Der Wächter des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz" und "Die Söhne des Drachen") ================================================================================ Kapitel 6: Das Herz aus Gold ---------------------------- Das wirklich Ironische an Ayas unglücklicher Situation war, dass sie sich anfangs vehement dagegen gewehrt hatte, Hauptmann Nezu überhaupt als neuen Kage zu akzeptieren. Sie hatte ihn nicht gemocht, diesen furchteinflössenden Fremden mit den kalten Augen. Sie hatten ihn nicht haben wollen, damals ... Damals Lyra legte letzte Hand an die kunstfertige Frisur. Endlich war jedes Härchen an seinem Platz. Sie trat zurück, durchaus stolz auf ihr Werk. „So. Das wär´s, Prinzessin.“ Aya warf einen bangen Blick in den Spiegel, seufzte tief und nickte. Sie sah so anders aus. So ... erwachsen. Es klopfte leise und Jin betrat den Raum. „Fertig, Schatz?“ „Ja ...“ „Hier sind Deine Handschu ... Meine Güte!“, hauchte Mylady. „Ach Du meine Güte.“ „Ist die Frisur nicht richtig?“, fragte Aya. Sie hatte doch gleich gewusst, dass dieser komplizierte, kunstvolle Knoten mit all diesen Blütenfäden übertrieben war! „Mäuschen! Du siehst so hübsch aus. Absolut wundervoll! Manchmal frage ich mich, ob da wirklich meine Gene mit im Spiel sein können.“ „Natürlich sind sie das!“ Die Prinzessin runzelte die Stirn. „Ja. Nur zu sehen ist Gott sei Dank nichts davon. Sei froh, dass Du das gute Aussehen der Tatzus abbekommen hast.“ Ayas Stirnrunzeln vertiefte sich noch ein wenig mehr. „Mir gefällt es nicht.“, stiess sie aus. „Was?“ „Muss das denn sein?“ „Schatz. Es geht nicht anders. Ryo kann nicht ewig Dein Kage bleiben.“ „Ich will aber keinen anderen!“ „Aya ...“ „Er ist nicht zu alt! Und er kann sehr gut auf mich aufpassen!“ „Sprichst Du von Hauptmann Rafu?“ Beim Klang der tiefen, rauen Stimme zuckte Aya schuldbewusst zusammen. Ihr goldener Blick suchten im Spiegel den ihres Vaters. „Ja.“, gab sie kleinlaut zu. „Hatten wir das nicht schon durchgekaut?“, wollte er wissen. „ ... ja.“ „Also?“ „Ich ...“ „Ryo Rafu hat uns lange und treu zur Seite gestanden. Er hat sich seinen Ruhestand mehr als verdient.“ „Aber ich hab Angst ohne ihn!“ „Aya! Leutnant Nezu wird der Aufgabe mehr als gewachsen sein.“ „Ich kenne ihn aber gar nicht!“ „Schluss jetzt!“, sagte ihr Vater streng. „Ich will kein Wort mehr hören. Du machst Ryo nur traurig, wenn Du so ein Gesicht ziehst.“ Die Prinzessin presste die Lippen zusammen. Ihre Augen wurden nach dieser Schelte verdächtig feucht. „Zuko ...“ Die warnend gezückte Augenbraue ihres Gatten liess Jin ihren Einspruch vorerst auf Eis legen. Er hatte ja Recht. Hauptmann Rafu war sechzig Jahre alt. Es war das Alter, indem alle Leibwächter aus dem aktiven Dienst schieden. Diejenigen, die es wollten, arbeiteten danach als Ausbilder, Waffenmeister oder wechselten an einen ruhigen Schreibtisch-Posten. Es stand ihnen aber auch frei, sich ganz aus dem Militärdienst zu verabschieden. So oder so wurde jedem von ihnen ein komfortables, kleines Häuschen und eine mehr als ausreichende Rente überschrieben. „Kind, komm her.“, sagte Zuko ruhig. Als Aya vor ihm stand, schloss er sie tröstend in die Arme. „Ich würde Deine Sicherheit nie in die Hände eines Mannes legen, dem ich nicht voll und ganz vertraue.“ „Ja.“ „Ich weiss wie sehr Du an Hauptmann Rafu hängst. Und das ist auch gut so. Ein Kage ist jederzeit bereit, sein Leben für uns aufs Spiel zu setzten. Dafür gebühren ihm unser Respekt und unsere Liebe. UND ein sorgloser Lebensabend. Lass Deinen Ryo gehen und seine geliebten Orchideen züchten. Komm mit mir in den Thronsaal, lächle, wünsche ihm Glück und mach ihn stolz. Du kannst ihn doch jederzeit besuchen, wenn Du ihn brauchst.“ „Ja. Gut.“, flüsterte Aya. Ihr Vater strich liebevoll über ihre Wange. „Nicht traurig sein, Flämmchen. Hast Du die Handschuhe?“ Sie straffte sich, nickte und nahm die kostbar bestickten Seidenhandschuhe von ihrer Mutter entgegen. „Ich bin soweit.“ Sie war überhaupt nicht soweit! Warum nahm man ihr ihren Ryo weg? Er war nicht zu alt! Er war auch nicht zu langsam! Er beschütze sie nun schon seit acht Jahren. Seit sie sechs geworden war. Er war ihr Kage! Ihr großer, beruhigender Schatten, der ihr aufmunternd zuzwinkerte, wenn sie bei der tausendsten Aufzählung ihrer Ahnenreihe einzunicken drohte; der sie schimpfte, wenn sie ohne Schuhe durch die Gegend spazierte, und der ihr genau sagen konnte, zu welchem Vogel welches Gezwitscher gehörte. Der neue Wächter, den ihr Vater für sie bestimmt hatte, war ... anders. Sie hatte schon den ein oder anderen Blick auf ihn geworfen, wenn er in der großen Halle trainiert hatte. Ihre Hofdamen - falls man diese albernen Gänse so nennen konnte - hatten die Tonleiter rauf und runter gekichert und geseufzt, als sie den imposanten Offizier von der Galerie aus beobachtet hatten. Aya fand ihn einfach nur zu jung. Zweiundzwanzig. Das musste man sich mal vorstellen. Mit zweiundzwanzig war noch niemand Kage geworden. Noch NIEMAND! Er war zu jung, zu groß, zu muskulös und zu arrogant. Ganz bestimmt war er arrogant. Das waren die jungen Soldaten doch alle. Zumindest die gut aussehenden. Stolzierten herum wie Pfauhähne, mit ihrem Imponiergehabe. So einen wollte Aya nicht. Sie wollte ihren ruhigen, besonnenen Ryo, mit dem polternden Lachen und den dazugehörenden Fältchen! Der ach so schneidige Leutnant Nezu, mit dem goldbraunen Haar, hatte bestimmt keine einzige Furche um die Augen. Die Augen. Die angeblich ebenso unglaublich sein sollten, wie der ganze Rest von ihm, wenn man