Freunde von Niekas ================================================================================ Kapitel 1: Il mio amico ----------------------- (Das Problem ist, dass ich eigentlich zu "zart besaitet" war, um dieses Kapitel zu schreiben... na dann Hals- und Beinbruch.) Il mio amico - Mein Freund Es war seine Schuld gewesen, nicht Felicianos. Ludwig hatte nicht aufgepasst, nur für einen kurzen Moment hatte er sich entspannt, den Blick in das kleine Lagerfeuer gerichtet, war dem Spiel der Flammen mit müden Augen gefolgt. Dann hatte er etwas Hartes an seinem Hinterkopf gespürt, und das war es gewesen. Das nächste, woran er sich erinnern konnte, war, dass er hier aufgewacht war und sein Schädel pochte. Was passiert war, war glasklar, stellte er fest. Wenn man gezwungen war, in feindlichem Gebiet zu übernachten, durfte man keinen Augenblick lang seine Rückendeckung vernachlässigen. Schon gar nicht, wenn man seinen Partner zum Schlafen ins Zelt geschickt und selbst die Nachtwache übernommen hatte. Jetzt lautete die Devise also, einen Fluchtplan zu entwickeln. Das klang leichter, als es war, und sein schmerzender Kopf machte es ihm nicht gerade einfacher. Bevor er noch einen klaren Gedanken fassen konnte, öffnete sich die Tür. Ludwig hatte sich schon oft genug in einer Situation wie dieser befunden, um die üblichen Sprüche zu kennen, die üblichen Finten und Einschüchterungsversuche. Er hatte sicher nicht vor, dem Feind (egal, wie der aussah) nur ein Wort zu sagen. Er hatte einen Auftrag auszuführen, und egal, ob dieser nach seiner Gefangennahme fehlgeschlagen war oder nicht – preisgeben würde er ihn deswegen noch lange nicht. Er war härter im Nehmen, als er aussah, und Ludwig sah nicht gerade sensibel aus. Das sagte eigentlich schon alles. Ein Mann kam herein, baute sich über ihm auf und warf ihm ein paar knappe Sätze zu, auf die Ludwig nicht reagierte. Hinter ihm betraten zwei andere Männer den Raum. Zwischen ihnen hing Feliciano. Ihre Blicke trafen sich in der Luft, und Ludwig wandte seinen sofort wieder ab. Er konnte sich jetzt keinen Fehler erlauben. Kein noch so kleines Zeichen von Angst oder Wut. Er hatte die Situation in Griff. „Sobald wir aufgetaucht sind, hat er sich ergeben und um Gnade gefleht“, erklärte der Mann und rümpfte die Nase. „Er sagte, er würde uns alles sagen, was er wüsste, aber es ist nichts Anständiges heraus gekommen.“ Natürlich nicht, dachte Ludwig und betrachtete die Wand. Er hatte an alles gedacht. Er wusste genau, wie leicht Feliciano einzuschüchtern war – die einzige Möglichkeit, ihn daran zu hindern, Details über ihr Vorhaben auszuplaudern, war die, ihm einfach gar nichts zu sagen. Genau das hatte Ludwig getan: Was Feliciano nicht wusste, würde er niemandem sagen. Diesmal hatte er wirklich an alles gedacht. Außer an seine Nachtwache, natürlich. Es folgten die üblichen Drohungen, die man unter Gefangenem und Gefangennehmer austauschte. Ludwig kannte das Spiel und hielt sich zurück, während Feliciano zu jeder Gelegenheit dazwischen fuhr, er sei nur ein dummer, kleiner Pasta-Liebhaber und würde alles tun, was man ihm sagte, wenn man ihn nur nicht schlug... seine übliche Rede also. Auf die Dauer achtete niemand mehr so recht darauf. Sie hatten Feliciano nichts getan, da er sich so offensichtlich kooperativ zeigte – das war gut so, stellte Ludwig fest. Sie würden abwarten, bis