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Fremd

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Prolog

Prolog

Sein Kopf hämmerte. Seine Sicht war getrübt. Sein Blick unstetig. Alles verschwamm vor seinen Augen zu bizarren, sich ständig ändernden Formen, dann gab es kurze Momente der Klarheit, doch nicht lang genug, um sich seiner Umgebung wirklich bewusst zu werden.

Erschöpft schloss er die Augen und versuchte, tief durchzuatmen. Er fühlte sich wie in einem Karussell. Doch er wusste, er befand sich in keinem. Er lag vermutlich auf dem Boden. Auf der Erde. Nein, er vermutete nicht, er war sich sogar ziemlich sicher. So hart und uneben, wie sich der Untergrund anfühlte.

Doch das half ihm vorerst nicht weiter.

Als er das Gefühl hatte, das der Schwindel so weit nachgelassen hatte, dass er mit ihm klarkommen konnte, setzte er sich vorsichtig auf.

Und bereute es sofort.

Es ging so schnell, dass er kaum Zeit hatte, sich zur Seite abzuwenden. Ein warmer, bitterer Brei füllte seinen Mund, ehe er die Chance hatte, ihn auszuspucken. Hustend und nach Luft ringend würgte er seinen gesamten Mageninhalt hervor, solange, bis nur noch Magensäure seine Speiseröhre emporstieg. Er hasste dieses Gefühl.

Wie lange er da saß, nach Luft ringend und etwas Kraft sammelnd, konnte er nicht sagen. Sein Gefühl für Zeit und Raum hatte sich verflüchtigt, doch das interessierte ihn im Moment auch nicht.

Da hörte er Stimmen. Sie näherten sich ihm. Er vermutete sogar, dass sie laut waren, doch er fühlte sich wie in Watte gepackt. Sein Kopf hämmerte, der Schmerz blendete alles andere aus. Es war wieder schlimmer geworden. Und schlecht war ihm jetzt auch noch, obwohl er wohl nicht mehr fürchten musste, er könnte sich plötzlich übergeben. Sein Magen war ja bereits leer. Ein Problem weniger, dachte er sarkastisch.

Langsam schaute er auf. Sogleich wurde ihm klar, dass seine Augen immer noch nicht funktionierten. Er nahm nur schemenhafte Umrisse wahr, aber zumindest drehte sich nichts mehr.

Aber vielleicht war das ja normal? Vorsichtig tastete er mit seiner Hand nach seinen Augen und rieb sie sich. Nichts veränderte sich. Vielleicht brauchte er ja eine Brille? War er Brillenträger? Er konnte das gar nicht so sicher beantworten.

Nachdenklich sah er auf seine Hand. Sie war rot. Rot? Blut? Ja, es war Blut. Blutete er? Warum sollte er bluten?

Die Stimmen wurden wieder lauter. Sie nervten. Sie sollten aufhören. Er wollte Ruhe. Ruhe, um über all dies nachzudenken.

Doch die Stimmen gaben keine Ruhe.

Licht fiel auf ihn. Blendete ihn.

Blinzelnd kniff er die Augen zusammen und verzog verärgert das Gesicht, als ihn ein Hustenanfall heimsuchte. Heftig stach es in seinem Hals, er bekam kaum Luft. Er hatte das Gefühl, etwas Flüssiges sich in seinem Mund sammeln, er schmeckte Blut. Seine Brust schmerzte, sein Hals brannte. Plötzlich durchzuckte ein heftiger Schmerz seinen Kopf. Bevor sein Gehirn die neuen Reize verarbeiten konnte, versank alles in tiefe Dunkelheit.

Das letzte, was er wahrnahm, dafür aber erstaunlich deutlich und klar, war eine dunkle und aufgeregte Stimme.

„Hey, hier ist noch Einer! Und er lebt! Schnell, helft mir Mal!“

Er lebte? Natürlich lebte er, was sollte er denn sonst tun?

Oder starb er gerade?

So, das war’s. Wir sehen uns im ersten Kapitel, solltet ihr Interesse entwickelt haben, wieder.
 

eure achat

Kapitel 1

Hallihallo!
 

Jetzt geht's los! Die richtige Geschichte beginnt. Der Prolog gehört ja nur indirekt dazu, aber ich liebe es einfach, Prologe zu schreiben. Schade, dass pro Story immer nur einer existiert. *seufz*

Und ich bin mir nicht Mal sicher, ob ich den Prolog richtig schreibe, also inhaltlich.
 

Aber genug geredet, das interessiert euch ja gar nicht, ne? ^^

Danke übrigens, amy, ich hoffe, dass dir auch der Rest der Story gefallen wird und jetzt an alle viel Spaß beim Lesen!
 

1. Kapitel

„Und deswegen wirst du ab jetzt in diesem Waisenheim leben. Hast du das verstanden, Ray?“

Gelangweilt nickte der Schwarzhaarige.

Ja, er hatte es verstanden. Er hatte es schon beim ersten Mal verstanden. Es gab keinen Grund, ihm dieselbe Geschichte immer und immer wieder zu erzählen.

Desinteressierte starrte er die ältere Frau vor ihm an. Ihre dunkelbraunen, lockigen Haare hatte sie zu einem lockeren Zopf nach hinten gebunden. Man konnte bereits erste graue Haare erkennen, die wie Silber hervorblitzten. Auch sie sah ihn an. Allerdings mit einen beunruhigten und mitleidigem Gesichtsausdruck. Mitleidig starrte sie ihn schon seit er sie das erste Mal gesehen hatte an. Und er hasste es.

Beunruhigt war sie vermutlich von seiner scheinbaren Teilnahmslosigkeit.

„Nun gut. Ich werde dich jetzt alleine lassen, Ray. Morgen wirst du entlassen. Ich werde dich dann zu deinem neuen Zuhause bringen, ja? Sei bitte gegen elf Uhr soweit fertig und warte unten auf mich.“

Er nickte als Zeichen, das er verstanden hatte. Sie ging. Endlich.

Müde starrte er aus dem Fenster seines Zimmers. Er befand sich im Krankenhaus. Zumindest hatte die Frau ihm das erzählt. Das und so viel mehr. Er musste das neue Wissen zuerst einmal sortieren.

Sein Name war Raymond Kon. Er konnte nicht glauben, dass er so einen doofen Namen haben sollte. Ray reichte ihm vollkommen, was er der Frau auch gleich gesagt hatte. Sie hatte es hingenommen und weiter erzählt.

Er wäre siebzehn Jahre alt, chinesischer Herkunft und vor einer Woche mit seinen Eltern aus ihrem Heimatdorf in China hierher nach Russland gezogen. Die russische Staatsbürgerschaft besaß er wohl schon, sonst allerdings nichts. Gar nichts.

Seine Eltern und er hätten einen Autounfall gehabt. Sie wären in einen Graben gefahren, das Auto hätte sich mehrfach überschlagen und er wäre hinausgeschleudert worden, da er sich nicht angeschnallt hatte. Seine Eltern dagegen steckten in dem Fahrzeug mehr oder weniger bewusstlos fest und sind darin verbrannt, als es Feuer gefangen hatte. Er selbst hätte mit einer Kopfverletzung sowie diversen Prellungen und Kratzern überlebt.

Nur hatte er wohl sein Gedächtnis dabei verloren.

Da er weder Verwandte noch Bekannte in Russland hatte und zurück nach China auch nicht konnte, wurde er nun in ein Waisenhaus geschickt. Es wäre seine neue Heimat.

Ray hatte sich all das angehört ohne weiter zu reagieren. Die Frau war dadurch wohl ziemlich beunruhigt und verwirrt gewesen, vermutlich hatte sie größere Gefühlsausbrüche erwartet. Aber wozu? Er konnte an dem, was passiert war, nichts ändern. Er könnte um seine verstorbenen Eltern trauern, doch er konnte nicht um Leute trauern, die er nicht kannte. Und das traf auf diese ‚Eltern’ nun einmal zu. Und mit dem Rest verhielt es sich ähnlich.

Obwohl es Ray schon brennend interessieren würde, weshalb er denn so gut russisch sprechen konnte, immerhin verstand er die Frau einwandfrei, obwohl er doch angeblich aus China kam. Doch darauf konnte ihm die Frau auch keine antwort geben. Vielleicht hätten seine Eltern ihn so gut auf ihren Umzug vorbereitet, meinte sie vage. Aber das waren nur Vermutungen.

Allgemein schien auch sie nur die Fakten über ihn zu kennen, die in seinem Personalausweis standen den er bereits erhalten hatte. Der Unfall hatte ihm keinen Schaden zugefügt.

Seufzend ließ sich Ray zurück in die weichen Kissen fallen und starrte deprimiert die weiße Zimmerdecke an. Warum war in Krankenhäusern immer alles weiß? Damit man das Blut besser sehen konnte? Leicht schüttelte es ihn. Er musste wieder an das Blut auf seiner Hand denken. Kein angenehmes Gefühl. Aber vertraut. Vielleicht, weil es seine erste klare Erinnerung war?

Wie würde wohl das Waisenhaus sein? Ob die Kinder dort nett waren? Oder besser gesagt die Jugendlichen, denn er war bei weitem kein Kind mehr. Ob er mit ihnen klar kommen würde? Ob sie ihm Fragen zu ihm stellen würden? Fragen, die er nicht beantworten könnte? Er wusste schließlich nichts über sich. Was sollte er dann tun?

Über diesen und vielen weiteren Fragen, die in seinem Kopf herumschwirrten, fiel er schließlich in einen unruhigen Schlaf.
 

Beharrlich tickte der Sekundenzeiger der Uhr. Immer weiter. Beständig auf die große Zwölf zu, während der kurze Zeiger Uhr nur darauf zu warten schien, endlich auf die Elf zu springen.

Wo blieb diese Frau nur? Dabei hatte sie ihn gestern extra noch einmal darauf hingewiesen, auch ja pünktlich zu sein und nun verspätete sie sich selbst.