Seri Glauben schenkte. Zehn Minuten lang hatte sie sich hinter vorgehaltener Hand über die Sehorgane Takeru Nezus ausgelassen. Na und? Dann hatte er eben so helle, seltsame Augen wie einer dieser arktischen Wolfshunde. Aber darum von Silbernebel und durchscheinendem Gletschereis zu schwärmen, oder etwas über Mondsteine zu faseln ... Wie albern! Albern, albern, albern! Und doch bestand ihr Vater darauf, dass dieser Mensch, den sie überhaupt nicht kannte, von nun an auf sie Acht gab. Aya hasste es! Sie mochte es generell nicht besonders, mit Fremden zu sprechen. Sie kam sich dabei immer dumm vor. Zu linkisch, zu groß, zu schlaksig. Als Prinzessin musste sie jedoch mit allen möglichen Besuchern reden. In diesen Fällen war es ungemein beruhigend, wenn Hauptmann Rafu hinter ihr stand und ihr später versicherte, sie habe sich überhaupt nicht blamiert und auch gar nichts unpassendes gesagt. Warum nahm Papa ihr jetzt dieses vertraute Gesicht? Sie war kindisch. Und sie wusste es. So war nun mal der Lauf der Dinge. Also ging sie stumm hinter ihren Eltern her. Es kam nicht oft vor, dass der Thronsaal derart voll war, wie an diesem Tag. In der Kultur der Feuernation genossen die Kage einen enorm hohen Stellenwert. Schliesslich war Tatzu, der erste aller Feuerlords, das Oberhaupt der damals bedeutendsten Familie der Wächter-Kaste gewesen. Er selbst war dereinst persönlicher Leibwächter König Kervans, des letzten Hochkönigs der Feuerdrachen, gewesen. Und so wurden zur Verabschiedung und Neueinsetzung der Wächter noch immer die alten Zeremonien durchgeführt. Zu diesem Zweck hatten sich zwei lange, kerzengerade Reihen von Gardisten in dem riesigen Saal aufgestellt und bildeten eine Gasse. Vor dem Drachenthron standen die Mitglieder der fürstlichen Familie und Kommandant Kuroto, Befehlshaber der Palast- und Leibwachen. Auf ein unsichtbares Zeichen hin betrat Hauptmann Ryo Rafu in makelloser Paradeuniform den Saal und schritt langsam durch das Spalier aus Soldaten. Als er schliesslich vor seinem Lord stand, kniete er nieder. Es war das einzige Mal, dass ein Kage beide Knie zu beugen hatte. „Hauptmann Rafu.“ „Mein Lord.“ „Ihr habt Schwert und Leben in unseren Dienst gestellt, und uns lange und treu gedient. Unser Dank sei Euch gewiss. Euer Name wird in den Hallen der Wächter in Stein gemeisselt und mit Ehrfurcht genannt werden. Eurem Wunsch entsprechend, wird Euch ein Anwesen nahe des Palastes überschrieben. Ich entbinde Euch heute Eures Versprechens und Eurer Pflichten. Prinzessin Aya obliegt von nun an nicht mehr Eurem Schutz.“ Ryo griff an seinen Gürtel, nahm ein Paar Seidenhandschuhe in beide Hände und bot sie dem Feuerlord dar. „Schwert für Ehre.“, sagte der Soldat. Zuko nahm die Handschuhe entgegen. „Ehre für Treue.“, erwiderte er. „Erhebt Euch.“ Dann stand Ryo Rafu, eben noch Kage Ihrer königlichen Hoheit Prinzessin Aya, auf. Es begann der inoffizielle Teil. Der Abschied. Ryo trat vor seinen ehemaligen Schützling. „Na, na. Seh ich da etwa ein langes Gesicht, Fräulein?“ Aya schluckte und versuchte es mit einem wenig überzeugenden „Nein.“ Ohne viel Federlesen wurde sie in eine bärenhafte Umarmung gezogen. „Mädchen!“, murmelte er rau. „Willst Deinen alten Ryo doch nicht traurig machen?!“ „Bestimmt nicht.“, flüsterte die Prinzessin. „Ich wünsche Dir alles Glück dieser Welt.“ „Und ich Euch, Goldkind. Ihr werdet es haben, das weiss ich.“ „Ich ... werd Dich schrecklich vermissen, Ryo!“ Jetzt musste sie doch weinen ... „Wohn doch gleich ums Eck.“, brummte der altgediente Haudegen. „Und ich werd auch immer Orangenkuchen bereit halten.“ Aya entfuhr ein wackliges Lachen. „Ja.“ Verstohlen wischte sie die Tränen weg. „Aber ich weiss nicht, was ich ohne Dich machen soll.“ „Ah ... papperlapapp. Das Gleiche wie immer. Euer neuer Kage, der junge Nezu, wird noch besser auf Euch aufpassen als ich. Hab noch nie einen solchen Kämpfer gesehen. Außer Eurem Vater, natürlich. Du bist in den besten Händen, mein Goldkind.“, fügte er flüsternd hinzu und drückte, natürlich ganz inoffiziell, einen Kuss auf ihre Stirn. „So, Mylord.“, seufzte der alte Offizier. „Ich bin soweit.“ „Ja, Ryo. Hab Dank für alles.“ „War mir eine Ehre!“ Damit verneigte sich Hauptmann Rafu und ging erneut durch die Gasse der Uniformierten. Entlang seines Weges zogen die Soldaten ihre Schwerter und kreuzten sie über seinem Kopf. „Leutnant Nezu?“, rief Zuko. „Ja, HERR?“ „Vortreten!“ Am Ende der kerzengeraden Reihen trat ein sehr großer, junger Mann hervor und schritt zielstrebig durch das Spalier. Die Gardisten, an denen er vorübergegangen war, schwangen ihre immer noch gekreuzten Säbel in weitem Bogen wieder nach unten, um sie schliesslich zischend in die Scheiden fahren zu lassen. Vor der fürstlichen Familie sank der junge Leutnant auf beide Knie. „Takeru Nezu, Du wurdest in den letzten Jahren auf Herz und Nieren geprüft und für würdig befunden, in die Ränge der Kage aufzusteigen. Ist es Dein Wunsch, ein Schatten zu werden?“ „Ja, mein Lord.“ „Willst Du Dein Schwert in den Dienst meiner Familie stellen, und sie mit Deinem Leben verteidigen?“ „Ja, mein Lord.“ „Ich binde Dich an Dein Versprechen.“ „Durch Ehre werde ich daran gebunden sein.“ Kommandant Kuroto heftete dem jungen Mann die Abzeichen seines neuen Ranges an die Schulterklappen. Als dies getan war, trat Aya vor, um vor dem frisch dekorierten Hauptmann niederzuknien. „Takeru Nezu, seid Ihr gewillt, dieses meiner Kinder zu schützen?“ „Bis zu meinem letzten Atemzug, Mylord.“ „Aya.