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Macht Spiele

von

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Belga starrte seinen leitenden Informatiker fassungslos an.

„Was soll das heißen, Ausfall sämtlicher Systeme?“

Der Angesprochene, ein Mann in den Vierzigern mit beginnender Glatze, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, als er antwortete: „Genau, was ich gesagt habe, Herr Direktor. Der Virus hat sich unbemerkt auf alle Rechner ausgebreitet, bevor er aktiv wurde. Wahrscheinlich sind schon alle Systeme infiziert.“

Wie um seine Worte zu unterstreichen, ging in diesem Moment das Licht aus. Einen Augenblick dauerte es, bevor flackernd die Notbeleuchtung ansprang und Belgas Büro in ein gedämpftes, gelbliches Licht tauchte.

„Meine Leute arbeiten schon daran, den Virus unschädlich zu machen“, beeilte sich der Mann zu versichern.

„Das will ich meinen. Sie sollten sich beeilen, bevor wir hier ganz im Dunkeln sitzen.“ Belgas Gedanken rasten, während er beinahe tonlos weiter sprach: „Die Sicherung der Daten hat absolute Priorität. Außerdem wünsche ich, dass sie herausfinden, wo dieser Virus hergekommen ist und wie er in unsere Computer gelangen konnte.“

Der Informatiker nickte und war erleichtert, als Monsieur Belga sich nun dem führenden Wissenschaftler und dem Sicherheitschef zuwandte.

Nur kurz gestattete es sich Marcel zwischendurch an Farfarello zu denken. Diese Angelegenheit würde doch etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen, als er gedacht hatte. Nun, das war Pech. Umso länger musste der junge Ire in seiner unbequemen Lage ausharren. Marcel versuchte, einen Gedanken seines Gefangenen zu erhaschen. Nichts. Entweder funktionierte die telepathische Abschirmung seiner Privaträume noch, trotz des Ausfalls im Labor, oder der Ire war bewusstlos geworden. Tja, dann verpasste Marcel wenigstens nichts.
 

Farfarello konnte nicht lange auf den Steinen gelegen haben, so etwas gönnte ihm sein Körper nicht lange. Als er sich aufstützen wollte, knickten beide Handgelenke hörbar ein. Sie waren blutig, zerfetzt, zerrissen, gebrochen von der Gewalt des Herausbrechens aus den Ketten. Die Ketten an den Beinen waren dicht über dem Stiefelschaft gerissen, die Fußschellen umschlangen seine Schienbeine noch. An beiden Seiten. Ebenfalls blutig, abgeschürft, aber nicht gebrochen. Die Sehne seines rechten Handgelenkes hatte sich gerade wieder erholt, und nun war sie erneut zerrissen. Sein Hals schmerzte, schlucken konnte er kaum, sein Kehlkopf war garantiert eingedrückt worden, jetzt hätte er wieder so eine Reibeisenstimme. Von seinen Rippen ganz zu schweigen, zum Glück hatte sich keiner der Knochen in die Lunge gebohrt. Er holte beide Hände, zu Klauen gekrümmt, an seine Brust, zog die Beine an und lag einfach nur da und wartete. Wartete darauf, dass sein Körper sein Werk begann. Glühendheiß durchzog es ihn, neue Zellen wurden erschaffen, bauten zerfleischte Muskeln auf, zogen an den Sehnen, flossen durch die zerstörten Knochen, verbanden, reparierten die gerissenen Blutgefäße. Er sog dieses Glühen in sich ein, wichtig waren seine Arme und Beine, seine zerschundene Haut würde warten müssen. Und seine Gedanken waren leer, wie jedes Mal, wenn er auf sich selbst lauschte. Das Licht im Keller flackerte und ging aus. Farfarello schloss kurz die Augen, ihm war das sehr willkommen. Doch dann flammten einige Lichter wieder auf. Sein Körper hatte sein Werk fast vollendet, doch er würde vorsichtig sein müssen, wenn er die Hände benutzte. Ansonsten könnte er sie gleich abreißen und Belga an den Kopf werfen. Der Boden war unendlich kühl und sanft, er würde noch ein kleines bisschen liegen bleiben. Nur noch ein kleines bisschen. Er war so erschöpft und er hatte keine Ahnung, warum.
 

Seine Wange kühl auf dem Stein, fast zu kalt jetzt, sein gesamter Körper war mit Gänsehaut überzogen und irgendetwas IN ihm fühlte sich an, als ob Belga noch dort wäre. Der Plug... Seine Hand griff zwischen seine Beine, und der stumpfe Metalldorn fiel mit einem endgültigen Geräusch auf die Steinfliesen. Kurz spannte er unbewusst seine inneren Muskeln an, seufzte so stark, dass die Pfütze unter ihm sich leicht kräuselte und richtete sich auf. Farfarello legte die Hand an die Tür, die aus dem Kellerraum führte. Doch... so sehr er sein irisches Erbe liebte, wie seine Vorfahren nackt und mit gröhlendem Kampfschrei wollte er doch nicht auf die Menschheit lospreschen.

Die andere Tür führte ihn in ein Schlafzimmer, zum Glück trug er noch seine eigenen Stiefel, Belga war so schon groß genug. Er würde in seinen Sachen wie ein verprügeltes Kind aussehen, da musste er nicht auch noch ausrutschen müssen, weil er aus den Schuhen schlappte.

Belgas Duft lag auf seinen Anzügen, Farfarello hielt sich einen unendlichen Moment damit auf, bei geöffneter Schranktür diesen Geruch einzusaugen. Er würde daran arbeiten, dass der Urheber dieses Duftes denselben nicht mehr allzu lange verbreiten würde.

Schließlich hatte er sich eine dunkle Bundfaltenhose so umgekrempelt, dass sie passen würde und kurzerhand von einem seidenen Hemd die Ärmel abgerissen. Das Geräusch freute ihn fast so sehr, wie die Vorstellung Belgas Gesichtes, wenn er ihn in seinem Hemd sehen würde. Er fuhr sich beim Verlassen des Schlafzimmers durch die Haare, grinste, nahm sich im Vorbeigehen von dem kleinen Tischchen an der Tür das wunderbar gefertigte japanische Messer und legte die Hand auf die Klinke der Kellertür.

Verschlossen – natürlich.
 

Schuldig hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als Nagis kalte Hand ihn leicht an der Schulter berührte.

