ Hier ist genauer genommen das Bandzimmer…noch genauer? Neben mir auf der Coach. Nach dem Proben sind die anderen irgendwo Essen gegangen, aber ich wollte nicht mitkommen wegen dem zurzeit etwas angeschlagenen Bandklima. Außerdem habe ich Panik, dass sich Reita jede Sekunde wie ein tollwütiger Hund auf mich stürzen könnte. „Ich dachte du wärst mit den Anderen mitgegangen?“ Er schüttelt den Kopf. „Ich wollte nicht mit.“ Nun runzele ich die Stirn und knalle die Zeitschrift auf den Tisch. Jetzt ist es ziemlich offensichtlich, wieso er geblieben ist. „Wenn du mich jetzt wieder die ganze Zeit wegen irgendwelchen Sachen ausquetschen willst, dann lasse es lieber gleich!“ Seine dauernden Nachfragen bezüglich Reita und Ruki habe ich langsam satt. Ich verstehe es doch nicht mal selber. „Aber…das hatte ich doch gar nicht vor.“ Misstrauisch schaue ich ihn an, aber er verändert seine Unschuldsmiene nicht. Entweder er ist ein sehr guter Schauspieler…oder er meint es ernst. „Glaub mir Uruha…“ Seine Unschuldsmiene ist wirklich gut. „Ach, Aoi…“ Plötzlich erschöpft und schuldbewusst schmiege ich mich an ihn. Als hätte er genau das erwartet, legt er tröstend einen Arm um mich. „Was ist zurzeit nur mit dir los, hm?“ Ich atme laut aus. „Ach, so vieles…“ Wenn er wüsste. „Ich erwarte nicht, dass du mir alles erzählst. Aber…wenn du mit jemanden reden willst, bin ich da.“ Ich muss kurz an Ruki denken. Es verstreichen noch ein paar Sekunden, in denen wir nichts sagen. Da ich mit dem Kopf an seiner Brust anliege, lausche ich dem regelmäßigen Pochen seines Herzen. Es ist beruhigend. Ein beruhigender Rhythmus. Es ist lebendig. Ich zögere noch etwas…dann bricht es aus mir aus. „Reita war gestern bei mir.“ Ich spüre wie sich Aoi leicht aufsetzt. „Wirklich?“ Ich atme langsam aus. „Ja.“ Ich mache eine Pause, merke aber, dass er darauf besessen ist mehr zu erfahren. Ich quäle ihn nicht länger. „Wir haben uns natürlich gestritten. Immernoch wegen diesem blöden Streit.“ Er schnauft kurz traurig auf, dann spreche ich weiter. „Ich habe ihn sogar…geschlagen.“ Verdutzt schreit mein Freund auf. Mein Kopf holpert mit. „Was??!“ Ich erhebe mich leicht, sodass ich in sein Gesicht sehen kann. Meine Miene verzieht sich schuldbewusst. „Ich…ich wollte das nicht! Wirklich!“ Auch seine Miene verzieht sich. „Uruha…Das hättest du wirklich nicht tun sollen…Du weißt wie empfindlich er noch ist…“ Ich schmiege mich wieder an ihn an. „Ich weiß. Ich weiß, Aoi. Aber er hat mich wirklich provoziert…Ich konnte nicht anders. Du weißt ja, dass ich sonst nicht so…gewalttätig bin.“ Nun legt er beide Arme um mich und hält mich fest. „Mein Gott…Jetzt ist mir klar, wieso Reita heute so gereizt ist...“ Dann macht sein Brustkorb wieder eine schluckende Bewegung. „Aber er hat dir nicht wehgetan, oder??“ „Nein.“ Erleichtert senkt er sich wieder. „…Erinnerst du dich noch? Zu unseren Anfangszeiten hatte ich mal einen heftigen Streit mit ihm wegen dem Beliebtheitsgrad bei den Fans…“ Mich schaudert es kurz, als ich an die Szene denken muss. „Oh ja, er hätte dir beinahe den Arm gebrochen!“ „Ja! Deswegen…bitte…“ Ich streiche in Gedanken mit einer Hand über sein weißes T-Shirt. Seine Besorgnis ehrt mich. „Keine Sorge. Außerdem…kennen wir uns schon so lange…Ich glaube nicht, dass er mir wirklich etwas Schwerwiegendes antun würde…“ Dann verenge ich die Augen. „Aber ich verstehe einfach nicht, wieso er sich in Rukis und meine Angelegenheit einmischt! Das geht ihn schließlich nichts an!“ Plötzlich bewegt sich Aois Brust. Wie ein Schütteln. Er lacht. „Mann, Uruha! Natürlich ist Reita auf Rukis Seite und natürlich setzt sich Reita für ihn so ein!“ Was? Ich verstehe nicht ganz. Sollte er irgendwas wissen, was ich nicht weiß? „Wie meinst du das jetzt? Reita hätte ja auch auf meiner Seite sein können…“ Das Lachen wird zu einem Schmunzeln. „Verliebte halten immer zusammen, Uruha.“ Nun richte ich mich abrupt auf und sehe in seine dunkelbraunen Augen. „Verliebte??“ Er hebt eine Hand und streicht mir liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht. „Uruha, Uruha. Du bekommst zurzeit gar nichts mehr mit, oder? Ruki und Reita sind schon seit einigen Tagen ein Paar…Vielleicht sogar schon länger.“ Beinahe hysterisch lege ich die Hände empört auf meine Wangen. „Waaaaaaaas??! Erzähle doch nicht so ein Blödsinn!!“ Aoi lächelt verwundert. „Wieso soll das blödsinnig sein?“ Ich setze mich jetzt aufrecht auf seinen Schoß, packe seine Schultern und schüttele ihn leicht. „Weil…das unmöglich ist. Und überhaupt…woher willst du das bitteschön wissen??“ Er rollt mit den Augen. „Es geht nicht mehr offensichtlicher, Mann. Sie tauschen sich andauernd vielsagende Blicke…Ruki weicht nicht mehr von seiner Seite…und Reita nicht mehr von seiner. Dauernd berühren sie sich rein zufällig. Wenn einer nach links schaut…schaut der andere ebenfalls nach links. Wenn einer ein Satz anfängt, beendet der andere ihn. Sie treiben es vor aller Öffentlichkeit auf den Flur. Mal ernsthaft…wie viele Beweise willst du denn noch???“ Ich stemme die Hände an die Hüften. „Das Letzte war ein Scherz oder?“ Er lacht kurz. „Aber Aoi…für mich klingt das trotzdem eher wie eineiige Zwillinge. Und nicht wie ein Pärchen.“ Seufzend nimmt er meine Hände von den Hüften und umklammert sie. „Ich merke, dass du derzeit etwas abwesend bist und deshalb ist es auch kein Wunder, dass du das alles nicht bemerkst…so vieles nicht bemerkst…“ Er lächelt mich verständnisvoll an. Nicht spöttisch, wie man es hätte vermuten können. Natürlich würde das einiges erklären...aber es ist nicht möglich. „Aber…die beiden können wirklich kein Paar sein. Ich kenne sie schon seit meiner Kindheit…und Reita ist stockhetero. Keiner ist so hetero wie er-“ Aoi legt beschwichtigend eine Hand auf meinen Mund. „Sie sind ein Paar, ob du es nun glaubst oder nicht. Und Uruha…weißt du eigentlich was das bedeutet? Was es…für uns bedeutet…?“ Plötzlich verstehe ich die Bedeutung. Weit reiße ich die Augen auf, während ich langsam den Kopf schüttle. Aoi macht die Gegenbewegung und nickt nur langsam. „Doch Baby. Sie haben das geschafft…was wir nicht geschafft haben.“ Bei dem Kosewort stockt mir der Atem. Es ruft so viele Erinnerungen hervor, dass mir schlecht wird… Ich zittere leicht, als seine Hände über meinen Rücken wandern und mich näher an ihn drücken. Ich fühle mich so überrumpelt, dass ich kaum reagieren kann. „Ich will, dass du wieder der Alte bist. Lass mich dir den Stress nehmen…Lass mich dir das nehmen, was dich so sehr beschäftigt…“ Und dann ist es schon passiert. Er küsst mich. Einfach so. Und ich…gebe nach…einfach so. Schließlich küsse ich ihn nicht umsonst so oft auf der Bühne. Er kann es einfach zu gut. Doch mein Verstand schaltet sich wieder ein, als ich anfange mich zu verlieren. Dieser Kuss ist einfach viel zu intensiv. Die aufkommenden Erinnerungen…sind viel zu intensiv. „Hey, hör auf!“ Ich drücke mich abwehrend von ihm weg und stehe auf. Jammernd gehe ich auf dem Teppich hin und her und versuche meine aufkommende Erregung wieder zurückzudrängen. „Oh mein Gott! Oh mein Gott!!“ Er steht ebenfalls auf, bleibt aber auf der Stelle. „Hey…Tut mir Leid…Ich…Es ist einfach über mich gekommen. Ist das denn sooo schlimm?? Ich meine, wir haben doch früher auch-“ Ich schreie auf, damit er nicht weiter spricht. „Früher ist aber früher und nicht heute!“ Er versucht mich festzuhalten, aber ich entreiße mich ihm sofort wieder. „Aber vermisst du es denn nicht auch? Die alte Zeit? Wir waren doch so glücklich gewesen…oder nicht?“ Glücklich. Ja…vielleicht konnte man es Glück nennen…aber vielleicht auch nicht. Im Gegensatz zu heute, waren wir da doch etwas jünger und wilder gewesen…und auch Affären hatte ich so viele, dass ich sie nicht zählen konnte. Aber dann gab es eine Zeit…in der ich nur eine einzige Affäre hatte. Die mit Aoi. Ich weiß nicht wieso…aber eines Tages ist es einfach über uns gekommen. An dem Tag hatten wir auf der Bühne unseren ersten Fanservice-Kuss…und nach dem Konzert mussten wir uns wieder küssen, obwohl keine Fans in der Nähe waren. Wieder…und wieder…und wieder. Wir konnten einfach nicht die Finger von uns lassen, also wurde aus dem Küssen Rumknutschen…und aus dem Rumknutschen schließlich Sex. Und das dann jeden Tag. „Komm schon…willst du es denn nicht noch mal versuchen? Und diesmal…ernsthaft?“ Ernsthaft… Ob das früher zwischen uns Liebe gewesen ist, kann ich nicht so genau sagen. Es ging einfach nur um Sex…aber ich kann nicht leugnen, dass ich doch im gewissen Maße glücklich mit ihm war. Jedes Mal, als wir uns sahen, mussten wir uns stumm anlächeln und jedes Mal, klopfte mein Herz einen Takt schneller, als er mich berührte. Doch irgendwann an einem anderen Tag…war das Ganze von einem Moment auf den Anderen vorbei. Wahrscheinlich auch, weil die anderen allmählich davon Wind bekamen. Hauptsächlich aber deswegen, weil wir einfach noch nicht bereit dafür gewesen waren. Wir spürten zur der Zeit nämlich, dass die lockere Affäre langsam aber sicher zu etwas Festem wurde…und wir wussten, dass…wenn etwas derart Festes zerbrach…jede beste Freundschaft ebenfalls mit zerbrach und somit ein tägliches Zusammensein schier unmöglich machte. Wir hätten niemals mehr zusammen in einer Band spielen können. Wir hätten alles kaputt machen können… Nicht nur unsere Beziehung…sondern auch die ganze Band. „Aoi…Du bist mir sehr wichtig…und unsere Freundschaft ist mir verdammt kostbar. Aber denkst du wirklich es hat sich etwas an der ganzen Situation geändert?“ Protestierend presst er die Lippen aufeinander. Seine verzweifelte Reaktion tut auch mir weh. „Aber…wann bitteschön können wir dann zusammen sein?? Wenn wir in Rente sind? Denkst du ich kann solange warten??? Und was ist mit Ruki und Reita?? Sie warten auch nicht!“ Ich will ihm nicht wehtun…aber ich muss es. „Zusätzlich kommt noch hinzu…dass ich jemanden kennen gelernt habe, Aoi.“ Sein Blick wirkt wie versteinert…und ich muss mich schluckend von ihm abwenden. So kann ich ihm nicht ins Gesicht blicken. Nicht…mit diesem schrecklichen Gesichtsausdruck. Ich habe das Gefühl, das irgendwas schief läuft…verdammt schief. So…verkehrt. Vielleicht hätte ich Tatsuro gar nicht begegnen dürfen… Vielleicht hätte ich niemals in das Gebäude gehen sollen… Mit Aoi…mit einem Menschen, wäre alles bestimmt um einiges leichter… Aoi und ich…wir hätten uns vielleicht wieder gefunden…und zusammen glücklich sein können. Vielleicht…hätte es bis an unser Lebensende halten können…Wir beide…zusammen…zusammen mit unserer Band…für immer. Aber…was passiert ist, ist passiert. Es gibt keinen Weg zurück mehr… Ich kann meine Gefühle nicht ändern…Gefühle, die niemals hätten aufkommen dürfen. Gefühle…die mich nur kaputt machen und keinem etwas bringen. Ich blicke wieder zu Aoi, der immer noch verstummt an seinem Platz steht. Es tut mir weh…ihm so weh zu tun. Wie konnte er sich nur solche Hoffnungen machen? Wie konnte ich ihm nur solche Hoffnungen machen? Trotzdem öffne ich meinen Mund und kriege flüsternde gepresste Worte heraus, obwohl ich dachte meine Stimme hätte schon längst versagt. „Es…tut mir Leid…“ Kapitel 17: Abhängigkeit ------------------------ Meine Hände krallen sich an den Türrahmen. Geschwächt halte ich mich fest…drohend einfach umzukippen. Umzukippen…und einfach liegen zu bleiben. Aber ich will nicht liegen bleiben. Ich will auf den Beinen bleiben…also halte ich mich gezwungen fest. Laut atme ich aus. Ich habe den restlichen Bandtag gefasst überstanden. Keiner hat mir irgendetwas angemerkt. Sogar Aoi…obwohl er etwas steif war und zurückhaltend… Keiner hat ihm etwas angemerkt. Wir beide sind gut. Wir waren schon immer gute Schauspieler. Wir beide…zusammen. Ein eingespieltes Team. Ich frage mich…seit wann er wieder an uns gedacht hat…seit wann…er wieder gehofft hat. „Aoi…“ Ich möchte es am liebsten verdrängen. Verdrängen…was ich ihm angetan habe. Und genau…aus diesem Grund stehe ich hier. Genau hier. Weil ich es verdrängen will. Weil Tatsuro heute noch kommt…und ich nur noch an ihn denken will. Weil auch Tatsuro…mir nichts anmerken soll. Ich richte mein Blick wieder nach vorn. In die kleine dunkle Kammer meiner Wohnung. Meine Abstellkammer. Wie auf dem Präsentierteller steht dort inmitten des Schrankes die unübersehbare Flasche. Schon seit zwei Jahren…unberührt. Obwohl fast jeden Tag begegnend. Die Herausforderung fast jeden Tag begegnend. Jedes einzige Mal war eine Genugtuung für mich…wie ein gewonnenes Spiel. Wie ein Sieg…wenn ich ohne jegliche Regung an die Flasche vorbei ins Regal greife. Ohne zu Zögern. Ohne über sie nachzudenken. Sie ist nichts. Nur irgendeine Flasche. Doch jetzt will ich all das aufgeben. All das aufgeben was ich in den zwei Jahren geschafft habe. Und das nur…um zu verdrängen. Und zugleich um mich selbst zu bestrafen…für das was ich Aoi heute angetan habe. Anders habe ich es nicht verdient. Zitternd und zögerlich gehe ich einen Schritt weiter in die Kammer. Die Augen fest auf die Flasche geheftet…die doch eigentlich so belanglos für mich sein müsste…unsichtbar…wie doch in jeder anderen Gelegenheit davor auch. Sie dürfte mich nicht interessieren. Doch jetzt interessiert sie mich so sehr wie noch nie zuvor. Das Verlangen…war noch nie so stark. Endlich greife ich nach der Flasche. Sie fühlt sich schwer an in meiner Hand…sie…und der Inhalt in ihr. Der kostbare…helfende…sündhafte Inhalt…der mich verdrängen lassen wird. „Uruha?? Was machst du da drin?“ Das Licht geht an. Sofort entgleitet mir die schwere Flasche… Klirr! …und zerspringt in tausend Scherben. Der wertvolle Inhalt…verloren. „Ähm…“ Ein kleiner Windzug weht mir die Haare aus dem Gesicht. „…ich sollte wohl wirklich immer klingeln wenn ich zu dir komme. Denn jedes Mal wenn ich hier auftauche und du irgendwas in der Hand hast, lässt du es fallen.“ Seine Stimme klingt, als grinst er, während er die Scherben aufsammelt. Endlich kommt wieder so etwas wie eine Regung von mir, als ich mir schmerzend auf die Lippe beiße. Es war so knapp…ich hätte wirklich…diese Flasche geöffnet…und aus ihr getrunken. Ich wäre wirklich…fast wieder rückfällig geworden… Die zwei Jahre…wären fast umsonst gewesen. Fast…wenn Tatsuro nicht rechtzeitig gekommen wäre. „Mann…Der kostbare Champagner…wirklich schade! Gibt’s denn eigentlich irgendwas zu feiern??“ Champagner… Das einzige Getränk, das mich abhängig macht. Das einzige Getränk, von dem ich nie genug bekommen kann… Ich könnte niemals aufhören von diesem zu trinken…bis ich tot auf den Boden liege. Ich würde mich zu Tode saufen. Wahrscheinlich…hätte ich das auch irgendwann getan. „Nein…Ich wollte nur etwas aufräumen…“ Zum Glück haben mir meine Bandkollegen gewisse Gruppen und eine bekannte Entzugsklinik vorgeschlagen, als sie irgendwann bemerkt haben, dass ich in den verschiedensten Räumen der Company Flaschen versteckt hatte und mich manchmal heimlich dorthin verzogen hatte. „So…das müssten alle sein.“ Tatsuro geht mit dem zerbrochenen Glas aus der Tür raus. Gut, dass er die Scherben aufgehoben hat…Ich hätte mich nämlich bestimmt geschnitten. Und wer weiß…wie das geendet hätte. Noch leicht geschockt, nehme ich den Wischmop im Flur und säubere die Pfütze. So gründlich, dass man denken könnte, ich hätte einen Putzfimmel. Währenddessen steht Tatsuro wieder am Türrahmen und beobachtet meine leicht übertriebene Aktion. „Ich glaube das reicht jetzt…“ Ich nicke nur. Ohne ein Wort zu sagen gehe ich an ihm vorbei zurück in den Flur und stelle den Bodenwischer wieder an seinen Platz. Ich drehe mich herum und erwidere seinen Blick. Bewusst gefasst. „Ich dachte du kämst heute erst später.“ Er zuckt nur die Schultern. „Wir haben heute etwas früher Schluss gemacht. Und außerdem…komme ich, wann ich will. Schon vergessen? Vampir.“ Gezwungen erwidere ich sein freches Grinsen. Nur nichts anmerken lassen. Das ist wie schon gesagt, das A und das O. Doch als ich ihn jetzt wieder richtig ansehe…fühle ich mich gleich viel besser. Alles andere scheint wieder etwas belangloser zu sein und in eine gewisse Ferne zu rücken. Er gibt mir…Luft zum Atmen. „Also…willst du irgendwas trinken?