“ Auffordernd nickte Zuko seiner Tochter zu. Die Prinzessin griff nach den Seidenhandschuhen an ihrer Schärpe und bot sie dem Hauptmann mit beiden Händen und gesenktem Kopf dar. „Ehre für Schwert.“, sagte sie leise. „Treue für Ehre.“, erwiderte die tiefe Stimme ihres neuen Beschützers, als er - ebenfalls mit gesenktem Haupt - die kostbar bestickten Kleinode entgegen nahm. Mit einem Handgriff heftete er sich das seidene Symbol seiner neuen Verantwortung an den Waffengurt. „Hauptmann Nezu, die Sicherheit von Prinzessin Aya Ria Tatzu liegt von nun an in Euren Händen. Erhebt Euch!“ Aya erhob sich ebenfalls. Sie sah auf und starrte direkt in die Augen ihres neuen Kage. Augen die sie kannte. Augen, von denen sie ab und an träumte. Unheimliche Augen von durchscheinendem, silbrigem Grau mit Splittern eisig schimmernden Aquamarins. Es waren die wilden Augen des schmutzigen Jungen, der sie auf den Boden geschleudert und fast erstickt hatte. Vier Tage später Die Art, wie sich die Tür zu Mylords Arbeitszimmer öffnete, hatte etwas sehr unverbindliches an sich. Ein dunkelbrauner Zopf baumelte ins Zimmer, gefolgt von einem fragenden Augenpaar. Ganz offensichtlich also eine Person, die bereit war, jederzeit den Rückzug anzutreten, sollte sie stören. „Zuko?“ „Hm?“ „Bist Du sehr beschäftigt?“ „Kommt darauf an.“, brummte er und setzte seine krakelige Unterschrift unter ein Dokument. „Auf was denn?“ „Auf den Grund Deines Kommens.“ „So?“ „Schimpfen - Ich hab leider GAR keine Zeit. Verhätscheln - ich bin ganz Dein.“ „So, so. Verhätscheln soll ich Dich.“ „Goldene Ehefrauen-Regel Nummer sieben.“ Jin, ergebenste aller Ehefrauen, eilte zu seinem Sessel, umfasste sein Gesicht und bedachte ihn mit einem langen, innigen Kuss. Zuko packte die Gelegenheit bei den Hüften und zog sie auf seinen Schoss. „So. Das war verhätscheln. Darf ich nun eine Bemerkung loswerden?“ „Ich hab´s befürchtet.“, seufzte er. „Du kommst NIE nur zum Verhätscheln!“ Mylady schnaubte empört und das völlig zurecht. Schliesslich war es ihre Berufung, diesen Mann zu verhätscheln. „Zuko! Ich mein´s ernst.“ „Ich auch.“ „Könntest Du mir bitte Deine Aufmerksamkeit schenken? Nein, NICHT meinem Ausschnitt!“ Sie schob seine Hand beiseite. Zuko schnalzte bedauernd mit der Zunge. „Also schön, Kobold. Was ist?“ „Es ist wegen Aya.“ „Hm.“ „Was, Hm?“ „Geht es um Takeru?“ „Ja.“ „Die Antwort ist nein!“ „Du weisst doch gar nicht ...“ „Doch. Du wolltest mich bitten, ihr einen anderen Kage zuzuweisen, weil sie sich unwohl fühlt.“ „So in etwa.“ „Nein.“ „Aber er macht ihr Angst.“ „Alle Fremden machen Aya Angst.“ „Das stimmt doch gar nicht. Sie ist bei weitem nicht mehr so schüchtern wie früher.“ „Schüchtern genug.“ „Ach ... und das passt Dir nicht?“ „Nein, es passt mir nicht.“ „So.“, sagte Jin leise und verschränkte die Arme. „Da hat eins unsrer Kinder zur Abwechslung mal nicht Deinen Feuerfresser-Mumm abbekommen und schon passt Dir das nicht.“ „Das ist doch gar nicht der Punkt!“, erwiderte er. „Es passt mir nicht, weil sie darunter leidet. Wenn sie lernt, ihre Schüchternheit zu überwinden, wird sie viel unbeschwerter sein. Außerdem: wenn sie ihn erst einmal kennt, wird sie ihn auch mögen. Du wirst sehen, in ein paar Wochen will sie ihn gar nicht mehr hergeben.“ „Gut. Seh ich ein. Aber momentan kennt sie ihn noch nicht. Und sie träumt schlecht.“ „Bitte?“ „Ja. Und das halte ich nicht mehr für blosse Schüchternheit. Irgendwas ist da ...“ „Jin, ich vertraue dem Jungen voll und ganz!“ „Ich doch auch! Aber ...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Schön, ich rede mit ihr.“ „Das ist mein Drache! Dann können wir ja jetzt das mit dem Verhätscheln wieder aufgreifen.“, strahlte Jin. Das Beschmusen ihres Ehegatten gehörte nunmal eindeutig zu ihren Lieblingsbeschäftigungen! Es klopfte an der Tür zu Ayas Gemächern. Sie verkrampfte. Bestimmt war es wieder eine der Hofdamen ihrer Mutter, um sie zu bitten irgendeinem unbedeutenden Ereignis beizuwohnen nur damit sie `unter Leute´ kam. Dass Mama sich auch immer Sorgen machen musste ... Schön, dann sass sie eben zu oft in ihrem Zimmer. Es war ein wundervolles Zimmer. Sehr gemütlich. Es schrie geradezu danach, dass man sich darin aufhielt. Die Prinzessin sah überhaupt nicht ein, warum es nicht gut für sie sein sollte, eben das zu tun. Ihren Pflichten kam sie schliesslich nach. Gesangs- und Gum-Jo-Stunden, Tanzunterricht, Geographie, Geschichte und Mathematik. Heute alles schon erledigt. Also hatte sie es sich verdient hier zu sitzen und aus dem Fenster zu sehen. Einfach nur so. Nur weil draussen die Sonne schien, MUSSTE man ja nicht herumspazieren. Trotz ihrer mangelnden Motivation rief Aya ein „Herein?“ über die Schulter. Als ihr Vater den Raum betrat, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Wenn er sich zu dieser Tageszeit blicken liess, war für gewöhnlich etwas im Busch und sie konnte sich lebhaft vorstellen, was das war. „Nun, Spatz, kannst Du etwas Zeit für Deinen Vater erübrigen?“ „Ja.“ Sie blickte auf ihre Hände. „Natürlich.“ „Das ist schön.“, murmelte er und setzte sich neben sie auf die breite Fensterbank. „Was machst Du gerade?“ „Nichts.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nichts? Kein Spaziergang? Kein kleiner Ausritt?“ „Nein.“ „Hm. Verstehe. Hast wohl heute keine Lust dazu.“ „Nein.“ „Und die letzten Tage? Auch nicht?“ Sie zuckte wieder mit den Schultern. Zuko seufzte. „Aya ...“ Seine Tochter drehte den Kopf weg und presste die Lippen aufeinander. Jetzt kam dann wohl die wohlverdiente Rüge. „Was ist los, Flämmchen?“ „Gar nichts.“, flüsterte sie. „Sollst Du lügen?“ „Nein.