„Wir sind gleich da“, sagte der junge Japaner, und Schuldig nickte und setzte sich auf. Er sah nach draußen. Tatsächlich. Jeden Augenblick würde das Institutsgebäude vor ihnen auftauchen. Er kannte jede einzelne Kurve dieser schmalen Gebirgsstraße. Etwas in seinem Inneren krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Er spürte Crawfords prüfenden Blick durch den Rückspiegel und kniff grimmig die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Er wusste, dass Crawford ihn aus gutem Grund so lange wie möglich hatte schlafen lassen. So würde er nicht viel Zeit haben, nervös zu werden. Es gab nur wenige Dinge, vor denen Schuldig Angst hatte. Aber das Rosenkreuzlabor gehörte dazu und stand mit großem Abstand vor allem anderen.

„Es geht los“, sagte Crawford mit ruhiger, konzentrierter Stimme. „Die Security hat uns bereits bemerkt.“

Er hielt den Wagen direkt vor dem Haupteingang und stieg aus. Schuldig und Nagi folgten ihm.

Zwei dunkel gekleidete Männer lösten sich aus dem Schatten und traten auf sie zu, entspannten sich jedoch sichtlich, als sie näher kamen.

„Ah, Mr. Crawford! Lange nicht gesehen”, begrüßte der ältere von den beiden den Amerikaner. Er kannte das schon, dass Crawford unangemeldet zu den unmöglichsten Zeiten auftauchte. Allerdings... Schuldig konzentrierte sich.

//Er ist nicht gerade begeistert, dich zu sehen//, informierte der Telepath seinen Anführer. //Irgendwas stimmt hier nicht...//

Er schloss halb die Augen und streckte seine mentalen Fühler aus, während Crawford die Wachhabenden in ein unverfängliches Gespräch verwickelte. Was war denn das? Überrascht sog Schuldig zischend die Luft ein.

//Brad! Ich kann... sie haben Computerprobleme! Das gesamte Sicherungssystem funktioniert nicht. Da drin herrscht ein heilloses Durcheinander – warte! Farf ist... er ist gar nicht im Labor... er ist...// Seine Augen weiteten sich entsetzt, und er starrte an dem Gebäude entlang zu Belgas Privatwohnung. Ohne Nachzudenken setzte er sich in Bewegung.
 

Crawford sah vor seinem inneren Auge, wie die Wachleute durch die Luft flogen und mit durch telekinetische Kraft verrenkten Gliedern gegen die Institutswand krachten. Schuldig lag mit dem Gesicht auf dem Asphalt, und auf der Rückseite seines grünen Mantels breitete sich ein roter Fleck aus.

„He! Wo willst du hin?“ rief einer der Wachleute, der jüngere von den beiden, Schuldig hinterher und griff nach seiner Waffe.

Schuldig reagierte nicht. Er war in Gedanken schon bei Farfarello.

//Farf! Wir sind jetzt hier. Wir holen dich zurück. Ich bin gleich bei dir!//

Farfarello wurde eingehüllt in einen Hauch von Vanille.
 

Crawford reagierte besonnener, als er denjenigen, der die Waffe gezückt hatte, mit einem kurzen Handkantenschlag ausschaltete. Schuldig war aus dem Blickfeld des anderen Wachmannes verschwunden, der jetzt relativ konzentriert auf die hochgewachsene Gestalt des Amerikaners zustrebte. Crawford wunderte sich ein bisschen, dass er das tat, er an seiner Stelle hätte aus angenehmer Entfernung auf ihn geschossen. Nicht, dass es etwas an dem Ausgang des Ganzen geändert hätte.

Nun ja, jedenfalls war der Weg frei. Und niemand sonst schien sich um sie zu kümmern. Er nickte Nagi zu, der sich mit konzentriertem Gesichtsausdruck vom Auto abstieß und ihm folgte.
 

Farfarello lehnte an einer der kühlen Wände des Kellers, mit der ganzen Gestalt an den Steinen entlang ausgestreckt. Er musste nachdenken, er musste aus diesem Keller verschwinden. Er wollte – was war denn das? Vanille?

//Farf! Wir sind jetzt hier. Wir holen dich zurück. Ich bin gleich bei dir!//

Eigentlich wollte er standhaft warten, aufrecht, bis Schuldig durch diese Tür kommen würde. Aber seine Beine knickten weg, und er rutschte an der Wand entlang und hockte unbequem auf seinen Hacken.

Er hatte keine Ahnung, wie sehr er sich nach diesem, Schuldigs, mentalen Strich gesehnt hatte, bis er in seinem Hirn zu fühlen war.

//Ich dachte, du bist... Hier ist abgeschlossen, ich bin im Keller//, dachte er.
 

Crawford sah kurz zu Nagi, als sie auf den privaten Trakt zustrebten.

„Geh mit rein, ich sichere ab.“

Und er zog seine Beretta.
 

Doch nach wenigen Minuten überkam ihn ein ungutes Gefühl. Es würde nicht funktionieren. Er horchte in sich hinein, versuchte, ein genaueres Bild zu bekommen. Nagi und Schuldig würden nicht wieder heraus kommen – von Farfarello ganz zu schweigen. Und hier draußen würde nichts geschehen, bis die Wachleute wieder zu sich kommen würden.
 

Ohne zu zögern folgte Nagi Schuldig in die Wohnung, von der er wusste, dass es Belgas Privatbereich war. Er war hier noch nie gewesen, wusste jedoch, dass es Schuldig nur so leicht geglückt war, das Schloss an der Eingangstür zu knacken, weil die elektronische Sicherung zufällig gerade ausgefallen war. Zufällig... Nagi beglückwünschte sich innerlich zu seiner Tat. Es war der erste Computervirus, den er selbst entwickelt hatte, und er schien bestens zu funktionieren – besser, als er selbst erwartet hatte.

Er sah gerade noch Schuldigs flammendrote Mähne auf der Wendeltreppe nach unten verschwinden. Er wunderte sich nicht, dass der Telepath sich anscheinend bestens in Belgas Wohnräumen auskannte, es war schließlich kein Geheimnis, dass er quasi Belgas rechte Hand gewesen war – bevor Crawford ihn für sich gefordert hatte. Allerdings wunderte er sich, was zur Hölle Farfarello hier zu suchen hatte.

Er holte Schuldig vor der Tür am Fuße der Treppe ein.

„Lass mich mal“, schob er den mit einem Dietrich hantierenden Deutschen zur Seite. Er hob die Hände, schloss kurz die Augen, und die Tür flog krachend auf. Dann stockte ihm der Atem, als er in dem dahinter liegenden Raum die Folterinstrumente erkannte.