Rettung kam. Lange würde es nicht dauern, sicher nicht, und bis dahin würde er durchhalten. Er war hart im Nehmen. Er hatte die Situation im Griff. Dann lief die Sache aus dem Ruder. Etwas traf hart seinen Rücken, seine Schultern. Er hatte sich zusammengerollt, um seinen Bauch zu schützen, biss die Zähne zusammen und hörte nur mit halbem Ohr, wie Feliciano nach ihm rief, panisch und schrill. Und dann kamen sie – wer sie nun immer waren – auf die Idee. Er spürte, wie sie ihn an den Armen fassten und auf die Knie hochzogen, aber alles lief wie in einer Art Traum ab. Warum hätte er ihnen auch Aufmerksamkeit schenken sollen. Es gab nichts zu tun für ihn, nur durchzuhalten, bis sie gerettet wurden. Er konnte genauso gut abschalten, so weit er es eben fertig brachte. Vor sich sah er den Boden des Raumes, in dem sie sich befanden, ein schlichter Boden aus Beton. Etwas Dunkles klebte daran. Vielleicht war es sein Blut, vielleicht auch nicht. Was tat das zur Sache, solange er sich noch bewegen konnte? Es ging ihm gut. Im nächsten Moment landete etwas rundes, rötlich-braunes vor ihm, etwa so groß wie ein Fußball. Er brauchte eine gute Weile, um zu bemerken, dass es Felicianos Kopf war. Nicht, dass er gerollt wäre wie ein Ball, immerhin saß er noch fest auf den Schultern seines Besitzers. Aber es sah fast aus, dachte Ludwig in einem kindischen Teil seines Hirns, als würden sie ihn als Fußball benutzen wollen. Reflexartig wollte er die Augen schließen, doch das wäre ein Eingeständnis von Schwäche gewesen. Er hatte die Situation im Griff. Also zwang er sich, die Augen geöffnet zu lassen. Ludwig sah Tränen, die sich mit Blut vermischten, in frischen Wunden brannten und auf den Boden flossen. Er hörte die dünne Stimme, hilflos und schrill vor Angst und Schmerz, er hörte dumpfe Stiefel auf dem harten Boden und das trügerisch leise Rascheln, wenn sie auf Stoff trafen, unter dem verletzliches Fleisch lag. Sah, ohne zu erkennen, und hörte, ohne zu verstehen. Es war eine neue Erfahrung, genau das zu versuchen. Es aufzunehmen, ohne es an sich herankommen zu lassen. Manchmal wunderte er sich für eine Sekunde, warum ihm nichts weh tat, bevor er sich erinnerte, dass dies da nicht er selbst war. Überraschend, wie weit seine Empathie ging. Dennoch kam er zurecht. Er hatte die Situation im Griff. Es gab Geschrei, Gepolter und laute Schüsse und eine Blutlache drang unter dem Türspalt hindurch, bevor besagte Tür aufgebrochen wurde und die Rettung kam, mit der Ludwig gerechnet hatte. Er hatte alles einkalkuliert. Feliciano brach in Tränen aus, als sie ihn hoch hoben und auf eine schmale Trage verfrachteten, die sie mitgebracht hatten. Man hätte meinen sollen, dass ein paar Tränen mehr nicht weiter ins Gewicht fielen nach denen, die er in den letzten Stunden vergossen hatte. Doch diese Tränen waren anders, dachte Ludwig. Es waren nicht die üblichen Freudentränen, die Feliciano nach jeder Rettung vergoss. Diese Tränen waren von anderer Art. Er bestand darauf, selbst zu laufen, sich ständig an der Wand des Ganges abstützend. Als er endlich ans Tageslicht trat, war Feliciano schon längst nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich kümmerten sie sich gut um ihn, dachte er, wahrscheinlich versorgten sie gerade seine Verletzungen. Tief durch atmend richtete er sich auf und spürte die Sonne auf seinem Gesicht. Er hatte