“, krächzte sie. „Dann sag mir jetzt was los ist.“ „Nichts. Ich ... muss mich nur umgewöhnen.“ „Umgewöhnen?“ „Ja.“ „Wegen Deines neuen Kage?“ „Ja.“ Er nickte. „Früher hast Du mir mehr vertraut.“, stellte er dann leise fest. „Was? Aber ...“ „Wenn Du Hauptmann Nezu nicht zutraust, Dich zu schützen, dann bedeutet es, dass Du mein Urteil über ihn in Zweifel ziehst.“ Aya schluckte. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass ihr neuer Leibwächter ihr Angst machte? „Was stört Dich an ihm?“, wollte ihr Vater wissen. Sie biss sich auf die Lippen. Er würde sie bestimmt für furchtbar kindisch halten. „Er hat Augen wie Eis.“, gab sie schliesslich zu. „Keiner kann etwas für seine Augenfarbe.“, sagte Zuko der Goldäugige sachlich. „Ich weiss.“ Irgendwie hatte der Feuerlord das Gefühl, dass hier noch GAR nichts geklärt war. „Was ist es wirklich?“, fragte er. „Ich glaube ... nein. Ich habe geträumt, er hätte mich angegriffen.“ „Was?“ „Als Kind. Da sind so konfuse Erinnerungen ... oder Träume. Ich weiss nicht.“ „Du glaubst ...“, Zuko hielt inne. „Hat er Dich unter eine Decke gesteckt?“ „Ja.“ „Auf den Boden gedrückt?“ „Ja. Woher ...“ „Er hat Dich damals nicht angegriffen, sondern gerettet.“ „Was?“, hauchte Aya. „Der schwachsinnige Kater Deiner Mutter hatte einen Schwarm Bienenfalter aufgeschreckt. Takeru war grade mal dreizehn. Aber er hat Dich in Deine Decke gewickelt, sich über Dich geworfen und dafür gesorgt, dass er die Stiche abbekommt. Es waren siebenundneunzig Stück.“ Die Prinzessin blinzelte. Und erinnerte sich. An Dunkelheit, Angst, ein erdrückendes Gewicht auf ihrer Brust. Doch da war noch mehr gewesen ... oder? Ihr Vater nahm ihre verkrampften Hände in seinen warmen Griff. „Du warst noch so klein.", sagte er rau. "Du hättest diese Stiche niemals überlebt." Sie nickte. Und erinnerte sich. Wie ihre Mutter sie im Arm hielt und weinte. Wie ihr Papa die Ärzte anbrüllte. Wie er besorgt und müde an einem Bett sass, in dem ein fremder Junge lag. An eine dunkelblonde Frau mit verweinten Augen. Und an ein Bild. Sie hatte es gemalt. Einen ganzen Nachmittag lang. Für den Jungen, von dem Mama erzählt hatte, er hätte sie gerettet. Sie erinnerte sich an ein völlig verschwollenes Gesicht. Sie hatte so große Angst davor gehabt! Doch sie hatte dem Jungen das Bild gegeben. Und Kuchen. Trotz ihrer Angst. „Ich ... das hatte ich vergessen." flüsterte Aya erstickt. „Aya, dieser Junge hat fast sein halbes Leben hart daran gearbeitet, Kage zu werden. DEIN Kage. Niemand wird Dich besser schützen, als er. Dessen bin ich mir sicher.“ Aya warf die Arme um ihren Vater und vergrub den Kopf an seiner Schulter. „Tut mir leid, dass ich so albern war.“ „Du warst nicht albern. Mir tut es leid, dass ich Deine Angst nicht bemerkt habe.“ „Irgendwie bin es immer ich, die Angst hat.“, flüsterte sie. „Ich hätte gerne mehr Mut.“ „Du hast Mut, Flämmchen.“ Er küsste ihre Schläfe. „Du brauchst nur einen Grund dazu. Wie Deine Mutter. Wenn sie einen Grund hat, stellt sie sich einer Armee in den Weg.“ „Oder Dir.“ „Oder mir.“, bestätigte er lächelnd. „Ich bin stolz auf Dich, Aya.“ Liebevoll strich er ihr übers Haar. „Ich bin auf jedes meiner Kinder stolz. Aber Du? Du hast die kostbare Gabe in den Menschen das Beste zum Vorschein zu bringen. Einfach, indem Du sie ansiehst. Ich weiss nicht, ob Du es verstehst, doch Du machst die Welt heller. Und ganz besonders hell, machst Du sie für Deinen Papa. Du bist mein Flämmchen. Und Du hast genauso nah am Wasser gebaut, wie Deine Mutter.“, fügte er wehmütig lächelnd hinzu. „Ich b ... bin eine Heulsuse!“ „Ja, mein Spatz!“ Die feste Umarmung nahm seinem leisen Lachen den Stachel. „Ja, das bist Du.“ Als die Tür sich wieder öffnete, stand Hauptmann Nezu noch strammer, als er es ohnehin schon tat. „Hauptmann.“, sagte der Feuerlord. „Mylord?“ „Habt Ihr Euch inzwischen eingelebt?“ „Ja, Hoheit.“ „Gut. Ich glaube meine Tochter auch. Na ja ... ab jetzt.“ Zuko warf einen beiläufigen Blick auf das starre Profil. „Nur keine Regung zeigen, hm?“, fragte er leutselig. „Nein, Herr.“ „Also, ich muss schon sagen, Ryo war um einiges lustiger.“ Die Kiefermuskeln des bis auf die Zähne bewaffneten Offiziers zuckten kurz. „Obwohl ich seinen Witz über die drei Erdmännchen nie verstanden habe.“ „Dafür wurde ich nicht ausgebildet, Sire.“ „Nein. Aber dafür, ein Kage zu sein.“ Noch während Der Hauptmann über diese Bemerkung nachdachte, legte sich kurz eine Hand auf seine Schulter. „Du wirst das schon machen, mein Junge.“ Von diesem Tag an schien Prinzessin Aya Vertrauen gefasst zu haben. Statt sich in ihren Zimmern zu verkriechen, bewegte sie sich nun wieder ganz selbstverständlich durch den Palast. Und dort, wo sie auftauchte, brachte sie die Leute zum lächeln. Manchmal vor Staunen, manchmal vor Freude, manchmal vor Rührung. Seltsam war nur, dass sie nie zu merken schien, wie die Menschen sich änderten, sobald sie sie mit diesen großen, erwartungsvollen Augen ansah. So wie Takeru damals irgendwo in seinem Inneren den Mut gefunden hatte. Den Mut, sie um jeden Preis zu schützen. Den Mut, der ihn seitdem nicht mehr verlassen hatte. Wenn sie aus der Tür trat, und ihn mit einem freundlichen „Guten Morgen!