Grob stieß Schuldig ihn zur Seite und stürzte auf Farfarello zu, der mit bleichem Gesicht an der Wand kauerte.

„Farf! Was bin ich froh...“ Schuldig unterbrach sich, als er die verbrühte Haut und die blutigen Spuren der Fesseln an Farfarellos Armen und Hals sah. „Heilige Scheiße! Kannst Du aufstehen?“
 

Nagi riss sich von der Betrachtung des Rauminventars los und zwang sich, sich auf Schuldig und Farfarello zu konzentrieren. Brauchten sie seine Hilfe? Er trat einen Schritt vor, doch dann explodierte ein Schmerz in seinem Hinterkopf, und es wurde schwarz um ihn.
 

Geisel fing den leichten Körper auf, bevor er zu Boden fiel und hielt ihn nun, rücklings fest mit einem Arm an seine Brust gedrückt. In einer flüssigen, schwungvollen Bewegung drehte er seine Pistole, mit deren Griff er zugeschlagen hatte, wieder herum und grinste zu Schuldig und Farfarello hinüber:

„Wer hat euch denn eingeladen?“
 

Crawford sah sich noch ein weiteres Mal um, konzentrierte sich gleich danach auf das Innere des Hauses und kniff dann die Augen verärgert zusammen.

Geisel – diese Geissel...

Ruhigen Schrittes ging er durch den hellen Flur. Die Bilder an den Wänden gefielen ihm, sehr kraftvoll, nur das kleine Tischchen kam ihm ziemlich spießig vor. Das war wohl Belgas kindliche Ader, all diese zierlichen Dinge hier.

Unten im Keller befand sich alles in einer unangenehmen, gespannten Pattsituation. Nagi war bewusstlos, Schuldig viel zu konsterniert von dem Raum und Farfarello?

Nachher.

Er schlich die Treppenstufen herunter und sah die Szenerie so, wie seine Vision es ihm gezeigt hatte. Er hob grüßend die Waffe.

„Gruezi, Geisel. Und was willst du jetzt tun?“

Kaum merkbar schüttelte er in Richtung Schuldig den Kopf, als Geisel sich einen Schritt an die Wand zurückzog, seinen lebendigen Schild etwas höher hielt und seine Waffe weiterhin auf Schuldig gerichtet ließ.

Blitzschnell zogen verschiedene Zukunftsstränge vor seinem inneren Auge entlang, dann holte er sie näher an das Jetzt heran und der dringlichste entwirrte sich vollständig und sofort.

/Feuer zog sich mit saugender, verheerender Kraft durch die engen Kellerräume und hinterließ vier bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichen. /

//Schuldig? Wie lang braucht Nagi noch? Versuch, ihn vorsichtig zu wecken, ich hätte gern, dass er Geisel sanft schlafen schickt.//

Und laut zu dem Pyrokinet hinüber: „Ich hoffe, du hast Zeit mitgebracht. Wie du weißt, hab ich davon eine ganze Menge. Nett, dich mal wieder zu sehen, wie geht’s denn so?“

Wieder drängten sich Visionen auf, und wieder pflückte er sie auseinander, bis sich eine einzige herauskristallisiert hatte.

/Totales Chaos im Labor. Schwitzende Wissenschaftler und Marcel mit einer netten steinernen Miene. Immer mehr Menschen kamen in den Raum. Das würde noch dauern./ Und dann behielt er Geisel sowohl im Jetzt als auch in ihrer aller möglichen Zukunft im Blick.
 

Geisels Blick wechselte zwischen Crawford und Schuldig mit Farfarello hin und her, ohne sein Grinsen zu verlieren.

„Spar dir diese Scherze, Crawford“, antwortete er nicht unfreundlich dem Amerikaner. „Unten im Labor könntet ihr euch im Moment wirklich nützlicher machen. Im Übrigen hat Belga es nicht gerne, wenn jemand seine Wohnung ohne Einladung betritt. Das solltest du, Schuldig, eigentlich wissen.“

„Du weißt, was du mich kannst“, knurrte Schuldig zurück. Und zu Crawford: //Nagi ist wieder wach. Aber er sollte noch eine Weile Ruhe haben.//

Obwohl Nagi noch immer den Kopf baumeln ließ und die Augen geschlossen hielt, drehte Geisel die Pistole nun so, dass der Lauf an der Schläfe des Jungen lag.

„Ihr seid in einer schwierigen Lage, also nimm die Waffe runter“, sagte Geisel mit leiser Stimme zu Crawford. „Besser für euch, wir regeln das friedlich.“

Es meinte es ernst, es würde keinen Feuerangriff geben, und er würde auch auf Nagi nicht schießen, solange sie ruhig blieben. Schuldig sah allerdings nicht danach aus, er würde mit einem sarkastisch gezischten Kommentar – „Sieht das hier“, damit meint er Farfarellos Zustand und den Bock mit den eindeutigen Blutspuren, „für dich etwa friedlich aus?!“ – die Situation Richtung Eskalation lenken.
 

Und es war Farf, der sich dann an Crawford mit einer Bitte wandte, noch bevor Schuldig irgendetwas sagen konnte.

„Könnten wir den Raum verlassen?“

Crawford nickte ihm zu, Geisel im Blick.

„Ich denke schon.“

Er schob die Waffe mit einem zynischen Grinsen ins Schulterholster zurück.
 

Farfarello legte Schuldig nur kurz die Hand auf die Schulter und seufzte mental auf.

//Schu. Kannst du damit was anfangen?//

Und er gab eine Sequenz mit allen Gefühlen und Gedanken Belgas weiter.

/Angst.

//Nein! Ich will nicht! Aua! Bitte! Papa! Hilf mir! Papa? Ah! NEIN!//

Angst./

Farfarellos Griff wurde fast schmerzhaft fest, lockerte sich dann, um den Monolog auf der mentalen Schiene, die noch nie von einem Dritten durchbrochen wurde, weiterzuführen.

//Zweimal. Schu. Er hält sich so jämmerlich fest an seinem Leben. Aber ich will ihn draußen haben, Schu. Draußen.//

Sein linker Mundwinkel verzog sich leicht nach unten, dann war sein Gesicht wieder so reglos wie zuvor. Sein Blick hatte Crawford als Brennpunkt anvisiert. Nur die Hand lag noch immer auf Schuldigs Schulter.
 

Schuldig runzelte die Stirn und starrte Farfarello an.