die Situation im Griff. Kapitel 2: Due fratelli e una madre ----------------------------------- Due fratelli e una madre - Zwei Brüder und eine Mutter Als Ludwig das nächste Mal aufwachte, tat er es in einem Bett mit steifen Laken und mit einem Geruch von Desinfikationsmitteln in der Nase. Um ihn herum war es still, wenn man von dem Summen von einigen elektronischen Geräten absah. Rein aus Routine überprüfte er seinen Gesundheitsstatus. Seine Hände und sein Torso waren bandagiert und fühlten sich taub an, doch abgesehen davon war er völlig unversehrt. Normalerweise kam er nicht so glimpflich davon. Da fiel ihm ein, dass diesmal Feliciano alles abbekommen hatte. Eine eiskalte Welle von Panik schlug über ihm zusammen, sodass er sich hastig aufsetzte und mit wild klopfendem Herzen verharrte, unfähig, sich zu bewegen. Erst nach einer Weile schaffte er es, den Kloß in seinem Hals hinunter zu schlucken. „Feliciano! Wo bist du?“ Seine Stimme klang um einiges höher als sonst und die Stille des Krankenhauses, die folgte, schien ihn vorwurfsvoll erdrücken zu wollen. Die Tür ging auf und Roderich eilte herein, der Mantel wehte hinter ihm her. „Himmel Herrgott, Ludwig... kannst du nicht leiser wieder zu Bewusstsein kommen?“ „Wo ist Feliciano?“, verlangte Ludwig zu wissen. Noch immer schlug das Herz ihm bis zum Hals. „Nebenan. Es geht ihm schon besser als gestern, immerhin...“, erklärte Roderich, der ihn ungehalten in die Kissen drückte und seine Decke aufschüttelte, als sei er seine Mutter. „Krieg dich erst einmal ein.“ Mit geschlossenen Augen ließ Ludwig sich zurück sinken und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Wie geht es Feliciano?“ „Den Umständen entsprechend gut.“ „Hat er schon nach Pasta verlangt?“ „Wie bitte? Nein.“ „Dann kann es ihm unmöglich gut gehen.“ „Du bist überanstrengt, Ludwig“, erwiderte Roderich mit einem Hauch von Mitgefühl in seiner Stimme, das er hastig mit einem Räuspern unterdrückte. „Du hast eine schlimme Zeit hinter dir, aber das ist vorbei. Nimm dir ein paar Tage, um darüber weg zu kommen, und dann bist du wieder ganz der Alte.“ Letzteres hatte zwar wie ein Befehl geklungen, doch in Roderichs Benehmen lag noch immer etwas Mitfühlendes. Verdiente er das?, überlegte Ludwig. Er hatte nicht halb so eine „schlimme Zeit“ hinter sich wie Feliciano. War es nicht eher er, der Mitgefühl verdient hatte? Ludwig beantwortete sich diese Frage glasklar mit einem ja. Es war seine Schuld gewesen, nicht Felicianos. Dieses Zimmer sah genauso aus wie sein eigenes, nur waren die Umschläge mit den Genesungskarten auf dem Nachttisch noch nicht geöffnet. Vielleicht hatte Feliciano sie noch nicht gesehen. Vielleicht hatte er nicht die Kraft aufbringen können, sie zu öffnen. Wie sehr Ludwig sich doch wünschte, er wäre wach. Dann könnte er sie ihm vorlesen. Er sah so klein aus in dem großen, weißen Bett. Ein Arm ragte eingegipst unter der Decke heraus. In seinem rundlichen Gesicht waren mehrere Pflaster und Nähte, doch wenigstens weinte er nicht mehr. Nach dem, was passiert war, hatte Ludwig schon fast geglaubt, seine Augen würden nie wieder trocknen. Damals (was hieß damals, es war doch kaum zwei Tage her) hatte er nichts unternommen, nur versucht, nicht an sich herankommen zu lassen, was er sah – offenbar hatte es nicht geklappt, sonst würde er sich jetzt nicht so aufgewühlt und aus irgendeinem