“ anstrahlte, wusste er, wozu die Anstrengungen und Schmerzen der letzten Jahre gut gewesen waren. Begleitete er sie zu ihren Gum Jo- oder Gesangsstunden konnte er Klängen lauschen, die sich wie Balsam auf seine unruhige Seele legten. Übte sie ihren Fächertanz, gestattete er seinen Sinnen für einen kurzen Augenblick, wonnetrunken ihrer Anmut hinterher zu taumeln. Und leise Hoffnung keimte in ihm. Die Hoffnung, dass er ihren Feenzauber für immer in sich tragen könnte. Die Hoffnung, dass nicht einmal die Hölle diese kostbaren Erinnerungen würde auslöschen können. Vielleicht, nur vielleicht, würde ihn dies retten. Vielleicht würde ein Teil seiner Seele dadurch unversehrt die Zeit überdauern. Bis alles gebüßt wäre. Feuerpalast, Gegenwart Mit unnachahmlicher Virtuosität beendete Aya den „Tanz der Kraniche“. Die Saiten schwangen noch einen Augenblick nach, bevor die Prinzessin die Finger auf den Hals der Gum Jo legte und den Akkord sterben liess. Die folgende Stille war fast greifbar. Meister Leng seufzte verzückt. „Wundervoll, Hoheit! Ganz wundervoll! Das wird mit Sicherheit der Höhepunkt des morgigen Festes.“ „Nun, ich hoffe nicht.“, sagte Aya lächelnd. „Der Höhepunkt sollte Kirams Sonnwendtanz werden. Schliesslich ist es sein Initiationsritus.“ „Gewiss, gewiss. Aber Ihr werdet ihm eine große Freude bereiten.“ „Vielleicht. Aber da er Dur nicht von Moll und phrygisch nicht von diatonisch unterscheiden kann, bezweifle ich das ein wenig.“ „Ah. Aber man muss kein Studiosus der Musik sein, um sie zu geniessen.“ „Das ist wahr.“, räumte Aya ein. Doch sie wusste, dass Kiram Spanferkel und Wachteltauben wohl sehr viel eher zu schätzen wissen würde, als ihr Geigenspiel. Er selbst wäre der erste, der sich als hoffnungslos unmusikalisch bezeichnete. Hinter der kleinen Kommode, in der Noten aufbewahrt wurden, drang leises Rascheln hervor. Zum wiederholten Mal. Da Hauptmann Nezu jedoch regungslos neben der Tür verharrte, machte Aya sich keine Sorgen. Sie glaubte sogar, den Verursacher der verhaltenen Geräusche zu kennen. Ihr Kage tat das jedenfalls ganz bestimmt, sonst wäre er schon vor einer Viertelstunde in Aktion getreten. „Gut. Ich muss nur noch meinen Bogen mit Harz einreiben, dann bin für morgen gerüstet.“, sagte Aya. Je eher Meister Leng ging, desto eher konnte sie dem Rascheln auf die Spur kommen. „Sehr wohl, Prinzessin. Es war wie immer eine Freude.“ „Ich danke Euch, Meister Leng.“ Der alte Mann - mit einem strahlenden Lächeln bedacht - verneigte sich und schwebte von dannen. Da Aya ahnte wie scheu ihre Beute war, griff sie scheinbar beiläufig in eine kostbar lackierte Schale, holte einen kleinen, bernsteinfarbenen Klumpen heraus und begann damit sachte über die Haare des Geigenbogens zu streichen. Am Rand der Kommode tauchte unter dichten Haarsträhnen ein neugierig blinzelndes Augenpaar auf. Ein Augenpaar, das die Prinzessin seit Tagen verfolgte. „Hallo.“ Erschrocken wurde nach Luft geschnappt und die Augen verschwanden postwendend wieder in ihrem Versteck. „Warum kommst Du nicht heraus und hilfst mir ein bisschen?“ „Ich sollte nicht hier sein!“, piepste die Kommode kläglich. „Nein? Wo solltest Du denn dann sein?“, fragte Aya sanft. „Nicht hier!“ „Warum denn nicht?“ „Weil Niha gesagt hat, ich soll nicht stören.“ „Das tust Du doch nicht.“ „Doch. Bestimmt!“ „Aber nein. Außerdem hat man mir viel zu viele Kekse gebracht. Sie werden alt, wenn sie nicht gegessen werden.“ „Magst Du sie nicht?“ „Doch. Es sind nur leider zu viele. Und Du magst doch Orangenkekse, nicht wahr?“ Zerfa biss sich auf die Lippen. Die Prinzessin wusste, was sie mochte? Woher denn? Sie schielte vorsichtig hinter ihrer Kommode hervor. Aya sass noch immer auf dem großen Seidenkissen und blickte sie mit leicht schief gelegtem Kopf fragend an. „Ja. Ich ... mag Orangenkekse.“, gab die Kleine zögernd zu. „Gut!“ Wenn die Prinzessin so lächelte, war sie noch viel ... noch viel ... noch mehr eine Prinzessin und man wollte irgendwie näher heran. Zerfa krabbelte ein wenig aus der Deckung. Ein kleiner Teller wurde ihr entgegengehalten. „Danke.“, flüsterte sie. „Bitte sehr. Ich hab Dich noch gar nicht gesprochen, seit ihr aus Agnam Ba zurück seid.“ Zerfa sah kurz auf und zuckte mit den Schultern. „Nicht schlimm.“, murmelte sie unsicher. „So? Ich finde das traurig.“ „Ja?“ „Ja. Hauptmann, würdet Ihr Lyra bitten, etwas Kakao bringen zu lassen?“ „Natürlich, Hoheit.“ „Danke sehr!“ Die Tür wurde geöffnet und man tauschte murmelnd Anweisungen. Zerfa bearbeitete wieder ihre Unterlippe. „Du ... spielst sehr schön.“, sagte sie schliesslich. „Du meinst die Gum Jo?“ „Ja.“, antwortete das Mädchen. „Singen kannst Du auch schön, sagt Lee.“ „So? Sagt er das?“ Ein Lächeln glitt über Ayas Gesicht. „Er selbst kann auch sehr gut singen.“ „Ja. Aber nicht so schön wie Du, sagt er.“ Es war eindeutig, dass alles was Lee sagte naturgemäss den Tatsachen entsprach. Selbst die Buchstaben des Gesetztes würden mehr Zweifel aufkommen lassen, als etwas, das Lee sagte. Aya konnte nur hoffen, ihr Bruder wusste, wie sehr diese Kinder ihn liebten. „Magst Du Musik?“, fragte sie und reichte Zerfa einen weiteren Keks. „Ja. Manchmal singen wir Zuhause. Das ist schön.“ „In Agnam Ba?“ „Ja.“ „Ist das hier nicht Dein Zuhause?“ „Das hier ist der Palast!“ „Ja. Aber er ist auch ein Zuhause.“ „Von Dir?“ „Von vielen Leuten. Von allen, die hier arbeiten. Von meinen Eltern. Meinen Geschwistern. Und natürlich von Lee.“ „Mhm.“ Wieder zuckte Zerfa mit den Schultern. „Ich glaube, er hätte gerne, dass Du Dich hier auch zuhause fühlst.“ „Aber ich hab doch eins.“ „Man kann mehr als ein Zuhause haben. Ihr zum Beispiel habt jetzt zwei.“ „Aber ... wir sind nur zu Besuch hier.“ „Wirklich? Das wäre sehr schade. Wer sagt, ihr seid nur Besuch?“ „Niemand. Aber ... man muss überall aufpassen, dass man nichts kaputt macht. Man kann nicht Brennball spielen. Und Rübe ist auch nicht da.“ „Rübe? Danke sehr Lyra.