Leicht gähnte Ray. Die Nacht war nicht sehr erholsam gewesen. Immer wieder war er schweißnass aufgeschreckt, unfähig, sich zu rühren. Doch jedes Mal wusste er nicht, warum. Vermutlich Träume von dem Unfall hatten die Ärzte gesagt. Er würde das Geschehene verarbeiten und sich zu gegebener Zeit vielleicht auch wieder erinnern. Oder durch gewisse Katalysatoren, Reize, Dinge, die er mit seiner Vergangenheit verband. Geschehnisse. Genau genommen, könnte er sich jede Sekunde an seine Vergangenheit erinnern. Oder aber auch nie. Doch sicher war, je mehr Zeit verstrich, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass er sich wirklich erinnerte.

„Oh! Entschuldige, dass ich so spät bin!“

Aus seinen Gedanken gerissen sah Ray auf. Vor ihm stand nun die ältere Frau, die ihm gestern alles erklärt hatte. Wenn er sich doch nur an ihren Namen erinnern würde… Das einzige, was er noch wusste, war, dass sie vom Jugendamt kam.

„Gut, du bist schon fertig. Dann können wir ja gehen, mein Auto steht gleich da vorne. Es ist nicht weit. Und das Waisenhaus ist auch nicht zu weit entfernt. Deine persönlichen Dinge wurden übrigens aus eurer neuen Wohnung in dein neues Zimmer gebracht. Es war nicht viel und stellte darum kein großes Problem dar. Nur die Wohnung wollte der Vermieter natürlich schnell leer geräumt haben, damit er sie anderweitig vermieten kann. Tut mir Leid, dass du nicht noch einmal hin konntest. Vielleicht hätte das deiner Erinnerung geholfen?“

Erneut nickte Ray nur, dann jedoch lächelte er aufgeregt.

„Wie ist das Waisenhaus?“, fragte er neugierig.

Sie schaute ihn kurz an.

„Es gehört nicht zu den Besten der Stadt, ist aber vollkommen in Ordnung. Ihr seid etwa einhundert Waisen verschiedenster Altersklassen. Außer natürlich Babys, die Jüngsten sind, glaube ich, vier Jahre alt und die Ältesten achtzehn. An seinem neunzehnten Geburtstag muss man das Waisenhaus spätestens verlassen.“

Begierig sog Ray diese Informationen auf.

„Es liegt in einem älteren Viertel der Stadt. Du musst dort schon aufpassen, dass du dich abends und nachts nicht alleine dort herum treibst. Die Gestalten sind nicht ganz ungefährlich, die dort umherschleichen. Ihr besucht eine öffentliche Schule. Sie ist ganz in der Nähe. Ein paar Stationen mit dem Bus, wenn ich mich nicht irre. Tja, den Rest wirst du von den Betreuern dort erfahren. Mehr kann ich dir auch nicht sagen. Aber keine Sorge, du schaffst das schon.“

Aufmunternd lächelte sie ihm zu und Ray versuchte, das Lächeln zu erwidern. Doch ihre Beschreibung am Ende war doch etwas beunruhigend gewesen. Gefährliche Gestalten? Älteres Viertel? War das die höfliche Umschreibung für Slums und Verbrecher? Der Schwarzhaarige hoffte, dass dem nicht so war.

Das Auto bremste ab und kam schließlich zum Stehen.

Ray stieg aus und fröstelte unwillkürlich. Obwohl Spätsommer war, war es doch frisch. Russland war wirklich ein kaltes Land. Er musste sich wohl noch daran gewöhnen.

Seine Augen musterten die Umgebung. Nun, in den Slums war er zwar nicht gelandet, aber in ein paar Jahren würde dieses viertel wohl auch dazugehören. Die Häuser wurden wohl zur Zeit der Industrialisierung gebaut.

Sie waren Grau, bestanden aus Stahl und Beton und waren sehr Platz sparend angelegt. Teilweise wirkten sie schon sehr verfallen, lose Fensterläden knarrten im Wind und eine Vielzahl von Fensterscheiben waren gesprungen oder ganz eingeschlagen. Graffiti zierte die kahlen Häuserwände und diverser Sperrmüll lag auf den schmalen Fußwegen.

Ray fröstelte. Wo war er hier nur gelandet? Er wusste zwar nichts mehr über sein bisheriges Leben, doch er bezweifelte, dass es auch nur annähernd so schlecht gewesen war.

Beunruhigt wandte er sich zu der Frau.

„Und wo ist das Waisenheim?“

Ihr musste das leichte Zittern in seiner Stimme aufgefallen sein, denn sie lächelte ihn beruhigend an.

„Keine Sorge, es ist dort hinter den Bäumen. Es ist ein neueres Gebäude.“

Mit großen Schritten ging sie auf die kleine Baumansammlung zu, die dem Schwarzhaarigen bisher gar nicht aufgefallen war. Eilig folgte er ihr und staunte nicht schlecht, als hinter den Bäumen ein relativ großes, von einem Zaun eingerahmtes, Haus mit Garten zum Vorschein kam. Es hatte drei Etagen, war allerdings wie alle Häuser hier in einem schäbigen Grau gehalten. Dennoch wirkte es durch den Spielplatz und die Spielgeräte, wie Bälle und Reifen, die im Garten herumlagen, wesentlich freundlicher und bewohnter. Allerdings vermittelte es noch immer deprimierende Gefühle.

Leicht seufzte Ray. Wenn das ein normales Waisenheim war, dann wollte er nicht die Heruntergekommenen sehen.

„Oh, verdammt, es ist gerade zwölf Uhr. Deswegen ist keiner zu sehen. Um diese Uhrzeit gibt es nämlich immer für alle Mittag hier, musst du wissen. Na los, vielleicht ist für dich auch noch etwas da.“

Ray hörte der Frau nur mit einem Ohr zu. Seine Konzentration lag auf seiner Umgebung. Von Innen wirkte das Haus schon etwas heimischer. Am Eingang standen lauter Garderobenständer mit vielen verschiedenen Jacken, außerdem standen einige Kinderschuhe herum. An den Wänden hingen Kinderbilder, gemalt mit Buntstiften, Tusche und Wachs, sowie dein paar Basteleien. Eine Treppe führte nach oben und von diesem Gang gingen mehrere Zimmer ab.

Vor einem blieben sie stehen und klopften.

„Herein!“

Sie betraten das Zimmer und wurden von einer Frau mittleren Jahrgangs mit schmutzig-blonden gelockten Haaren empfangen, die sie streng zu einem Dutt nach hinten gebunden hatte. Kritisch musterte sie Ray.

„Ah, sie müssen der Neuzugang sein!“, sagte sie.

Da Ray nicht reagierte, ergriff seine Begleitung das Wort.

„Ja, das ist Raymond Kon. Er hat vor einer Woche seine Eltern verloren und ist jetzt Waise. Sein Gedächtnis hat er allerdings bedauerlicher Weise verloren. Das alles wurde ihnen gemeldet?“

Die blonde Frau nickte. Sie wirkte sehr streng und trug einen zusammengekniffenen Gesichtsausdruck zur Schau.

„Ja. Am Besten, ich zeige ihm gleich sein neues Zimmer. Vielen dank, dass sie ihn hier her gebracht haben, ich will sie nicht weiter von ihrer Arbeit abhalten. Raymond, komm mit. Deine Sachen sind bereits in deinem Zimmer.“

Raymond. Er hasste den Namen. Und die Frau mochte er auch nicht. Sie hatte sich nicht einmal vorgestellt!

„Na gut, Ray. Ich muss wirklich gehen. Ich bin sicher, du wirst hier zurecht kommen, doch wenn es Probleme gibt, melde dich beim Jugendamt, ja?“

Der Schwarzhaarige nickte nur. Dann lächelte er jedoch leicht.

„Danke“, sagte er zu der Frau, die ihn hergebracht hatte. Immerhin hatte sie ihm sehr geholfen. Auch, wenn sie das nur tat, weil es ihr Job war.

„Kein Problem, viel Glück, ja?“

Sie wuschelte ihm lächelnd kurz durch die Haare, ehe sie das Haus verließ. Etwas wehmütig sah Ray ihr nach.

Auch, wenn ihm ihr Name immer noch nicht wieder eingefallen war, mochte er sie. Sie war sozusagen die erste Person, die er kennen gelernt hatte und etwas in ihm hing daher wohl an ihr.

Die Frau hinter ihm räusperte sich. Er wandte sich zu ihr um.

„Wenn du mir bitte folgen würdest. Ich bin übrigens Ilinda Koraja, die Heimmutter. Die anderen Betreuer und Betreuer wirst du mit der Zeit sicher auch kennen lernen. Momentan befinden sich alle im Speisesaal, da es Mittag gibt. Willst du auch etwas essen? Vielleicht ist noch etwas da.“

Ray verneinte. Im Moment war ihm eher schlecht.

„Gut“ Sie wirkte mit seiner Antwort zufrieden.

„Dein Zimmer befindet sich im zweiten Stock, das ist die oberste Etage. Hier sind die Ältesten einquartiert worden. Du wirst dir dein Zimmer mit jemandem teilen, allerdings befindet sich dein Zimmergenosse auch gerade beim Mittag. Aber du lernst ihn ja dann nachher kennen. Sein Name ist … Kai Hiwatari. Er ist schon länger bei uns. Die Schule beginnt um acht, das heißt, um viertel acht werdet ihr gemeinsam losgehen. Frühstück gibt es halb sieben, Mittag am Wochenende um zwölf und Abendessen um neunzehn Uhr. Sei pünktlich, sonst bekommst du nichts mehr. Ah, da sind wir.“

Ray hatte der Frau, Ilinda Koraja, aufmerksam gelauscht, nun jedoch standen sie vor einer dunklen Holztür. Es war das letzte Zimmer auf dem Gang, musste also folglich ein Eckzimmer mit zwei Außenwänden sein. Vielleicht hatte es auch zwei Fenster?