“ Der Film läuft. Ich habe Tatsuro schließlich vorgeschlagen sich mit mir den Film anzusehen. Aber…ich kann mich kein bisschen auf diesen konzentrieren… Ich weiß nicht mal mehr was für einen Film ich da eigentlich in den DVD-Player rein getan habe. Das einzige was ich mitkriege sind die gelegentlichen lauten Schreie von einer Frau, die um ihr Leben rennt. Höchstwahrscheinlich mal wieder einer von diesen Killerfilmen, die es eh schon zu Millionen gibt. Bei weitem nicht so interessant, wie die Person neben mir… Schüchtern schiele ich zu Tatsuro rüber, der regungslos auf den Bildschirm starrt und zwischendurch mal verhaltend an sein Glas nippt. Ich würde mich ihm gerne annähern…viel näher neben ihm sitzen…seinen Arm um meine Schultern spüren…aber das geht nun mal nicht. Tatsuro würde mich wegschubsen…und ich würde zu gekränkt sein. Ohne es zu wollen muss ich an Aoi denken, wie wir beide kuschelnd auf dem Bandsofa saßen. Ich will dieses Bild aber nicht sehen und stehe abrupt auf. Tatsuro hebt den Kopf und schaut mich verwirrt an. Erst fällt mir keine Ausrede ein…dann kommt mir eine Idee. „Ähm…Ich habe auch Knabberzeugs da. Chips und so.“ Dann werde ich plötzlich rot. Wie blöd…dass mir die Frage erst jetzt kommt… „Aber…ich…weiß nicht ob du…“ Tatsuro gluckst auf. „Wenn ich will kann ich. Aber unsere Nahrung besteht eigentlich nur aus Blut. Menschennahrung brauchen wir nicht zum Leben. Außerdem…ist das Einzige was wir Vampire noch schmecken können…eh Blut. Was bringt es uns also geschmacklose Nahrung aufzunehmen? Außer vielleicht eben, um den Schein zu wahren.“ Ich verziehe fragend das Gesicht. „Ok…aber mal ne doofe Frage…Wieso eigentlich Blut?“ Wieder ein Grinsen, aber diesmal mit einem Hauch von Überraschung vermischt. „Ja…wieso eigentlich Blut? Das ist eine sehr gute Frage. Mich wundert es sogar ein bisschen, dass du das fragst. Die Menschen finden sich normalerweise einfach damit ab, dass Vampire Blutsauger sind und fertig. Hinterfragen tut das eigentlich fast niemand.“ Jetzt erwidere ich sein Grinsen. „Tja…ich bin eben ein sehr neugieriger Mensch.“ Lässig setzt er sich leicht auf und schwingt ein Bein übers andere. Tatsuro scheint wieder voll in seinem Element zu sein. Ich verkneife mir ein belustigtes Augenrollen. „Das ist eigentlich ganz einfach. Wir Vampire sind so was wie Untote. Wir alle wurden verwandelt, indem uns das Blut ausgesaugt worden ist und uns das naja…sagen wir Vampirvirus injiziert worden ist. Wir wurden sozusagen angesteckt mit dem Vampirvirus, das uns nach unserem Tod wieder auferstehen lässt…uns zu dem macht, was wir sind.“ Mich schaudert es kurz. „Das klingt ja wie Zombies…“ Er schaut mich an. „Uruha…Untote sind so was wie Zombies. Wobei…bei Zombies ist das ein ganz anderer Virus. Und Zombies haben auch keinen Verstand mehr und…sie halten nicht sehr gut.“ Ich halte mir den Magen. „Und…Zombies fressen Menschen.“ Aufeinmal wirkt er leicht genervt. „Das können wir auch…“ Sofort halte ich meine Hände vor mir. „Ist schon gut. Ich werde dich nicht mehr unterbrechen!“ Amüsiert rückt er sich etwas zurecht und erzählt weiter. „Logischerweise…ist unser Körper also schon tot. Eigentlich. Wir dürften gar nicht mehr leben. Doch…damit wir leben können und unsere Körper intakt bleiben…brauchen wir Leben. Blut ist Leben. Blut erhält unsere eigentlich schon toten Körper. Ohne Blut würden wir sterben…genauso wie unsere Körper. Der Organismus würde stocken…und wenn er stockt…“ Mir fällt die Kinnlade herunter. „…verfault ihr?“ Er lacht kurz. „Naja…wenn der Organismus vollständig stoppt, haben wir noch einen ganzen Tag Spielraum. Ein Tag Zeit um zu Überleben. Doch dann…ist es aus. Unsere Organe können sich nicht mehr in Takt setzen. Und so natürlich auch das Gehirn. Und ohne Gehirn kann man ja logischerweise nicht leben. Also sterben wir. Angeblich…soll es ein sehr qualvoller Tod sein. Der langsam ansetzende Schmerz…der dann unerträglich wird…Naja…erst wenn wir richtig tot sind, dann fangen wir an wie echte Tote zu faulen. Was wiederum ein großer Unterschied zu den Zombies ist. Zombies faulen ja unentwegt. Niedrige widerliche Kreaturen, wenn du mich fragst. So…primitiv.“ Ich schüttele den Kopf. „Aber…wie jetzt? Wie oft müsst ihr denn dann Blut trinken??“ Er verschränkt die Arme vorm Oberkörper. „Unsere Körper brauchen immer wieder frisches warmes Blut, das sich durch unsere Adern pumpen kann. Es darf nicht vollständig erkälten.“ Verwundert trete ich zu ihn und berühre seine Hand, die sich ungewöhnlich kühl anfühlt. Er lächelt bei meinem Gesichtsausdruck. „Kurz nachdem wir Blut zu uns genommen haben…ist unsere Körpertemperatur die der Menschen. Normal. Doch nach und nach sinkt sie. Kritisch wird es erst, wenn wir eiskalt sind. Eiskalt wie Eisbrocken. Aber das dauert.“ Erleichtert streiche ich über seine Hand. Sie ist nicht eiskalt, nur etwas kühl. Dann blicke ich auf seine Brust. „Und…eure…Organe funktionieren also?“ Lächelnd nimmt er meine Hand und legt sie auf sein Herz, das ich jedoch nicht spüre. Erschrocken blicke ich in sein freches Gesicht. „Du als Mensch…spürst das sehr schwache fast nicht vorhandene Pulsieren natürlich nicht. Aber mein Herz lebt. So gerade noch.“ Das irritiert mich. Ich blicke auf seine Brust…versuche hindurchzusehen…und mir ein pulsierendes…lebendes Herz vorzustellen. Ein Herz…wie des eines Menschen. Kann es dann sein, dass…? Ist es möglich, dass…? „Aber…bedeutet das etwa…dass ihr Vampire…genauso empfindlich seid wie Menschen?? Ich meine…wenn euch jemand angreift…wenn ihr einen Unfall habt…Eure Organe sind doch…verwundbar?“ Er lächelt über meine Aufregung. „Nein. Unsere Körper sind viel robuster als eure. Sie haben sich an die Bedingungen angepasst. Wenn dein Herz jetzt so schwach schlagen würde wie meines…wärst du gar nicht mehr am Leben. Dein Körper könnte sich gar nicht erhalten.“ „Aber…ihr seid doch trotzdem verwundbar, oder nicht??“ Er gluckst kurz über meinen schockierten Anblick. „Du kennst meine Kraft, oder? Normale Unfälle oder Verletzungen können mir nichts anhaben…nur Unnatürliches. Welches die Kräfte der Menschen oder der Umgebung bei weitem übersteigen, kann uns verletzen. Doch auch für diesen Fall…hat sich das Virus gewappnet. Wir haben nämlich eine ungewöhnlich schnellen Heilungsprozess…den wir jedoch mit viel Blut ankurbeln müssen.“ Erleichterung. Dann pfeife ich. „Na kein Wunder, dass ihr solange lebt bzw. unsterblich seid.“ Sein Blick wirkt plötzlich abwesend. Mutig lasse ich meine Hand auf seiner Brust verharren und starre herausfordernd in seine fast schwarzen Augen. Versuche seinen Blick wieder ins Hier und Jetzt zu befördern. Und es klappt. Seine Augen registrieren mich wieder…fesseln mich wieder. Ich kann nicht wegsehen…und will auch nicht wegsehen. Wir verhaaren einige Sekunden in diesem intensiven Augenkontakt…dann lässt er meine Hand los, die jedoch weiterhin auf seiner Brust bleibt. Fast kaum bemerkbar lehnt er sich allmählich zurück…dass mich aber noch mehr ermutigt. Zum ersten Mal…habe ich das Gefühl die Situation in der Hand zu haben. Derjenige zu sein, der bestimmt. Nicht ich bin jetzt derjenige, der zurückweicht…sondern er. Beflügelt von diesem Gefühl beuge ich mich mehr zu ihm herunter und lege meine Arme neben seinem Kopf auf die Sofalehne. Langsam bewege ich meinen Kopf nah an seinem Gesicht vorbei und rieche das altbekannte süchtig machende Parfüm. So befindet sich mein Hals frei und völlig ungeschützt direkt vor seinen Lippen. Mein Flüstern klingt neckisch und herausfordernd... „Und…? Ist die Versuchung unerträglich? Das Verlangen…nach Leben? Das Verlangen…nach meinem Blut…?“ Eine ruckartige Bewegung und plötzlich steht Tatsuro neben mir. Ehe ich reagieren kann hat er schon von hinten einen Arm um meinen Hals gelegt und schnürt mir die Luftzufuhr ab. Panisch zerre ich an seinem Arm, was natürlich rein gar nichts bringt. Wie ich zuvor bei ihm, flüstert er mir mit einer neckischen aber sehr kalten Stimme ins Ohr. „Weißt du…was ich jetzt machen könnte? Ich könnte dir mit Leichtigkeit den Kopf zerquetschen…und mir dann das Blut holen, dass du mir so gerne vorenthältst…“ Immernoch an seinem Arm zerrend und fast erstickend versuche ich irgendein Wort herauszubringen. „…b…bitte…“ Ohne Vorwarnung lässt er mich abrupt los und ich falle nach Luft jauchzend auf die Knie. Hustend versuche ich wieder normal zu atmen. Regungslos bleibt Tatsuro neben mir stehen, während ich versuche mich nicht zu übergeben. Mir ist bewusst, dass es ganz anders hätte enden können… Er hätte mir wirklich den Kopf abreißen können…sich ungehindert das Holen können, was ich ihm leichtsinnig vorgeführt habe… Was habe ich mir dabei nur gedacht…? Als ich wieder einigermaßen gefasst bin, spricht er seine Warnung aus. „Provoziere mich nicht, Uruha. Niemals.“ Niemals… Ich blicke zu ihm hoch in einer leicht verkrümmten Haltung. „Es…tut mir Leid. Du hast Recht…Es ging zu weit.“ Was habe ich nur wieder gemacht?? Er hätte wirklich zubeißen und mich töten können… Man spielt nicht mit einem Vampir. Man spielt nicht…mit seinem Leben. Und erst Recht nicht…kann man einem Vampir überlegen sein. Wird er mir verzeihen…? Traurig senke ich den Kopf und lausche dem Knistern des Fernsehers… Der Film ist schon längst zu Ende. Plötzlich sehe ich Tatsuros Hand vor mir. Ich greife nach ihr ohne zu Zögern. Trotz allem verspüre ich keine Angst…Ich kann wohl nie mehr wieder Angst vor ihm haben, egal was passiert. Wieso…? Vertraue ich ihm zu sehr? Oder habe ich mich vielleicht schon aufgegeben…? Ich halte mich an der Hand fest und stehe schon eine Sekunde später aufrecht vor ihm. Leicht schuldbewusst erwidere ich seinen Blick. Seine dunkeln Augen schimmern etwas…aber es ist kein Hass oder Zorn, wie ich es erwartet hätte. Ich bin ihm so dankbar. So dankbar, dass er mir verzeiht. Dass er mir helfen will. Mir meinen Leichtsinn aufzeigt. Unsere Blicke weichen jetzt keine Sekunde voneinander und nach einiger Zeit des Verbleibens wandern seine Hände zu meinen Wangen. Die mir wohl bekannte angenehme Kühle legt sich auf meiner Haut. Ich kann nicht anders als meine Hände ebenfalls zu erheben und sie auf seine Hände zu legen. Es verwirrt mich. Diese Stimmungsschwankung von ihm. Erst brutal und plötzlich ganz sanft. Auf die Erklärung muss ich nicht lange warten. „Wenn du…nichts mehr mit mir zu tun-“ „Jaja, mit mir zu tun haben willst, dann verstehst du das. Das hatten wir doch schon mal oder?“ Ich muss ihn anlächeln. Das klingt so naiv… Sein ernstes Gesicht lockert sich etwas. „Ja…aber…was ich dir sagen wollte…“ Er versucht die richtigen Worte zu finden, was mich leicht verdutzt. Was will er mir sagen, dass er nicht ausdrücken kann…? „Ich…verstehe, wenn du mich nicht mehr sehen willst…aber…tolerieren kann ich es nicht.“ „…“ Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl…den Boden unter den Füßen zu verlieren. Seine Worte…machen keinen Sinn. Sie passen nicht zu ihm. Ich…ich kann sie nicht verstehen. Ich kann sie nicht interpretieren. Sie sind…unverständlich. Genauso wie seine Augen…die doch eigentlich so reglos sind…aber jetzt irgendwie lebendig wirken. Seine Augen…die mich fangen und nicht mehr loslassen wollen. Statt irgendwas zu antworten…und seine Worte zu verstehen, tue ich es ihm gleich und lege meine Hände an seine kühlen Wangen. Daraufhin lächelt er nur und schließt genießend die Augen. „Deine Hände…sind so schön warm…“ Ich erwidere sein wunderschönes Lächeln. Dann spüre ich seine kühle Stirn an meiner und schließe ebenfalls die Lider. Endlich habe ich eine Antwort zu seinen so unverständlichen Worten. Worte, die eigentlich…so einfach sind. So klar. „Verlass mich nicht…und ich werde dich nicht verlassen.“ Kapitel 18: Liebe oder Hass? ---------------------------- „Mist!“ Fluchend trete ich gegen den Aufzug, der seine stählernen Türen einfach nicht öffnen will. Dann beiße ich die Zähne zusammen, als mein Fuß nach dieser Aktion vor Schmerz aufschreit. „Außer Betrieb. Steht doch dort.“ Ein hagerer Mitarbeiter deutet auf den Zettel, der an den Türen hängt und geht dann ausdruckslos die Treppen hoch. Ich rolle mit den Augen. Natürlich habe ich den Zettel gesehen…aber unser Hauptquartier befindet sich im 5. Stock!! Und Treppensteigen…ist nichts für mich. Ich habe schließlich eine Raucherlunge. Verstohlen sehe ich mich um. Vielleicht kann mich ja auch jemand tragen?? Ich grinse. Ein Vampir wäre jetzt nicht schlecht gewesen… „Tatsuro…“ Sofort flammen meine Wangen auf, als ich an gestern denke. An…seine Worte. Um ehrlich zu sein…ich kann es immer noch nicht glauben. Doch andererseits…gibt es keinen Grund dafür, dass ich fröhlich sein sollte. Immerhin…weiß ich, dass nur mein Blut…der Grund dafür ist, dass er sich an mich bindet. Mehr und nicht weniger. Ich bin für ihn nur eine wandelnde Droge…die er sich jederzeit nicht mehr entziehen könnte. Eigentlich ist es nur eine Frage der Zeit… Irgendwie…grenzt das schon an Masochismus. „Morgen!“ Ein weiterer Mitarbeiter geht an mir vorbei. Das bringt mich wieder ins Hier und Jetzt. Seufzend blicke ich die Treppen hoch. Daran führt jetzt wohl kein Weg vorbei… Mit all erdenklichen Schimpfwörtern vor mir herflüsternd nehme ich die erste Treppenstufe. „Puh…“ Ich habe jetzt schon keine Lust mehr… „Woah!“ Jemand stößt mich und ich wäre fast nach vorne gekippt. „Gomen nasai!“ Entschuldigend dreht sich ein anderer mir Unbekannter kurz um und verbeugt sich schnell mehrmals, bevor er weiter die Treppen hoch rast. Mein Gott…ich komme auch noch zu spät, wenn ich mich nicht langsam in Gang setze! Ich seufze abermals auf…und begebe mich schließlich auf den qualvollen Weg nach oben. Schon etwas außer Puste steige ich trotzdem jede Stufe weiter… In diesem Augenblick verfluche ich das Rauchen…aber wenn diese Eskapade erstmal überstanden ist, werde ich wieder ganz anders darüber denken. Ein Leben ohne Zigaretten ist für mich nämlich nicht drin. Dann im 3. Stock brauche ich eine kleine Pause…aber nicht nur deswegen halte ich an. Vor mir steht nur ein paar Meter entfernt... …Aoi. Rauchend lehnt er am offenen Fenster und blickt nachdenklich hinaus. Das ist das erste Mal das ich ihn wiedersehe…seit gestern, als ich…ihn abweisen musste. Ich weiß nicht, wie ich auf mich aufmerksam gemacht habe…vielleicht mein anhaltender Atem…vielleicht meine aufkommenden Bedenken…oder vielleicht auch das Schuldbewusstsein, das er in mir auslöst. So als würde er meine stumme Anwesenheit einfach gespürt haben, dreht er sich um…doch seine Augen weiten sich leicht, als er mich erblickt. Als hätte er…seinem Instinkt keinen Glauben geschenkt. Doch für nur einen kurzen Moment…zieren diese altbekannten leicht belustigten Gesichtszüge sein Antlitz. Diese Unbeschwertheit…die ich so sehr an ihn schätze. „Scheiß Raucherlunge, was?“ Ich huste leise, als ich wieder anfange zu atmen. „Tja…Wir wussten ja, auf was wir uns da einlassen.“ Eine Augenbraue von mir zuckt kurz auf, als mir bewusst wird, wie zweideutig diese Aussage gerade klang. Aois Miene hingegen hat sich kein Stückchen verändert, worüber ich sehr erleichtert bin. Gut, dass er den Zusammenhang nicht gesehen hat. …Hoffe ich zumindest. Stattdessen dreht er sich wieder zu dem weißgrauen Himmel um. Einladend hebt er eine Zigarettenschachtel hoch und rückt etwas zur Seite. „Na dann, genießen wir doch unser selbstzerstörerisches Raucherdasein.“ Ich zögere. „…Wir kommen zu spät.“ Er schüttelt beschwichtigend mit der Zigarettenschachtel. „Ach, hat dich das etwa jemals aufgehalten? Die paar Minuten.“ Ich wäre…am liebsten weiter die Treppe hochgegangen…doch andererseits…wäre es besser so zu tun als wäre nichts gewesen…als hätte ich ihn nie abgewiesen. Als wäre…alles in Ordnung. So gehe ich zu ihm, nehme mir eine Zigarette und zünde diese an. Entspannt puste ich den Qualm in die Luft und lehne mich neben Aoi an den Fenstersims. Bereuen kann ich es so oder so nicht. Doch dann muss ich kurz stocken…als ich einen leichten alkoholischen Geruch vernehme. Verstohlen blicke ich zu ihm rüber. „Es gibt doch wirklich nichts Besseres als eine Kippe.