“, sagte Aya, als ein Tablett mit einer bauchigen, dampfenden Kanne vor ihr abgestellt wurde. „Das ist mein kleiner Stier.“ „Ich verstehe. Du vermisst ihn, hm?“ „Bisschen. Aber Herr Shu passt ja auf ihn auf.“ „Kakao?“ „Mhm.“ „Weisst Du, man kann hier sehr gut Brennball spielen.“ „Ja?“ „Aber ja. Wir haben große Gärten. Die sind fast alle zum spielen da.“ „Wir sollen nicht so weit weg.“ „Dann suchen wir einen Garten, der ganz nah bei euren Zimmern ist, ja?“ Aya stellte eine grosse Tasse vor Zerfa ab. „Ja. Gut.“ Zerfa schnappte sich ihren Kakao und umklammerte die Tasse mit beiden Händen. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie überhaupt hier sein durfte. Natürlich war das da Lees Schwester, aber sie war auch eine Prinzessin! Und was für eine! Genauso wie es in den Märchen stand. Als Zerfa Aya das erste Mal gesehen hatte, war ihr der Mund offen stehen geblieben. Sogar Jem, der Mädchen meistens nicht leiden konnte, waren fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Lee hingegen war einfach auf seine Schwester zugestürmt, hatte sie vom Boden gehoben und fast zerquetscht, so fest hatte er sie gedrückt. Doch Aya hatte nicht gejammert, sondern ihn lachend umarmt. Sie lachte sogar wie eine Prinzessin! Es klang wie die kleinen Glöckchen, die zum Lichterfest an den Kutschen festgemacht wurden. Ja, Zerfa war sich fast sicher, dass sie nicht hier sein sollte. Aber sie WOLLTE es. Das ganze Musikzimmer war wie ein Zauberland. Die in der Luft flirrenden Staubkörnchen sahen aus wie Goldpuder. Es gab Kekse und Kakao. Wenn man etwas berührte, gab es Töne von sich, aus denen Musik werden konnte, wenn man nur wusste, wie es ging. Doch Zerfa wusste nicht, wie es ging. Die Prinzessin wusste es. Sie war die Herrscherin dieses Zauberreiches. Eines Zauberreiches mit herrlichen Farben und Klängen, Kirschzweigen, Silberglöckchen und Keksen. Sogar einen Riesen gab es, der alles bewachte! Aya beobachtete das Kind aufmerksam. Jedes Instrument wurde taxiert und abgeschätzt. Sie wusste, die Kleine überlegte was für Töne die verschiedenen Dinge wohl von sich gaben. „Möchtest Du lernen, wie man Musik macht?“, wollte sie leise wissen. „Ich?“, fragte Zerfa ertappt. „Weiss nicht. Ich kann´s ja doch nicht.“ „Aber natürlich kannst Du es. Komm.“ Aya streckte auffordern ihre Hand aus. Da dies ihr Zauberreich war, wäre es unhöflich gewesen, die Hand zu ignorieren. Also liess Zerfa sich auf das Kissen ziehen. „Siehst Du, eine Gum Jo ist fast wie Lebewesen. Da ist der Fuss. Der Bauch. Der Hals. Das da nennt man Wirbel.“ „Gibt´s auch einen Kopf?“ „Nein.“, lächelte Aya. „Aber eine Schnecke.“ Sie zeigte auf das spiralförmig gewundene, obere Ende der Kniegeige. „Weisst Du, ich glaube irgendwo muss hier noch meine erste Gum Jo liegen. Sie müsste genau die richtige Größe für Dich haben.“ „Für ... mich?“ Hilflos sah Zerfa zu, wie die Prinzessin aufstand und eine kleinere Version ihres eigenen Instruments hervorzauberte, sich wieder setzte und an den Saiten zupfte. „Hmm. Verstimmt.“, sagte sie. „Wie Lee, wenn er nichts zu Essen bekommt.“ Zerfa musste kichern. „Dann muss man hier drehen. Und hier. Nein, das war zu viel ... So, jetzt müsste sie stimmen.“ Plötzlich fand sich das Mädchen eine Geige im Arm haltend wieder. „Zupf mal hier.“ Sie tat es. „Ein bisschen kräftiger. Bis der Finger fast weh tut. Gut! Jetzt die anderen beiden.“ Sie tat es. „Hörst Du die drei verschiedenen Töne? So muss es klingen.“ Aya zupfte und summte den Dreiklang mit. Zerfa nickte. Klar. So musste es klingen. „Ist einer der Töne zu hoch, dreht man den Wirbel der Saite in diese Richtung. Ist er zu tief, in die andere.“ Sie demonstrierte es. „Wenn Du jetzt die Saiten zupfst, stimmen die Töne nicht mehr.“ Zerfa zupfte. Und es stimmte nicht mehr. „Gut. Dann versuch mal hier zu drehen ... gut. Zupf noch mal. Stimmt es?“ „Nein.“ „Sehr gut. Dann dreh noch ein Stückchen.“ Zerfa drehte und zupfte. „Stimmt auch nicht.“, sagte sie kläglich. Sie hatte ja gewusst, das sie es nicht konnte. „Ja. Sehr gut! Das wichtigste ist es, zu HÖREN, dass es nicht stimmt. Wie lang man drehen und suchen muss, ist egal. Dreh in ganz kleinen Schritten. Ja ... so ist gut.“ Zerfa zupfte alle drei Saiten und summte mit. „Stimmt glaub ich.“, sagte sie unsicher. Natürlich war die Gum Jo in den Ohren eines geschulten Musikers noch weit davon entfernt, exakt zu stimmen. Aber für den ersten Versuch war das Ergebnis ganz erstaunlich. „Das machst Du ganz hervorragend.“, lobte Aya ihre kleine Schülerin. „Wirklich?“ „Ja. Und jetzt, zeige ich Dir eine kleine Melodie, die Du mit den drei Tönen spielen kannst. Eine halbe Stunde später glühten Zerfas Ohren vor Eifer. Sie konnte tatsächlich ein Lied zupfen! „Sehr schön! Was meinst Du, wie Deine Geschwister staunen werden?“ „Aber es klingt nicht wie das, was Du mit dem Stab machst.“ „Nein. Noch nicht.“ Aya musste lächeln. Sie konnte diese Ungeduld gut nachvollziehen. „Aber nun weisst Du, wie man die Gum Jo hält. Der Bogen,“ sie nahm den bespannten Stab. „Kommt in die andere Hand. Das Wichtigste ist, ihn richtig zu halten. Versuch es so. Ja. Diesen Finger noch hier hin. Und nicht verkrampfen.“ Sacht führte sie den Arm des Mädchens. „Der Schwung kommt aus dem Ellbogen. Stell Dir vor, Du bist eine Marionette und durch den Ellbogen geht eine Schnur, an der Dein Unterarm frei schwingt. Ja, so ist´s gut.“ Es klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten spazierte Zukos Zweitgeborener herein. „Lee!“ „Knöpfchen! Ich hab gehört, dass Du hier bist.“ „Ja.