//Davon weiß ich nichts... doch warte! Er hat mal erwähnt, dass seine Eltern tot sind. Und dass es ihm ein Vergnügen war, sie ins Jenseits zu befördern. Aber natürlich hat er mit mir nie über sein Kindheitstrauma gesprochen… Aber, Farf, wie gut zu wissen, dass er eins hat!//

Er übermittelte Crawford umgehend die neue Information.

//Vielleicht kann uns das nützlich sein. Scheint ja mal ne Schwachstelle zu sein. Und jetzt raus hier!//

Mit finsterem Blick zu Geisel steuerte Schuldig auf die Wendeltreppe zu.

Geisel nickte Crawford zu, voran zu gehen. Seine Hand legte sich um Nagis Kehle.

„Und du“, zischte er ihm ins Ohr, „gehst gefälligst allein die Treppe hoch. Werde dich nicht tragen! Und versuch keine Tricks!“

Um diese Worte zu unterstreichen, drückte er den Lauf der Pistole noch fester gegen die Stirn des jungen Japaners. Nagi keuchte leise, aber gehorchte. Er öffnete die Augen, und in ihnen war eine Mischung aus Angst und Wut zu lesen, als er Crawford einen kurzen Blick zuwarf.
 

Unmerklich war die kleine verneinende Kopfbewegung in Nagis Richtung und der leicht nach oben verzogene Mundwinkel, als er die Treppe voran wieder aufstieg, Schuldig direkt hinter sich.

//Beatrix ist ebenfalls hier. Außerdem will ich mit Belga sprechen. Halt mich auf dem Laufenden mit den beiden kleinen Lakaien hier.//

//Verstanden.//
 

Nagi stolperte hinter den anderen die Treppe hoch, deutlich spürte er Geisels Hand an seinem Hals und das Metall seiner Pistole an seiner Schläfe. Wie demütigend! Ihn einfach so von hinten außer Gefecht zu setzen! Zu gern würde er diese Knarre mitsamt der Hand, die sie hielt, in tausend Winkel verbiegen... Doch Crawfords Anweisung war klar. Angst verspürte der Junge nicht mehr, er war sicher, wenn unmittelbare Gefahr drohen würde, hätte der Amerikaner anders reagiert. Und würde nicht mit dem Rücken zu Geisel seelenruhig die Treppe hoch gehen! Obwohl...

Leiser Zweifel schlich sich in seine Gedanken, als er wieder an die Situation dachte, als Crawford in Tokyo eiskalt Schreiend entsorgt hatte, inklusive des Mädchens, das Nagi geliebt hatte. Würde er ihn, Nagi, auch ohne mit der Wimper zu zucken opfern, wenn es nötig wäre?

//Baka! // mischte sich Schuldig plötzlich ungefragt in seine Überlegungen. //Mich und Farf sicher. Dich? Niemals. Und jetzt konzentrier dich wieder auf die Gegenwart.//

Es war nicht das erste Mal, dass Schuldig eine Anspielung in dieser Richtung machte. Irgendwann würde er ihn darauf ansprechen. Doch nicht jetzt und nicht hier!

//Hör auf, meine Gedanken zu lesen!// blaffte Nagi, ihr altes Spielchen.

//Dann hör auf, so laut zu denken//, war Schuldigs übliche Antwort. Doch diesmal setzte er ernst hinzu: //Ich bin nicht der einzige Telepath hier.//

Shit, shit! Ausnahmsweise hatte er Recht! Nagi konzentrierte sich kurz auf seine mentale Abschirmung, und dann hätte er sie fast wieder verloren, als er draußen vor Crawfords Wagen Beatrix stehen sah. Am liebsten wäre er im Erdboden versunken, aber das ging ja nicht, weil Geisel ihn immer noch fest hielt, was war das nur für eine peinliche Situation, und wieso durfte er nichts dagegen unternehmen!!

Er linste wieder zu Crawford, und vermied den Blick des jungen Mädchens, die etwa in seinem Alter war und die im gemeinsamen Unterricht ständig mit ihm konkurriert hatte.

„Konnichi wa, Schwarz!“ sagte sie leise und kam ihnen langsam entgegen.

„Am besten wartet ihr im offiziellen Empfangszimmer auf Monsieur Belga. Wie es sich für Besucher gehört“, sagte Geisel und schob seine Geisel – Nagi – in Richtung Haupteingang.
 

Crawford neigte, ganz Gentleman, leicht den Kopf in Beatrix' Richtung:

"Auch Ihnen einen guten Tag, Ms. Beatrix."

Dann war er an ihr vorbei und die nächsten Sätze gingen an ihren männlichen Begleiter:

„Und ich denke, Nagi ist gut in der Lage, allein zu gehen. Danke, Geisel. Wie es sich für Besucher gehört.“

Crawford war bei den Worten in gemächlichem Schritttempo weitergegangen, ganz entspannt. Farfarello starrte einige Zeit auf die Tannen, die am Rand der weitläufigen Wiese standen, eine Hand berührte flüchtig sein Halsband, und ein kleines bösartiges Grinsen huschte fast unsichtbar über seine Lippen. Genau wie sein Leader war sein Gang entspannt, und sein Blick war danach fest auf Crawfords Rücken geheftet.

Das Gelände war weitläufig genug, so dass sie noch einige Schritte in der milden Abendluft spazieren konnten.

Und genau so sah es aus, ein kleiner entspannter Spaziergang unter Freunden. Das kleine rotbraune Tier mit diesem buschigen Schwanz war wieder zwischen den Baumstämmen umhergehuscht. Farfarello hätte gern gewusst, was das für ein Ding war.

Und warum Belga ihn überhaupt so lange ‚behalten’ hatte, er hatte am Anfang nicht wirklich den Anschein gehabt, ihn für seine Spielchen zu nehmen. Er hatte nach ganz anderen Absichten 'gerochen'. Und den vielen Geruchsspuren im Keller zu urteilen, hätte er ihn ja nicht wirklich nötig gehabt. Und sie alle waren vollkommen anders behandelt worden. Zuckerbrot und Peitsche.

Oh, er hätte ihn gern...

Ein Blick zu Schuldig, der mit bösartigem Funkeln aus den Augenwinkeln heraus zu ihm herüberschaute, und er verbot sich weitere Gedanken. Sofort.

//Belga. Mh//, war noch sein letzter nachdenklicher Gedanke.
 

Schuldig nickte ihm zufrieden zu. Auch Nagi hielt seinen mentalen Schutz jetzt aufrecht, auch als Geisel ihn abrupt losließ, und er einige Schritte stolpern musste, bis er sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Schuldig konnte sich auch so gut vorstellen, wie Nagi dies in seine geistige Liste der Dinge aufnahm, die Geisel irgendwann zurück bekommen würde.