“ Ich versuche dieses unbehagliche Gefühl in der Magengegend zu ignorieren. Immerhin…scheint er nüchtern. Wenn er es nicht wäre, würde er sehr aufbrausend und laut sein. Und wie ich weiß, nach kurzer Zeit auf den Boden liegen. „Ja, da hast du Recht.“ Ich versuche mich zu entspannen und blicke in den Himmel. Interessiert beobachte ich einen Vogelschwarm, der über die Hochhäuser fliegt. Manchmal wünsche ich mir nichts sehnlicher, als mitfliegen zu können. Vielleicht irgendwohin...zu einem Ort, an dem es schön ist und es keine Probleme gibt. Aber…einfach nur den Wind unter den Flügeln spüren…das wäre schon ein großes Geschenk. Was für ein Gefühl das wohl sein muss… „An was denkst du gerade?“ Ich blicke zu Aoi. „Hast du dir…schon mal vorgestellt wie es ist zu fliegen?“ Auf sein Gesicht bildet sich nun ein schmunzelndes Grinsen. „Was? Fliegen? Du redest ja wie eine sentimentale Tusse.“ Enttäuscht lasse ich den nächsten Zug aus der Nase qualmen, während Aoi anfangen muss wegen etwas Anderem zu lachen. „Weißt du was? Gestern haben mich mal wieder so fanatische Fangirlies gestalkt. Und als ich aber angehalten bin und gesagt habe, dass sie damit aufhören sollen, sind die total rot angelaufen und haben rumgekichert wie die Hühner. Sie sind dann gegangen, außer einer. Die ist geblieben und hat mich mit leuchtenden Augen angestarrt wie sonst was….ja wie so ein Gott könnte man meinen. Und willst du wissen, was sie mir gesagt hat??“ Besorgt ziehe ich an der Zigarette und blicke Aoi kurz von der Seite her an. Sein Gesicht hat wirklich Wiedererkennungswert, deswegen wird er auf der Straße von Fans ziemlich häufig und schnell erkannt. Doch das stört ihn nicht im Geringsten. Im Gegenteil…es scheint ihm richtig Spaß zu machen. Ganz anders bei Reita. Er hat von Anfang an gesagt, dass er bei steigendem Bekanntheitsgrad der Band, in seiner Freizeit dennoch seine Ruhe haben will. Ungestört und frei will er sich durch die Straßen bewegen. Da kam ihm das Nasenband gerade recht. „Hey, hörst du mich??“ Er stupst mich wartend an der Schulter. Eigentlich…will ich es aber nicht wissen. Ihm egal. „Sie meinte, sie wäre voll der große Fan von mir und ach ich würde auch in echt so toll aussehen. Aber hey, der Hammer kommt noch!“ Ich schaue ihn nun direkt an und beiße mir ahnungsvoll auf die Unterlippe. „Sie sagte, dass sie mich liebt! Ja wirklich! Als ob sie in ihrem Alter wissen würde, was Liebe überhaupt ist!“ Er muss belustigt schmunzeln, doch mir bleibt das Lachen im Halse stecken. Er ist wohl doch betrunken… „Aoi…“ „Nein warte! Ich habe sie noch mit zu mir nach Hause genommen. Und weißt du von was sie aber wenigstens eine Ahnung hatte??“ Mir fällt die Zigarette schwungvoll aus der Hand. Früher war es uns nicht unbekannt gewesen, dass Aoi gerne mit seinen minderjährigen Fangirlies geflirtet hat…doch einmal ging er zu weit…viel zu weit. Wir hatten mitbekommen, wie er sich an eines der Mädchen vergriffen hatte. Vorher hätten wir niemals vermutet, dass er so was tun könnte und jemals so eine Vorliebe auch nur im Entferntesten besitzen könnte. Doch er hat uns geschworen so was nie mehr wieder zu tun…das es ein Unfall war…dass er sich selber so schlecht gefühlt hatte…und wir haben ihm vertraut. Vertraut. „Sag mir…dass das nicht wahr ist…“ Doch er behält sein perverses Grinsen. Unbeherrscht muss ich ihn dann anschreien. „Wie konntest du das nur tun??! Wie alt war sie, du Arschloch!!“ Er ergötzt sich über meine Wut und sein Grinsen wird nur noch breiter, egal wie laut ich auch schreie. „Süße 14.“ Er schmeißt die Zigarette achtlos aus dem Fenster und gluckst auf. „Sie war Jungfrau.“ Diese letzten Sätze waren wie schmerzvolle Stiche… Enttäuschung. Vertrauensbruch. Empörung. Alles zusammen. Ich halte das nicht mehr aus und packe ihn am Kragen. Er grinst immer noch. „Na, was jetzt Baby? Willst du mich schlagen?“ Eine Hand setze ich zum Schlag aus, während seine Augen aufleuchten. „Nur zu!“ Ich will wirklich zuschlagen… …doch…ich lasse meine Hand reglos fallen. Ich kann das nicht. Aus gutem Grund. Ich gehe wieder die Schritte zurück und lasse ihn los. Das Leuchten in seinen Augen brennt noch…die Erwartung. Er will es, aber ich gebe ihm nicht das was er will. Ich mache bei seinem kranken Spiel nicht mit. Verwahrend stecke ich meine Hände in die Hosentaschen, um nicht doch noch zu zuschlagen. „Du bluffst doch nur. Du willst, dass ich sauer werde. Aber Aoi, das…ist es mir nicht wert. Darauf lasse ich mich nicht ein.“ Plötzlich spiegelt sich Zorn in seinen Augen wider. Zorn…weil ich nicht mitspiele. Da…stürzt er sich schon auf mich. Er ist stärker und schwerer als ich, so kann ich nicht viel machen als er sich mit seinem Gewicht gegen mich stemmt und wir zu Boden fallen. „Aoi!!“ Ich will ihn von mir runter drücken, doch plötzlich pinnt er meine Hände auf den Boden fest. „Wehr dich!“ Mit größter Mühe beherrschend blicke ich ihn an. „Nein. Ich mach da nicht mit, hab ich gesagt.“ Seine Augen funkeln wieder, doch diesmal sind es mehrere Gefühle auf einmal. Zorn, Enttäuschung, Begehren vielleicht mit einer Prise Wahnsinn…ein wirres Durcheinander. „Also…willst du wirklich wehrlos zulassen…wie ich…das hier mache??“ Was das ist, zeigt er mir schon in der nächsten Sekunde. Brutal presst er seine Lippen auf meine. Doch lange kann er sich nicht verstellen. Sein Kuss wird schnell sanft und sehnsüchtig. Hilflos verharre ich unter seinem Gewicht und warte bis er sich ausgetobt hat. Und wieder…schaffe ich es nicht nachzugeben. Schaffe es nicht…freiwillig zu verlieren. Mich zu wehren…und den Kuss nicht zu zulassen. Und trotzdem kommt es mir so vor…als hätte Aoi den Machtkampf gewonnen. Doch es scheint aufeinmal…nicht mehr relevant. Alles…scheint nicht mehr relevant. Meine Augen wandern ziellos durch die verstummte blasse Umgebung…verharren schließlich beim Fenster. Beim weißgrauen hellen Himmel. Es ist so hell…dass es blendet. Dann fliegt ein dunkler Umriss an das Fenster vorbei. Ein Vogel. Hm…versucht er seinen Schwarm einzuholen? Ich hoffe, er erreicht sie noch. Nach Luft schnappend lässt Aoi plötzlich von meinen Lippen ab und blickt mich mit feuchten Augen an. Sein Gesicht ist so schmerzverzerrt…dass mir kurz schwindelig wird. Ich will auch das ausblenden. Ich will…wieder zum Fenster blicken. Ich will wieder…dass alles verstummt. Alles um mich herum…unecht wirkt. Sein Gesicht…darf nicht real sein. „Wie konntest du mich nur abweisen??! Du weißt doch, dass ich dich liebe!! Keiner liebt dich so sehr, wie ich es tue!!“ Seine Anschuldigungen machen alles nur noch schlimmer…macht es schwieriger…ihn auszublenden. Nein. Sie machen es unmöglich. Denn…dieser letzte Satz von ihm. Dieser letzte sich einbrennende Satz…ist mit größter Wahrscheinlichkeit die Wahrheit. Dieser Satz ist wahr. Real. Richtig real. Zu real. Stark gegen die Tränen ankämpfend blicke ich in sein zittriges Gesicht. Der Satz…sich wiederholend hallend in meinem Kopf. Keiner liebt mich so sehr…wie er. Er geht von mir abrupt runter, sodass ich mich erstmal auf die Seite drehen und nach Atem ringen muss. Obwohl ich nichts gemacht habe…war es dennoch kraftraubend. Diese ganze Situation an sich. Ich blicke mich nach Aoi um, der nun erschöpft mit dem Kopf gegen die Wand lehnt. Mühsam ziehe ich mich an dem Treppengeländer hoch, dabei Aoi nicht aus den Augen verlierend. Wenn ich daran denke, was er getan hatte…kommt in mir Hass hoch. Ich hoffe nur, ich habe mit meiner Vermutung Recht…Recht damit, dass er nur gelogen hat, um mich zu reizen. „Falls es wirklich kein Bluff war: Wenn du nur noch einmal mit einer Minderjährigen schläfst, gehe ich persönlich zur Polizei und zeige dich an.“ Seine Hände ballen sich zu festen Fäusten. „Wenn du dich auf mich eingelassen hättest…wäre das doch erst gar nicht passiert!“ Was soll das bedeuten?? Will er etwa mir die Schuld in die Schuhe schieben? Bin ich etwa Schuld, wenn er sich nicht unter Kontrolle hat?? Ohne Worte scheint er selbst zu verstehen. Was für einen Unsinn, er da gesagt hat. „…ich…“ „Du brauchst mir nichts zu erklären.“ Ja, ich flüchte. So setze ich den nächsten Schritt auf die gegenüberliegende Treppe…mit dem Rücken zu Aoi. „Bitte warte!“ Ich brauche auf dieses Rufen nicht zu hören. Ich könnte einfach weitergehen. Ihn nicht beachten. „Uruha!“ Aber…es geht nicht. Wenn ich jetzt nicht stehen bleibe…wird dieser Ruf in mir immer wieder nachhallen. Der Ruf und der Satz zusammen sich immer wiederholend. Also bleibe ich stehen und höre zu. „Ich…habe mit keinem Fangirlie geschlafen…Zwar stimmt es, dass mich eine kleine Gruppe gefolgt hat…aber als ich mich umgedreht habe, sind sie kichernd weggelaufen. Ich hab das nur erzählt, weil…“ Problemlos beende ich seinen Satz. „Weil du meine Aufmerksamkeit wolltest.“ Dabei ist es für ihn am Ende egal…ob es nun eine positive oder negative Aufmerksamkeit ist. Ob ich ihn liebe oder hasse. Hauptsache ich beachte ihn. Hauptsache ich gehe ihm nicht aus dem Weg. Sein Verstummen ist zugleich eine Bestätigung. Ist…es wirklich schon so schlimm? So schlimm…dass es ihn scheißegal wäre, wenn ich ihn hasse? Würde er denn wirklich…alles tun? Das Unbehagen...hat sich längst zu einem schmerzhaften festen Knoten gebildet. Er weiß nicht was er jetzt noch sagen soll…und auch ich weiß es nicht. Doch mir fällt noch etwas ein. Etwas, was ich dem noch hinzufügen will. „Aoi, ich weiß, dass du mich liebst. Aber zugleich weißt du auch, dass ich jemand Anderes liebe. Also bitte…beherrsch dich und unterlass solche Aktionen. Sie bringen keinem was. Außer…Schmerzen.“ Schmerzen, an denen ich mich wohl nie gewöhnen kann… Ich höre ein weiteres Seufzen. „Ich wünsche mir gerade im Moment nichts sehnlicher als zu sterben.“ Wieder ein Stich. Traurig muss ich lächeln, während ich die nächste Treppenstufe nehme. Ein Lächeln, dass Aoi nicht sehen kann. Auch nicht für ihn bestimmt ist. Er würde es nicht verstehen. Den schwarzen Humor. „Vielleicht tröstet es dich ein wenig, wenn ich dir sage, dass meine Liebe auch nicht erwidert wird.“ Ein Lächeln…das allein mir gewidmet ist. Das ironische Lächeln eines Verzweifelten. Im Leben muss man sich damit abfinden…dass man nicht immer das bekommt, was man sich am meisten wünscht…wonach man sich am meisten sehnt. Es ist unfair. Doch das Leben ist nun mal nicht fair. Genau wie die Liebe. Kapitel 19: Veränderte Realität ------------------------------- Heute verbringe ich die Pause alleine im Bandzimmer. Mir ist nur allzu klar, dass Aoi mir jetzt erstmal aus dem Weg geht. Aoi, Ruki und Reita. Das wird immer besser… Womöglich verstehe ich mich bald auch nicht mehr mit Kai und kann gleich die Band verlassen. Aber…an diesen Albtraum will ich erst gar nicht denken. Es wäre mehr als nur schrecklich… Schließlich…ist das mein Traum. Nein, unser Traum. Mit einer anderen Band…diesen Traum zu leben…käme für mich nicht in Frage. Niemals. Noch nie zuvor wie in dieser Sekunde…wird mir umso deutlicher…dass ich mich um meine Angelegenheiten in der Band kümmern muss. In letzter Zeit habe ich zuviel an Tatsuro gedacht…Ich…war zu egoistisch. Ich bin doch nicht alleine auf der Welt. Doch…was kann ich nur tun? Wie kann ich…das jetzt alles wieder zurechtbiegen?? Wie…kann ich unsere bröckelnde Band retten?? Vielleicht…sollte ich damit beginnen erstmal die Sache mit Ruki zu klären. Denn mir ist immer noch schleierhaft…wieso er eigentlich gegen meine Freundschaft mit Tatsuro ist. Das kann nicht nur wegen dem Label sein… Sicher nicht. Es geht um etwas ganz Anderes. Tatsuro hat damit nichts zu tun… Es muss einen plausiblen Grund geben. Mühselig stehe ich von der Coach auf. Ich muss Ruki finden und mit ihm reden. Ich muss endlich lernen…Probleme in den Griff zu bekommen… Lernen…nachzugeben…zuzuhören und aufhören immer nur mich in den Vordergrund zu stellen. Um ehrlich zu sein…ich habe das Ganze satt. Es soll endlich wieder so sein wie vorher! Entschlossen schließe ich die Tür hinter mir und gehe den Gang entlang. Ruki und die Anderen sind heute bestimmt in der kleinen Cafeteria, die sich im selben Stockwerk befindet. Wäre sehr unwahrscheinlich, wenn sie sich ohne Fahrstuhl in den Erdgeschoss begeben haben… Als ich am kaputten Fahrstuhl vorbeigehe, sehe ich einen Elektriker herumhantieren. „Wurde aber auch Zeit.“ Im nächsten leeren Gang gehe ich an vielen geschlossenen Türen vorbei, hinter denen sich Büros befinden. Alle haben Mittagspause. Wenn jeder so faul ist wie wir, wird die kleine Cafeteria heute ganz schön voll sein… Immernoch in Gedanken, vernehme ich überraschenderweise eine Stimme. Ich bleibe stehen. „Recht ungewöhnlich…“ Eigentlich ist hier in der Mittagszeit niemand. Noch einmal höre ich jemand reden…aber diesmal muss ich verblüfft die Augen aufreißen. Ich weiß wer das ist! Das müsste Rukis Stimme sein…aber was macht er in den Büros?? Neugierig blicke ich in die Richtung der Stimme…und sehe auf eine Tür, die nur angelehnt ist. Ich gehe auf sie zu und halte vor ihr inne. Lauschend warte ich auf einen weiteren Laut…doch die Stimme scheint wieder verstummt…oder habe ich sie mir vielleicht nur eingebildet? Einen psychischen Aussetzer kann ich jetzt schlecht gebrauchen… Doch andererseits…wenn ich die Stimme wirklich gehört habe…ist das doch günstig. Immerhin wollte ich eh mit Ruki reden. Genau deswegen bin ich ja losgegangen. Also drücke ich die Tür auf und… …sehe vor mir ein leeres Büro. Grummelnd rolle ich mit den Augen. Und ich dachte immer…etwas Gehörtes kann man sich nicht zweimal einbilden. Dazu kommt noch, dass hier anscheinend heute eh keiner arbeitet. Die beiden Bürotische sind penibel aufgeräumt und nirgends hängen Jacken. Das Büro sieht einfach unbenutzt aus. „Gngh!“ Erschrocken mache ich einen Hüpfer auf der Stelle. Ich schaue noch mal um mich, bin aber nach wie vor alleine hier. Woher kam also das Geräusch?? Kurz muss ich an einen Geist denken…oder an die vielen Horrorfilme… Verunsichert betrachte ich die geschlossene Tür an der linken Seite, die zu einem Nebenzimmer führt…Es kann nur von dort gekommen sein…Also…wenn das Geräusch echt war… In dem Moment muss ich meine Neugier irgendwie mal wieder verfluchen. Sie bringt mich immer in Schwierigkeiten…und auch diesmal wird es nicht anders sein. Obwohl ich das weiß…befindet sich meine Hand schon auf der Türklinke. Ich kann nichts dagegen tun…als würde alles…automatisch gehen. Wie von selbst. Im nächsten Moment ziehe ich sie herunter. Was ich dann sehe… …lässt mich erstarren. Niemals in meinem ganzen Leben…hätte ich gedacht, das zu erblicken. So…widersprüchlich…so unmöglich ist es. Ich dachte zumindest, es wäre unmöglich. Anscheinend habe ich falsch gedacht…falsch vermutet. Oder…könnte das nur eine kranke Fantasie von mir sein?? Eine sehr Kranke…eine sehr Abartige. Jetzt…wäre mir ein Geist umso lieber gewesen… Ein Geist, ein Monster…ein Vampir…was auch immer. Aber…ich habe es ja gewusst. Ich habe gewusst…dass mich meine Neugier mal wieder in eine Falle locken würde… Ich bin so fassungslos…dass ich die Szene erst nur ungläubig betrachten kann… Unterwürfig liegt der eine Mann auf dem Boden, die Hände vor seinem mit Wunden und Kratzern übersäten Körper gefesselt…die Beine angezogen…während der andere sich an ihn ohne jegliche Rücksicht vergeht. Das Gesicht ist schmerzerfüllt und trotzdem drängt sich zwischen den versucht unterdrückten Schmerzenslauten das eine oder andere gefällige Stöhnen. Der Andere scheint seine Überlegenheit aus vollsten Zügen zu genießen. Keuchend fixiert er den leidenden Körper vor sich und muss bei jedem einzelnen Schmerzenslaut sadistisch grinsen. So als würden ihn nur die Schmerzen des Anderen interessieren. Grinsend beugt er sich vor und drückt mit der Hand den Kopf des Anderen seitlich auf den Boden. Die Stimme klingt auslachend. „Mein Hündchen…Du tust alles was ich will…“ Ich knirsche mit den Zähnen. Das ist kein Mensch…das ist ein Teufel. Ein Teufel…den ich solange unterschätzt habe…dem…ich so was nicht zugemutet hätte… „Gn…Ruki!