„Hier ist der Schlüssel. Ich werde dich jetzt alleine lassen, damit du Zeit hast, dich in Ruhe umzusehen. Denk daran, um sieben gibt es Abendessen.“

Sie schien gar nicht schnell genug wieder weg zu kommen. Kurz blickte Ray der Heimmutter noch hinterher, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Tür zu. Vorsichtig steckte er den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum. Es klickte leise. Die Tür sprang lautlos auf.

Vorsichtig trat er ein.
 

Ähhh, das war’s. Nichts für Ungut, aber kann es sein, das ich ein Talent dafür habe, Dinge in die Länge zu ziehen? Sorry. >_<
 

achat

Kapitel 2

Hallöchen!
 

Willkommen bei Kapitel 2! Ich freue mich, dass ihr es bis hier hin geschjafft habt und wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
 

Und eh ich es vergesse: Vielen Dank amy! Hab mich sehr über das Lob gefreut ^^

2. Kapitel

Der Raum war nicht groß. Vielleicht drei Mal fünf Meter. Maximal. Die Einrichtung war komplett symmetrisch. Links und rechts kamen zuerst zwei Schränke. Dann standen an den Seitenwänden ganz hinten die zwei Betten. Auf der Gegenüber liegenden Wand zwischen den Betten standen zwei Schreibtische mit einem Stuhl und ein großes Fenster befand sich in der Mitte. Leider das einzige Fenster.

Kurz musterte Ray die zwei Zimmerseiten und kam zu dem Entschluss, dass seine Seite wohl die rechte war, denn auf dem linken Schreibtisch lag ein Stapel Bücher und ein paar Stifte und an der Schranktür klebte ein recht finsteres Poster von irgendeiner, Ray unbekannter, Musikgruppe.

Unschlüssig legte er die Hand an seinen Schrank.

Sollte er ihn öffnen?

Was würde er vorfinden?

Dinge von ihm, so hatte zumindest die Frau vom Jugendamt gesagt. Ob er sich dann erinnern würde? Er hoffte es, denn es war schon ein merkwürdiges Gefühl, nicht über sich selbst Bescheid zu wissen. Im Krankenhaus war er nachts öfter wach geworden von den Alpträumen über den Unfall und dann hatte sich plötzliche eine irrationale aber starke Panik in ihm ausgebreitet. Er wusste nicht, woher diese Angst kam, doch sie raubte ihm den Atem und brachte ihn zum Zittern.

Laut den Ärzten war das normal und würde sich mit der Zeit geben. Er brauchte nur etwas Zeit, um sich auf die neue Situation einzustellen.

Schließlich gab er sich einen Ruck.

„Komm schon Ray, du bist doch kein Feigling, oder?“

Entschlossen öffnete er den Schrank, trat schnell einen Schritt zurück und starrte mit zusammengekniffenen Augen hinein, ganz so, als erwartete er, dass ein Monster daraus hervorspringen und ihn attackieren würde.

Doch nichts dergleichen geschah.

Auf der einen Seite lagen ganz ordentlich zusammengelegt Kleidungsstücke, von Socken über Unterwäsche bis hin zu Hosen und Pullovern und Jacken war alles dabei. Auf der anderen Seite lagen verschiedene Bücher, hauptsächlich in chinesisch, aber auch ein paar in russisch und englisch, sowie ein mp3-Player, eine Umhängetasche und anderer Krimskrams.

Interessiert beäugte Ray die Dinge, wobei er einen Schritt näher treten musste. Unwillkürlich sah er sich kurz im Zimmer um, um noch einmal sicher zu gehen, dass er auch wirklich alleine war. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie albern er sich eigentlich benahm.

Ihm fiel auf, dass die – seine – Kleidung hauptsächlich chinesischer Herkunft war. Die Schnitte, Farben und Muster passten überhaupt nicht in das kalte Russland. Aber die Kleidung gefiel dem Schwarzhaarigen. Dennoch, als er so durch die Sachen sah, die Bücher musterte, darin herum blätterte, den mp3-Player kurz ein- und ausschaltete und in den anderen Sachen herumwühlte, kam ihm nichts davon bekannt vor. Es war alles vollkommen fremd.

Etwas deprimiert ließ er sich auf sein Bett fallen. Schade. Er hatte irgendwo doch gehofft, dass sein Gedächtnis zurückkommen würde, doch anscheinend wollte das Schicksal es ihm nicht so leicht machen. Aber er konnte warten.
 

Erschrocken schreckte Ray hoch. Verwirrt sah er sich um, bevor ihm bewusst wurde, wo er sich befand.

Gähnend setzte er sich auf und streckte sich ausgiebig. Er musste eingedöst sein, ein Blick auf den Wecker verriet ihm, dass es bereits halb vier war. Aber was hatte ihn geweckt.

Da klopfte es. Überrascht fuhr der Schwarzhaarige zusammen, bevor er sich zusammen riss. Deswegen war er hoch geschreckt. Jemand hatte geklopft. Nachdenklich starrte er die Tür an. Wer das wohl war? Und was er wollte? Sollte er öffnen?

Nun, sollte es die Heimmutter sein, wäre sie sicher sehr erbost, wenn er sie ignorieren würde. Also ging er zur Tür und machte sie auf.

Und stockte.

Nein, das war definitiv nicht die Heimmutter. Die hatte nie so gegrinst. Konnte sie sich auch nicht.

„Äh…“, meinte Ray sehr einfallsreich.

„Du musst der Neue sein! Es ging das Gerücht um, dass wir in der dritten Etage Zuwachs hätten, aber wir konnten es nicht ganz glauben. Weißt du, in unserem Alter kommen selten Neue. Das ist toll, endlich Mal ein anderes Gesicht! Mein Name ist übrigens Max und der, der sich da hinter mir versteckt, das ist Kenny. Der wollte nicht glauben, das du hier bist, ich hatte aber gehört, wie sich zwei Betreuerinnen darüber unterhalten haben. Also haben wir einfach nachgeschaut, ob es auch stimmt. Und ich hatte Recht! Hast du dich schon umgesehen? Warum warst du nicht beim Mittag? Wie heißt du eigentlich?“

Erwartungsvoll sah Ray ein strahlender blonder Junge mit Sommersprossen und einer grell orangenen Latzhose entgegen. Der Chinese fühlte sich richtig geblendet.

„Also…“, was hatte der Junge ihn noch gleich gefragt? Er hatte so schnell gesprochen, Ray war kaum mitgekommen.

„Ray!“, stieß er schließlich hervor.

„Mein Name ist Ray Kon.“

„Freut mich, Ray. Du bist nicht von hier, oder? Du siehst so asiatisch aus. Japan? China? Korea? Oder irgendwas Anderes?“

„China“, beantwortete Ray brav die Frage und fügte in Gedanken ein ‚hat man mir jedenfalls erzählt, daran erinnern tu ich mich ja nicht’ hinzu.

„Cooool! Und, wie ist es in China? Warum bist du dann hier? Erzähl Mal, ich bin neugierig.“

Kurz schwieg Ray. Was sollte er sagen? Das er keine Ahnung hätte? Anscheinend wusste hier niemand etwas von seiner Amnesie und er wollte es den Leuten auch nicht gleich unter die Nase reiben.

Da zupfte der kleine braunhaarige Junge mit der großen Brille, der die ganze Zeit halb hinter dem Blonden – Max – gestanden hatte, an dessen Ärmel.

„Vielleicht sind das die falschen Fragen. Er ist doch gerade erst her gekommen und na ja, du weißt schon…“ Er ließ seinen Satz unbeendet.

Man konnte geradezu sehen, wie bei Max die Rädchen im Kopf ratterten, bis er ein lautes „Ah!“ ausstieß und Ray entschuldigend ansah.

„Tut mir Leid, du musst die Fragen natürlich nicht beantworten. Am Besten, ich zeig dir Mal das Heim, ja? Komm mit.“

Erleichtert nickte Ray. Anscheinend hatte Kenny darauf angespielt, dass Fragen nach China und warum er hier war Erinnerungen an den Tod seiner Eltern wecken würde, die ihrer Meinung ja gerade erst verstorben sein mussten. Und nun hatten sie Angst, ihn damit verletzt zu haben. Das wäre unter normalen Umständen sicher auch der Fall. Doch Ray war nicht normal. Dennoch hatte ihn Kennys Einwurf Antworten erspart, die er nicht gehabt hätte, und so schwieg er dazu und bedankte sich in Gedanken bei dem Braunhaarigen.
 

Es gab nicht viel zu zeigen. Das Wichtigste hatte ihm die Heimmutter schon erklärt und das Gebäude war nichts so riesig, das man sich hätte verlaufen können. Drum herum standen einige Bäume im Garten, der an und für sich relativ groß war. Es wirkte allerdings alles recht düster, was natürlich auch daran liegen könnte, dass der Himmel voll von dicken grauen Wolken war, die keinen Sonnenstrahl auf den Erdboden ließen.

„Oh, da hinten ist Tyson!“, rief da auf einmal Max und winkte aufgeregt einem blauhaarigen Jungen, der gerade mit ein paar jüngeren Kindern im Sandkasten spielte.

„Hey, Ty, wir haben Neuzugang!“

Der gerufene blickte zu ihnen hoch und kam dann auf sie zu gerannt.

„Hey Max, hattest du also doch recht“, meinte er leicht außer Atem. Der Blonde nickte fröhlich.

„Darf ich dir Ray Kon vorstellen? Ray, das ist Tyson Granger. Er wohnt auch in der dritten Etage. Genau genommen ist er mein Zimmergenosse.“

„Hallo, freut mich, dich kennen zu lernen.“ Lächelnd streckte Ray seine Hand aus und schüttelte die des Blauhaarigen. Der grinste ihn fröhlich an. Er schien einen ähnlich heiteren und aufgedrehten Charakter wie Max zu haben. Vielleicht hatte der Blonde ihn ja angesteckt, wenn sie sich ein Zimmer teilten?