Grund schuldig fühlen. Aber was hätte er auch sonst tun sollen? Und plötzlich durchzuckte Ludwig die Erkenntnis, sodass er scharf die Luft einsog und sich gerade aufsetzte. Natürlich hätte er etwas tun können, natürlich hätte er Feliciano vor alledem beschützen können. Er hätte ja einfach klein bei geben können. Diese Möglichkeit schien so armselig, so abwegig, dass sie Ludwig vorher nicht einmal in den Sinn gekommen war. Erst jetzt, als er hier in der friedlichen Stille saß und sah, wohin ihn sein Stolz und sein vermeintlicher Mut geführt hatten, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Von Kindesbeinen an war in ihm der Glaube verankert, dass er das zu tun hatte, was irgendwo geschrieben stand oder was ihm gesagt wurde, und zwar ohne Ausnahme und unter allen Umständen. Aber wenn die Umstände nun einmal so extrem waren – könnte es dann nicht sein, dass andere Regeln galten? Dass er andere Prioritäten zu setzen hatte? Es wäre so einfach gewesen. Feliciano murmelte etwas im Schlaf, vielleicht ein „Ve“. Ludwig wusste es nicht und wollte nicht bleiben, um zu warten, bis er aufwachte. Er konnte es nicht. Stattdessen stand er hastig auf und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wovor lief er eigentlich weg, fragte er sich, doch er wusste es nicht und wollte es nicht wissen. Er wollte die Situation im Griff behalten. Das war alles. Vier Tage waren vergangen, seitdem Ludwig aus Felicianos Zimmer geflohen war, und jetzt floh er weiter. Nach Hause. „Eeey, Kartoffel!“ Und er hatte gedacht, er könnte sich unauffällig davon schleichen. Damit war es wohl vorbei, dachte Ludwig und drehte sich langsam zu Romano um, der auf der anderen Straßenseite stand und zu ihm hinüber starrte. „Guten Morgen“, sagte Ludwig und ging einfach weiter. Hatte er denn wirklich geglaubt, damit durch zu kommen? „Was hast du gemacht?“, zeterte Romano, legte einen kurzen Sprint ein und holte zu ihm auf. Er trug einen kleinen Blumenstrauß in der Hand. Doch wohl nicht für seinen Bruder? „Was soll ich schon getan haben?“ „Es ist deine Schuld! Alles deine Schuld! Du hättest doch auf ihn aufpassen sollen, du Arschloch!“ Ludwig schwieg. „Ich weiß es zwar nicht genau, aber ich kann mir denken, was los war! Wieso geht es dir so verdammt gut, und ihn haben sie so zugerichtet? Da ist doch was im Busch! Was ist passiert? WAS?“ Schweigen. „Antworte mir gefälligst, Bastard!“, heulte Romano auf, doch Ludwig reagierte noch immer nicht darauf. Tränen hatten sich in Romanos Augen geschlichen, ob nun aus Wut oder (was zugegebenermaßen sehr unwahrscheinlich war) aus Sorge um Feliciano. Die beiden Brüder waren sich nicht sehr ähnlich, aber sie hatten die selben Augen. „Was starrst du mich so an? Sag's mir! Was hast du mit meinem Bruder gemacht?“ Doch Ludwig war völlig unfähig, sich zu rühren. Mit einem Schrei ging Romano auf ihn los, schlug mit den Fäusten auf alles ein, was er von Ludwig erreichen konnte. Dieser griff mechanisch nach seinen Handgelenken und hielt sie von sich weg. „Bastard! Du wirst das noch bereuen, das schwöre ich dir!“ Wortlos, stumm und taub ließ Ludwig ihn los. Er beugte sich hinunter, hob den kleinen Blumenstrauß auf, den Romano hatte fallen lassen, wischte ihn ordentlich ab und drückte ihn seinem verblüfften Gegenüber in die Hand. Danach drehte er sich um und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen. „Gar keine schlechte Idee, West“, sagte Gilbert und schlug die Beine über einander. „Was meinst du?