“ Zutiefst angewidert schließe ich schnell die Tür. Automatisch halte ich mir die Ohren zu. Wenn es doch wenigstens nicht Reita gewesen wäre…der dort auf den Boden liegt…und den Namen seines Peinigers ruft… Es hätte jeder andere sein können…aber doch nicht er! Das ist nicht der Reita, den ich kenne… Das ist eine ganz andere Person…genauso wie die Person über ihn. Es sind Fremde. Eine Sekunde länger und ich hätte mich übergeben müssen. Das…ist einfach nicht wahr. Es kann nicht wahr sein…dieser…Albtraum… Die Bilder verdrängend begebe ich mich wieder zurück in den Gang und eile ihn entlang. Ich gehe am besten weiter zur Cafeteria… Vielleicht sehe ich dort Ruki und Reita beim Essen…und habe mir die Szene gerade wirklich nur eingebildet. Nur ein kleiner Aussetzer meines kranken Gehirns... Naja…nettes Wunschdenken. In der vollen Cafeteria sehe ich in der Mitte bei einem der Stehtische Kai und Aoi. Unfreiwillig zieht der Schwarzhaarige sofort meine ganze Aufmerksamkeit auf sich... Aoi…sieht schrecklich aus. Abwesend blickt er auf einen unsichtbaren Punkt, während er ab und zu langsam einen kleinen gezwungenen Schluck von seinem Becher nimmt. Eigentlich sollte ich nicht so überrascht sein…immerhin ist das mein Werk. „Das habe ich wieder toll hingekriegt…Jemand sollte mir auf die Schulter klopfen.“ Über den eigenen Sarkasmus nicht mal selbst lächelnd, gehe ich zu ihnen. Ich fühle mich so schuldig…dass ich nicht mal in Aois Richtung sehen kann, obwohl er mir sehr wohl einen Blick zuwirft. Ich hätte ihn nicht wieder ins Hier und Jetzt holen sollen…denn statt nur abwesend, wirkt er nun richtig kaputt. Mich nicht ertragend wendet er sich zur Seite. Irgendwie…tut es sauweh. Aber ich habe es nicht anders verdient. Es muss mir einfach wehtun. Sonst ist es…irgendwie nicht fair. Ein Seufzen runterschluckend drehe ich mich zu Kai, der nur widerwillig an einem Sandwich zu knabbern scheint. Sein Anblick erschreckt mich. Ich war so sehr auf unseren Gitarristen fixiert, dass ich vorhin nicht so sehr auf ihn geachtet habe. „Kai…was-“ Meine Stimme scheint Aoi endgültig den Rest zu geben. Von den Augenwinkeln her sehe ich ihn abziehen…Mitten im Satz muss ich abbrechen. Ich habe doch gerade erst einen traumatischen Schock erlitten! Doch das Schicksal scheint immer noch nicht quitt mit mir zu sein… Es flüstert mir leise lachend ins Ohr…dass ich meine Strafe noch lange nicht gebüßt habe… Verachtend und sich über mein Leid ergötzend. Ich versuche mich innerlich noch zu fangen…während Kai im Gegensatz zu mir, Aoi hinter herruft. Meine kurzzeitig verlorene Fassung hat er zum Glück nicht bemerkt. „Aoi, wo gehst du hin?“ Ich höre nur noch wie er fast winselnd antwortet. „Aufs Klo.“ Natürlich weiß ich, dass er wegen mir geht. Er erträgt mich nicht mehr in seiner Nähe… Ich habe ihn zu sehr verletzt… …Wie…wie kann ich nur? Ich…der größte Arsch Japans… „Du wolltest…was sagen?“ Wieder durchzuckt mich innerlich ein Schreck, als ich Kais Gesicht erblicke. Wieso sind mir seine dunklen Augenringe nicht schon heute früh aufgefallen?? Wieso…ist mir nicht schon vorher aufgefallen, dass er…so anders ist…? Wo ist der Kai, der immer lächelt? Der immer fröhliche Stimmung verbreitet…? Einen depressiven Kai gibt es nicht… Wir waren doch vor der Pause alle zusammen im Bandraum…Er hat ein paar Dinge zur kommenden Tour abgeklärt…und den ungefähren Ablauf. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern…was er erzählt hat…Er hat zwischendurch Fragen gestellt…ob das so für uns ok wäre… Ich frage mich…ob ihn denn jemand geantwortet hat…? Oder…gar zugehört? Es wird mir erst jetzt bewusst… Als...hätte ich meine Augen erst heute geöffnet... „Kai…es…es tut mir so Leid…“ Stumm knabbert er freudlos weiter an seinem Brot. Glaube nicht, dass er mich gehört hat…Wie Aoi scheint er nun abwesend. Nicht richtig hier…obwohl…wir ihn als Bandleader mehr denn je brauchen… Besorgt packe ich seine Hand. „Kai, was ist nur mit dir??“ Ohne mich anzublicken zieht er seine Hand vor mir zurück. „Ich…habe nur schlecht geschlafen…mehr nicht.“ Schluckend blicke ich nach unten… auf die weiße Tischoberfläche. „Seit wie vielen Tagen schon, Kai?“ „…“ …Eine Antwort kommt nicht mehr. Ich…weiß nicht…was ich dazu sagen soll… Ich weiß nur…dass mir die veränderte Situation…die veränderten Bandmitglieder große Angst machen. Eine Heidenangst. Alles scheint so anders…so falsch. So sollte alles nicht sein. Doch die entscheidende Frage ist doch...Seit wann es schon so ist? Ich sehe wieder auf, als sich jemand an unseren Tisch gesellt. Sofort kassiere ich den stechenden Blick von Reita, der aufrecht an den Tisch steht. Locker stützt er sich mit dem Unterarm am Tisch ab, während die andere Hand zur Faust geschlossen an seiner Hüfte anliegt. Sein ganzer Körper ist provozierend in meine Richtung ausgerichtet. Links neben ihm und zugleich zwischen uns beugt sich Ruki über seinen Kaffee, den er abgestellt hat. Man könnte meinen, er würde von alldem nichts mitbekommen…von der Anspannung…doch das ist nur gespielt. Zu behutsam schaut er auf seine Tasse und gießt zögerlich etwas Milch ein, während er eine Hand auf die von Reita legt. Diese kleine Geste scheint der einzige Grund zu sein, wieso dieser sich zurückhält. Ruki…die einzige Barriere zwischen uns… Wirklich…wie eine Art Herrchen, der seinen Hund zurückhält… Es ist so widerwärtig. Ich kann es nicht verhindern von Reitas Gesicht runter auf sein ärmelloses dunkles Shirt zu blicken. Das er ärmellos trägt ist nichts Besonderes, das macht er sogar im Winter. Keine Ahnung wieso. Gehört wohl zu seinen Macho-Eigenschaften. Was mich eher dazu bewegt, ist das auftauchende Bild von vorhin…im Büro. Unter diesem Shirt verstecken sich so viele Wunden…Die meisten sind halbwegs verheilt…und dennoch…kann ich seinen Körper so nicht sehen…so nicht…akzeptieren. Was Ruki mit ihm anstellt…ist einfach grausam. Es ist echt nicht akzeptabel. Von beiden Seiten. Auch von Seiner. Denn…wie kann er so was mit sich nur machen lassen?? Er sieht gar nicht so aus…nein…er ist nie so gewesen. Ich kenne ihn doch. Das ist nicht Reita, der dort steht. Reita würde sich niemals jemandem unterwerfen…und erst recht nicht einem Mann. Verwirrt wie ich jetzt über Ruki denken soll, sehe ich ihm dabei zu, wie er scheinbar seelenruhig in seinem Kaffee rührt. Als…hätte er überhaupt keine Schuldgefühle. Als…wäre das, was er mit unserem besten Freund gemacht hat, völlig in Ordnung… Ich will ihn schon fragen, ob er sich auch verändert hat…doch er würde den Kontext jetzt nicht verstehen. „Ruki, kann ich mit dir reden?“ Er rührt unbekümmert weiter. Reita hingegen fixiert mich intensiver als zuvor. Das ergebene Hündchen…das zugleich als Wachhund fungiert. Ich weiß nicht…was Ruki mit ihm gemacht hat…aber eines ist sicher. Er hat es gut gemacht. Insgeheim frage ich mich…wie weit es geht…Wie weit würde Reita für ihn gehen? Zu was...wäre er nun fähig? Ich schlucke bei dem Gedanken. Wahrscheinlich übertreibe ich nur... Stattdessen sollte ich mich besser klarer ausdrücken und Ruki endlich dazu bewegen mit mir zu reden. Behaglich füge ich etwas hinzu. „Unter vier Augen.“ Endlich hebt er seinen Kopf und sieht mich an. „Du willst wirklich reden?“ Ich nicke stumm. Plötzlich will Reita an ihm vorbei und auf mich los wie ein bissiger Hund, als er seinen Arm vor diesen ausstreckt. „Akira!“ Abrupt hält dieser tatsächlich inne. Was mich jedoch innerlich noch mehr entsetzt ist, dass Ruki Reitas echten Namen benutzt hat. Keiner darf ihn benutzen…außer Ruki…und ich. Aber wir hatten uns eigentlich gesagt, es den anderen gleich zu tun… In diesem Augenblick…verspüre ich so was wie tiefe Eifersucht. Ich habe das Gefühl…dass unser festes Dreiergespann…das seit unserer Kindheit besteht…nun nicht mehr existiert. Streit und Perversion hin oder her. Die beiden haben mich einfach…fallen gelassen. Meine zwei besten Freunde…die mir…so verdammt wichtig sind. Sie haben mich fallen gelassen…und sich gegen mich verschworen… Es scheint jetzt so...ausgeprägt. So…unwiderruflich. Ich fühle mich wieder wie ein verletzbares Kind… „Ok, reden wir.“ Schwach nickend folge ich Ruki. Ich blicke nur einmal kurz über die Schulter, direkt in Reitas bedrohliche Augen. Doch er bleibt gehorsam auf seinem Platz. Ich wollte ihm entgegen rufen…dass ich seinen heiß geliebten Ruki schon nicht entführen werde… Aber es wäre so kindisch rübergekommen. Kapitel 20: Das Gespräch ------------------------ „Also?“ Die Hände in den Hosentaschen verstaut, schaut er mich wartend an. Ich drehe mich erst um und schließe Tür. Wie um mich zu vergewissern, dass wir wirklich alleine sind, gehe ich zur offenstehenden Tür des Nebenzimmers und schließe auch diese. Er hat mich dabei keinen einzigen Moment aus den Augen gelassen. Ein mulmiges Gefühl, das ich bei ihm zuvor noch nie verspürt habe, breitet sich in mir aus... „Gut…jetzt da du uns verbarrikadiert hast, können wir reden oder?“ Ich verenge die Augen. Meine Gedanken kreisen immer noch um Reita. Zu dem unangenehmen Gefühl kommt jetzt noch Übelkeit hinzu... „Na, ihr beiden…scheint euch ja richtig prächtig zu verstehen, was?“ Mein Gegenüber hebt nur eine Augenbraue. Den tiefsitzenden Groll muss ich einfach zum Ausdruck bringen, auch wenn es im Augenblick nur für einen provozierenden Fingerzeig reicht. „Ich frage mich nur…wann du ihn zu deinem Schoßhündchen ernannt hast??“ Erst jetzt scheint er zu kapieren, wen ich meine. Als Reaktion schüttelt er nur grinsend den Kopf. „Uruha…kann doch nicht sein, dass du eifersüchtig bist?“ Gereizt balle ich meine Hände an der Seite zu Fäusten. Ich bin nicht eifersüchtig. Hm...vielleicht ein bisschen. Ach, ich hasse es zutiefst, durchschaut zu werden... Doch eigentlich wollte ich auf etwas Anderes hinaus…auf etwas ganz Anderes. Schließlich geht es nicht um mich...sondern um Reita. „Sag mir, was du mit ihm angestellt hast!“ Etwas zu aggressiv. Er antwortet mit einer wahrhaft unschuldigen Stimme. „Ich habe mit ihm garnichts angestellt.“ Ich gehe aufgebracht einen Schritt vor, als ich mich an den Vorfall in meiner Wohnung erinnere und diesen mit Reitas Ergebenheit verbinde. Privat in den eigenen vier Wänden bedroht zu werden... Er hat schon einmal die Grenzen für Ruki überschritten...Wann wird er es noch mal tun?? Mir hätte von Anfang an bewusst werden sollen, dass nicht Reita, sondern Ruki die Fäden im Hintergrund zieht... „Du hetzt ihn auf mich!!!“ Bei meinem Aufschrei zuckt er leicht zurück. „Ich hetze niemanden auf dich, Uruha!“ Wie kann er mir so direkt ins Gesicht lügen?? Das ist so…dreist… Ruki hätte das früher nie gemacht… Wir waren immer ehrlich zueinander gewesen… „Lüg mich nicht an!!“ „Ich lüge dich nicht an!“ Beleidigt stemme ich die Fäuste an meine Hüfte. Meine Worte kann ich schon lange nicht mehr kontrollieren. „Tss…Du bist also nicht nur ein krankes Schwein, sondern auch noch ein Lügner!“ Irritiert sieht er mich an… „Du nennst mich erst einen Lügner…und jetzt soll ich auch noch ein krankes Schwein sein??“ Unbeeindruckt starre ich ihn weiter vorwurfsvoll an. Doch dann scheint er eine Erklärung gefunden zu haben. Ironisch schnipst er einmal kurz mit den Fingern. „Soso…Du warst es also, oder? Und ich dachte schon…ich hätte mir das Zuklappen der Tür nur eingebildet…“ Das verfluchte Bild blitzt wieder vor meinem inneren Auge auf. Jetzt noch mal die Bestätigung zu hören…dass es tatsächlich so passiert ist…lässt mich schwindeln. Ich kann es…einfach nicht verstehen. „Wie…kannst du das ihm nur antun? Es ist nicht einfach irgendjemand…Es ist Reita, verdammt noch mal! Du behandelst ihn…wie den letzten Dreck…“ Meine Anschuldigung ignorierend kratzt er sich am Hals. „Ich frage mich nur…wie lange du uns dabei zugesehen hast?“ Er fängt wieder an zu grinsen. „Hat es dir gefallen, hm? Hast du dabei vielleicht einen Ständer bekommen??“ Ich kann mir das nicht gefallen lassen und packe ihn ruckartig am Kragen. „Ich habe euch ganz sicher nicht absichtlich erwischt!“ Dann muss ich empört aufglucksen. Es ist so unglaublich absurd…dass ich sogar lachen könnte. Wenn man etwas…nicht verstehen oder verarbeiten kann…lacht man. Weil man sich nicht besser zu helfen weiß. „Ich bin nicht so krank wie du! Du blödes Arschloch…er ist unser bester Freund…und dann tust du so was mit ihm…Du…Du hast sie doch nicht mehr alle!!“ Verzweifelt lass ich ihn los und kehre ihm den Rücken zu. Ich…muss mich beruhigen…unbedingt. Sonst…weiß ich nicht mehr was tue. Ruki fängt hinter mir an zu lachen. Er könnte nicht lachen…er kann es sogar. „Ich…versteh nicht, wieso du dich deswegen so aufregst?? Ist ja nicht so, als würde ich ihn zu etwas zwingen. Er will das doch so. Und wie kann eigentlich so eine Tunte wie du so intolerant sein?“ Die Luft tief einatmend streiche ich mir über die Stirn. Ich darf mich nicht provozieren lassen. „Er will das also so? Sorry, aber steck dir diese Lüge sonst wo hin.“ Hörbar seufzt er auf. „Dann glaub es eben nicht. Mit dir kann man jetzt anscheinend eh nicht mehr reden.“ Er will schon an mir vorbeigehen, als ich ihn aufhalte. „Warte.“ Ich hole noch einmal tief Luft und setze mich halb auf den Schreibtisch gegenüber von ihm. Wir blicken uns kurz an. Dann entscheide ich mich, den Boden zu betrachten. „Ok…Wenn du so überzeugt bist…dann versuche die Sache mal zu erklären.“ Eine sinnvolle Erklärung…mehr will nicht. Ich möchte es verstehen können. Eigentlich…will ich Ruki nicht als einen Perversen sehen. „Naja…Dazu gibt es nicht viel zu sagen. Seine Wutanfälle werden wieder schlimmer…und irgendwie muss ich ihn…bändigen.“ Schockiert hebe ich meinen Kopf. Das soll die sinnvolle Erklärung sein?? „Ach und du bändigst ihn, indem du ihn fickst oder was??!“ Er gluckst bei meiner impulsiven Reaktion auf. „Deine direkte Art erreicht heute wohl seinen Höhepunkt! Aber…ich rede erst weiter, wenn du dich wieder beruhigst.“ Ich halte die Luft an. Nicht, dass Ruki noch auf irgendwelche Ideen kommt… „Na gut…Ich werde mal versuchen, es etwas besser zu erklären. Also…so wie du es auf den Punkt gebracht hast, klingt es etwas primitiv. Vielleicht ist es das auch. Aber…er braucht das anscheinend. Er braucht jemandem, dem er sich vollkommen unterlegen fühlt. Es…beruhigt ihn und sein Wutanfall verschwindet wieder.“ Ungläubig schüttele ich den Kopf. Was für ein Unsinn… „Das erste Mal war ein Unfall. Er war in meiner Wohnung und rastete plötzlich aus. Es eskalierte und wir lagen kämpfend auf dem Boden. Irgendwie habe ich es geschafft ihn auf den Boden zu halten…als er auf einmal aufhörte sich zu wehren…Naja, den Rest kannst du dir bestimmt vorstellen.“ Verachtend sehe ich ihn an. „Ausrede für deine perversen Fantasien!“ Belanglos zuckt er mit den Schultern. „Nein, das ist nur eine Art Bonus für mich. In erster Linie geht es darum, dass Reita wieder seine Kontrolle erlangt.“ Auf seinem Gesicht spiegelt sich ein Schmunzeln. „Aber…vielleicht hast du doch Recht? Denn…es hat sich so entwickelt…weil auch ich meine Beherrschung verloren habe. Wie er so wehrlos vor mir lag…aufgebend…völlig hilflos. In dem Moment…konnte ich einfach nicht anders. Ich kann…jedes Mal nicht anders.“ Ich habe das Gefühl zu frieren und lege die Arme um mich. In diesem Augenblick…verspüre ich zum ersten Mal…so was wie Angst vor Ruki. Es ist so…ungewöhnlich…das zu spüren…aber…mir dämmert es…dass es sehr wohl berechtigt ist. „Darin liegt das Problem, Ruki…Beherrschung.“ Meine Arme klammern sich fester um mich. „Vor einiger Zeit…bin ich mal einem deiner Ex-Freunde begegnet. Ich habe nur aus Neugier gefragt, wieso es zwischen euch nicht länger geklappt hat…Ihr habt so gut zueinander gepasst…Dann hat er mir erzählt…dass du zu weit gegangen bist, Ruki. Du hast seine Grenzen überschritten…“ Meine Stimme fängt an zu zittern, als ich mich erinnere. „Er…hatte Narben…am Körper. Von Brandwunden und...“ Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht weiter sprechen zu müssen… Jetzt tritt eine verdächtige Stille ein. Regungslos steht er vor mir…mit einem undefinierbaren Blick... „Ruki?“ Obwohl ich geflüstert habe, sieht er mich wieder an. Seine Augen funkeln seltsam. „Ich weiß, dass mein Rausch mich übermannen kann…Aber ich würde niemals…niemals Reitas Grenzen überschreiten. Reita gehört zu den wichtigsten Personen in meinem Leben…Ich kann nicht ohne ihn.