Und Crawford? Perfekte Blockade, wie immer. Crawford funktionierte fehlerfrei wie ein Schweizer Uhrwerk. Davon hing ihr aller Leben ab.

Ohne weitere Worte durchschritten sie den Eingangsbereich. Lange waren sie nicht hier gewesen, und Schuldig wünschte sich, dieses Gebäude nie wieder betreten zu müssen. Alle Rosenkreuzer hatten hier die schlimmste Zeit ihres Lebens verbracht. Und keiner von ihnen, Schuldig könnte wetten, nicht einmal Trix und Geisel oder sogar Crawford, würde ohne mulmiges Gefühl in das fünfte Untergeschoss zurückkehren. Niemand von Rosenkreuz, außer vielleicht Marcel.

Schuldig ließ diese Gedanken weiter fließen, während sie den langen Gang zu dem offiziellen Besuchszimmer neben Marcels Büro entlang gingen.

War Marcel deswegen so versessen gewesen auf den Posten des Direktors? Führte er deswegen mit so hartem Regime das Zepter in der Hand?
 

Nie wieder das Opfer sein. Nie wieder unterliegen. //Nein! Ich will nicht! Aua! Bitte! Papa! Hilf mir! Papa? Ah! NEIN!// Angst.
 

//Schuldig. Willkommen daheim.//

Schuldig blieb schlagartig stehen, als Marcels Stimme mit einer Präsenz erklang, die eigentlich die Wände zum Erzittern gebracht hätte, wäre sie nicht nur in Schuldigs Gehirn existent.

//Daheim! // Schuldig spuckte ihm dieses Wort entgegen, mit allem Abscheu, den er dabei empfand.

//Ich weiß jetzt, was du an dem Iren findest.// Marcel ließ keinen Zweifel daran, wie er die spöttischen Worte meinte: //Du magst es also immer noch, hart genommen zu werden. Vermisst du mich so sehr?//

Schuldig musste sich mit aller Gewalt dagegen wehren, ihm nicht zuzustimmen, wie damals, als Marcel ihm immer wieder vorgemacht hatte, er würde es doch wollen, ihm würde es doch genauso gefallen. //Du bist ein verdammtes Arschloch, Marcel! Verschwinde!//

Und er warf sich ihm mit aller Kraft, allem Hass und aller Wut entgegen, und Marcel zog sich zurück.

Mit einem keuchenden Geräusch atmete Schuldig aus und fand sich selbst auf dem Fußboden wieder, mit einer Hand auf den Fliesen gestützt, die andere vor die Stirn gedrückt.

Verdammt, die Kopfschmerzen meldeten sich leise wieder.
 

Farfarello neben ihm war stehen geblieben, wartete bis Schuldig wieder auf die Beine kam. Mit stoischem Gesichtsausdruck und wildem Funkeln in dem einen Auge. Dieser herbsüße Duft nach Orangen war nur von einer Tür von ihm getrennt.

Farfarello strahlte eine ungewöhnliche Hitze aus, er spürte seinen Pulsschlag so heftig, wie das Stoßen Belgas vor noch nicht einmal einer Stunde.

Und nur ein lächerlich schmales Stück Holz war zwischen ihm und Belga.

Zweimal kurz davor, und aller guten Dinge sind drei, oder?

Seine Lippen zogen sich zu einem breiten Grinsen auseinander, während er dort auf dem Flur kurz vor dem Besucherraum stand und auf Schuldig wartete.
 

Crawford drehte leicht den Kopf in die Richtung der Beiden, fixierte intensiven Blickes Farfarellos Blick, ließ die Lider kurz zu schmalen befehlsgewohnten Schlitzen schließen und wieder öffnen, Befehle in Nanosekunden, ohne Worte:

„Keine Sperenzien hier, alle beide nicht.!“

Dann sah er Nagi an: „Wartet im Besucherraum. Ich bin in...“, er wandte seinen Blick kurz vom Gesicht des zu ihm hochschauenden jungen Japaners ab zur Tür, die direkt zu Belgas Büro führte, dann sah er ihn wieder mit zuversichtlichem Ausdruck an. „... knappen fünfzehn Minuten wieder draußen. Dann gehen wir.“

Noch ein kurzer Blick zu Schuldig, der noch immer die Stirn runzelte, und Farfarello, der hinter seinem Teamkollegen den Besucherraum betrat.

Er trat vor die Bürotür, in dem Moment, als Belga sie öffnete.

„Belga“, grüßte Crawford, mit leichtem Kopfnicken.
 

Sollte der junge Direktor überrascht sein, ihn direkt vor seiner Tür vorzufinden, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken.

„Crawford“, grüßte er zurück, mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, und trat einladend einen Schritt zur Seite.

„Was verschafft mir die Ehre?“

Mit einer Geste bedeutete er seinem Gast, Platz zu nehmen, hatte jedoch selbst nicht die Absicht, sich hinzusetzen. Er nutzte gern den psychologischen Vorteil, auf seinen Gesprächspartner herab zu blicken.
 

Crawford blieb stehen, dieses Spielchen kannte er auch. Angelegentlich interessiert schaute er kurz aus dem Fenster, um dann den Mann anzusehen, mit dem er schon immer im Wettstreit gelegen hatte. Auch er verzog die Lippen zu einem Lächeln und verstärkte seine mentale Barriere.

"Nein danke, so lange sollte es nicht dauern. Ich vervollständige nur das Team wieder."

Seine obsidianfarbenen Augen blickten gleichzeitig kalt und belustigt.
 

„Ja.“ Belga dehnte das Wort und fixierte den Amerikaner aufmerksam in dem Wissen, in seinem Gesicht genauso schwer lesen zu können wie in seinem Geist. Crawford gehörte zu den wenigen Menschen auf der Erde, deren Gedanken Marcel nahezu verborgen blieben. Sehr schade.

„Leider kann ich Farfarello noch nicht gehen lassen. Es sind weitere Testreihen mit ihm erforderlich.“

Der Franzose kreuzte die Arme vor der Brust, seine Augen blitzten wie ein klarer Gletscherbach. Er würde keinen Millimeter weichen.
 