“ „Den Kleinen voraus zu schicken. Warum sollst auch immer du den Dreck schlucken, hmm?“ „Ich weiß nicht, wovon du redest“, erwiderte Ludwig schroff. „Wenn du Feliciano meinst...“ „Allerdings, den meine ich. Ich hab gehört, was da passiert ist, West, also mach mir nichts vor.“ „Gilbert“, sagte Ludwig warnend. „Ich möchte nicht darüber reden.“ „Nein, natürlich nicht!“, höhnte Gilbert. „Du willst nicht darüber reden, was für ein Feigling du warst.“ „Feigling? Ich...“ „Nicht schlecht gedacht von dir. Solange sie ihn verprügeln, gehst du leer aus, oder?“ „Ich...“ „Nicht übel, so als Plan. Muss ich mir merken.“ „Du verstehst das falsch“, sagte Ludwig tonlos. „Ich... so war das nicht geplant. Ich wollte doch nicht, dass sie sich an ihm vergreifen.“ „Aber als sie es getan haben, hast du es als willkommenen Wink des Schicksals genommen, nicht wahr?“ „Was meinst du?“ „Ach, nun stell dich nicht noch blauäugiger, als du sowieso schon bist, West!“ Gilbert kicherte in sich hinein. „Keine Sorge, ich sag's keinem weiter. Hältst du dir den Kleinen eigentlich nur als Schoßhund, damit du ihn bei so etwas als Kanonenfutter benutzen kannst?“ „Halt den Mund!“, schrie Ludwig und spürte, wie sich um ihn herum alles zu drehen begann. „Feliciano ist kein Kanonenfutter! Wenn es irgendeine Möglichkeit gegeben hätte, ihn zu beschützen, hätte ich es getan!“ „Oh, nun enttäuschst du mich aber, West“, erwiderte Gilbert gespielt beleidigt und beugte sich vor, um ihm in die Augen zu sehen. „Es gab eine Möglichkeit, ihn zu retten, oder? Eine sehr einfache sogar. Warum hast du sie nicht genutzt?“ Ludwig hörte sein eigenes Herz schlagen. „Es hätte dir nicht weh getan, oder, West? Der Auftrag war sowieso im Eimer, sobald sie euch erwischt hatten, also warum hast du ihnen nicht gesagt, wozu ihr da wart? Hattest du es etwa selbst vergessen?“ „Nein“, erwiderte Ludwig tonlos. „Ich wusste es.“ „Na also. Warum dann, West? Warum hast du den kleinen Feliciano so im Stich gelassen?“ Er antwortete nicht. Es gab keine Antwort. „Worum ging es bei diesem Auftrag überhaupt?“, fuhr Gilbert fort und zeichnete mit wackelnden Fingern Anführungszeichen in die Luft. „Was war so wichtig daran, dass du ihn nicht aufgeben konntest?“ „Es war ein Auftrag.“ „Worum ging es dabei? Du weißt es nicht einmal mehr.“ Das stimmte. Er wusste es nicht mehr. „Aber wie auch immer, jeder Auftrag wäre dir wichtiger als ein dummer Freund, nicht wahr? Befehl ist Befehl und der ganze Scheiß? Du bist erbärmlich, West. Du weißt, dass Feliciano sich auf dich verlässt? Dass du sein Ein und Alles bist? Wann immer er in Schwierigkeiten ist, ruft er nach dir. Hat er es dieses Mal nicht auch getan?“ „Gilbert... bitte...“ „...hat er?“ „Natürlich hat er das!“, brüllte Ludwig. „Nach wem hätte er sonst rufen sollen?“ „West...“ „Er hat nach mir geschrien, geschrien und geheult, die ganze Zeit, aber ich dachte... ich d-dachte...“ „West!“, nörgelte Gilbert und schüttelte ihn an den Schultern. „Du hast einen Scheiß-Alptraum.“ Atemlos riss Ludwig die Augen auf und erkannte in der Dunkelheit seines Schlafzimmers den hellen Haarschopf seines Bruders. Seine Decke war verschwitzt, seine Hände zu Fäusten geballt. „Oh... ich glaube, ich hatte einen... seltsamen Traum.