“ Das Leuchten auf Zerfas Gesicht fiel ihrem schlechten Gewissen zum Opfer. „Entschuldige!“ „Entschuldigen? Es gibt doch nichts zu entschuldigen.“ „Aber ... ich hab nicht Bescheid gesagt, wo ich bin.“ Das mit dem Verstecken erwähnte sie vorsichtshalber gar nicht. „Oh, hier gehst Du nicht verloren. Es gibt immer Leute, die wissen, wo Du bist.“ „Ja?“ „Ja.“ „Das ist gut. Ich komm gleich.“ Das klang wenig begeistert. „Wieso? Du kannst auch noch bleiben.“, sagte Lee. „Ich ... ich weiss nicht.“, murmelte Zerfa mit einem Seitenblick auf Aya. Prinzessinnen hatten bestimmt besseres zu tun, als ihr das Gum Jo-Spielen beizubringen. „Sind das Kekse?“ Derart abrupte Themenwechsel konnten bei Lee nur durch etwas Essbares verursacht werden. „Orange.“, seufzte seine Schwester, die ihr Gebäck schon den Weg allen Fleisches gehen sah. Zumindest den Weg, den Fleisch normalerweise ging, wenn Lee seiner ansichtig wurde. „Sehr lecker!“ „Du störst den Unterricht, Lee.“ „Tu ich das?“ „Ja. Tust Du.“ „Tut mir leid. Vielleicht solltet ihr ein Schild an die Tür hängen.“ „Oder vielleicht gibst Du uns noch zehn Minuten? Dann kann ich Zerfa was zu Üben geben.“ „Üben ... klingt nach Arbeit.“ „Lee?“ „Hm?“ „Warte bitte draussen!“ „Ja doch!“ Nachdem Lee das Musikzimmer verlassen hatte, wendete Aya sich wieder ihrer Aufgabe zu. „Hier, sieh mal. Dieses Stück Holz hat die Form des Bogens. Da kannst Du immer wieder die Fingerstellung und die Haltung Deines Handgelenks üben. Dann können wir das nächste Mal vielleicht schon versuchen, die Gum Jo zu streichen.“ „Das nächste Mal?“, fragte Zerfa mit großen Augen. „Ja. Falls Du magst.“ „Ja! Ja, mag ich!“ „Das freut mich sehr. Übermorgen um zwei?“ „Ja.“ „Gut. Dann lauf zu Lee. Er sah aus, als hätte er etwas sehr Spannendes vor.“ „Ja!“ An der Tür zögerte Zerfa, machte kehrt, rannte zurück und umarmte die Prinzessin linkisch. „Danke!“, stiess sie aus. Aya erwiderte die Umarmung fest. „Gern geschehen.“, flüsterte sie an den lockigen Scheitel des Mädchens und sah zu, wie es aus dem Zimmer rannte. Es war schön, die neue Familie ihres Bruders im Palast zu haben. Das Getrampel der kleinen Füsse, das helle Lachen, die staunenden, neugierigen Augen. In Ayas Innerem ballte sich die Sehnsucht zu einem festen Knoten. Sie würde niemals Kinder haben. Keine eigenen. Was ihr blieb waren die Kinder der Dienerschaft, mit denen sie sich von Zeit zu Zeit verbündete, damit sie aus der Küche einen Kuchen stibitzten konnten, der eigens dafür gebacken worden war (das zu verraten hätte allerdings den Spass verdorben). Auch mit kleineren Schrammen rannte man nur all zu gerne zur Prinzessin, denn sie versorgte einen mit dicken Pflastern, großen Taschentüchern und einem Stück Pfefferminz oder Schokolade. Und jeden Freitag las sie der ganzen Rasselbande etwas vor. Schon bald wäre da natürlich auch der Nachwuchs ihrer Brüder. Aya konnte es kaum erwarten, Tante zu werden, auch wenn es einen kleinen Teil von ihr sehr wehmütig machen würde. Was tat sie hier eigentlich? Sass herum und starrte Löcher in die Luft, während es für morgen noch so viel zu tun gab. Sie straffte sich, stand auf, stellte die Gum Jo auf ihren Platz und machte sich auf den Weg, um mit dem Gärtner die endgültige Auswahl der Blumendekoration für das morgige Fest zu besprechen. Schneller als sonst eilte Aya durch den Palast. Die ungeplante Musikstunde hatten sie im Zeitplan etwas zurückgeworfen. Vielleicht war dieser Umstand Schuld daran, dass sie beinahe mit Masaru Shouta zusammenstieß. Das, oder die Tatsache, dass der Herzog schon seit einer halben Stunde hier herumlungerte. Ein unschicklicher, potentiell schmerzhafter Körperkontakt wurde nur durch den blitzartig ausgestreckten Arm Takeru Nezus verhindert. Masaru starrte indigniert auf die Pranke auf seinem Brustkorb. Was fiel diesem Menschen eigentlich ein? Dieser impertinente Wachhund! Gezwungenermassen trat Masaru einen kleinen Schritt zurück. Der Plan hatte eigentlich vorgesehen, eine strauchelnde Prinzessin an seiner starken, muskulösen Brust zu stabilisieren. Manneskraft war schliesslich ein unschlagbares Argument im Kampf der Geschlechter und man konnte nie genug Wasserkastanien im Feuer haben. Doch dieser verdammte Söldner, den das Mädchen im Dauer-Schlepptau hatte, schien sich seiner Grenzen nicht bewusst zu sein. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, Hoheit. Ich habe Euch nicht kommen sehen.“ Trotz seines Unmuts, liess Masaru seine Stimme schnurren wie einen zufriedenen Kater. Frauen mochten das. Diese tat jedoch unbeeindruckt. Noch! Allerdings war der Herzog ja auch abgelenkt und konnte sich nicht voll auf seine Verführungskünste konzentrieren. Täuschte er sich, oder fixierte ihn dieser überdimensionierte Aufpasser nun auch noch auf nahezu unverschämte Art und Weise? Dieser Emporkömmling täte besser daran, sein Misstrauen für verkommene Schurken aufzusparen, statt es an hoch geachtete Pfeiler der Gesellschaft zu verschwenden. „Kein Grund zur Sorge. Es ist ja nichts geschehen.“, lenkte Aya ein. „Oh, aber ich habe Euch erschreckt. Das werde ich mir niemals vergeben.“, widersprach Masaru, legte eine Hand aufs Herz und deutete eine Verbeugung an. „Nun, dann vergebe eben ich Euch.“ „Wie ich sehe, lobt man Euer gütiges Wesen zurecht, Prinzessin.“ „Tut man das?“ „Aber ja. Ein Herz aus Gold sei das Eure, heißt es.“ Der Herzog liess sein hinreissendstes Lächeln aufblitzen. „Und Eures sei recht groß, heißt es.“ Ah! Sie hatte von seinen Frauengeschichten gehört. Gut! Das bedeutete, sie hatte sich über ihn erkundigt. „Es wartet nur darauf, eingefangen zu werden, Hoheit.