Dennoch musste es eine Möglichkeit geben, hatte Crawford sie doch alle vier gehen sehen. Jetzt konzentrierte er sich auf die unmittelbare Zukunft, um dieses Ziel auch zu erreichen. Und eine düstere Ahnung nahm von ihm Besitz, dass Belga etwas von ihm wollte, es ging ihm nicht um Farfarello, auch wenn er das Gespräch eine Weile bei diesem Thema halten würde – Farfs Unzurechnungsfähigkeit. Aber Belga ging es um eine andere Sache, etwas, das Crawford nicht würde abschlagen können, weil Belga einen Trumpf ausspielen würde. Was genau, war noch nicht zu erkennen.
 

Crawford blickte seinem Gegenüber in die Augen.

„Weitere? Welche stehen aus? Sowie ich weiß, haben die Bluttests keinerlei Veränderungen gezeigt. Biokinetik lässt sich nicht genetisch verändern.“

Crawford wechselte sein Standbein, verschränkte die Arme und legte den Kopf leicht schräg. Obwohl er Zeit schinden wollte, um herauszubekommen, was Marcel wirklich von ihm wollte, schätzte er doch dessen Fähigkeiten, was Genetik betraf. So also war er wirklich interessiert an der Beantwortung der Frage. Außerdem wäre er über eine mögliche positive Veränderung von Farfarellos – nun ja, man könnte fast sagen – Seelenleben recht zufrieden, wenn Marcel ihm sozusagen aus Versehen so eine Möglichkeit anbieten würde. Doch solche ethischen Anwandlungen ließ er nicht durchblicken, hier niemals und schon gar nicht direkt Marcel Belga gegenüberstehend.
 

„Dein Wissen ist schon korrekt.“ Belga sprach langsam und konzentriert und erwiderte den Blick, ohne auch nur eine Sekunde die Augen abzuwenden. „Allerdings habe ich den dringenden Verdacht, dass damals schlampig gearbeitet wurde. Ich habe Farfarello beobachtet. Eingehend, auch und vor allem in Stresssituationen. Er hat deutliche...“ Er zögerte kurz. „Nun, nennen wir sie mal Aussetzer. Mit dieser Persönlichkeitsstörung hätte er eigentlich nie auf Außenmission gehen dürfen. Es ist mir ein Rätsel, wie du ihn aus dem Labor bekommen hast.“

Sein Blick sagte mehr als deutlich: Hätte er damals schon die Leitung über Rosenkreuz gehabt, hätte er ihn nicht gehen lassen.

„Und erzähl mir nicht, du hättest ihn unter Kontrolle. Vielleicht in einem gewissen Rahmen. Aber die Berichte aus Tokyo und nicht zuletzt die letzte Mission zeigen deutlich, dass er ein enormes Sicherheitsrisiko ist, und meine persönliche Prüfung hat das bestätigt. Wir haben neue Wissenschaftler, neue Medikamente. Ich ordne an, dass er auf unbestimmte Zeit in unser Untergeschoss zurückkehrt.“
 

„Das denke ich nicht. Deine Verdachtsmomente in Ehren, aber die tragen nicht dazu bei, dass er ohne mein Wissen Futter für obskure Wissenschaftler werden wird.“

Crawford erlaubte sich ein leichtes Lächeln.

„Deine Anordnungen betreffen uns nicht. Das weißt du. Aber natürlich arbeiten wir gerne mit dir zusammen. Sag mir, inwiefern du Farfarello in Streßsituationen testen willst, und ich nehme es persönlich mit einem deiner ausgewählten Wissenschaftler in die Hand. Und keinesfalls stationär.“

Er machte einen Augenblick Pause und sprang dem Löwen ins geöffnete Maul – bildlich gesehen, natürlich.

„Und natürlich würde die Leitung größtenteils bei dir liegen.“

Und dann wartete Crawford ab, Belga strebte so sehr nach Macht, dass er manchesmal sein Ziel leicht aus den Augen verlor und einfach mehr und mehr Macht um sich sammeln würde. Ohne die Konsequenzen zu beachten. Und vielleicht sprang Belga auch einfach auf diese andere Sache an. Crawford hatte momentan allzu viele Zukunftsstränge vor sich, als dass er einen fest greifen konnte, und momentan zählte auch mehr, sie alle heil aus dem Gebäude zu kriegen, erst einmal.
 

Belga starrte Crawford einen Moment wortlos an. Dann hob er den Blick und begann schallend zu lachen, wurde jedoch sofort wieder ernst.

„Mir scheint, ich muss deutlicher werden: Natürlich betreffen euch in diesem Fall meine Anweisungen, dies ist eine interne Rosenkreuzangelegenheit. Und glaub mir, du wirst noch froh sein, wenn wir das unter uns regeln. Ohne SZ.“

Er neigte den Oberkörper leicht nach vorne, und seine Stimme wurde gefährlich leise, als er weiter sprach: „Oder stimmt es etwa nicht, dass Farfarello in jener Nacht in Tokyo einen der hohen Funktionäre getötet hat? Was, Brad, geschieht, wenn SZ davon erfährt?“
 

Auch Brad lächelte leicht, behielt aber seinen Stand bei.

„Und warum weiß SZ noch nichts von deinen Behauptungen? Falls solche haarsträubenden Geschichten stimmen sollten, machst du dich zum Mitwisser aus Verschweigen. Und du bist vorsichtig genug, das einzukalkulieren, Marcel. Also was soll das? Und erzähl mir nicht, du handelst aus reiner Menschenliebe.“

Ein klein wenig an Wut hatte sich in seine Stimme eingeschlichen. Verdammt, warum wusste Marcel davon. Er hasste es, in solchen Situationen zu schwimmen, keinen Fuß auf den Boden zu kriegen. Er wusste und Marcel wusste wahrscheinlich auch, dass er sich gerade in hohlen Drohgebärden befand. Sein Verstand arbeitete fieberhaft, um wenigstens einen kleinen Trumpf in der Hinterhand zu haben.
 

„Keine Sorge, so etwas würde ich doch nicht sagen. Ich wollte lediglich zuerst mit dir darüber sprechen, bevor ich SZ die Sache melde. Schließlich sind wir alle Rosenkreuzer. Sei dankbar. Allem Anschein nach möchtest du den kleinen Iren zurück. Ich denke, er gehört hier her. Meine Gründe habe ich dargelegt. Nenn du mir einen, ihn gehen zu lassen. Hat er vielleicht auf deine Weisung hin gehandelt, Brad?“

Marcel rieb sich die Hände. Nur innerlich natürlich. Endlich hatte er Crawford da, wo er ihn immer schon haben wollte: In seiner Hand. Sein Mundwinkel verzog sich zu einem überlegenen Grinsen.
 