“ „Na, das war schwer zu überhören. Kein Grund, das verdammte Haus zusammen zu schreien“, erwiderte Gilbert mürrisch und ließ seine Schultern los. „Du verscheuchst die ganzen kleinen Vögelchen.“ Ludwig antwortete nicht. Er hatte anderes im Kopf als kleine Vögelchen. „Schlaf jetzt“, ordnete Gilbert an und wandte sich zur Tür. „Gilbert?“ „Nein, du darfst nicht in mein Bett. Glaubst du nicht, du bist langsam zu alt, um...“ „Wenn ich dir sagen würde, dass ich einen...“ Ludwig biss sich auf die Lippe. „...einen Freund... einen sehr guten Freund vielleicht verraten habe und jetzt nicht mehr weiß, was ich tun soll... was würdest du mir raten?“ Misstrauisch legte Gilbert den Kopf schief. „Ich würde dir raten, dass du und ich uns mit ein paar Bierchen einen schönen Abend machen und du mir erzählst, was du verbockt hast, anstatt unklare Andeutungen zu machen.“ Schweigen. „Keine gute Antwort?“ „Den Teil mit dem Bier merke ich mir.“ „Nee, jetzt im Ernst, West.“ Gilbert klang tatsächlich ernst, was sehr untypisch für ihn war. „Wenn du Probleme hast, komm ruhig zu mir. Du weißt ja, ich bin awesome.“ „Natürlich“, erwiderte Ludwig mit einem gezwungenen Lächeln. „Schlaf gut, Gilbert.“ „In letzter Zeit schickst du mich immer ins Bett, wenn ich dir von meiner awesomeness erzählen will, Mensch, Mensch, Mensch...“ Gedämpft vor sich hin lamentierend schloss Gilbert die Tür hinter sich. Ludwig blinzelte, als es dunkel wurde, und legte sich dann seufzend wieder hin. Am Morgen, als Gilbert die ersten kleinen Vögelchen begrüßte, war Ludwig gerade erst eingeschlafen. Bis in die Dämmerung hinein hatte er über eine Antwort für den Traum-Gilbert nachgedacht. Den Alptraum-Gilbert, um genau zu sein. Warum hast du den kleinen Feliciano so im Stich gelassen? Während Roderich, der sich selbst zu einer Übernachtung eingeladen hatte, unter einigen Explosionen ein Abendessen zubereitete („Irgendwann müsst ihr zwei doch mal was anderes essen als Wurst!“), saß Ludwig stumm am Küchentisch und betrachtete den toten Fisch auf der Wachstischdecke. Der Fisch starrte mit einem runden, leeren Auge zurück. Fischaugen waren immer leer, dachte Ludwig, aber tote Fischaugen ganz besonders. „Du könntest dieses Ding wegräumen, bevor es anfängt zu stinken, und stattdessen den Tisch decken“, schlug Roderich vor und rümpfte die Nase. Ludwig reagierte nicht. Tote Fischaugen. Er musste an Felicianos Augen denken, groß, nass und um Hilfe rufend. Und es waren nicht nur seine Augen gewesen, die um Hilfe geschrien hatten. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie seltsam es aussah, eine große Flosse aus deinem Briefkastenschlitz ragen zu sehen“, fuhr Roderich beschäftigt fort. „Wer hat das arme Tier nur da hinein gesteckt?“ Ludwig zuckte die Achseln. Armes, hilfloses Ding. „Hast du irgendwelche Kontakte zur Mafia?“ „Wieso?“ Roderich sah sich zu ihm um und hob eine Augenbraue hoch. „Wenn du einen toten Fisch von der Mafia bekommst, bedeutet das, dass sie dich in nächster Zeit umlegen.“ War Romano unter die Mafiosi gegangen? „Also keine Mafia. Dann war es wohl einfach ein dummer Kinderstreich...“ Ludwig reagierte nicht darauf. „Herrgott, du bist ja gesprächig heute!“ Mit einem tiefen Seufzen knallte Roderich ihm einen vollen Teller und Besteck vor die Nase. „Da. Iss, bevor es kalt wird... oder Gilbert kommt und dir alles weg frisst.