“ „Da habt Ihr Glück. Wir haben bei Hof die ein oder andere versierte Fallenstellerin.“ Statt zuzulassen, dass er ihre Hand zu fassen bekam, um sie an die Lippen zu ziehen, neigte Aya den Kopf, lächelte freundlich und murmelte: „Wenn Ihr mich nun entschuldigt ...“ „Natürlich, Hoheit.“ Mit gerunzelter Stirn starrte Masaru seiner Beute hinterher. Vielleicht hatte er die Taktik, das Fräulein während der letzten beiden Tage weitgehend zu ignorieren, zu weit getrieben. Frauen konnten ja so schnell beleidigt sein, wenn man sie nicht beachtete. Höchste Zeit den Fehler wieder auszubügeln. Jin hielt sich die Hand vor die Augen, um ihrem jüngsten Sohn nicht dabei zusehen zu müssen, wie er zwischenzeitlich nur meterweise Luft unter sich hatte. „Ich kann das nicht ausstehen!“, stiess sie aus. Zuko griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuss darauf. „Hab Vertraue in ihn, mein Herz. Er wird seine Sache hervorragend machen.“ „Ja. Ich kann es aber trotzdem nicht leiden. Bei Dir schau ich auch nicht gern zu.“ „Ach?“ Ein Seitenblick verriet ihr, dass seine Braue zu einem überheblichen Höhenflug angesetzt hatte. „Da hab ich aber gegenteiliges gehört.“, murmelte er verhalten. „Na schön. Dir seh´ ich gern dabei zu. Bis auf diesen Salto imperiale am Ende. Ich HASSE das!“ „Jin ...“ „Ich verstehe einfach nicht, weshalb ihr unbedingt sieben Meter über dem Boden herumschwirren müsst.“ „Weil es so gehört!“ „Aber ... Oh nein!“ Sie kniff hastig die Augen zusammen, als Kiram erneut in die Luft katapultiert wurde. „Ist er wieder unten?“, hauchte sie bang. „Natürlich ist er das. Sagenhafte Landung!“ Das klang ungemein selbstgefällig. „Zuko ... Du platzt gleich vor Stolz!“ „Ja? Muss an diesen unglaublichen Kindern liegen, die Du mir geschenkt hast.“ „Wirklich? Schmeichler!“ „Ja, wirklich. Aber, Kobold ...“ „Was denn?“ „Morgen ist Kirams Ehrentag. Versprich mir, dass Du ihm bei seinem Tanz zusehen wirst. Mit OFENEN Augen.“ „Natürlich tue ich das. Bei Lu Ten und Lee ertrage ich es schliesslich auch heldenmütig.“ Plötzlich zerrte sie seinen Ärmel außer Form. „Sieh nur, da ist Aya!“ Aya versuchte auf die Fragen und Anregungen des Gärtners einzugehen, während sie durch den Festsaal gingen. Was hatte er noch gesagt, in welcher Farbe die Lilien wären? Rot oder Orange? Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern; war unkonzentriert und abwesend. Zum einen waren die Proben für den Sonnwendtanz in vollem Gange und zum anderen scharwenzelte plötzlich überall Masaru Shouta herum und brachte sie mit lächerlichen Fragen und noch lächerlicheren Kommentaren aus dem Konzept. Aber vor allem liess sich die Schwermut, die sie seit der Geigenstunde erfasst hatte, heute einfach nicht wieder abschütteln. Wie viel Freude dieses Kind ihr bereitet hatte! Und wie selten sie diese Freude würde erleben dürfen ... Wäre sie sich der beiden Zuschauern bewusst gewesen, hätte sie freilich alles getan, um ihre Melancholie zu verbergen. Jin und Zuko staunten über sich selbst. Seit fast drei Tagen beobachteten sie ihre Tochter nun schon mit Argusaugen. Und es hatte sich heraus gestellt, dass seit sie die Situation erfolgreich analysiert hatten, die Sache klar auf der Hand lag. Das Kind war verliebt. Total, zur Gänze, vollkommen verliebt. Sie gab sich unbeschwert, freundlich und gelassen - wie auch jetzt. Das Interessante war: sobald ihr wehrhafter Schatten in Erscheinung trat, war sie all das noch mehr. Aya hatte ganz offensichtlich höllische Angst, jemand könnte ihre Gefühle für den Hauptmann erahnen. Besonders, wenn es sich bei diesem jemand um jenen ehrenwerten Herren selbst handelte. Ihre Augen mieden ihn wie etwas Verbotenes. Und wie etwas Verbotenes, zog er ihre Blicke magnetisch an, sobald sie sich unbeobachtet fühlte. Der Kage selbst war die weitaus schwerer zu knackende Nuss des observierten Pärchens. Er war wie immer. Egal wie scharf „man“ versuchte, hinter die Fassade zu blicken, es prallte an seiner geschult grimmigen Mine ab. „Ich weiss nicht, Zuko. “, flüsterte Jin jetzt. „Bist Du Dir sicher, dass er ihre Gefühle erwidert?“ „Ziemlich. WARUM flüsterst Du, mein Herz?“ „Weil man das so macht!“ „Sie sind außer Hörweite.“ „Man macht es trotzdem so! Du hast eben keine Ahnung von Heimlichtuerei!“ „Natürlich nicht.“, seufzte der Mann, der dereinst als Blue Spirit in drei Nationen steckbrieflich gesucht worden war. Ganz zu Schweigen davon, dass er seiner ehemaligen Angebeteten jahrelang als Teekellner durch den Kopf gespukt war. „Er hat nicht mal geblinzelt, als sich dieser schmierige Herzog von Dingsda an sie rangeschmissen hat.“, sagte die ehemalige und momentane Angebetete Seiner Lordschaft. „Ersten schmeissen sich Herzöge nicht ran. An niemanden. Zweitens ist es die Aufgabe des Jungen, die Umgebung zu beobachten und nicht, mit wem Aya sich unterhält.“ „Auf mich macht er jedenfalls keinen verliebten Eindruck.“ „Du hast Recht. Er zwitschert weder mit den Vögeln um die Wette, noch wirft er mit Blütenblättern um sich.“ Mylord bekam einen Ellbogen in die Rippen. Aber nur ganz leicht. „Na, na. Wer wird denn gleich handgreiflich werden?“ „Du nimmst das Alles nicht ernst.“ „Na schön. Wenn Dich das glücklicher macht, werde ich morgen jemanden auf die Sache ansetzen.“ „Jemanden ansetzten? Wen denn?“ „Na wen schon? Meinen Blutwolf natürlich.“ „Aber ...“ „Genau.“ „Zuko! Das ist das hinterhältigste, das ich je gehört habe.“, hauchte Jin bewundernd. „Ja. Nicht wahr?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)