„Oi, nett dich kennen zu lernen! Nicht so förmlich, wir sind doch jetzt ne Familie! Ich bin übrigens schon am längsten hier, kenne mich also am Besten aus. Das heißt, bei Fragen einfach zu mir kommen!“

Breit grinsend klopfte Tyson dem Schwarzhaarigen auf die Schulter. Dann wurde sein Blick allerdings kritisch. Ohne Vorwarnung griff er nach den langen Harren des Chinesen und zog daran, als er sie genauer betrachtete. Erschrocken schrie Ray auf.

„Was zum…?!“, wollte er sich gerade beschweren, doch Tyson unterbrach ihn.

„Die musst du aber abschneiden!“, sagte er bestimmt.

Auf Rays Stirn bildete sich eine tiefe Furche.

„Was?!“, fragte er entgeistert.

„Deine Harre, die müssen ab“, wiederholte der Blauhaarige sich, gerade so, als ob er über das Wetter reden würde. „Die sind zu lang. Damit fällst du noch mehr auf, als eh schon mit deinen chinesischen Klamotten. Das ist für die Idioten in der Schule und in der Umgebung doch ein gefundenes Fressen. Die werden dich echt fertig machen damit. Nee ne, die müssen ab, und das so schnell wie möglich.“

„Nein.“

Entschlossen starrte Ray Tyson an.

„Ich werde mir meine Haare ganz bestimmt nicht schneiden!“

Er wusste gar nicht so genau, warum er seine schwarze Mähne so verteidigte, doch er hatte gefallen an seinen Haaren gefunden. Und er würde sich wegen Anderen bestimmt nicht ändern.

Kurz sah Tyson ihn an und zuckte dann mit den Schultern.

„Wenn du meinst, es ist deine Entscheidung. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“

„Aber keine Sorge, wenn du bei uns bleibst, dann beschützen wir dich“, mischte sich da Max wieder ein.

Auch Tyson lachte. „Klaro“, sagte er zustimmend.

Das beruhigte Ray. Tyson hatte ihm nicht gerade Mut gemacht mit seiner kleinen Rede. Aber zumindest hatte er scheinbar schon zwei Freunde. Oder drei, aber bei Kenny war sich Ray noch nicht so sicher. Der Kleine hatte sich relativ schnell wieder aus dem Staub gemacht. Er schien eher ein Einzelgänger zu sein. Und schüchtern.

„Mit wem teilst du dir eigentlich das Zimmer?“, fragte ihn da Tyson.

Gute Frage… nächste Frage. Hilflos zuckte der Langhaarige mit den Schultern.

„Keine Ahnung“, gestand er. Die Heimmutter hatte es ihm zwar gesagt, aber gemerkt hatte er es sich nicht.

„Ah, das weiß ich, das weiß ich!“, rief da Max. „Er wohnt mit Kai zusammen!“

„Was?“ Ungläubig sah Tyson Max an, doch der nickte nur bekräftigend.

„Oh“, ein mitleidiger Blick streifte Ray.

„Was?“, fragte der interessiert. „Ist irgendetwas mit diesem Kai?“

„Mmh…“, leicht kaute Max an seiner Unterlippe. „Man sieht ihn nicht oft im Heim. Eigentlich nur zum Frühstück und zum Abendessen und sonst treibt er sich immer draußen rum. Sehr schweigsam und er gehört auch nicht zur besten Sorte. Hat, glaub ich, mit ziemlich üblen Typen zu tun. Gerüchten zufolge, soll er dem Drogenkartell angehören und schon ein paar Leute auf dem Gewissen haben.“

„… ein paar Leute auf dem Gewissen…?“

„Ja, hat angeblich ein paar Leute umgebracht, weil sie ihm Geld schuldeten oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Wurde ihm natürlich nie nachgewiesen. Hat wohl auch Kontakte zur Mafia und so. Schule schwänzt er häufig, aber wenn er da ist, gehen ihm und seine Gang alle aus dem Weg.“

Leicht schluckte Ray. Das klang ja begeisternd. Und das sollte sein Zimmerpartner sein? Musste er jetzt jeden Abend fürchten, am nächsten Morgen wegen aufgeschlitzter Kehle nicht mehr aufzuwachen? Das konnte doch nicht wahr sein!

„Hätte nicht gedacht, dass sie noch Mal jemanden zu Kai stecken“, murmelte Tyson. Ray horchte auf.

„Wie, noch mal?“

Tyson warf ihm einen kurzen Blick zu.

„Vor zwei Jahren, als Kai gerade neu hier hergekommen war, hatte er einen Zimmergenossen. Eigentlich dachten alle, sie würden sich gut verstehen. Sie waren oft zusammen unterwegs, haben einiges unternommen, obwohl keiner so genau weiß, was. Wie hieß der arme Kerl doch gleich? Brooklyn glaube ich. Aber eines abends kam Kai alleine von einem ihrer Ausflüge wieder. Brooklyns Leiche fand man zwei Tage später total verstümmelt in irgendeiner Gasse hier. Kai hat nie jemandem erzählt, was passiert ist. Aber getrauert hat er auch nicht, im Gegenteil, Brooklyns Tod schien ihn nicht im Geringsten gestört zu haben. Die Polizei konnte ihm leider nichts nachweisen. Oh, und nicht zu vergessen, Kai ist ein Esper. Daher sollte man sich sowieso nicht mit ihm anlegen.“ Ray unterdrückte den Impuls, nachzufragen, was denn ein Esper war. Es schien etwas Natürliches zu sein, nur leider auch zu den Dingen zu gehören, die Ray vergessen hatte. Kurz schwieg Tyson. Er schien in Erinnerungen zu schwelgen, seine Augen waren leicht glasig, dann jedoch fuhr er zu Ray gewand fort: „Seit dem hatte Kai sozusagen ein Einzelzimmer, was schon ungewöhnlich ist. Aber sie haben es vermieden, ihm jemanden rein zustecken. Warum jetzt doch noch, ist mir ein Rätsel. Wenn ich mich nicht irre, wird er im Dezember neunzehn und dann eh rausgeschmissen.“

Leicht seufzte Ray. Er hatte ja ein Glück. Ob er schon immer so ein Pechvogel gewesen war?

„Na los, lass uns Essen gehen, es gibt Abendbrot!“, rief da Max, um die gedrückte Stimmung zu heben.

Und wie auf Kommando knurrte Rays Magen laut. Sein Gesicht nahm einen leichten Rotton an, als seine Begleiter laut auflachten.

„Hab seit heute früh nichts mehr gegessen“, nuschelte er zu seiner Verteidigung leise.

„Na, dann wird’s ja Zeit!“
 

Eigentlich war das Essen gar nicht so schlecht gewesen. Zumindest wesentlich besser, als Ray es erwartet hatte, überlegte dieser sich, als er am Abend auf seinem Bett lag und die Decke anstarrte. Im Gegensatz zu der Umgebung schien das Waisenhaus ausreichend Geld für die Wichtigsten Dinge zur Verfügung zu haben.

Leise gähnend drehte er sich zur Seite. Er war schon auf den nächsten Tag gespannt. Tysons kleine Rede spukte noch immer in seinem Kopf herum. Sie schienen ziemlich harte Sitten zu haben und vor allem schien es in dieser Schule frei nach dem Motto: Nur der Stärkste überlebt, zuzugehen.

War Ray stark? Er wusste es nicht.

„Waaah!“ Frustrierend raufte Ray sich die Haare.

Er konnte ja nicht einmal irgendeine Lebenserfahrung vorweisen. Irgendwann würden sie ihn fragen, wie er früher gelebt hatte, oder was er schon so alles gemacht hatte oder was seine Lieblingsmusik war. Er konnte nicht immer damit rechnen, so viel Glück wie heute zu haben. Irgendwann würde die Schonzeit vorbei sein. Und bis dahin musste er so viel über sich erfahren, wie möglich. Gleich morgen würde er den mp3-Player durchhören, den er bei seinen Sachen gefunden hatte. Ja, genau, das würde er machen. Das wäre dann schon Mal ein Anfang. Darauf ließ sich dann bestimmt auch aufbauen.

Rays Blick schweifte zu dem Lexikon, dass er sich von Max geliehen hatte und nun auf seinem Schreibtisch lag. Der Blonde hatte etwas irritiert geschaut, als Ray gefragt hatte, ob er es sich kurz ausleihen könnte, es jedoch ohne Fragen herausgegeben. Ein Zettel steckte in dem Lexikon an der Stelle ‚Es’.

Es hatte den Schwarzhaarigen doch interessiert, was denn ein Esper ist, wenn sein Zimmergenosse denn einer war. Er musste doch wissen, worauf er gefasst sein sollte. Ein Esper war, laut Lexikon, eine Person mit außergewöhnlichen Fähigkeiten auf paranormaler Ebene, oder so. Das heißt, sie konnten alleine mit der Kraft ihrer Gedanken unglaubliche Dinge vollbringen, wie zum Beispiel Sachen zum Schweben bringen oder sogar teleportieren. Das klang wirklich faszinierend.

Ein plötzliches Klicken ließ den Schwarzhaarigen aufhorchen. Das Geräusch war anders als der Lärm gewesen, der von draußen und den anderen Räumen des Hauses zu ihm drang. Es war näher gewesen.

Langsam setzte er sich in seinem Bett auf und starrte im Halbdunkel des Zimmers auf die Tür. Leise schwang sie auf und ein Junge trat ein. Sein Blick war gen Boden gerichtet, als er seinen Schlüssel zurück in seine Hosentasche steckte. Er trug dunkelblaue Jeans, schwarze, schwere Stiefel und ein schwarzes Shirt, um seinen Hals war ein langer, weißer Schal gewickelt.

Leicht schluckte Ray. Das war also sein Mitbewohner. Er schien fast einen Kopf größer zu sein, als er selbst.

„Ähm…“, gab Ray von sich, unsicher, was er sagen sollte.

Sofort schnellte der Kopf des Anderen nach oben und Rays Blick wurde von einem Paar blutroter Augen gefangen.
 