“ Energisch nahm er den Fisch weg und ließ ihn mit spitzen Fingern in den Mülleimer fallen. Ludwig hinderte ihn nicht daran, nahm die Gabel und stocherte relativ lustlos in seinem Reibekuchen herum. „Du sollst es essen, nicht zerpflücken“, tadelte ihn Roderich, der an einer weiteren Portion herum werkelte. „Roderich?“ „Ja?“ Ludwig zögerte und betrachtete seine Gabel. „Findest du es seltsam, wenn du jemanden sehr verletzt hast und jemand anderes dich dafür umbringen will... und du findest, da hat er Recht?“ Langsam hielt Roderich inne, ohne sich umzudrehen. „Wer will dich umbringen?“ „Das tut doch nichts zur Sache“, erwiderte Ludwig ausweichend. „Findest du es verrückt, Roderich?“ Erneut gab sein Gast dieses ergebene Seufzen von sich. „Das kommt ganz darauf an, was du angestellt hast und ob der Dritte irgendein Recht hat, den Racheengel für den Geschädigten zu spielen.“ Ludwig schob sich eine Gabel voll Reibekuchen in den Mund und dachte nach. „Sag mal, Roderich... angenommen, da ist jemand, der sich auf dich verlässt und dem du sehr wichtig bist, und... sagen wir mal, er ist dein einziger Freund und du hast ihn furchtbar gern, obwohl du es ihm niemals sagen würdest, weil... naja, warum auch immer. Aber dann passiert etwas, was du nicht geplant hattest, und du...“ Es zischte und ein leichter Geruch nach verbranntem Essen verbreitete sich. Roderich fluchte unterdrückt. „...und du... verrätst ihn“, murmelte Ludwig kaum hörbar. „Du lässt ihn im Stich, auf die übelste Art und Weise. Aber irgendwie kommt ihr beide lebendig aus dem Schlamassel heraus, und du... weißt nicht, was du dann tun sollst. Was... was würdest du tun, Roderich?“ Roderich schwieg für einen Moment. Dann rückte er die Pfannen vom Herd, stützte beide Hände auf die Tischplatte und sah Ludwig in die Augen. „Ludwig. Glaubst du, ich merke nicht, was mit dir los ist? Du verkriechst dich in deinen Schuldgefühlen, du kommst auf keinen grünen Zweig. Es gibt nur eine Möglichkeit, dein Problem zu lösen, auch wenn sie dir unangenehm ist: Geh zu Feliciano, jetzt sofort. Geh zu ihm und sprich mit ihm. Dann wird sich alles klären.“ Ludwig wich seinem Blick aus. „Das ist die Wahrheit, glaub mir ruhig. Meistens ist es am Besten, darüber zu reden.“ „Ich hatte dich nicht gefragt, was du mir raten würdest“, erwiderte Ludwig sehr leise. „Ich hatte gefragt, was du tun würdest.“ Roderich sah ihn einen Moment lang an, als wolle er fragen, was das für einen Unterschied mache, doch dann weiteten sich seine Augen kurz. In seinem Gesicht erschienen zuerst ein verwirrter, dann ein grimmiger Ausdruck, die beide nicht zu ihm passten. „Möchtest du noch einen Reibekuchen?“, fragte er und wandte sich wieder dem Herd zu. Natürlich ging Ludwig nicht zu Feliciano und sprach mit ihm, natürlich nicht. Wann hätte er sich je getraut, mit irgendwem über seine Gefühle zu reden? Niemals. Schon gar nicht mit Feliciano. Schon gar nicht über Gefühle wie diese. Kapitel 3: Feliciano – sì, sono io. ----------------------------------- (Vielen Dank an alle Kommentatoren und alle, die sonst noch bis hierher gelesen habe. Ich hoffe sehr, dieses letzte Kapitel enttäuscht niemanden, weil es wirklich sehr kurz ist... aber das muss so, glaubt mir. Vorhang auf.) Feliciano - sì, sono io. Feliciano - das bin ich. Und dann war Feliciano wieder da. An einem sonnigen Nachmittag klingelte er an der Tür, in kurzen Hosen und Fußballschuhen, den einen Arm in einer weißen Schlinge, unter dem anderen einen Lederball. „Doitsu, Doitsu! Es ist so ein schönes Wetter heute! Spielen wir Fußball?