“ Wieso…schmerzt es so sehr, dass er das sagt? „Du…kannst also nicht ohne ihn?“ Eigentlich brennt mir eine andere Frage auf der Zunge… Sie brennt so stark…dass es schon schmerzt… Sie schafft es meine Wut zu verdrängen. Die Frage…bricht aus mir raus. „Liebst…du ihn?“ „Uruha…“ Die Umgebung verschwimmt… Nachgebend muss ich meine wässrigen Augen schließen. Ich hätte nicht gedacht…dass ich meine Haltung verlieren würde. „Ich weiß nicht…was ich dir noch glauben kann…was wahr und was falsch ist…Ich…kapier nicht…was da genau zwischen euch läuft…Ihr…scheint euch aber immer näher zu kommen…während ich…mich jedoch von euch…von dir immer weiter entferne…“ Eine Träne rinnt an meiner Wange herunter. „Deine ganze…Aufmerksamkeit gilt nur noch ihm…während ich…ertragen muss…wie du mir keinen einzigen Blick würdigst. Kein einziges Wort. Du…bist zwar irgendwo gestört…aber dennoch…wirst du immer…mein Ein und Alles sein…“ Es scheint jetzt alles auf einen Schlag…in mir hoch zu kommen. Die ganzen Gefühle…und Gedanken… Die ganze Zeit…die ich ohne Ruki sein musste. Ohne meinen besten Freund…mit dem ich immer über alles reden konnte. Mit dem ich soviel erlebt hatte. Der für mich wie ein Bruder ist… Wie kann diese starke Bindung…plötzlich nicht mehr existieren?? „Du…sagst du kannst nicht ohne Reita…aber ich…ich kann nicht ohne dich.“ Die Tränen laufen nun ungehindert. Ich hatte…es einfach verdrängt, weil ich dachte…dass sich alles wieder einrenken würde. Aus Egoismus. Aus Naivität. „Aber…ich…bin dir doch scheißegal geworden.“ Wusch Ich reiße die Augen auf, als Ruki sich plötzlich mit Wucht gegen mich wirft. Um einen Fall zu verhindern, muss ich einen Schritt zurückgehen, während ich schon erwidernd die Arme um ihn schließe. Ich halte ihn so fest an mich gedrückt, als hätte ich Angst, ihn zu verlieren. Doch wie sehr es sich auch nach Versöhnung angefühlt hatte…Unerwartet drückt sich Ruki wieder von mir weg. Ich will ihn festhalten…bei mir halten…doch er entfernt sich einfach…während meine Arme ihn widerstandslos gehen lassen… Wie eine Marionette…der die Fäden abgeschnitten wurde, sinke ich zu Boden auf die Knie. Wie viel…ist ein Mensch bereit zu ertragen? „Du bist…so ein unaufmerksamer Mensch…Doch irgendwie…ist das so typisch für dich.“ Ich sehe keinen Sinn hinter diesen Worten. Verständnislos blicke ich auf seine Arme, die über sein Gesicht wischen. Hatte er etwa auch geweint? „Was…was willst du nur von mir? Jetzt stehen wir hier…Und ich…ich verstehe einfach nicht…was du willst?“ Abweisend gestikuliert er wild mit den Armen und bemüht sich wieder einigermaßen um Fassung. Ich verstehe ihn immer noch nicht… Mir wird doch alles zu viel…nicht ihm… Mein Mund scheint wie von alleine zu sprechen. „Ich…wollte doch von dir nur wissen…was ich falsch gemacht habe?“ Für ein paar Sekunden starrt er mich undefinierbar an…als hätte er meine Worte nicht verstanden. Dann versteckt er sein Gesicht ruckartig hinter einer Hand und wendet sich von mir ab. „Du hast nichts falsch gemacht…Es…ist doch nicht deine Schuld!“ Ich lasse mich leicht nach vorn fallen und kralle meine Hände in den Büroteppich. „Irgendwas…muss ich doch falsch gemacht haben…Ist…ist es wegen Tatsuro??“ Als ich nach eingetretener Stille seine Schuhe vor mir erblicke, stocke ich kurz. Doch ich spüre nur, wie er sanft eine Hand auf meinen Kopf legt. „Nein…du machst alles richtig und Tatsuro hat nichts damit zu tun. Es…ist wegen mir. Ich…habe das Gefühl…den Verstand zu verlieren…Nein. Ich habe ihn bereits verloren.“ Er geht wieder zurück und ich muss ihn mit meinen Augen folgen. Wieder in genügend Abstand, legt er den Kopf in den Nacken und sieht mich seitlich an. „Ich bin…verrückt, Uruha.“ Überrascht halte ich die Luft an. „Was?“ „Und du hast vollkommen Recht. Ich bin tatsächlich ein krankes Schwein. Denn…es gibt keine Garantie dafür…dass ich Reita…nicht doch einmal etwas antue…Ich…bin nämlich nicht mehr zurechnungsfähig.“ Ich rapple mich ungeschickt auf. „Nein, das…das meinte ich doch gar nicht!“ Er streckt einen Arm vor sich. „Bleib da wo du bist! Es ist eh schon ein Wunder…dass du…trotzdem bei mir bleiben willst…obwohl du mit meinem Ex-Freund geredet hast. Eigentlich…solltest du mich verstoßen…mich fallen lassen…mit mir nichts mehr zu tun haben wollen…und dich erst recht nicht nach mir sehnen.“ Ich verharre an der Stelle. Wie könnte ich nur jemals auf die Idee kommen, ihn zu verstoßen?? Jeder unserer Bandmitglieder hat seine Macken…Macken, die man nur sehr schwer akzeptieren kann…gegen die man aber auch nur sehr schwer ankämpfen kann. Im Grunde…sind wir doch alle im gewissen Maße verrückt, oder nicht? Also…woher soll ich mir dann das Recht nehmen…ihn zu verstoßen? Wenn ich ihn verstoße…müsste ich auch die anderen verstoßen…und zu guter Letzt auch mich selbst. „Ruki…ich…“ „Komm mir nicht zu nahe…Es…hat keinen Sinn. Eine Diskussion ist zwecklos.“ Meine Gedanken nicht aussprechend könnend, sehe ich ihn zur Tür gehen. Ich kann ihn jetzt nicht überzeugen. Er würde nicht zuhören. Außer…vielleicht…wenn ich…? Er drückt schon die Türklinke herunter…als ich seinen Namen nenne, den ich in unserer Kindheit und Jugendzeit immer benutzt hatte… „Taka…“ Reglos bleibt er an der Tür…drückt sie jedoch nicht auf. Die folgenden Worte…lassen mich aufhorchen. „Ich…glaube, dass…die Vergangenheit jeden in unserer Band wieder einholt…Stärker denn je. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür…wieso sie kaputt geht. Unsere Band.“ Die einzigen Worte, die bei mir haften bleiben…sind…kaputt gehen…und unsere Band. Unsere Band…geht kaputt… Ich schüttele stark den Kopf. „Unsinn. Unsinn!!“ Das ist doch genau das, was ich verhindern will! Ohne auf meine Ausrufe zu achten, setzt er seine Rede fort. „Und…falls du es noch nicht bemerkt hast…Kai geht es mies. Nein…mehr als nur mies.“ Er sucht nach meinen Blickkontakt. Als er ihn findet, spricht er weiter. „Er…hat nämlich wieder damit angefangen. Ich habe die Einstichstelle an seinem Arm gesehen, als er kurz die Ärmel hochgekrempelt hat.“ Meine eigentlich klaren Gedanken…scheinen wie verschwunden… Geblieben…ist nur noch eine undefinierbare Leere. Sie ist kalt…und finster…und so schier…endlos… „…Die kommende Tour müssen wir wohl abblasen…und eigentlich ist es auch nur eine Frage der Zeit bis wir die Band auflösen müssen.“ …auflösen… Ich spüre meinen ganzen Körper nicht mehr…als Ruki schließlich das Zimmer verlässt. Die ganze Welt…scheint wie still zu stehen. Kapitel 21: Flüsternder Hilferuf -------------------------------- Ich habe gar nicht gemerkt…dass es schon dunkel geworden ist. Obwohl…sich das Weiß der Decke allmählich zu einem dunklen Grau verwandelt hat… Letztendlich habe ich es erst wahrgenommen, als ein sehr großer Schatten an meiner Schlafzimmertür steht… „Uruha…“ Zielstrebig halte ich meinen Blick weiter auf die Decke gerichtet…denn wenn ich ihn jetzt sehen würde…würde ich ihn nicht gehen lassen können. „Bitte lass mich allein.“ Als würde der Schatten erst überlegen, bleibt er regungslos an der Stelle. Schließlich geht er doch meinem Wunsch nach und scheint sich abzuwenden. Ich…gebe mir wirklich größte Mühe…einfach liegen zu bleiben…aber dennoch muss ich mich aufrichten und mich flehentlich vergewissern, dass er es nicht falsch versteht. „Aber ich will, dass du morgen wieder kommst…“ Wie gebannt schaue ich auf seine schwarze Jacke und die lose hängende Kapuze. Solange ich ihn nicht direkt ansehe…müsste ich es schaffen…ihn fortzuschicken. Ohne sich umzudrehen…als könnte er meine Gedanken lesen, lässt er ein belustigtes Glucksen ertönen. „Keine Sorge…Ich finde immer den Weg zu dir.“ Zutiefst erleichtert und beruhigt lass ich mich wieder zurück aufs Bett fallen. Er versteht es nicht falsch. Beim nächsten Blinzeln scheint der große Schatten verschwunden. Um noch mal sicher zu gehen, drehe ich meinen Kopf und sehe auf die offenstehende Tür. Der Schatten ist tatsächlich weg. Im Nachhinein…bereue ich es…doch andererseits muss ich mich konzentrieren können… Ich will nicht mehr egoistisch sein. Mein Leben kann sich nicht nur um Tatsuro drehen… Es sollte zumindest nicht so sein. Die Band hat höchste Priorität! Ich darf nichts anderes im Kopf haben… Ich muss mir…unbedingt überlegen, wie ich unsere Band jetzt retten könnte… Denn ich kann nicht zulassen, dass wir uns auflösen. Das ist für mich unvorstellbar…einfach nicht möglich. Unser Traum…darf nicht zerstört werden. Rukis Worte…Ich…kann sie nicht hinnehmen. Diese schrecklichen Worte, die sich schmerzhaft eingebrannt haben! Kurz aufschluchzend drehe ich mich ruckartig zur Seite und umklammere mein Kissen. …Nachdem Ruki das Zimmer verlassen hatte…war ich am Boden…ich konnte erst keinen einzigen klaren Gedanken fassen…Ich…war kurz davor in ein bodenloses Loch zu fallen… Dann ist mir jedoch bewusst geworden…stärker denn je…dass ich die Band brauche. Sie ist nicht einfach nur ein Traum…den man platzen lassen kann. Sie ist mein Leben. Ich bin sofort nach dieser Erkenntnis nach Hause gefahren…und habe mich auf das Bett gelegt…bis jetzt. Leider…ist mir nicht wirklich etwas eingefallen…Immer wenn ich eine gute Idee hatte und diese im Kopf weiter ausarbeitete, kamen wieder Widersprüche oder Fehler im Konzept. Es ist wirklich nicht einfach sich darauf zu konzentrieren…wenn man jederzeit wieder in Tränen ausbrechen kann…bzw. wirklich ausbricht. Leider…kann ich die getrockneten Tränen auf meiner Wange nicht leugnen. Am meisten schockiert…hat mich wohl die Nachricht über Kai. Als er sich bei uns als Drummer beworben hatte…daran kann ich mich noch erinnern…hat er erzählt, dass er früher mal Drogen genommen hatte… Er war abhängig gewesen. Doch nachdem er gesagt hat, dass er in einer Entzugsanstalt gewesen sei und die Sucht besiegt hatte…hätten wir niemals vermutet, dass er damit jemals wieder anfangen würde. Mal davon abgesehen…dass wir es ihm so oder so nicht zugemutet haben. Wie konnte denn so ein netter Kerl wie Kai…an Drogen geraten? Leichtsinn…? Oder die altbekannte verfluchte Neugierde…? Die…nicht nur meine lebenslange Begleiterin zu sein scheint… Nachdem man sich der fatalen Neugierde hingegeben hat, ist der größte darauffolgende Fehler das Hängenbleiben. Wie bei den Zigaretten. Tock…Tock…Tocktocktock… Na toll…der Regen hat mir noch gefehlt. Wie kann man sich bei dem Lärm konzentrieren? In meiner Gedankenpause lausche ich widerwillig den Regentropfen, wie sie gegen mein Fenster prasseln… erst unangenehm störend…doch dann…irgendwie beruhigend…so als würden sie eine Melodie spielen… Ich will nicht. Ich will nicht…wieder in die Arbeit. Mir…ist doch noch gar nichts eingefallen… Also, was mache ich hier? Ich will nicht weiter zusehen, wie unsere Band kaputt geht. Und dennoch…gehe ich weiter. Ich hebe die Hand, als ich im Gang an einem der großflächigen Fenster vorbei komme. Die angenehme Wärme der grellen Sonnenstrahlen streift kurz meine Handinnenfläche... Der Flur scheint geradezu…von Sonnenlicht überflutet. Haben wir wirklich Herbst? Lächelnd kremple ich beim Gehen die Ärmel meines weißen Hemdes hoch. Vielleicht…ist das ein Zeichen? Ein gutes Zeichen dafür, dass sich unsere Band doch nicht trennen wird. An so einem schönen Sonnentag…kann nichts Schlimmes passieren. Nicht wahr? Plötzlich verspüre ich die Lust zu Laufen. Am Ende des Ganges sehe ich schon unsere Bandtür…also…wieso nicht? Meine Schritte werden schneller, bis ich tatsächlich richtig renne. Mein Lachen ertönt laut…hallt von den weiß schimmernden Wänden wider. Ich renne mit der Sonne um die Wette… Kurz muss ich die Augen schließen und den Wind wahr zu nehmen, der durch meine Haare rauscht. Wann…bin ich das letzte Mal so gerannt? Sogar meine Raucherlunge scheint sich nicht zu beschweren. Am liebsten wäre ich noch länger gelaufen…doch dafür war der Weg zu kurz. Schon stehe ich vor unserer Bandtür und reiße sie schwungvoll auf. Das Lächeln immer noch auf meinem Gesicht geklebt… „Leute!“ Ohne eine Antwort abzuwarten schließe ich zügig die Tür und gehe in unserem Hauptraum. Doch statt meine Bandkollegen zu erblicken… …steht Tatsuro mitten im Zimmer. So sehr darüber überrascht zuckt meine Hand hoch und presst sich auf meinen Mund. Was macht er hier?? Er blickt auf, sodass ich sein Gesicht vollständig sehen kann und lächelt mich an. Es ist so ein erleichtertes…sanftmütiges Lächeln…dass es mir wortwörtlich die Sprache verschlägt. Habe ich ihn jemals so zufrieden gesehen? Ich wäre ihm sofort um den Hals gefallen…wenn sich nicht urplötzlich ein Blutstropfen an seinem Mundwinkel abgezeichnet hätte… Fassungslos sehe ich zu, wie der Tropfen an seiner blassen Wange hinunter fließt. Doch bevor er das Kinn erreicht, stoppt Tatsuro ihn mit einem Finger. Er wischt ihn weg und sieht mich belustigt an. „Ich, Schmutzfink.“ Irritiert sehe ich ihn näher kommen und spüre dann seine feste Umarmung. Seine…feste…warme Umarmung… Schreiend reiße ich mich los und drücke ihn von mir. „Deine Haut ist ganz heiß!“ Unbeeindruckt legt er den Kopf schief. „Ist es denn so nicht angenehm für dich?“ Ich schreie schon fast. „Wen hast du gebissen??“ Regungslos hält er den Blickkontakt zu mir, entfernt sich aber langsam einige Schritte. Ich will den Blick von ihm abwenden…aber er hat mich völlig in seinem Bann… „Sieh mich an, Uruha…Du musst mich ansehen.“ Mein Körper fängt an zu zittern. In seinen dunklen Augen brennt ein beängstigendes Feuer. „Was ist…wenn ich den Blick von dir abwende…?“ Sein Gesichtsausdruck wird ernst und bedrohlich. Ich habe nun wirklich…Angst. „Es…ist gut so jetzt, wie es ist. Wir können endlich…frei sein, Uruha. Es gibt keinen mehr, der sich gegen uns stellt…gegen unsere Beziehung. Niemanden mehr! Es…war die richtige Entscheidung.“ Meine Hände krallen sich in meine Jeans. Ich versuche das Zittern unter Kontrolle zu halten. Doch meine Augen fangen schon an zu brennen… „Wo…wo sind meine Bandkollegen, Tatsuro…?“ Beschwichtigend verändert sich seine Tonlage. „Es ist alles in Ordnung. Es war richtig so. Die Entscheidung…war richtig. Es hat keine andere Wahl gegeben, nicht wahr?“ Was…für eine Entscheidung…? „Sie standen uns nur im Weg. Ich…bin das Wichtigste für dich. Nicht sie.“ Ich…verstehe nicht…Wovon spricht er? Verzweifelt versuche ich mich auf die Umgebung zu konzentrieren, doch Tatsuro hält meinen Blick immer noch fest. Er zwingt mich…ihn anzusehen. „Versuche es nicht. Gib einfach nach.“ Nein… Ich will ihm antworten, als auf einmal eine Fliege neben mir herumschwirrt. Laut summend schwebt sie über meinen Kopf hinweg. Dann…folgt ein beißender Geruch…ein unerträglicher Gestank… …ling… …Klingeling… Wa…? Ich öffne die Augen und sehe…nichts. Erst beim nächsten Klingeln kapiere ich, dass ich in meinem Zimmer bin. Schwach setze ich mich auf. Irgendwie…muss ich wohl eingeschlafen sein… Dann kommt mir wieder vage der Traum in den Sinn und ich keuche laut auf. Was war das gewesen?? Es hatte überhaupt keinen Sinn… Klingeling Nun hellwach schaue ich auf die Uhr. Ich muss sie in die Hand nehmen um im Dunkeln die Zeiger erkennen zu können. Halb elf. Klingeling Hm…da muss jemand wohl wirklich sehr viel Geduld haben… Mühselig raffe ich mich auf und stolpere unbeholfen zu meinem Funktelefon. Da schaltet man mal sein Handy aus, weil man Ruhe haben will…und dann wird sofort das Haustelefon in Beschlag genommen. „J-ja?“ Das Gejammer unterdrückend reibe ich mir das Knie, das ich mir irgendwo angestoßen habe. Vielleicht sollte ich das Licht anmachen. „…Uruha…“ Fest umklammere ich den Hörer. Das Flüstern habe ich ohne Umschweife erkannt. „Bist du das…Aoi?“ Rauschen. Ich eile mit dem Hörer zum Fenster. Erst jetzt merke ich, dass es noch regnet. „Aoi?? Kannst du mich hören??“ Zwischen dem Rauschen ertönt ein seltsames Knacken. Wieso ist der Empfang so schlecht? „Aoi!“ Endlich höre ich wieder seine Stimme… Sie klingt leise…und schwach. Fast geht sie unter dem Rauschen unter. Ich muss mich stark konzentrieren, um etwas zu verstehen. „…komm bitte her…ich…ich weiß sonst nicht…was ich tun werde…“ Was er…tun wird? „Was meinst du damit??