So, das war's erst einmal, langsam kommt auch etwas Schwung in die Sache. Richtig losgehen tuts fürchte ich aber erst nächstes Mal, also: Gebt die Hoffnung nicht auf, liebe Leser!
 

Wir sehen uns hoffentlich am Freitag (da kommt Kaptel 3),

eure achat
 

Kapitel 3

3. Kapitel
 

Kalte Augen musterten Ray durchdringend. Der Schwarzhaarige fühlte sich unwohl. Es war, als würde dieser graublauhaarige Junge geradezu in ihn hinein sehen, ihn durchleuchten. Als wüsste er alles über ihn, jedes noch so kleine Geheimnis… Nun, dann wüsste der Junge zumindest mehr als Ray selbst.

Leicht grinste er bei dem Gedanken.

„Was willst du hier?“, wurde er da ruppig gefragt.

Ups, das Grinsen schien seinen Mitbewohner etwas provoziert zu haben…

„Äh, also mein Name ist Ray Kon. Ich bin seit heute hier und werde mir mit dir das Zimmer teilen“, sagte er freundlich, erntete jedoch nur einen grimmigen Blick. Dann wandte der Junge Ray seinen Rücken zu und fing an, in seinem Schrank nach etwas zu kramen. Der Schwarzhaarige wurde leicht wütend ob der Unhöflichkeit des Anderen.

„Und du? Hast du auch einen Namen, oder soll ich dich einfach ‚Hey du da!’ nennen?“

Kurz stoppte der Größere in seiner Bewegung, bevor er, ohne sich umzudrehen, entgegnete: „Ich vermute, die Kinder hier haben dir schon genug über mich erzählt, da muss ich nicht auch noch meinen Senf zugeben. Hab ich nicht Recht?“

Bei seinem letzten Satz drehte Kai sich um und sah Ray provozierend an. Dieser schluckte hart und trat einen Schritt zurück. Leicht beschämt drehte er den Kopf zur Seite.

Kai schnaubte kurz, ehe er dicht an Ray herantrat und ihn mit kalten Augen fixierte.

„Und jetzt hör mir gut zu, Ray Kon“, die Art, wie er seinen Namen betonte, gefiel dem Schwarzhaarigen überhaupt nicht, „du wirst mich in Ruhe lassen und auch deine Finger von meinen Sachen lassen, kapiert? Ich will mit einem wie dir nichts zu tun haben, komm mir also nicht in die Quere. Dann hast du auch eine reelle Chance in diesem Heim. Haben wir uns verstanden?!“

Rays Augen weiteten sich erschrocken bei dieser sehr offensichtlichen Drohung.

„Dann kannst du ja froh sein, dass ich mit einem wie dir auch nichts zu tun haben will!“, fauchte er wütend. Dann drehte er sich um und legte sich in sein Bett, mit dem Gesicht zur Wand und zog die Decke über sich. Die Augen waren starr auf die Wand gerichtet und er zwang sich dazu, ruhig zu atmen.

Hinter sich hörte er es kurz rascheln und dann hörte er, wie auch Kai ins Bett ging. Kurz darauf war ihr ruhiger Atem das einzige Geräusch in ihrem dunklen Zimmer.

Tief kuschelte Ray sich in sein Bett.

Na toll, warum musste dieser arrogante Mistkerl ausgerechnet /sein/ Mitbewohner sein?
 

„Los, komm schon Ty! Wir verpassen noch den Bus!“, drängelte Max. Der Blauhaarige kam eilig die Treppe heruntergestolpert und fiel fast über seine Schuhe. Amüsiert beobachtete Ray das Geschehen.

„Jetzt aber los“, rief Tyson und zu dritt rannten sie zur Haltestelle, an der gerade der Bus einfuhr, der sie zur Schule bringen würde. Nach Luft schnappend stiegen sie ein und ließen sich auf ein paar leere Plätze fallen.

„Man, geht das jeden Morgen so bei euch?“, fragte Ray außer Atem.

„Nö“, meinte Max fröhlich, „meistens verpassen wir den Bus.“

Ungläubig starrte Ray den Blonden an und als Tyson bekräftigend nickte, konnte der Chinese nur den Kopf schütteln. Die Beiden waren unglaublich.

„Und denk daran, bleib bei uns, ja?“, erinnerte Tyson ihn da noch einmal. Ray nickte nur.

„Sind die Schüler echt so schlimm?“, fragte er nach. Max nickte.

„Du hast ja keine Ahnung.“

„Ja, aber bei uns bist du sicher, uns lassen sie in Ruhe. Wir sind nämlich auch Esper.“

Den letzten Satz flüsterte Tyson nur noch ganz leise und verschwörerisch, gerade so, als wolle er nicht, dass jemand anders das mitbekommt. Nichtsdestotrotz konnte Ray den Stolz aus Tysons Stimme heraushören.

Kurze Zeit später standen sie vor dem Schulgebäude. Es war schon recht alt und baufällig. Davor tummelten sich die verschiedensten Typen an Menschen. Von aufgetakelten Mädchen über Punks, Emos und Gothics bis hin zu brutal aussehenden Schlägertypen war alles dabei. Ab und zu konnte man auch ein paar normal wirkende Teenager erkennen.

„Ich muss ins Sekretariat mich anmelden. Welche Klasse seid ihr?“, fragte Ray seine Freunde.

„In der B. Komm, wir bringen dich zum Sekki.“

Gemeinsam gingen sie über den Schulhof. Beunruhigt bemerkte Ray, dass ihm einige neugierige aber auch finstere Blicke zugeworfen wurden.

Seufzend betrat er das Sekretariat, nur um zwei Minuten später deprimiert wieder herauszukommen.

„Was ist los?“, fragte Max.

„Sie haben mich in die C gesteckt. Sorry. Sie wollten auch nicht mit sich reden lassen.“

„Was?!“, empörte sich Tyson sofort. „So ein verdammter Mist! Na gut, wir zeigen dir trotzdem deinen Klassenraum. Nur leider ist er am anderen Ende des Gebäudes als unser Klassenraum. Wir werden uns wohl nicht so oft sehen.“ Der Blauhaarige sah richtig zerknirscht aus.

„Ach, mach dir keine Sorgen, Ty! Ray schafft das auch alleine, nicht Ray? Du lässt dich nicht unterkriegen!“

Ray war sich nicht sicher, ob Max gerade versuchte, sie aufzuheitern, oder ob das, was er sagte, auch ernst meinte. Dennoch lächelte er tapfer als Antwort.

Ray betrat als einer der letzten den Klassenraum. Die Schüler hatten sich in mehreren Grüppchen zusammengefunden und saßen quatschend auf Tischen und Stühlen. Keiner beachtete ihn. Noch nicht. Während des Unterrichts dagegen erhielt Ray wesentlich mehr Aufmerksamkeit, als ihm lieb war. Die einen bewarfen ihn mit Papierkügelchen, die anderen gaben fiese Kommentare von sich. Der Langhaarige betete, dass der Unterricht bald zu Ende sein würde. Selbst in den Pausen fand er kein Anschluss, selbst, als er von sich aus auf ein paar eher harmlose Jungs zuging vertrieben die ihn mit den Worten: „Wir wollen keine Mädels hier“. Das hatte Tyson also gemeint, als er Ray empfohlen hatte, sich die Haare schneiden zu lassen.
 

„Puh.“

Erschöpft lehnte sich Ray in seinem Stuhl zurück und schloss kurz die Augen. Endlich hatte er seinen ersten Schultag überstanden. Schwierigkeiten mit dem Unterrichtsstoff gab es bisher glücklicherweise keine, irgendwie kam ihm das Meiste doch bekannt vor. Aber seine Mitschüler…. Die waren ein Thema für sich.

Schweigend beobachtete der Schwarzhaarige, wie die anderen Jungendlichen schwatzend das Klassenzimmer verließen, während er langsam seine Sachen einpackte. Es gab keinen Grund, sich zu beeilen. Nach Hause müsste er ehe alleine fahren, da Tyson und Max noch zwei Stunden Unterricht hatten. Er könnte natürlich auch warten, doch Ray war froh, wenn er wieder zurück im Heim war, denn den Tag musste er erst einmal verdauen.

Langsam verließ auch er den Raum, als Letzter, wie er wenig überrascht feststellte, und bog um die Ecke, um zur Treppe zu gelangen.

„Hey, du da!!!“, hörte er jemanden hinter sich rufen, reagierte allerdings nicht. Die Stimme klang recht aggressiv und Ray hatte keine Lust, sich jetzt mit so etwas auseinander zu setzen. Also tat er so, als ob er sich nicht angesprochen fühlte, immerhin konnte jeder gemeint sein.

„Hey, Neuer, bleib gefälligst stehen!!!“

Okay, so viel zu seinem Plan. Neu waren hier vermutlich nicht viele, außer ihm.

Frustriert seufzend drehte Ray sich um und sein Blick fiel auf einen ziemlich stämmigen blonden Jungen, der von drei anderen begleitet wurde. Na hurra.

„Meinst du mich?“, fragte Ray unschuldig und ging unauffällig weiter rückwärts.

„Natürlich, wen sonst? Scheinst ja noch blöder zu sein, als du aussiehst!“ Die Augen des Blonden funkelten spöttisch.

Ray versteifte sich. Langsam aber sicher gingen ihm diese ständigen Beleidigungen wirklich auf den Senkel.

„Spencer, was willst du denn von dem Mädchen da?“, quengelte da einer seiner Begleiter. Er war recht klein für sein Alter und hatte lilafarbene Haare.

„Es in die Regeln hier einweisen“, antwortete der Blonde. Spencer war also sein Name…

„Ich bin kein Mädchen, Blindschleiche“, sagte Ray gezwungen ruhig. „Es ist nicht besonders klug, jemanden als dumm zu bezeichnen, wenn man selbst nicht einmal den Unterschied zwischen männlich und weiblich erkennt.“

„Was?“, wütende Augen fixierten Ray. „Wiederhol das!“, forderte Spencer, seine Worte klangen dabei eher wie eine Drohung.