„Ich muss mich nicht erklären, um ihn mitzunehmen. Er gehört zu meinem Team.“

Dann zog Crawford herausfordernd eine Augenbraue hoch, hatte seine Stimme wieder unter eiskalter Kontrolle.

„Wenn du meinst etwas 'besprechen' zu müssen, regelst du es mit mir. Nicht mit meinen Mitarbeitern.“
 

Touches. Ich mag es auch nicht, wenn man ohne mein Wissen meine Wohnung betritt. Aber lenk nicht vom Thema ab.“

Noch überwog das Amüsement, doch Belga ärgerte sich ein wenig über Crawfords Arroganz. Gut, er hatte nicht erwartet, dass der Amerikaner um Gnade wimmernd vor ihm auf den Boden fiel. Es war schließlich Crawford. Doch wenigstens ein bißchen mehr Unsicherheit könnte er schon zeigen. Vielleicht war ihm der Ernst der Lage noch nicht so recht klar. Belgas Grinsen verschwand.

„Jetzt hör mir gut zu, Brad Crawford. Es ist nicht eine Behauptung von mir, ich 8i]weiß, dass Farfarello wenigstens einen der Funktionäre getötet hat. Das allein ist schon Grund genug, ihn zu eliminieren. Die Frage, die sich mir stellt, ist die: Konntest du ihn nicht davon abhalten. Oder wolltest du es nicht? Diese Frage wird die SZ-Führung sicherlich genau so interessant finden wie ich. Ich bin jedoch so fair und höre mir erst an, was du zu sagen hast. SZ muss wirklich nicht alles wissen, n’est-ce pas? Also?“
 

Ein Zukunftsstrang drängte sich ihm förmlich auf.

- Marcel Belga würde ihn sprechen lassen, interessiert, aber ohne mögliche Fallen für ihn und sein Team aufgebaut zu haben. –

Und es war tatsächlich nur eine Frage von Tagen oder Monaten, bis irgendjemand anderes als Belga auf ihn zukam. Und Belga hatte ebenfalls Potential. Brads Blick blieb ernst, als er die nächsten Sätze formulierte.

„Es ist dir vielleicht schon aufgefallen, wie furchtbar alt SZ ist, oder? Sie wollen die Welt ändern, drehen sich aber immer im Kreis. Nun, mir gefällt die Welt anders auch besser. Und ja, SZ muss wirklich nicht alles wissen. Also?“
 

Auch Marcel blieb jetzt ernst. „Bis dahin scheinen wir uns ja einig zu sein. Weiter.“
 

„Mich interessiert die Vergangenheit nicht. Wer wen wann getötet hat, ist mir völlig egal. Mich interessiert die Zukunft, die daraus resultiert.“

Crawford fixierte Belga und zog dabei die Augen leicht zu Schlitzen zusammen.

„Und es ist mir auch egal, ob SZ dabei auf der Strecke bleibt. Oder wer auch immer mir im Weg steht.“

Dann hob er um einige Millimeter das Kinn, der Blick wieder offen und noch immer ernst.
 

Marcel schien einen Moment zu überlegen, bevor er antwortete: „Im Moment steht Farfarello dir im Weg. Er wird für weiterführende Tests hier bleiben. Keine Sorge, ich habe nicht vor, SZ Meldung zu machen. Du kannst dir zur Vervollständigung deines Teams jemand anderen wählen.“

Sein Gesicht bekam kurz diesen nach innen gerichteten Ausdruck, den Crawford nur allzu gut von Schuldig kannte: Telepathische Kommunikation. Und dann kam es auch schon:

//Scheiße, Brad! Was ist los?// Schuldig. Fünf bewaffnete Wachleute hatten den Besuchsraum betreten.
 

//Verhaltet euch ruhig.//

Und laut zu Belga:

„Nein. Keinesfalls. Farfarello, sowie alle anderen gehören zum Team, jeder ist wegen seiner Fähigkeiten her ausgesucht worden.“

Brad atmete unbewusst tiefer ein als nötig.

„Was willst du von mir? Die Wahrheit?“

//Schuldig. Laß Nagi Belgas 'Vater-Komplex' wissen. Er soll damit jede Kleinigkeit über ihn herausziehen, egal wie und egal wo. Und was auch geschieht, bleibt ruhig! Dann schaffen wir alle es raus hier. Das ist keine Bitte!//

Seine Kiefermuskulatur verspannte sich kurz, dann sprach er weiter.

„Um meine Ziele zu erreichen, benötige ich die Fähigkeiten der Drei dort draußen ebenso wie meine eigenen.“

Gottverdammt – er hasste Marcel Belga abgrundtief!

„Mein Ziel, SZ zu zerstören.“

Stille trat ein, bis nach einem kleinen Moment seine Stimme erneut erklang.

„Das ist alles.“
 

Die Stille, die diesen Worten wiederum folgte, wirkte beinahe erdrückend. Marcel zog eine Augenbraue hoch und stand wie erstarrt. Damit hatte er nun wahrhaftig nicht gerechnet. SZs Spitze aus dem Weg räumen, ja. Selbst das Zepter in die Hand nehmen, ja. Reformen, die jetzt nicht möglich wären, ja. Aber SZ zerstören? Auf so eine waghalsige Idee war selbst er noch nicht gekommen. Obwohl der Gedanke durchaus etwas für sich hatte, wenn er so darüber nachdachte.

Er holte tief Luft und ließ sie langsam durch die halb geschlossenen Lippen entweichen.

„Das ist alles? Mon dieu, Brad, weißt du, was du da sagst?“ Er ging ein paar Schritte hin und her und presste die Hände wie im Gebet kurz aneinander. „Das schaffst du niemals, das ist Wahnsinn!“ Er trat hinter den Schreibtisch und setzte sich in seinen ledernen Stuhl. „Jedoch“, er machte eine Pause, stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und verzog die Lippen zu einem wölfischen Grinsen, „ich werde dich nicht davon abhalten. Ich werde schweigen wie ein Grab. Meinetwegen nimm Farfarello, nimm, wen immer du brauchst. Aber ich möchte eine Gegenleistung dafür von dir.“

Wieder verschwand das Grinsen so schnell, wie es gekommen war.