“ Doch er hat schon aufgelegt. Wie erstarrt blicke ich auf den Hörer, aus dem ein völlig rauschfreies regelmäßiges Tuten ertönt. „Aoi…“ Nicht mehr länger darüber nachdenkend lass ich diesen fallen und renne zur Wohnungstür. Hektisch ziehe ich die Schuhe an und schnappe mir eine Jacke. Kurz danach stürme ich schon raus in den Regen zu meinem Auto… Pong! Laut schwinge ich die Autotür zu und eile den Wasserpfützen ungeschickt ausweichend zum spärlich beleuchteten Gebäude. Nur blöd, dass kein direkter Parkplatz in der Nähe frei ist. Ich hasse es nämlich nass zu werden, aber in meiner Hektik habe ich keinen Regenschirm mitgenommen. Eigentlich…weiß ich gar nicht, wieso ich mich so beeile. Aoi…könnte alles Mögliche gemeint haben…Es könnte sogar gut möglich sein, dass er einfach betrunken ist und keinen Schimmer hat, was er da von sich gibt. Am Ende entdecke ich ihn höchstwahrscheinlich schnarchend auf dem Boden und war völlig umsonst in solchem Aufruhr. Dankend erreiche ich endlich den überdachten Eingang des Wohngebäudes. Sich leicht schüttelnd verschränke ich die Arme und suche Aois Namen bei den Klingeln. Ich finde ihn schnell und will die Klingel betätigen…stoppe aber kurz davor. Es schießen mir so viele Fragen durch den Kopf…dass ich befürchte, Kopfschmerzen zu bekommen. Ist das wirklich eine gute Idee? Wird mein Auftreten…Aois Befinden nicht womöglich noch verschlechtern? In der Cafeteria…konnte er meine bloße Anwesenheit nicht ertragen…wie ist das dann erst, wenn ich in seine Wohnung komme? Wohin will er dann fliehen? Und was ist wenn er nicht von mir fliehen will…? Ich beiße die Zähne zusammen… Wenn er…mich wieder überfällt und mich zwingt seine Nähe zu ertragen? Wem wird es dann letztendlich mehr wehtun? Ihm oder mir? Dann überwiegen wieder die Sorgen. Sorgen…wegen seinen Worten am Telefon. Was ist…wenn er es doch ernst gemeint hat? Wenn er…etwas Unüberlegtes tut…? Etwas…was ich mein Leben lang bereuen werde…nur…weil ich nicht rechtzeitig da war? Dieser Gedanke lässt mich nicht mehr weiter zögern und ich drücke panisch auf den Knopf. „Ach…“ Ist Aoi denn überhaupt in der Lage die Tür zu öffnen? Falls er betrunken ist. Oder falls er…nein. Ich sollte aufhören das in Erwägung zu ziehen. Aoi würde sich niemals etwas antun… Plötzlich erklingt ein surrender anhaltender Laut, der mich aufschreckt. Er…öffnet mir doch die Tür. Also ein gutes Zeichen? Noch während ich das Gebäude betrete, stecke ich meine Hand in die Jackentasche und erfühle den Schlüsselbund. Für den Fall, dass er mir nicht geöffnet hätte…hätte ich von seinem Ersatzschüssel Gebrauch gemacht, den er mir vor einiger Zeit gegeben hat. Aus Höflichkeitsgründen ist es jedoch angebracht erst zu klingeln. Wir haben von jedem in der Band Wohnungsschlüssel. Man könnte es schon wie eine Art Ritual ansehen. Vielleicht…vertrauen wir uns auch einfach zu sehr. Ich warte noch nahe am Eingang, bis sich automatisch das Licht anschaltet. Seufzend streiche ich mir die nassen Haare aus dem Gesicht und versuche sie einigermaßen in Ordnung zu bringen. Ich konnte sie nicht mal mehr kämmen, aber wegen dem Regen hätte es sowieso nicht viel gebracht. Den Mund verzogen blicke ich an mir herunter. Ich habe immer noch dieselben Sachen an wie in der Arbeit…und damit geschlafen habe ich auch noch. Vergeblich versuche ich das zerknitterte Hemd glatt zu ziehen. Aoi wird sich sonst was denken… Dann reiße ich überrascht die Augen auf. Wieso…mache ich mir darüber jetzt eigentlich Gedanken? Schließlich…ist es doch nur Aoi... Ich schüttele noch kurz benommen den Kopf, bevor ich gegenüber in den Fahrstuhl trete. Während ich wartend auf die Fahrstuhltür blicke, fällt mir ein…dass ich schon länger nicht mehr bei Aoi gewesen bin. Ist jetzt bestimmt schon einige Monate her… Ich glaube, ich habe es unbewusst vermieden. Verwirrt kneife ich die Augen zusammen. Aber…wieso? Nein, es war doch, weil wir mit der Band so beschäftigt sind. Wie immer. Freizeit ist bei uns schließlich knapp bemessen. Ding Die Fahrstuhltür öffnet sich. Ich kratze mich am Nacken... Eigentlich…will ich das gar nicht. Ich will Aoi jetzt nicht sehen. Damit tun wir uns nur beide weh. Bei ihm wegen Liebeskummer. Bei mir wegen schlechtem Gewissen. Jetzt da er die Eingangstür geöffnet hat, geht’s ihm wahrscheinlich eh gut. Ich meine…wenn er doch noch in der Lage ist, aufzustehen und auf einen Knopf drücken zu können… Es gibt keinen Grund mehr, wieso ich mir Sorgen machen sollte. Ich betrachte wieder die Knöpfe des Fahrstuhls. „Ich fahr jetzt einfach wieder runter...und verschwinde von hier.“ Ganz einfach. Doch…da ist in mir so ein unangenehmes Gefühl…das mir sagt, dass ich noch nicht gehen sollte. Es fühlt sich…komisch an. Und ohne jeglichen Grund…wird es abrupt stärker. Ich lege die Arme um mich. Ich weiß nun, was für ein Gefühl das ist… Es ist…Angst. Panische Angst. Doch woher kommt es so plötzlich…und vor was habe ich Angst?? Oder…habe ich in meinem Leben zum ersten Mal eine Panikattacke…? Aber…warum?? Mit einem Mal knipst sich das Licht im Treppenhaus aus, sodass ich nun vor einem dunklen Nichts stehe. Ich schrecke mit ausgebreiteten Armen zurück, bis ich rücklings an der Wand gegenüber der noch offenen Fahrstuhltür donnere. Es sieht so aus…als würde sich vor mir der Durchgang in eine andere Welt präsentieren…in eine schwarze, gruselige Welt. Von der man nicht weiß, was in ihr lauert… Ängstlich blicke ich in die Finsternis, doch kann nicht mal Umrisse erkennen. Das hatte ich schon immer so sehr an diesem verfluchten Treppenhaus gehasst! Wenn man sich für zwei Minuten oder so nicht bewegt, geht sofort das Licht aus und man steht im Dunkeln. Irgendein Idiot fand es wohl noch sehr passend, die Lampe im Fahrstuhl so schwach wie nur möglich zu halten. „Scheiße…reiß dich jetzt zusammen…“ Ich sollte mich wirklich nicht so anstellen. Schließlich bin ich ein erwachsener Mensch, der weiß, dass so was wie Monster im Dunkeln nicht existieren. Naja…außer Vampire und andere Wesen, die sich gerne inmitten der Stadt in einem unauffälligen Pup treffen. Bei dem Gedanken würde ich gerne grinsen…aber meine Gesichtszüge scheinen wie festgefroren. „Es ist nur ein leerer Flur, der zu Aois Wohnung führt. Mehr nicht.“ Wieso sollte hier irgendeine Gefahr lauern? Die Monster haben Besseres zu tun. Außerdem…muss ich nur 5 Sekunden durchhalten. Dann geht wieder das Licht an. Nur…5 Sekunden. Ich hole tief Luft…und betrete endlich die Dunkelheit. Im ersten Moment dachte ich…ich würde fallen. Ins Nichts. Was natürlich total unsinnig ist. „…1…2…“ Ich höre wie sich die Tür vom Fahrstuhl wieder schließt. Es ist in dem Moment ein markerschütterndes Geräusch, sodass ich fast aufgesprungen wäre. Zitternd kann ich nun in der völligen Dunkelheit noch die Drei herauspressen. Das erste kurze Flackern der Lampen erhellt für einen Bruchteil der Sekunde den Flur. Gleich ist alles hell. Dann ist es geschafft! „…4…“ Beim nächsten blitzartigen Aufflackern sehe ich eine Hand vor mir. Ich kriege nur noch mit, wie sie sich auf meinen Mund presst und ich schmerzerfüllt gegen die geschlossene, stählerne Fahrstuhltür knalle… Kapitel 22: Überraschung! ------------------------- „Aah…“ Schwach bewege ich meinen Arm und lege eine Hand auf meine Stirn. Der dröhnende Kopfschmerz pocht unaufhörlich… Nach der Registrierung der Schmerzen, frage ich mich sofort, wo ich mich befinde. Langsam und behutsam setze ich mich auf, darauf bedacht mich bloß nicht zu hektisch zu bewegen. Enttäuscht drehe ich den Kopf…kann aber im Dunkeln nichts sehen. Unter meinen Händen fühlt es sich weich an…Teppich. Ich befinde mich in einem Zimmer… Der Donner hat sich zum anhaltenden Regen gesellt…und kurz wird das Zimmer erhellt. Leider zu kurz und zu hell. Pünktchen springen vor meinem inneren Auge umher. Ich sollte besser abwarten…bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. In der Zeit versuche ich angestrengt mich zu erinnern…und die letzten Ereignisse zu verarbeiten. Was…ist nur passiert?? Ich…war im Fahrstuhl…und dann…bin ich in den Flur getreten…Es war dunkel, doch das Licht ging allmählich an. Es flackert. Dann…die Hand. Direkt vor meinem Gesicht. „Oh…nein…“ Ich schluchze kurz laut auf. Jemand hat mich überwältigt…aber wer?? Wer sollte mich im Flur zu Aois Wohnung überfallen?? Dann muss ich tief Luft holen… Das konnte nur… Aber…Aber das kann nicht wahr sein! Nein…niemals. Aoi würde…das niemals tun….Wieso sollte er auch? Aber…ich hätte es vermutlich nicht anders verdient…So wie ich mit seinen Gefühlen umspringe…So…wie ich ihn verletze… Schmerzerfüllt beiße ich die Zähne zusammen, als ich mich nach vorne beuge…bereit aufzustehen. Die Pünktchen mit großer Mühe zurückdrängend… Ist das der Grund…weshalb er mich angerufen hat? War…dieser Hilferuf…nur eine Falle gewesen…um mich in seine Wohnung zu locken? Erst als ich aufblicke, bemerke ich, dass sich endlich Umrisse vor mir abzeichnen. Ein…Schrank…Eine…Coach…Bilder an der Wand…und…nach genauerem Hinsehen…eine Gitarre, die an der Wand lehnt…eine ganz bestimmte Gitarre… Kein Zweifel. Ich befinde mich in Aois Wohnung. Erst hat er mich k.o. geschlagen und dann in seine Wohnung verschleppt… Gut, Aoi. Und was jetzt? Was hast du jetzt vor mit mir? Ich blicke mich in dem Zimmer um, das sich mittlerweile als das Wohnzimmer entpuppt, und erhebe mich dabei allmählich. Das rote kleine Licht vom Fernseher sticht mir ins Auge. Das einzige Licht hier. Daraufhin zieht jedoch etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein tiefdunkler Schatten…unterm Fernseher… Ich schlucke. Was ist das? Unbeabsichtigt krallen sich meine Hände seitlich an die Jeans. Ist das etwa…? Ich krieche zu ihm vor…und tatsächlich. Dort vor mir liegt ein Mensch auf dem Boden. Genauso wie ich noch gerade… Doch als ich genauer hinsehe…gefriert mir das Blut in den Adern. Ich unterdrücke ein Aufwimmern und beuge mich sofort zum Schatten hinab. Kann das wirklich sein…?? „Aoi!!“ Rufend rüttle ich an seinem leblosen Körper. Ich drehe ihn komplett auf den Rücken und presse meine Hände an seine Wangen. „Aoi! Wach auf!“ Teilweise erleichtert darüber, dass seine Wangen warm sind, kontrolliere ich trotzdem auch den Puls. Natürlich lebt er. Was habe ich auch erwartet…? Wie konnte ich denken, dass er…? Aber wieso…um Himmels willen wacht er nicht auf? Ich beuge mich mehr vor und schnuppere an ihm. Wie zu erwarten…Der Geruch von Alkohol. Ich muss abrupt auflachen. Klar…Er hat zu viel getrunken…so viel, dass er sogar weggetreten ist…und das…nur wegen mir. Traurig lehne ich mich zurück und blicke ihn an. „Tss...Du sollst doch mein früheres Ich nicht als Vorbild nehmen…“ Dann mache ich Anstalten aufzustehen…was sich als ziemlich schmerzhaft herausstellt. Dennoch schaffe ich es und halte mir den Kopf. Erst jetzt stellt sich mir die Frage…wie das Aoi bloß bewerkstelligt hat… Meine Vermutung ist, dass er betrunken aus seiner Wohnung rausgegangen ist und mich dann im Fahrstuhl gesehen hat. Dann wollte er mich wohl begrüßen…was eher nach hinten losgegangen ist. Ich bin gegen den Fahrstuhl gefallen…dann hat er mich in seine Wohnung geschleppt…und dann hat er bestimmt noch was getrunken…oder auch nicht, und ist dann ebenfalls umgekippt. Also anders kann ich mir das jetzt nicht erklären. „Uff…ganz schön abstrus.“ Am besten ich suche jetzt den Lichtschalter und warte bis er wieder aufwacht. Vielleicht kann er es mir dann erklären… Behutsam drehe ich mich herum und versuche mir einen Weg zum Lichtschalter zu bahnen…wo auch immer der liegen mag. Vorsichtig strecke ich meine Hände aus und befühle den eckigen Wohnzimmertisch, um mich nicht an ihn zu stoßen. Die blauen Flecke, die ich schon habe, reichen mir vorerst. „Überraschung!“ Erschrocken weite ich die Augen, als mich jemand auf einmal von hinten packt und die Hand auf meinen Mund presst. Ich will schreien, doch es entkommt mir durch die Hand nur ein gedämpftes jämmerliches Klagen. Hoffnungslos zerre ich an den anderen Arm, der sich fest um meine Taille geschlungen hat. Eines ist sicher. Derjenige macht keinen Spaß. Angstvoll keuche ich auf, als der Angreifer sich mit seinem Gesicht an meinen Kopf schmiegt. „Deine Haare…Sie riechen immer so gut.“ Oh mein Gott…wer ist das?? Wer ist das?? Ich kneife die Augen zu und lasse meine Hände hinter mich wandern…ich kriege Leder zu fassen. Leder…Eine Lederjacke? Eines ist sicher…Aoi ist es nicht. Hätte mich auch gewundert, wenn er die Ohnmacht nur gespielt hätte… „Und…deine Haut erst. Wie weich, sie doch ist.“ Ich muss unglücklicherweise feststellen, dass meine Hände zittern. Wirklich ungünstig. Hoffentlich interpretiert derjenige es als Wut…und nicht als Angst. Ohne zu zögern umgreife ich das Handgelenk und will es von meinem Gesicht zerren. Ich sag etwas…doch durch die Hand ist es kaum verständlich. Die Stimme hinter mir gluckst mir ins Ohr. „Hast du was gesagt?“ Dann wird aus meiner Angst wirklich Zorn. Dachte er wirklich…ich würde seine Stimme nicht erkennen…?? So oft ich sie in meinem Leben schon gehört habe?! Spätestens jetzt kann er sich nicht mehr vor mir verstecken. Wütend plärre ich gegen die Hand. „Du…willst also mit mir reden, ja? Gut. Doch wenn du schreist…wirst du es mehr als nur bereuen…“ Die Drohung klingt so ernst gemeint…dass mir noch mal ein eisiger Schauer über den Rücken läuft. Doch…er kann sie nicht wirklich…ernst meinen oder? Langsam entfernt sich die Hand von meinem Gesicht, dann ist sie ganz verschwunden. Ich atme noch einmal tief durch…bis ich mich abrupt herumdrehe. Ja, er ist es. Genauso wie ich es mir dachte. Seine Stimme ist nicht einmalig…und dennoch hat sie so einen frechen versteckten Unterton, den ich überall wiedererkennen würde. Lächelnd sieht er mich an. „Uruha.“ Ich verschränke die Arme vor dem Oberkörper, um das noch anhaltende Zittern meiner Hände zu verstecken. Mir schießen so viele Fragen durch den Kopf…so viele Emotionen…und trotzdem kriege ich nur seinen Namen heraus. Man kann sagen…ich bin schockiert. Sein Griff war alles Andere als spaßig gemeint. Eigentlich könnte ich ihm sofort an den Hals gehen…aber der Schock sitzt noch. „Reita.“ Locker steckt er seine Hände in die Hosentaschen, doch seine Haltung verrät, dass er sich jederzeit wieder auf mich stürzen könnte. Seine schwarze Lederjacke scheint im Dunkeln noch mehr an Schwärze zu gewinnen, obwohl das nicht sein kann. „Endlich…bist du hier.“ Ich schlucke wieder. „Reita, verdammt…das war nicht witzig gerade.“ Dann fällt es mir auf und ich klopfe mit einer Faust in meine flache Hand, als mich der Geistesblitz trifft. „…Hey, was machst du eigentlich in Aois Wohnung??“ Da ist sie wieder. Diese…tiefe…intensive Angst…die sich durch meine Gedärme frisst… Dieselbe Angst, die ich im Fahrstuhl verspürt habe… Ist das Reita? Ist er der Verursacher dieser Angst…? Doch wieso…? Wieso habe ich solche große Angst vor ihm? Würde er mir tatsächlich…etwas Schwerwiegendes antun? Verdammt…es ist doch Reita, der da vor mir steht! Wir kennen uns seit unserer Kindheit! Wir sind so gut wie jeden Tag zusammen! Da müsste ich ihn doch besser einschätzen können. Ich schüttele leicht den Kopf, als er mich weiterhin lächelnd anblickt. Was ist nur los mit mir? Mein Geist deutet den Typen vor mir als meinen besten Freund, doch mein Körper signalisiert mir Gefahr. Ich sollte nicht darauf achten. „Mann…Du hast mir echt einen Schrecken eingejagt…Also sag schon. Was machst du hier? Kümmerst du dich um Aoi?“ Er senkt leicht den Kopf, sodass seine Augen nur noch als Schatten wahrzunehmen sind. „Ja…ich hab mich um ihn gekümmert.“ Mich durchzuckt ein Kälteschauer. Das kommt bestimmt nur wegen der Dunkelheit. „Ähm…ich mach mal das Licht an. Es ist so dunkel hier drin…da sieht man ja nicht mal die eigene Hand vor Augen!“ Ein klägliches Lachen entkommt mir. Nicht sehr überzeugend. Ich drehe mich um und will weiter nach den Lichtschalter suchen. „Lass es aus.