Der Langhaarige hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.

„Entschuldige. War der Satz zu lang für dich? Soll ich ab jetzt nur noch in Hauptsätzen reden?“, fügte er dennoch hinzu.

„Na warte!“, und damit stürzte sich Spencer auf ihn und schleuderte ihn gegen die nächste Wand.

„Ah“, schmerzvoll stöhnte Ray auf. Er hätte mit dem Angriff rechnen müssen, doch etwas hatte ihn abgelenkt. Blinzelnd starrte der Schwarzhaarige an Spencer, welcher sich nun bedrohlich vor ihm aufgebaut hatte, vorbei. Dort, in einer der Türen, stand Kai. Ruhig beobachtete er das Geschehen, zuckte bei dem Angriff auf Ray nicht einmal mit der Wimper und tat auch nichts, um ihm zu helfen. Es schien, als würden die roten Augen sich lustig über ihn machen, doch das konnte auch Einbildung sein, war Kais Gesichtsausdruck doch sonst vollkommen blank.

Ein heftiger Schmerz in seinem Magen, der sich schnell in seinem ganzen Körper ausbreitete, ließ Ray in die Knie sinken. Er hatte sich schon wieder ablenken lassen.

Zufrieden starrte Spencer auf Ray hinunter, dem er gerade mit voller Wucht die Faust in den Magen gerammt hatte. Seine Freunde lachten hämisch.

„Schwach wie ein Mädchen scheinst du auch zu sein… Echt enttäuschend. Ich rate dir, komm uns nicht in die Quere, dann werden wir über deine Existenz vielleicht hinweg sehen. Vielleicht.“

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Ray auf den Boden vor sich und zwang sich, ruhig zu Atmen. Eine Antwort sparte er sich diesmal, denn der Schlag des Blonden war kräftig genug gewesen. Eine Rippe wollte Ray sich an seinem ersten Schultag eigentlich nicht brechen.

Laute Schritte, die in seinem Kopf zu dröhnen schienen, verrieten dem Langhaarigen, dass Spencer und seine Freunde gegangen waren. Vorsichtig sah er auf. Der Gang war nun vollkommen verlassen, auch die Tür, in der der Graublauhaarige vorher noch gestanden hatte, war nun fest verschlossen. Vom Schulhof drang der Lärm der Kinder herauf und man konnte die fahrenden Autos hören. Seinen Bus hatte er jetzt sicher verpasst.

Vorsichtig erhob sich Ray und musste ein Würgen unterdrücken. Verdammt, der Schlag hatte wirklich gesessen! Wie hatte er sich nur so ablenken lasen können?!

Leicht schüttelte Ray den Kopf. Selbst wenn er mit voller Konzentration dabei gewesen wäre, hätte das etwas geändert? Hätte er sich denn verteidigen können? Dazu müsste er schon eine Art Kampfsport beherrschen und ob er das tat, wusste er nicht. Zynisch lächelte Ray. Wer weiß, vielleicht konnte er sich wirklich verteidigen und wusste es nur nicht? Doch was brachte es ihm dann? Oder brauchte es nur eine Art Anstoß, so wie im Unterricht, damit er sich an solche Dinge wieder erinnerte? Da hatte er solche Sachen wie Addition und Multiplikation ja auch plötzlich gewusst, als er es vor sich gesehen hatte. Vielleicht war es mit anderen Dingen auch so? Aber es wäre schon ziemlicher Zufall, wenn er Kampfsport könnte, die Chancen standen eher gering.
 

Stöhnend ließ Ray sich auf sein Bett fallen. Draußen war es schon wieder dunkel. Eigentlich hatte der Schwarzhaarige sich den ganzen restlichen Tag in seinem Zimmer verschanze wollen, doch da hatte er die Rechnung ohne Max gemacht. Der hatte ihn nämlich, kaum waren er und Tyson wieder zurück, aus in ihr Zimmer geschleift und ausgequetscht. Und irgendwie war Ray da auch der Zwischenfall mit Spencer rausgerutscht.

Max war sofort besorgt um ihn herum gesprungen und gefragt, ob ihm auch wirklich nichts fehle, während Tyson vor Wut an die Decke ging. Eigentlich war es schon lustig gewesen. Sie hatten sich noch eine Weile unterhalten, vor allem darüber, wie Ray am Besten Anschluss zu seinen Klassenkameraden finden und Leuten wie Spencer aus dem Weg gehen könnte, doch sie waren zu keinem Ergebnis gekommen. Doch, zu einem schon: Die Haare mussten ab. Doch da spielte Ray nicht mit. Und so würde er wohl noch eine Weile Probleme haben.

Also wirklich, seine Zukunftsaussichten wurden immer besser.

Deprimiert spielte Ray mit seinem mp3-Player herum. Eigentlich hatte er sich die Musik ja anhören wollen, doch als er es probierte, musste er feststellen, dass ich auf dem blöden Ding keine Musik befand. War es neu? Nein, dazu sah es zu ramponiert aus. Aber weshalb war dann keine Musik drauf? Nutzloses Ding! Wütend pfefferte er es in den Schrank zurück, als sich die Zimmertür öffnete. Sein Mitbewohner trat ein.

„Oh, der Herr lässt sich auch Mal blicken?“, fragte Ray spöttisch. Doch Kai schwieg.

„Du hast Recht. Warum sollte ich auch erwarten, dass du mich begrüßt? So ein einfachen hallo ist auch schwer, nicht? Ich meine, heute Nachmittag hast du es ja auch nicht gepackt, mich zu begrüßen, stimmt’s?“ fauchte Ray. Er wusste nicht warum, doch aus irgendeinem Grund, brodelte gerade jetzt diese ganze Wut wieder in Ray hoch. An Tyson und Max hatte er sie nicht auslassen können, dazu mochte er die Beiden einfach viel zu sehr, doch Kai konnte ihn eh nicht leiden. Da war es egal, wenn Ray ich noch mehr verärgerte. „Hat es eigentlich Spaß gemacht? Zuzusehen, wie sie mich fertig machen? Sieht so aus, als hätten sie deine Aufgabe übernommen, das tut mir aber Leid! Aber hey, es hat dir doch gefallen, oder?“

Der Schwarzhaarige nahm es nicht wirklich bewusst wahr, doch er war immer lauter geworden. Letztendlich blickte Kai doch auf. Seine Augen leuchteten kalt.

„Was willst du? Was ist dein Problem?“

„Was mein Problem ist?! Du fragst mich, was mein Problem ist?! Oh, wart Mal, lass mich nachdenken. Vielleicht, dass ich heute von ein paar beschränkten Schlägern zusammengeschlagen wurde? Oder vielleicht auch, dass mein Mitbewohner tatenlos daneben stand und es ihn nicht im Geringsten zu jucken scheint?! Verdammt, du hättest wenigsten wegsehen können, wenn du schon nichts unternimmst! Aber was du da fertig gebracht hast, war ja wohl absolut scheiße!!!“

Aufgebracht stieß Ray noch ein paar wüste Schimpfwörter aus, die sein Gegenüber sicher nicht verstand. Der Schwarzhaarige wusste bis jetzt selbst nicht einmal, dass er sie beherrschte. Doch in Chinesisch ließ sich wirklich wunderbar fluchen.

„Bist du jetzt fertig?“, fragte Kai genervt, als Ray nach Luft schnappte.

„Ich habe es dir gestern schon gesagt, ich will nichts mit dir zu tun haben. Es ist mir egal, was du treibst und mit wem. Es war deine eigene Schuld.“

Und damit wandte der Größere sich wieder von Ray ab und setzte sich an seinen Schreibtisch, vermutlich, um Hausaufgaben oder so zu machen.

„Du kannst mich Mal!“, zischte Ray und schnappte sich sein Waschzeug. Er war fertig und würde jetzt ins Bett gehen. Und ob er morgen aufstehen würde, darüber musste er noch nachdenken.
 

Sauer starrte Ray die weiße Wand vor sich an. Seit mehreren Stunden lag er nun schon so da und konnte einfach nicht schlafen. Zu seiner Verteidigung könnte er jetzt sagen, dass ihn das Kratzen von Kais Stift auf dem Papier störte, doch das war es nicht. Ihm schwirrten einfach zu viele Gedanken in seinem Kopf herum.

Plötzlich verstummte das Kratzen. Ein Stuhl wurde zurückgeschoben und Kleider raschelten. Dann konnte Ray Schritte hinter sich hören. Erst schien ging Kai zum Schrank zu gehen und etwas wegzuräumen oder herauszuholen. Dann lief er noch mal durch den Raum. Wollte er jetzt ins Bett gehen? Aber nein, der Graublauhaarige blieb direkt neben Rays Bett stehen. Aufgeregt schloss Ray die Augen und atmete ganz ruhig. Sein Herz pochte laut, doch Kai schien dennoch zu glauben, er schlief. Kein Wunder, er hatte sich in den letzten Stunden auch kaum bewegt.

Dann ging Kai zur Garderobe und zog sich seine Jacke über. Ray konnte den Reißverschluss ganz deutlich hören. Wollte der Junge etwa noch einmal gehen? Es war doch längst Sperrstunde! Nein. Er ging schon wieder zum Schreibtisch. Und was tat er jetzt?

Ray musste das Bedürfnis, sich umzudrehen, unterdrücken. Ein Fenster würde geöffnet, dann hörte Ray noch ein paar für ihn undefinierte Geräusche und dann herrschte plötzlich eine gespenstige Stille.

Verwirrt öffnete er wieder die Augen, wartete noch ein paar Augenblicke, doch als er nichts mehr hörte, drehte er sich um und setzte sich auf. Suchend blickte er sich um.

Ray war allein.

Eine kühle Brise brachte ihn zum Frösteln und sein Blick fiel auf das Fenster. Vorsichtig schwang der Schwarzhaarige sich aus dem Bett und tapste zum Fenster.

Neugierig spähte er hinaus.