“ Ludwig war völlig überrumpelt, sodass er nur einen halbherzigen Einwand erhob. „Aber... dein Arm...“ „Ach, der! Der ist so gut wie in Ordnung! Spielen wir zusammen, Doitsu?“ Er könnte ihn jetzt darauf ansprechen, dachte Ludwig, ihn um Verzeihung bitten. Jetzt war wahrscheinlich der richtige Moment. Genau jetzt. Doch der Moment ging vorüber. „Ich gehe mich kurz umziehen“, sagte er knapp. „Warte hier.“ Als er ins Haus ging und Feliciano draußen stehen ließ, hatte er das dringende Bedürfnis, den Kopf gegen die Wand zu schlagen. Feliciano war wie immer. Er jagte dem Ball hinterher über die Wiese, die Schlinge hatte er schon längst irgendwo verloren. Er rannte und stolperte, ließ sich fallen und stand wieder auf. Er bedachte jeden verschossenen Ball mit einem bunten Wortschwall und jubelte über jedes Tor gleichermaßen, egal, ob es für oder gegen ihn fiel. Alles in allem war er wie immer. Obwohl Ludwig sich nicht getraut hatte, sich bei ihm zu entschuldigen, hatte er ihn jetzt wieder. Feliciano. Seinen guten, alten, tollpatschigen, anhänglichen Feliciano, der kein Wort über die ganze Sache verlor, die geschehen war. Kein Wort über die Wochen, in denen Ludwig zu feige gewesen war, um zu ihm zu kommen. Er hätte schreien und heulen können, er hätte Ludwig beschimpfen und auf ihn losgehen können, doch er tat es nicht. Vergoss nicht einmal eine Träne. Feliciano war einfach er selbst, so gutmütig und ausgelassen wie eh und je. Er tat so, als wäre überhaupt nichts geschehen. Es gab nichts, was Ludwig mehr hätte schmerzen können. Er hasste Ungerechtigkeit. Auch und besonders, wenn sie zu seinem Vorteil war. Am Abend lag Ludwig im Bett, als Feliciano mit seinem Kissen schon halb schlafend zu ihm hinüber getorkelt kam und ohne zu fragen unter seine Decke kroch. Eine Weile lang lagen sie einfach nur da. Ludwig spürte die ungewohnte Wärme des zweiten Körpers neben sich und hörte das leise „Ve“, das Feliciano in regelmäßigen Abständen von sich gab, bevor er einschlief. Wie oft hatte er ihm schon gelauscht, bis er selbst eingeschlafen war. Es war so schön gewesen... so beruhigend... Aber das war davor gewesen, dachte Ludwig, davor. Danach konnte es nie mehr so sein wie davor. Einfach, weil er es nicht verdiente. „Wieso tust du das?“ Die Worte brachen aus ihm heraus, bevor er sie zurück halten konnte. Feliciano gab einen verwirrten Laut von sich, doch Ludwig hörte es nicht einmal. Sein Herz schlug zu laut. „Wie kannst du einfach so tun, als wäre nichts gewesen? Bist du überhaupt nicht enttäuscht von mir? Ich habe dir versprochen, ich würde dich immer retten, wenn du in Schwierigkeiten bist, und deswegen hast du dich auf mich verlassen – ich weiß, dass du das getan hast, du hast es oft genug betont! Aber nach dem, was passiert ist, wie willst du mir da noch glauben? Wie willst du jemandem wie mir vertrauen? Sag es mir, Feliciano! Wie... wie kannst du nur so... so...“ Feliciano griff nach seinem Arm und drückte ihn an sich. „Wie kannst du mir das einfach so verzeihen?“, flüsterte Ludwig tonlos. Er spürte, wie Feliciano sich an seine Schulter kuschelte, und hörte das Lächeln aus seiner Stimme. „Wir sind doch Freunde, Doitsu.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)