“ Ignorierend taste ich mich zur Wand. „Aber man sieht doch gar nichts…“ Ich schreie auf, als er plötzlich hinterrücks fest meinen ausgestreckten Arm packt. Vor Schreck stolpere ich nach vorne und erreiche noch die Wand, die meinen Sturz abfängt. Keuchend fasse ich an mein Shirt und versuche mein rasendes Herz zu beruhigen. Ich würde wirklich…gerne das Licht anmachen… „Mann…Reita! Du erschreckst mich hier im Dunkeln noch zu Tode! Bewege dich bitte…etwas langsamer ok?“ Reita fängt an zu glucksen. Es würde weniger unheimlich klingen…wenn es nach ihm klingen würde. Aber es klingt befremdlich…tief und kalt. Völlig emotionslos. Ich lehne mich mit ausgestreckten Armen gegen die Wand…als könne mich diese beschützen. Schluckend betrachte ich ihn, wie er bewegungslos dasteht und mich ansieht. Er benimmt sich äußerst merkwürdig…nicht so, wie ich ihn kenne. Ein Blitz erhellt für einen kurzen Moment das ganze Zimmer. Auch das Gesicht von Reita…das mich süffisant anstarrt… Kein Zweifel…der Mann, der vor mir steht, ist tatsächlich Reita…auch wenn er sich wie ein Fremder verhält. Er fährt mit einer Hand durch seine hellen Haare, als er eine für ihn ungewöhnlich sanfte Stimme erklingen lässt. „Magst du die Dunkelheit nicht, Kouyou?“ Überrascht verziehe ich das Gesicht. Hat er mich gerade wirklich bei meinem echten Namen genannt? „Ich finde…es sehr romantisch so...“ Romantisch? Garantiert kein Wort, das Reita jemals benutzen würde! „Reita…geht es dir gut?“ Aufeinmal zieht er seine Lederjacke aus und lässt sie achtlos zu Boden fallen. „Kouyou…sag mir…willst du mich?“ Mir wird kurz schwindelig, dann scheint die Welt Kopf zu stehen. Ich will etwas sagen, doch es entkommt mir nur ein krächzendes Husten. Mir schießt die Hitze in den Wangen, als er doch tatsächlich noch sein T-Shirt auszieht. „R…Reita! S…sag mal, spinnst du oder was??!“ Was fällt ihm nur ein?? „Wir sind hier völlig unter uns. Du kannst mich ruhig bei meinem richtigen Namen nennen…“ Ich strecke ruckartig eine Hand vor mir aus, als er näher kommt. Mühelos schlägt er diese beiseite und lässt ein kurzes Glucksen ertönen. „Als ob mich das aufhalten würde…“ Sprachlos starre ich ihn an. Erwarte jeden Moment ein lauthalsiges Lachen…einen blöden Spruch…erlösende Worte, dass das alles nur ein blöder Scherz ist… Vielleicht sogar die versteckte Kamera! Aber dem ist nicht so. Unerwartet stürzt er sich auf mich und will seine Lippen auf die meine pressen, gerade noch. Gerade noch im letzten Moment kann ich ihm panisch ausweichen. Sehr ungeschickt ausweichen. Der seitliche Hechtsprung lässt mich über irgendwas stolpern und zu Boden stürzen. Wieder begrüßen mich die umherschwebenden Pünktchen, die mich fast wieder ins Land der Träume befördert hätten. Eine Träne entweicht mir, als ich mich herumdrehe und hektisch im Dunkeln nach ihm Ausschau halte. Doch er hat sich nicht von der Stelle bewegt. So…als hätte er alle Zeit der Welt. Unbeeindruckt schmiegt er sich an die Wand und schaut auf mich herab. So…als würde er sich über mich lustig machen. Das Lächeln auf seinem Gesicht kann ich geradezu spüren. Meine Hände krallen sich in den Teppich. Empört schnauze ich ihn an. Zu einer anderen Reaktion gerade nicht fähig. „Was sollte das?? Das…ist echt nicht lustig, du Idiot!“ Er bewegt sich keinen Millimeter, als würde er lauern. „Tja, für mich…schon.“ Eiskalt. Ich habe Angst mich zu bewegen… Angst davor, dass dann auch er sich bewegt…und ich diesmal nicht ausweichen könnte… Da werden mir blitzartig die Zusammenhänge klar… Oh mein Gott… „Bitte sag mir…warst…“ Abermals muss ich schlucken…Ich muss die Wörter geradezu herauspressen. „…warst…du das im Flur? Hast du mich…dort überfallen?“ Er dreht sich zu mir um und lehnt nun rücklings gegen die Wand. „Ich dachte schon…du kämst gar nicht mehr aus diesem Fahrstuhl heraus…Wie du da standest…Die Angst stand dir ins Gesicht geschrieben…Oh ja, ich habe diesen Anblick genossen. Und ich wusste, es würde ein Leichtes sein…So ein schwaches…wehrloses Opfer…voller Angst.“ Unwillkürlich krieche ich zurück. „W…was…willst du von mir??!!“ Ich spüre, wie ich hysterisch werde. Denn ob ich es will oder nicht…jetzt muss ich der Wahrheit ins Auge blicken. Reita ist momentan nicht er selbst…Das ist nicht mein bester Freund. Mein Bandkollege. Das ist ein anderer Reita…ein gefährlicher Reita, der mir wirklich etwas antun will und es auch kann. Aber diese Panik…ich darf sie nicht zulassen…ich muss unbedingt einen kühlen Kopf bewahren… Mühsam ziehe ich mich an einer Art Kommode hoch, während sein Lachen durchs Zimmer hallt. Wenigstens einer scheint sich hier prächtig zu amüsieren… „Ach komm schon, Kouyou…Tu doch nicht so, als würdest du nichts verstehen. Als würdest du nicht einsehen, dass du bestraft werden musst.“ Ungeschickt stoße ich mich gegen ein Regal und höre wie Glas auf den Boden zerklirrt. „Für was soll ich denn bestraft werden?? Dafür, dass ich mich mit Tatsurou treffe?? Ist es das?? Hast du mich deswegen im Fahrstuhl überfallen!“ Grimmig sehe ich in seine Richtung. Ich kann es einfach nicht nachvollziehen, wieso er mich jetzt schikanieren will. Wenn es wirklich immer noch dieselbe Leier mit Tatsurou ist…sind seine Beweggründe völlig unzureichend. „Du bist Schuld…an allem.“ An was? Diesmal stoße ich etwas auf dem Boden um, was den Topf zum Überlaufen bringt. „Mach endlich dieses verdammte Licht an, Reita! Und hör auf mit deinen blöden Psychospielchen!!“ Er muss wieder auflachen. Eigentlich hätte ich mitlachen können…Ich befinde mich in Gefahr und schnauze meinen Angreifer an, weil ich durch das Zimmer stolpere und Dinge zu Bruch gehen. Das ist so lächerlich. Aber es ist eigentlich ganz logisch: Ich…verliere die Nerven. Dann muss ich jedoch stocken, als sich der Schatten nun nach rechts bewegt. Die schlagartige Panik lässt mein Herz bis zum Anschlag hüpfen. „Wie du wünscht. Ich stehe jetzt genau vorm Lichtschalter. Aber…ich will eigentlich nicht, dass das Licht angeht…irgendwie…schäme ich mich…“ Er scheint seinen Oberkörper gespielt beschämt bedecken zu wollen. Ich seufze über den schlechten Sarkasmus und kneife die Augen zusammen. „Lass die Späße und schalt es an.“ Meine Stimme klingt hart…aber der Kampf mit der Hysterie tobt stärker denn je in mir… Ich überspiele meine Furcht…doch wie lange kann ich diese Maskerade aufrecht erhalten…? Und da geht es an. Ich hätte nicht gedacht, dass er es wirklich tun würde. Das gleißende Licht ist viel zu hell…der weiße Schleier…zu blendend… Abrupt muss ich die Augen schließen. Eine Hand lege ich über meine Augen, die andere strecke ich vor mir aus. Es ist nur Gewöhnungssache… Ich habe die Befürchtung, dass mich Reita jetzt wieder angreifen würde. Jetzt, wo ich geblendet und hilflos dastehe. Aber es passiert nichts. Stark blinzelnd entferne ich die Hand wieder und sehe wie zu erwarten, Aois Wohnzimmer. Kapitel 23: Die Ursache allen Übels ----------------------------------- „R…Reita?“ „Hier.“ Der Stimme folgend, drehe ich mich nach links. Automatisch muss ich auf seinen Oberkörper schauen, wobei ich sofort angewidert den Blick wieder abwenden muss. „Was ist, Kouyou? Gefalle ich dir nicht?“ Ich schlucke. „Sieh mich gefälligst an!“ Nein… Aufeinmal rennt Reita zornig auf mich zu. Ich versuche noch umzudrehen und wegzurennen, doch da hat er mich schon längst. Ich schreie vor Schmerz und Panik auf, als er brutal an meinem Haar zieht und mich zu Boden drückt. „Du willst doch nicht wirklich leugnen, dass ich dir so nicht gefalle?! Du bist nicht anders als er…Ihr Perversen seid doch alle gleich!“ Was...? Wie kann er so etwas nur sagen?? „D…das ist nicht wahr! Was Ruki dir antut, ist schrecklich!“ Grob zerrt er an meinen Haaren und packt mich schmerzhaft am Kinn, sodass ich auf keinen Fall wegsehen kann. Seine Augen sind so voller Hass, dass mir die Luft wegbleibt. So habe ich Reita noch nie gesehen... „Soso...Ruki hat also die Wahrheit gesagt. Du hast uns gesehen. Du...widerwärtiger Spanner!! Aber hey, was kann man auch von einem Perversen erwarten??“ Plötzlich drückt er meinen Kopf mit Wucht in den Teppich. „Es hat dir gefallen, nicht wahr??!!“ Reflexartig greife ich nach seinem Arm, ohne irgendwas bewerkstelligen zu können. „Verdammt, nein!! Wie kannst du das nur von mir denken??! Als ob diese kranke Scheiße irgendwem gefallen könnte! Außer...Ruki.“ Plötzlich lockert sich sein Griff. Ich setze mich auf und halte mir den Kopf. Mein Herz rast noch immer. Vorwurfsvoll blicke ich ihn an und erschrecke. Er hat sich leicht von mir abgewandt und fixiert irgendeinen Punkt auf den Boden. Geistesabwesend kaut er an einen Fingernagel. Was für ein abrupter Stimmungswechsel... Aber noch verwirrender sind seine Augen, die sich mit Tränen füllen. Das ist so...unnatürlich für ihn. Reita so zu sehen...ist wirklich seltsam. In diesem Augenblick...habe ich sogar Mitleid mit ihm. Wie kann Ruki ihm nur so etwas antun?? Dann muss ich an das Gespräch mit ihm zurückdenken... „Ruki denkt er wäre...verrückt. Und es sieht wohl so aus, als hätte er Recht. Er ist krank, Reita. Er braucht eine Therapie. Und dann...wird alles wieder gut. Alles wird wieder so wie es vorher war! Glaub mir...“ Und unsere Band wird bestehen bleiben. Ich greife nach seinem Arm. Er zeigt jedoch keine Reaktion. „Er wird dich nie mehr wieder anfassen...Das verspreche ich dir.“ Er schluckt kurz. Ich drücke seinen Arm etwas. „Aber du darfst mit dir auch nicht so umspringen lassen! Egal ob es nun Ruki ist oder nicht... Außerdem...weiß man nicht wie weit er in seinem derzeitigen Zustand gehen kann! Das könnte wirklich übel ausgehen...“ Besorgt sehe ich auf seine Wunden. „Ich meine...noch viel schlimmer als es eh schon ist.“ Sein Gesicht wird schmerzverzerrt. Dann verstehe ich, weshalb. Denn daran würde ich wohl auch denken. „…Dein Stolz ist unangetastet.“ Er fängt an apathisch an eine seiner Wunden zu kratzen. Ich lege eine Hand auf seine, damit er aufhört. Traurig sehe ich ihn an. Ruki…hätte ihm das nicht antun sollen… Ich glaube…dadurch…hat er Reita kaputt gemacht. Reita…der so stolze Macho, der selbsternannte Frauenflachleger. Es wundert mich eigentlich nicht…dass er es nicht verkraftet. „He…“ Überrascht blicke ich Reita an. Ich dachte erst, er wollte mir irgendwas sagen. Doch es ist ein Glucksen, das schnell zu einem übertriebenen, schon beinahe wahnsinnigen Kichern mutiert. Er hat genauso wie Ruki…den Verstand verloren. Anders kann ich mir das nicht erklären… „Du…du verstehst doch gar nichts! Es liegt nicht an ihm…es liegt an dir!“ Irritiert blicke ich in sein plötzlich wutverzerrtes Gesicht. „An mir?? Was soll das heißen?? Ruki ist krank…dafür kann niemand was!“ Unerwartet preschen Reitas Hände hervor und packen meinen Hals. „Du bist an allem Schuld!!“ Panisch zerre ich an seinen Unterarmen, während ich verzweifelt versuche an Luft zu kommen. Seine Augen trotzen vor Entschlossenheit... Mir schießen die Tränen in die Augen, als ich mir der Ausweglosigkeit bewusst werde. Reita ist viel zu stark für mich und er wird garantiert nicht ablassen. Panik...Angst...Verzweifelung...Überlebenswille...Aber das letzte Gefühl, dass ich verspüre ist Traurigkeit. Ha, wer hätte das gedacht…? So werde ich also sterben… Erwürgt von einem Kerl, den ich als meinen besten Freund bezeichnet habe. Die Welt um mich herum…scheint alle seine Farben zu verlieren…und beginnt ganz schwarz zu werden…als sich der Griff plötzlich löst. Stark hustend drehe ich mich zur Seite und fasse an meinen schmerzenden Hals. Hat Reita…im letzten Augenblick etwa wieder die Vernunft gepackt? Als ich wieder einigermaßen Luft bekomme, bemerke ich im Augenwinkel einen großen Schatten. Sofort setze ich mich halb auf, um Reita zu erblicken…doch anstatt ihn…sehe ich Aoi vor mir stehen. Überrascht schaue ich hoch…in sein erleichtertes und zugleich wehleidiges Gesicht. Doch es wirkt auch schockiert. „Aoi...“ Schnell versucht er sich vollkommen zu fassen…Überspielt alles mit einem ironischen Kommentar. „Mist…Diese Vase war teuer gewesen.“ Erst jetzt bemerke ich die ganzen Scherben, die auf mir und um mich liegen. Und Reita…der regungslos neben mir liegt. Ich sehe wieder zu Aoi, als dieser mir eine Hand entgegenstreckt. Dankbar nehme ich sie an und stehe auf. Ein paar herab fallende Scherben klirren. Meine Augen fangen wieder an zu brennen… Ohne…das ich es verhindern könnte…lege ich schluchzend meine Arme um ihn. Erwidernd spüre ich seinen Arm auf meinen Rücken, der mich an ihn drückt. Ein tiefes Seufzen seinerseits, in dem leise mein Name mitschwingt. Eigentlich…ist das total dämlich. Wie die Gefühle…einen übermannen…wenn man dem Tode nahe gewesen ist. Ist man so glücklich? Nur…weil man noch lebt? Spürt…man erst so richtig das Leben…wenn man kurz davor gewesen war, dieses zu verlieren…? „Dieses Schwein…Der ist vollkommen durchgedreht!“ Nach dem Schock. Wut. Erschütternder Zorn. Doch ich spüre keinen Zorn. Nur tiefe Enttäuschung. Verrat. Einen…starken Bruch. Eine…Freundschaft…eine eigentlich so feste Freundschaft…die nun nicht mehr existiert. Sie ist in dem einen Moment…in dem Moment, wo ich dem Tode so nah war…in dem Moment, wo der Andere sich meinen Tod so sehr gewünscht hat…endgültig gerissen. Wie könnte man das…jemals wieder flicken? Ich denke, gar nicht. Vielleicht…ist das der Hauptgrund, weshalb ich weine. Ich weine nicht, weil ich fast gestorben wäre. Ich weine…weil ein festes Band, wovon ich gedacht hätte…es würde niemals reißen…doch gerissen ist. „Uruha?“ Sanft reißt er mich aus meinen Gedanken und streicht mir mit einer Hand die Träne von der Wange. Ich hole tief Luft und sehe kurz auf den bewusstlosen Körper auf den Boden. „Was…sollen wir jetzt nur tun?“ Am liebsten würde ich ihn einfach dort liegenlassen und von hier schnellstmöglich verschwinden… Alles…hinter mir lassen. „Wir müssen die Polizei rufen.“ Die Polizei? Ja…das wäre wohl vernünftig. Seufzend blicke ich Aoi an und erwidere seinen Blick…der auf einmal so erschöpft wirkt. „Es ist unglaublich…wie weit es schon gekommen ist…“ Er blickt zur Seite und streicht sich durch die verschwitzten Haare. „Ich verstehe es auch nicht.“ Ich stecke meine Hände in die Hosentasche, die sich als leer herausstellt. „Mist. Ich habe mein Handy im Auto vergessen. Gib mir bitte deines. Ich werde den Anruf machen.“ Aoi befühlt auch seine Hosentasche. Seltsamerweise auf beiden Seiten mit derselben Hand. Wieso so umständlich? „Ach…ich weiß nicht, wo meines ist. Benutzen wir einfach mein Haustelefon.“ Überrascht registriere ich erst jetzt, wie Aoi einen Arm hinter seinem Rücken versteckt. „Hey, versteckst du da irgendwas vor mir?“ Sofort weiten sich seine Augen. Er konnte schon immer schlecht lügen… „Ähm…nein.“ „Was hast du da??“ Auffordernd versuche ich hinter ihn zu kommen und seinen Arm zu packen, doch er schubst mich energisch weg. Fast wäre ich über Reita gestolpert… Aufbrausend gestikuliere ich wild mit den Armen. „Aoi! Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für so ein Theater! Wir müssen jetzt zusammenhalten!“ Nach ein paar Sekunden unter meinen auffordernden Blick verharrend, seufzt er und nickt mir schließlich doch widerwillig zu. „Na gut…aber nicht anfassen.“ Verwundert hebe ich eine Augenbraue. „Äh, ok…“ Schlagartig presse ich eine Hand vor meinen Mund, als Aoi beleidigt seinen Arm hervorzieht. „Oh mein Gott…“ Also erstmal bin ich froh, dass der Arm noch dran ist. Aber… „Ist schon ok, Uruha…“ Wütend balle ich die Hände zusammen und spüre die aufkommende Hitze hoch in meine Wangen schießen. Beinahe schon hysterisch zeige ich auf Reita. „Nichts ist ok!! Dieser…dieser Wichser hat dir den Arm gebrochen!!“ Beruhigend hebt er eine Hand. „Uruha…“ Plötzlich verschwimmen die Bilder vor meinen Augen. Besorgt berühre ich seine nasse Stirn. Aoi klappt fast der Mund auf. „Oh mann…Du hast starke Schmerzen oder?“ Zähneknirschend nimmt er meine Hand. „Es geht schon…Ich bewege den Arm einfach nicht. Mach dir keine Sorgen.“ Kopfschüttelnd schaue ich zur Decke. „Wieso…wieso tut er nur so was?