War Kai durch das Fenster verschwunden? Musste er, denn eine andere Möglichkeit gab es nicht, außer, der Graublauhaarige konnte sich in Luft auflösen. Und soweit Ray sich informiert hatte konnten nicht einmal diese mysteriösen Esper das, zu denen sein Mitbewohner ja angeblich gehörte.

Doch Kais Verschwinden war schnell geklärt. Vor ihrem Zimmer erspähte Ray nämlich einen dieser großen Bäume, sie rings um das Waisenheim standen. Von ihrem Fenster aus war es mit ein bisschen Vertrauen und Übung nicht schwer, auf einen der dicken Äste zu springen und von dort aus an dem Baum hinunter zu klettern und das Gelände dann zu verlassen. Wie oft Kai das wohl schon gemacht hatte? Er schien Übung zu haben, denn sonst hätte Ray ihn noch den Baum herunter klettern sehen, doch der andere war sehr schnell gewesen.

Kurz spielte der Langhaarige mit dem Gedanken, das Fenster einfach zu schließen und seinen Mitbewohner damit auszuschließen, doch die Neugier siegte. Wenn er das jetzt tun würde, würde er sicher nie erfahren, wohin Kai denn um diese Uhrzeit ging.

Kurz erinnerte Ray sich an das, was Tyson ihm am Anfang über Kai so erzählt hatte. Mafia? Verbrecher? Drogenhandel?

Aber irgendwie konnte Ray das nicht so ganz glauben. Doch er würde es herausfinden.
 

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Kapitel 4

4. Kapitel

Als er erwachte, war es vollkommen ruhig.

Irritiert drehte er seinen Kopf und blinzelte mehrmals.

Wo war er?

Was war passiert?

Irgendwie fühlte sich alles so merkwürdig an. So… fremd. So unnatürlich. Als fehlte etwas. Er konnte nur nicht genau sagen, was es war, das da nicht stimmte.

Langsam setzte er sich auf. Er befand sich in einem Zimmer.

Ihm gegenüber stand ein Bett, welches dem glich, auf dem er gerade saß. Und es war leer. Kai.

Kai?

Wo kam dieser Name jetzt so plötzlich her?

Stöhnend fasste er sich an den Kopf und unterdrückte die aufkeimende Panik.

Was war nur los? Warum schien alles so leer?

Kai… Mitbewohner… Waisenhaus?

Ein Ruck ging durch den zierlichen Körper, als ihm alles wieder einfiel. Es war, als wäre in seinem Kopf ein Staudamm gebrochen, der all seine Erinnerungen zurückgehalten hatte und nun ergoss sich die stürmische Flut in seinem Kopf und brachte alles durcheinander. Es war ein Wirrwarr, welches zu ordnen den Schwarzhaarigen etwas Zeit kostete.

Sein Name war Raymond Kon.

Und er hatte sein Gedächtnis verloren. Und eben… einen Rückfall?

Leicht schüttelte er den Kopf.

Nein, das war vermutlich nur die allmorgendliche Verschlafenheit gewesen.

Gähnend erhob Ray sich und kleidete sich für den Tag ein. Noch einmal huschte sein Blick zu Kais leerem Bett. Es war gemacht und sah nicht so aus, als wäre es in den letzten vierundzwanzig Stunden angerührt worden. Das hieß, der Blaugrauhaarige musste die ganze Nacht unterwegs gewesen sein.

Schon komisch, der Kerl.

Aber im Moment hatte Ray keinen Bedarf, sich schon mit so schwierigen Dingen auseinander zu setzen. Zuerst, beschloss er, würde er Max und Tyson aus den Betten schmeißen. Er hatte keine Lust, sich wieder so wie gestern abhetzen zu müssen, nur weil die Beiden nicht aus den Federn kamen.

Den ganzen Tag über wurde Ray von einer leichten Unruhe heimgesucht. Er war sich nicht sicher, woher sie kam. Es gab zu viele mögliche Gründe.

Zum Einen war ihm unwohl bei dem Gedanken an die Schule. Er hatte wirklich keinen sonderlich großen Bedarf, wieder zusammengeschlagen zu werden. Obwohl er sich in den großen Pausen zu diesem Zweck mit Max und Tyson auf dem Schulhof traf.

„Jetzt wissen sie, dass du unter unserem Schutz stehst. Damit lassen sie dich sicher weitestgehend in Ruhe“, erklärte ihm Max.

„Warum? Seid ihr so gefährlich?“, fragte leicht scherzend, doch bei dem ernsten Blick, den ihm Tyson und Max zuwarfen, schwieg er.

„Wir sind beide Esper, Ray“, wiederholte Tyson noch einmal, als rede er mit einem Kleinkind „und die Meisten werden es nicht wagen, sich mit uns anzulegen.“

Der Ton, in dem Tyson das sagte, klang so, als würde die Tatsache, dass sie Esper sind, bereits alles erklären. Insgeheim nahm Ray sich vor, noch etwas über diese mysteriösen Kräfte nachzuforschen. Es schien ihm, als habe er hier etwas Alltägliches tatsächlich vergessen.

Zum Anderen hielt der Schwarzhaarige den ganzen Tag Ausschau, nach seinem Mitbewohner. Doch er konnte Kai nirgends entdecken.

„Ach, ich hab dir doch gesagt, dass er häufiger für ein paar Tage spurlos verschwindet. Mach dir über so etwas keinen Kopf“, zuckte Max nachlässig mit den Schultern, „Und jetzt komm, da ist unser Bus! Nicht, dass wir ihn noch verpassen!“
 

Wieder einmal lag Ray auf seinem Bett und starrte die Zimmerdecke an, während er über einige Dinge nachgrübelte.

Das machte er in letzter Zeit sehr häufig, einfach nur hier zu liegen und zu denken, fiel ihm dabei auf. Aber er hatte auch viel Stoff, über den er sich den Kopf zerbrechen konnte. Seine fehlenden Erinnerungen standen da mit vielen anderen Dingen in einer sehr langen Liste, obwohl sie recht weit oben standen.

Die Nacht war längst hereingebrochen, die jüngeren Kinder schon seit einigen Stunden im Bett und im ganzen Heim herrschte eine ungewöhnliche Ruhe. Es war richtig angenehm.

Eigentlich sollte Ray schlafen. Es war spät und Morgen müsste er wieder früh raus, doch er konnte nicht. Sein Blick huschte wieder zu dem Bett auf der anderen Zimmerseite. Es war noch immer leer. Kai war den ganzen verdammten Tag nicht aufgetaucht.

Nichts ungewöhnliches, laut den Anderen.

Na ja, der Kerl konnte Ray eh gestohlen blieben, so ein Arschloch, wie das war.

Heute lief es in der Schule zum Glück recht gut, kaum böse Kommentare und keinerlei Handgreiflichkeiten. Hoffentlich blieb das jetzt auch so.

Deprimiert seufzte Ray.

Seine letzten Gedanken galten der Frage, ob er wohl Freunde in China hatte, die ihn vermissten und auf einen Brief oder so von ihm warteten. Und scheinbar nie einen bekommen würden. Dann schlief er ein.
 

„Hey, Ray, aufstehen!!!“, laut schreien platzte Max in das Zimmer des Chinesen und hatte sofort ein Kissen im Gesicht.

„Verzieh dich, Max“, murrte Ray müde und drehte sich noch einmal um. Er wollte schlafen. Doch ein gewisser Blonder war da anderer Meinung.

„Los, raus aus den Federn, sonst kommen wir viieeeeel zu spät!“, und mit einem Ruck zog Max Ray seine warme Decke weg.

„Ey!“, beschwerte sich dieser fuhr sauer hoch.

„Was soll dieses Geschrei eigentlich?“, fluchte er.

„Na“, kam es von der Tür, „schau doch Mal auf die Uhr.“

Etwas irritiert starrte Ray Tyson an, der dort stand und ein Brötchen mampfte. Dann glitt sein Blick zu dem Wecker und er stockte.

„Was?!“, rief er erschrocken und sprang auf. „Schon so spät? Verdammte scheiße!“

„Hier“, sagte Max und warf Ray ein paar Klamotten zu, die er eben aus dessen Schrank gefischt hatte. „Scheinbar hast du deinen Wecker im Schlaf ausgemacht“, grinste er dann.

„Mmh, das kommt davon, wenn man so lange wach bleibt“, meinte Tyson, als er sich interessiert in Rays Schrank umsah.

Leicht verdrehte Ray die Augen, während er in seine Kleidung schlüpfte. „Ich konnte halt nicht schlafen“, maulte er leise. „Ich vermute, zum Frühstücken habe ich keine Zeit mehr?“

Es war mehr eine Aussage, als eine Frage, doch Max hielt dem Schwarzhaarigen ein Brötchen unter die Nase.

„Da, das haben wir für dich mitgenommen, als du heut früh nicht aufgetaucht bist.“

„Danke“, leicht lächelte Ray.

„Oi, nun aber hopp hopp! Da hinten kommt schon der Bus!“

Mit einem letzten Endspurt erreichten sie noch den Bus, der sie in die Schule bringen würde. Ein schneller Blick auf seine Armbanduhr sagte Ray, dass sie trotzdem ein paar Minuten zu spät eintreffen würden. Leicht missgelaunt begann er, an den Brötchen zu knabbern.

„Sag Mal, Ray“, sprach ihn da Tyson an, „ich hab vorhin in deinem Schrank gesehen, dass da gar keine Bilder sind. Und auf deinem Tisch oder an deiner Wand hängen auch keine. Ich meine, jeder von uns hat irgendwo Fotos oder so von … also … von seinen Eltern oder Geschwistern oder so zu hängen. Als Erinnerung sozusagen.“

Überrascht hielt der Schwarzhaarige inne. Stimmt, er hatte tatsächlich nirgends Fotos zu stehen oder hängen. Er hatte auch gar keine gesehen. Vielleicht sollte er seine Sachen noch einmal etwas sorgfäliger durchschauen? Er glaubte sich zu erinnern, irgendwo ein Fotoalbum gesehen zu haben, aber er war sich nicht sicher.