„Setz dich doch.“
 

Jetzt nahm auch Crawford Platz, er kam sich vor, wie durch einen Reißwolf gezogen. Es wunderte ihn etwas, dass Marcel so ruhig geblieben war. Andererseits war er, Marcel, anscheinend mit ihm noch nicht fertig. Brad Crawford war ziemlich froh, dass er jetzt einen Sitz unter sich hatte, mit wackeligen Beinen vor Belga zu stehen, gehörte nicht wirklich zu seinen geheimen Wunschträumen.

„Was willst du, Marcel?“

Wenigstens hatte er seine Stimme unter Kontrolle, wenn sie auch momentan recht flach wirkte.
 

„Einen Gefallen. Du wirst mir etwas besorgen. Und darüber Stillschweigen bewahren. So wie ich auch dein kleines Geheimnis für mich behalten werde. Bist du dazu bereit?“
 

„Ja.“

Natürlich wäre er dafür - wofür auch immer - bereit. Dem Teufel die drei goldenen Haare stehlen, so oder so ähnlich schätzte er Marcels 'Gefallen' ein.

"Die Informationen, hier und jetzt oder später?"
 

„Da du schon mal da bist, gleich jetzt.“ Marcel zögerte, und sprach mit gesenkter Stimme weiter: „Es geht um die DNA-Proben, die uns hier entnommen wurden. Sicherlich weißt du von den Klonversuchen? Meinen Informationen zufolge existiert unterhalb des Hauptquartiers in der Schweiz ein geheimes Labor, wo sie Rosenkreuz-Klone züchten. Meine Anwesenheit dort würde auffallen. Du dagegen bist ständig da. Sie vertrauen dir. Ich möchte, dass du in das Labor gehst. Und mir einen Klon mit meinen Genen bringst. Lebend.“
 

„Habe ich freie Hand das Wie betreffend?“

Crawford zog die Brauen zusammen, seine Augen blickten kurzzeitig an Belga vorbei, dann entspannte sich sein Gesichtsausdruck wieder.

„Es wäre nötig, dass du mir...“, er lachte kurz und humorlos auf, „... nun ja, ‚vertraust’ ist das falsche Wort zwischen uns beiden, aber ‚nicht zweifelst’ würde passen... Nun, du hast mich aus der Schweiz fort gerufen, sozusagen, und meine Mission dort ist noch nicht beendet. Also werde ich mich wohl wieder auf den Weg machen.“

Er beugte sich leicht vor.

„Und danach ist unsere kleine Unterredung erledigt“, schloss er, konnte aber eine kleine Anhebung der Modulation des letzten Wortes nicht verhindern und knirschte gedanklich mit den Zähnen.
 

„Wir gehen. Alle.“

Er setzte sich in Bewegung, die Wachlakaien keines Blickes würdigend, aber noch einen visionären Blick in Belgas Büro gerichtet.
 

//Na endlich!// knurrte Schuldig ungeduldig, doch Crawford kannte ihn gut genug, um die Erleichterung heraus zu hören. Und auch Schuldig warf noch einen Blick auf diese Bürotür, die so viele Erinnerungen barg, an die er lieber nicht mehr dachte. Er hasste diese Tür, und er hasste den Mann dahinter.

Von Marcel war nichts zu sehen und nichts zu spüren.
 

Was immer Crawford da drin mit ihm besprochen haben mochte, Marcel ließ sie gehen! Niemand stellte sich Ihnen in den Weg. Nur Geisel stand mit spöttischem Grinsen und selbstherrlich gekreuzten Armen neben dem Wagen. Erst im letzten Moment trat er zur Seite.

//Dir wird das Grinsen schon noch vergehen//, fuhr Schuldig ihn an. Wie auf ein stilles Kommando drehte sich auch Nagi in Geisels Richtung, bereit, seine Wut über die Demütigung von vorhin im wahrsten Sinne des Wortes gegen ihn zu schleudern.

Doch Crawfords Stimme durchschnitt die Luft und erstickte den aufkommenden Streit mit drei knappen Worten. Für Geisel hatte er nur einen kurzen, kalten Blick.

„Wir fahren jetzt.“

Wie immer gehorchte sein Team sofort, und Schuldig und Nagi stiegen ein. Farfarello wurde von Schuldig auf die Rückbank gezogen, und Crawford fuhr mit durchdrehenden Reifen an, noch bevor sie die Tür geschlossen hatten.

Geisels Gestalt verschwamm in der Staubwolke, die dieses Manöver auf dem losen Kies verursachte.

Grimmig konzentriert lenkte Crawford den Wagen die engen Serpentinen hinunter.

Obwohl er seine Gruppe wieder vollzählig hatte, war das Gespräch mit Belga alles andere als siegreich verlaufen. Nach Crawfords Meinung wusste Belga viel zu viel über Schwarz.

Doch ein Problem nach dem anderen. Für Belga würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, später, wenn der Zeitpunkt günstiger sein würde.

Sein Mund verzog sich zu einem zynischen Grinsen. Er musterte durch den Rückspiegel Schuldig und Farfarello auf der Rückbank. Der Ire sah blass aus, selbst für seine Verhältnisse, und hielt die Augen geschlossen. Aber seine Selbstheilungskräfte ließen ihn nie im Stich.

Crawfords Augen fingen Schuldigs Blick ein.

„Wie waren sie noch gleich – die fünfzig Wege?“
 

Einer davon würde ihrer sein.
 


 

ENDE



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2010-12-08T20:10:52+00:00 08.12.2010 21:10
Hm, erstaunlich, dass diese FF nicht mehr Kommis bekommen hat.

Aber hallo erstmal.

Bin durch Zufall auf die Story gestoßen. Weiß Kreuz an sich ist allerdings weniger mein Fall, aber der Bdsm-Faktor hat mich interessiert und ich muss sagen, tolle Story. Die Handlungslinie ist sehr flüssig, die Schilderungen ungemein stimmig und vor allem voller Tiefgang. Der Bdsm-Teil ist auch sehr gut beschrieben und Humor kommt nicht zu kurz. Perfekte kleine Geschichte würde ich sagen.

LG L.
Von:  Noiyama
2010-01-02T00:23:26+00:00 02.01.2010 01:23
Tja, ihr beiden, ich kann nur sagen Glückwunsch.
Wiede rein Werk, was ich mit großer Begeisterung, zwischen Sabbern, Mitfiebern und Lachen genossen habe.
Eure Handlungslinien sind wundervoll flüssig, die Schilderungen herrlich farbig und tiefgängig und dann noch dieser bizarre Humor... genial..
Ich hoffe doch wirklich sehr, dass ich noch erfahren darf wie dieses Kuddelmuddel enden wird.
Ich warte mit Spannung und Freude :)


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