“ „Ich habe es zugelassen, dass es soweit kommt…“ Voller Reue schaut er auf den Boden. „…Er kam hier an. Ich habe mir nichts Großes dabei gedacht, als er einfach so an mir vorbei in meine Wohnung gegangen ist…und mir schließlich die halbvolle Sakeflasche aus der Hand geschlagen hat. Auch nicht, als er mich einen Trinker und Versager genannt hat…Nichtmal…als er mir eine verpasst hat…“ Er legt automatisch eine Hand auf seine Wange. „Doch…als er mich zum Telefon gezerrt…und gesagt hat, ich solle dich anrufen und zu mir einladen…habe ich angefangen mich zu wehren. Erst dann…habe ich verstanden, dass er dir irgendwas antun will. Ich war noch sehr beschwipst…so konnte er mich leicht überwältigen und zwingen, indem er mir schließlich den Arm gebrochen hat.“ Empört keuche ich auf. „Aber…ich hätte viel mehr Folter ertragen müssen. Das…ist einfach nur unakzeptabel. Ich habe dich in die Höhle des Löwen geführt!“ Verzweifelt versteckt er sein Gesicht hinter seiner Hand. „Nein, Aoi! Du kannst nichts dafür. Reita ist völlig wahnsinnig! Ich werde jetzt die Polizei rufen und einen Krankenwagen. Wobei…für diesen Irren wäre die Irrenanstalt wohl angemessener!“ Ich eile aus dem Zimmer. Wie kann ich Reita nun nicht hassen...? Aber...ist es nicht eigentlich mein Verdienst, dass Aoi verletzt wurde...? Immerhin will er doch anscheinend mich... Eines ist sicher…Reita will mich tot sehen und dafür würde er so einiges in Kauf nehmen. Ich kann nicht mehr zulassen, dass meinetwegen jemand verletzt wird! Besonders Aoi... Energisch packe ich den Telefonhörer und will die Nummer wählen, als ich sehe, dass die Telefonschnur lose herunterhängt. „Scheiße!!“ War das Reita gewesen?? Ich habe Aoi schon zigmal gesagt, dass er sich endlich mal ein Funktelefon zulegen soll…aber er meinte immer, dass es ihm schon reicht von seinem Handy verstrahlt zu werden. Krach! Erschrocken zucke ich mit den Schultern. Was war das?? Kam das nicht aus dem Wohnzimmer?? Ängstlich bleibe ich auf der Stelle und lausche…doch es ist wieder Totenstille. Ich schließe kurz die Augen und schlucke die Angst herunter. Ich muss nachsehen, was das war… „A…Aoi?? Was war das für ein Krach?“ Keine Antwort. Trotzdem eile ich zurück ins Wohnzimmer. „Aoi!“ Mein erster Blick fällt auf Reitas Rücken, der wieder wach mitten im Raum steht. Desinteressiert, so als würde ihn das alles gar nichts angehen und so als würde er mich nicht bemerken, geht er langsam zu einem der Regale, die an der Wand stehen. Wie eingefroren schaue ich dann auf meinen verbleibenden Freund, der auf allen Vieren auf den Boden gesackt ist und sich stöhnend den Kopf hält. Neben ihm sind die Einzelteile eines Holzstuhls. Der Stuhl gehörte zum kleinen Tisch, wo Aoi gelegentlich mal seinen Laptop hingestellt hat. „Aoi!“ Reita ignorierend, eile ich auf ihn zu und beiße mir panisch auf die Unterlippe als ich Blut auf seinem Kopf erkenne. Doch bevor ich was sagen kann, hebt er seine Hand und sieht zu mir hoch. „Ist schon ok, Uruha…Nur ein kleiner Kratzer…“ Besorgt blicke ich auf sein müdes Gesicht. Blut tropft über sein rechtes Auge. Erschöpft kippt er plötzlich ganz um. „Aoi!!“ Aufschreiend knie ich mich über ihn. Er hat die Augen geschlossen, wie als würde er schlafen, scheint aber dennoch noch wach zu sein. „Lass mich…nur etwas ausruhen…“ Vor Wut zitternd drehe ich mich zu Reita um, der gerade vor einem Bild steht und es mit schiefgelegenen Kopf betrachtet. So als wäre ihm alles völlig egal und so als hätte er alle Zeit der Welt. „Du…verdammter...Mistkerl…“ Auf meine Worte hin, wendet er sich mir zu und lächelt zufrieden. Am liebsten würde ich ihm jetzt das freche Lächeln aus dem Gesicht schlagen… Angewidert blicke ich auf seinen Oberkörper, auf dem sich anscheinend ein paar Wunden wieder geöffnet haben. Als könne er meine Gedanken lesen streicht er mit einem Finger über eine blutende Stelle und leckt diesen gedankenverloren ab. Ich kann bei diesem Anblick nur das Gesicht verziehen. Wie in Trance geht er aufeinmal hinter das Sofa und hebt etwas auf. Eine Scherbe von der Vase, die Aoi gegen ihn eingesetzt hatte. Verdutzt sehe ich ihm dabei zu, wie er die Scherbe an seinem eigenen Bauch ansetzt und einen langsamen langen Schnitt wagt. In dem Moment kann ich nichts anderes denken als: Tiefer!! Grinsend fixiert er mich dabei. Ebenfalls grinsend erwidere ich seinen Blick. „Das ist nicht tief genug, du Irrer! Das durchschneidet nicht mal ansatzweise deine Gedärme!“ Aufglucksend schmeißt er die Scherbe in die Ecke. „Es gefällt mir, wenn du so heißblütig bist.“ Aufbrausend und provozierend zeige ich auf ihn. „Sag mal…wie viele von diesen wunderschönen Schnitten auf deinen Körper gehen eigentlich auf deine Kosten??“ Schulternzuckend lehnt er sich lässig gegen das Sofa. „Och, nicht viele. Die meisten sind immernoch von Ruki.“ Besorgt muss ich wieder zu Aoi schielen, der die Augen halboffen hat. Ich glaube nicht, dass er gerade hier ist. Er hat bestimmt eine Gehirnerschütterung oder so was bekommen…Der Holzstuhl war leider nicht aus Billigholz. Ich hoffe nichts Schlimmeres... Plötzlich klatscht Reita einmal laut in die Hände. Zufrieden lächelt er mich an. „So...jetzt da wir endlich ungestört sind, können wir ja weitermachen...“ Schnell greife ich mir ein abgebrochenes Holzbein, das gefährlich spitz zuläuft und halte es Reita aus sicherer Entfernung entgegen. „Komm mir nicht zu nahe!“ Reita muss amüsiert auflachen. „Uruha...Du denkst doch nicht wirklich, dass du mich töten könntest? Mich...oder sonst irgendjemand auf dieser beschissenen Welt. Das kannst du nicht...Sowas liegt dir nicht.“ Ich verfestige meinen Griff um das Holzbein. „Dasselbe...habe ich auch mal von dir gedacht...“ Trauer lässt meine Wut in den Hintergrund rücken. Was tue ich hier nur?? „Verdammt, Reita...Das...das hier muss doch nicht sein! Wir müssen nicht so weit gehen! Das...darf nicht so enden...“ Ich fühle mich wie in einem nie enden wollenden Albtraum...Ein Albtraum, der nicht real sein kann. Enttäuscht schüttelt mein Gegenüber leicht den Kopf. „Du...verstehst es also immer noch nicht?“ Ich schlucke. „Was verstehe ich nicht? Erkläre es mir doch endlich!“ Warum das Ganze? Wieso ist es schon soweit gekommen? Kriege ich jetzt endlich die Antworten? Antworten, die ich verstehe? Anstatt zu antworten, geht Reita auf mich zu. Panisch halte ich das Holzstück fest, das noch immer auf ihn gerichtet ist. Doch Reita beachtet dieses nicht und denkt erst garnicht dran, stehen zu bleiben. Ein Schweißtropfen fließt an mein rechtes Auge vorbei, als die Spitze des Holzbeins seine nackte Brust berührt. Ich will schon aufschreien und sehe das Holz schon in meiner Vorstellung sein Herz durchbohren, als er zum Glück im letzten Moment doch noch innehält. Von dem Schreck langsam wieder erholend, fange ich wieder zu atmen an. Ein einzelner Blutstropfen fließt von der Stelle seinen Bauch hinab. Unbeeindruckt steckt er seine Hände in die Hosentaschen. „Na, sag ich doch. Du kannst es nicht.“ Er hat wirklich keine Angst...und auch keine Zweifel. Seinen selbstsicheren Blick kann ich kaum standhalten... „W...wieso? Wieso willst du mich umbringen?“ „Weil du wie schon gesagt...an allem Schuld bist. Und solange du lebst...solange wird es nicht enden.“ Ich blicke in seine leer wirkenden Augen. „Wenn ich es nicht tue...dann wird es nie aufhören.“ Redet er wirr? Oder meint er es ernst...? Kurz muss ich wieder zu Aoi blicken, der wieder die Augen geschlossen hat. „Es geht also nur um mich, richtig?? Dann...lass Aoi da aus dem Spiel! Rühre ihn nicht mehr an...“ Er nickt nur. „Keine Sorge. Ich will nur dich.“ Ich beiße mir auf die Zähne... „Er...braucht einen Krankenwagen, hörst du?“ Er zieht einen übertriebenen Schmollmund. „Tja...nur blöd, dass wir keine Telefone hier haben. Dein Schatzilein muss jetzt wohl einfach ohne Pflasterchen auskommen.“ Empört sehe ich ihn etwas aus seiner Hosentasche rausziehen. Ein Handy. Aois Handy. Ich schreie auf, als er es achtlos fallen lässt und mit Wucht drauftritt. Das darauffolgende Lächeln ist boshaft und grausam. „Ups...Ich meinte natürlich, dass wir jetzt keine Telefone mehr hier haben.“ Mir entgleisen alle Gesichtszüge. „Was...was ist nur in dich gefahren??!! Aoi hat doch damit rein garnichts zu tun oder?? Ich bin doch angeblich an allem Schuld! Nicht er!“ Desinteressiert blickt sich Reita im Raum um. Eigentlich war es zu erwarten, dass ich nicht so bei ihm durchdringen kann. Ich zwinge mich zur Selbstbeherrschung. „Ok...Also...Also wieso willst du mich umbringen?? Du schuldest mir Erklärungen! Oder soll ich einfach so unwissend sterben?“ Empört verzieht Reita das Gesicht. „Auf keinen Fall!“ Ich atme tief ein. Vielleicht kann ich so Zeit gewinnen... Vielleicht kann ich dieser Situation noch irgendwie entkommen... Entkommen und Hilfe holen. Aber wie nur? Es scheint hoffnungslos... Ich zeige noch immer mit dem Holzbein auf ihn. Eigentlich...müsste ich nur etwas nach vorne hechten und einmal kräftig zustoßen...und dann wäre der Albtraum vorbei. Aber...das kann ich nicht. Er hat Recht. Ich...bin kein Mörder. Meine Augen wandern zurück zu seinen. „Na gut...Ich höre.“ Es kommt mir so vor, als würde Reita erst nach Stunden antworten. Als würde er sich endlich fassen können. Plötzlich wirkt er nicht mehr so selbstsicher. Eher zerbrechlich...erschöpft...vollkommen kaputt. Gedankenverloren streicht er sich durch die Haare und blickt an mir vorbei, als sich endlich sein Mund öffnet. Doch bevor er etwas sagt, atmet er laut aus. Wieso...fällt es ihm so schwer, es mir zu sagen? Ich weiß, dass es nur etwas Schlimmes sein kann...aber so schlimm, dass es selbst Reita fast die Sprache verschlägt? Was...was könnte ich denn so derartig Schlimmes getan haben, dass er mich umbringen will?? „Ruki...“ Völlig perplex blicke ich auf Reitas Augen, die sich allmählich mit Wasser füllen. Was...hat das alles nur zu bedeuten? „Ihm...geht es seit längerem nicht so gut…Mir ist sofort aufgefallen, dass etwas nicht stimmt.“ Ich halte die Luft an. „Als ich ihn besucht habe…saß er im Dunkeln auf dem Boden…zitternd…weinend…Ein anderes Mal lag er auf dem Bett…und hat sich apathisch zusammengerollt und seltsame Dinge gemurmelt…Einmal hat er…mich sogar angeschrien, als er mich gesehen hat und sich im Schrank versteckt…Er kam dort wohl erst wieder heraus, als ich gegangen war.“ Oh Gott… Ist das die Wahrheit? Entsetzt lege ich eine Hand auf meinen Mund. „Das…das…habe ich nicht gewusst…“ Wenn das wahr ist…wieso…wieso habe ich davon dann nichts gewusst?? „Er sagte mir…dass ich euch von seinen Phasen…nichts erzählen darf. Ihr dürftet keinesfalls davon erfahren…davon…wie er allmählich seinen Verstand verliert. Er hat sich sogar eine Menge Tabletten geholt...Beruhigungsmittel glaub ich. Nur damit ihr auf der Arbeit nichts bemerkt. Niemand...etwas bemerkt.“ Beruhigungsmittel... „Ich…habe ihn gefragt, was mit ihm los ist…was ihn so sehr zusetzt…Ich habe ihm gesagt, dass er nicht alles in sich hineinfressen und es mir erzählen soll! Ich wollte ihm helfen!…Aber er hat sich geweigert. Er wollte nicht, dass ich ihn dauernd besuchen komme…er hat mich jedes Mal sofort wieder wegschicken wollen…“ Mir ist so kalt, dass ich leicht zittere. „...doch schon bald wollte ich nicht mehr gehen. Ich bin einfach geblieben. Ich...wollte und konnte ihn in seiner Pein nicht allein lassen. Und dann gab es diese Momente, wo er nicht mehr er selbst war und mir...Dinge angetan hat...Dinge, die ich zugelassen habe, nur damit er nicht noch mehr kaputt geht. Dinge...die ihn vielleicht für einen Augenblick seine Pein vergessen ließen und glücklich machten.“ Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken. Wehrlos muss ich das Holzstück sinken lassen. „Mein Gott...du hättest sofort zu einem Therapeuten mit ihm gehen müssen.“ Er wischt sich die Tränen von den Wangen. Die Traurigkeit scheint aus seinen Augen verschwunden, als er mich nun wieder direkt anblickt. Hasserfüllt. Vorwurfsvoll. Gnadenlos. Seine Stimme kalt und tief. „Wie hätte ihm das denn helfen können? Solange die Ursache nicht beseitigt ist...wird sich sein Zustand nie verbessern!“ Ich beiße mir auf die Lippe. „Was ist denn die Ursache??“ Seine Augen verengen sich. „Du.“ Ich?? „Das ist nicht wahr! Ich habe nichts getan...“ Er legt den Kopf in den Nacken und lacht laut auf. Es klingt hysterisch und vollkommen wahnsinnig. Ohne Vorwarnung schießt dann plötzlich seine Hand vor, packt mich am Kragen und zieht mich wuchtvoll zu ihm. Stolpernd falle ich fast auf ihn. Doch anstatt dies auszunutzen und mich anzugreifen, umarmt er mich überraschend sanft und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab. Fast schon liebevoll streichen seine Hände über meinen erstarrten Rücken. Verunsichert und völlig perplex lasse ich das Holzstück los. Eigentlich...ist Reita viel zu Macho für so eine Geste. „Das fühlt sich schön an, nicht wahr...?“ Verlegen spüre ich Hitze in meine Wangen emporsteigen. Doch Reita hat keine Antwort meinerseits erwartet und spricht weiter. „Am Anfang...habe ich das so bei Ruki gemacht. Ihn einfach in den Arm genommen...und nicht mehr losgelassen. Ein paar Mal hat es sogar geholfen, ihn zu beruhigen. Doch schnell...hat es nicht mehr ausgereicht. Es war ihm wohl einfach zu wenig...“ Ich schlucke, als seine Lippen beim letzten Wort mein rechtes Ohr berühren. „Weißt du...ich konnte nie wirklich genau verstehen…was er so vor sich hingemurmelt hat…als die Angst ihn erfasste und quälte…Doch…ein Wort war immer präsent. Die Ursache seiner Qualen.“ Ich kneife die Augen zusammen. Warte auf dieses Wort...das nicht kommt. „Sag es...“ Ich kann sein Grinsen spüren. „Ach...Uruha. Du weißt es doch schon längst...nicht wahr?“ Verstehend reiße ich die Augen auf und entreiße mich seiner erbarmungslosen Umarmung. Wie erwartet liegt ein breites Grinsen auf seinen Lippen. Ich verschränke die Arme vor meinen Körper, der immernoch leicht zittert. „Du...bist hierher gekommen, um die Ursache zu beseitigen. Und...“ Sein Grinsen scheint breiter zu werden. Er nickt mir aufmunternd zu. „Weiter.“ Ich blicke zu Boden und bemerke dabei, dass mein Hemd mittig einen rötlichen Fleck hat. Die Wunde, die sich Reita vorhin selbst zugefügt hat, blutet noch. „Und...naja...Du willst mich töten. Also...“ Aufgeregt wuchtelt er nun mit den Händen. Kann meine Schlussfolgerung kaum erwarten... „Jaaa?“ Ich balle meine Hände zu Fäusten. „Also...bin ich die Ursache und...das Wort, das Ruki immer erwähnt hat...ist somit...mein Name.“ Dreimal klatscht Reita langsam in die Hände. „Kouyou...Kouyou...Kouyou.“ Seine Augen funkeln dabei. „Na siehst du? So schwer war es doch garnicht.“ Jetzt bin ich derjenige, der laut auflachen muss. Zum ersten Mal schaut Reita überrascht drein. Ich muss so heftig lachen, dass ich mir sogar den Bauch halten muss. Es fühlt sich so zwanghaft an...Vielleicht...kann ich nie mehr wieder aufhören... Doch zum Glück gibt es abrupt nach und ich kann wieder sprechen. Reitas Blick ist nun neugierig. „Verzeih...aber...“ Ein kleines Glucksen entkommt mir noch. „...aber...du denkst doch nicht wirklich...also erwartest doch nicht wirklich von mir, dass ich diesen Bullshit glaube oder??“ Seine Kinnlade fliegt herunter. „Ich meine...das ergibt doch alles keinen Sinn! Du kommst hierher und versuchst mir die ganze Zeit weiß zu machen, dass ich irgendwas mit Rukis Zustand zu tun hätte! Du tust gerade so, als ob ich dich so zugerichtet hätte! Als ob ich an dem Ganzen Schuld wäre! Aber...wieso? Wieso sollte ich denn die Ursache von seinem Leid sein?? Das ist völlig absurd!“ Ich stemme mir die Fäuste an die Hüften. „Ich habe nichts getan, was Ruki derartig zusetzen würde!“ Reita hat seinen kurzzeitigen Schock überstanden und nickt kurz. „Ehrlich gesagt...habe ich es am Anfang auch nicht verstanden. Doch dann...war es glasklar. Seine Phasen haben nämlich erst angefangen, als du dich mit Tatsurou getroffen hast.“ Tatsurou? Ich schüttele aufbrausend den Kopf. „Was…soll denn Tatsurou damit zu tun haben?!“ Er sucht meinen Blick und findet ihn. „Verstehst du es denn immer noch nicht...?“ Angewidert, so als wäre ich der letzte Dreck, sieht er mich an. So...als würde er seinen ganzen Hass...in diesen einen Blick fokussieren. „Ruki...dieser arme Dummkopf...Er liebt dich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)