Max und Tyson hingegen schienen das stille Brüten des Chinesen anders zu interpretieren.

Vorsichtig erhob Max die Stimme: „Hör Mal, Ray. Uns alle hat der Verlust unserer Familie schwer getroffen. Wir wissen in etwa, wie du dich fühlst, auch wenn es bei uns schon länger her ist. Aber wir sehen es auch regelmäßig bei den Neuen. Es ist schwer, plötzlich ohne sie klar kommen zu müssen, scheinbar alleine zu sein. Aber du darfst dich nicht abschotten. Und du darfst auch nicht das, was passiert ist, verdrängen. Deine Familie ist noch immer ein wichtiger Teil von dir, du darfst nicht versuchen, sie zu vergessen.“

Fast hätte Ray laut aufgelacht. Versuchen, sie zu vergessen?! Er versuchte, sich an sie zu erinnern, nicht, sie zu vergessen!

Aber er schwieg, schließlich wussten seine Freunde noch immer nichts von seiner Amnesie.

„Schon klar, Leute“, meinte er letztendlich und lächelte sie freundlich an. „Ihr habt schon Recht. Ich denke darüber nach, ja?“

Noch immer besorgt nickten Tyson und Max.
 

Leicht unruhig verließ Ray das Klassenzimmer, dieses Mal zwischen den anderen Schülern, damit er nicht wieder allein und angreifbar war. Soeben hatte die Schulglocke das Ende der letzten Stunde verkündet und alle machten sich auf den Heimweg, auch der Schwarzhaarige.

Kurz dachte er darüber nach, auf Max und Tyson zu warten, doch dann fiel ihm ein, dass diese schon im Heim sein müssten, sie hatten heute früher Schulschluss gehabt. Es war schon ärgerlich, dass sie nur am Dienstag zusammen nach Hause gehen konnten. Aber wenigstens begann der Unterricht immer für alle um Punkt acht.

Gemächlich schlenderte Ray zur Haltestelle, der Bus würde erst in fünfzehn Minuten kommen und er hatte noch genug Zeit. Daher setzte er sich auf eine flache Mauer, stellte sein Tasche neben sich ab, zog ein Buch heraus und begann zu lesen.

Doch seine Konzentration schwand stetig. Immer wieder schweiften Rays Gedanken ab, mal zu seinen neuen Freunden, mal zu seinem neuen zu Hause, mal zu dem Krankenhaus, mal zu dem Wenigen, was er noch vom Unfall wusste und mal … sein Mitbewohner…

Nein, da hatte er ein einziges Mal nicht an den Kerl denken müssen, da lief dieser ihm doch Tatsache über den Weg.

Interessiert beobachtete Ray, wie Kai auf der anderen Straßenseite entlang lief und kurz darauf in eine schmale, finstere Seitengasse einbog. Kurz überlegte Ray.

Der Bus würde erst in zehn Minuten kommen.

Eilig griff er sich seine Tasche, stopfte das Buch zurück und schwang sie sich auf den Rücken, bevor er über die Straße hetzte, um dem Graublauhaarigen zu folgen. Er konnte wirklich nichts dafür, aber er war so neugierig!

Kaum tauchte Ray allerdings in den Schatten der engen Gassen ein, zweifelte er an seiner spontanen Entscheidung. Nun bedeutend langsamer geworden, ging er weiter, den Blick wachsam umher schweifen lassend. Leere Dosen, Flaschen, Kartons und anderer Müll lag verstreut herum, irrte er sich, oder war da gerade eine Ratte gewesen?

Leicht schauderte der Chinese. So richtig konnte er sich mit dieser Gegend nicht anfreunden.

Plötzlich horchte er auf. Hatte er nicht ein Geräusch gehört? Da, wieder!

Leicht runzelte Ray die Stirn, als er etwas schneller weiter ging. Es waren Stimmen. Laute Stimmen. Und sie hatten einen sehr aggressiven Tonfall.

Als Ray um die Ecke kam, zuckte er sofort zurück.

Vor ihm, etwa zehn Meter entfernt, stand Kai. Und ihm gegenüber sechs sehr aufgebrachte Jugendliche, einer davon, er war groß und blond, schrie ihn sauer an und hatte die Hände bedrohlich zu Fäusten geballt.

„Es reicht, diesmal seid ihr zu weit gegangen! Du wirst dafür bezahlen!“, rief der Blonde. Dann grinste er plötzlich fies.

„Aber da du ja so nett warst, uns in die Arme zu laufen, werden wir das Problem auch sofort lösen.“

Das roch, nein, das stank geradezu nach einer Prügelei.

„Ach Michael“, auch wenn Ray Kais Gesicht nicht sehen konnte, seine Stimme war so ruhig und kalt wie immer, „du lernst nicht dazu, oder? Du hast keine Chance.“

Warum provozierte der Graublauhaarige den Blonden noch, fragte Ray sich. War er lebensmüde.

„Sei dir da nicht so sicher“, entgegnete Michael selbstsicher. Etwas Helles blitzte in den Händen einiger seiner Begleiter auf und Ray brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass es sich dabei um Messer handelte.

Verdammt! Was sollte er jetzt machen?! Kai hatte alleine doch keine Chance! Nicht gegen sechs bewaffnete Gegner, niemals!

Rays Gedanken rasten, als er sich umsah. Hilfe war weit und breit nicht in Sicht und selbst wenn er schreien würde, würde wohl keiner darauf hören. Aber wenn er sich einmischte, wurden sie vermutlich beide fertig gemacht. Es wäre ziemlich zwecklos.

Leicht schüttelte Ray den Kopf. Nein, wenn er so dachte, war er nicht besser als Kai, als dieser einfach zugesehen hatte! Er würde Kai jetzt zeigen, dass man Anderen sehr wohl helfen konnte. Der würde noch was von ihm lernen.

Entschlossen trat Ray noch ein paar Schritte nach vorne.

Der Sand unter seinen Füßen knirschte und die sieben Jungs drehten wurden auf ihn aufmerksam.

„Hey!“, sagte Ray noch laut. „Was macht ihr da?“

Innerlich schlug er sich gegen den Kopf. Ein besserer Spruch fiel ihm auch nicht ein, oder?

Kais Augen verengten sich ärgerlich, als er ihn erblickte.

„Was tust du hier?“, zischte er sauer.

„Dir helfen? Ich mein, keine Ahnung, wie du das siehst, aber sechs gegen einen ist etwas unfair, oder?“

„Verschwinde, ich schaff das alleine!“

Leicht prallte Ray zurück, ob der Entschiedenheit, mit der Kai die Worte aussprach. Der Russe war wirklich überzeugt von sich.

„Oh, na sieh mal einer an! Hast du ein neues Spielzeug Hiwatari?“, gehässig betrachtete Michael Ray, welcher finster zurückfunkelte und sich merklich anspannte.

Und dann schlug Michael zu.

Oder er wollte es.

So richtig begriff Ray nicht, was sich da vor seinen Augen abspielte.

Der Blonde war nach vorne auf Kai zugesprungen, das Messer erhoben, dazu bereit, zu zustechen.

Doch plötzlich ruckte eben jenes Messer herum, wie von Geisterhand gesteuert, und brachte den Jungen aus dem Gleichgewicht. Er stolperte etwas überrascht und hatte im nächsten Augenblick Kais Faust im Magen.

Auch zwei andere Teenager hatten sich auf Kai gestürzt, doch beide waren zurückgeschleudert worden, von wem oder was auch immer. Ray hatte nichts erkennen können. Den restlichen Schlägern wurden die Messer aus den Händen gerissen, auch wenn einer sich verzweifelt daran festklammerte und mit der Nase schmerzhaft im Dreck landete.

Keine zwei Minuten später standen nur noch Ray, Kai und ihm gegenüber ein zusammen gekrümmter Michael da. Die Anderen waren haltlos geflohen.

Doch das war es nicht, was Ray erstaunte. Der Chinese starrte mit weit aufgerissenen Augen den kleinen Dolch an, mit dem Michael Kai hatte verletzen wollen. Dieser schwebte etwas ein Meter fünfzig waagerecht über dem Erdboden, die scharfe Klinge auf den Blonden Jungen gerichtet, der sich stöhnend aufrappelte.

„Feiglinge!“, presste er zwischen den Zähnen hervor und Ray vermutete, dass er sich dabei auf seine Kameraden bezog.

„Du hast es schon immer verstanden, dich mit Idioten zu umgeben. Gleich und Gleich gesellt sich gerne, nicht wahr?“

Jetzt hörte Ray den Spott deutlich in Kais Stimme. Michael zitterte, doch er erwiderte nichts, zu sehr war er von dem Dolch abgelenkt, der jetzt gefährlich nahe an seinem Hals schwebte.

„Letzte Warnung, Michael! Leg dich nie wieder mit uns an und komm uns niemals in die Quere, das nächste Mal bin ich nicht so nett!“

Um seine Worte zu unterstreichen, ritzte Kai mit dem Dolch leicht die Haut am Hals des Blonden auf. Dann fiel das Stück Metall klirrend zu Boden.

„Und jetzt verzieh dich!“

Und das tat Michael. Eilig hob er das Messer vom Boden auf uns stürmte davon, ohne noch einen Blick zurück zu werfen.

Auch Kai wandte sich um und ging auf Ray zu. Erst dachte der Chinese, der Graublauhaarige würde an ihm vorbei gehen und ihn wieder einmal ignorieren, doch direkt neben Ray stoppte der Andere.

„Und für dich“, flüsterte er bedrohlich in Rays Ohr, „gilt das Selbe. Du solltest verdammt aufpassen, denn die Neugier killt die Katze!“

Ray spürte den kalten Atem des Russen. Ein schwaches Zittern fuhr durch seinen Körper. Er biss sich leicht auf die Unterlippe.

Dann ging Kai nach, wie es Ray schien, Stunden, weiter, obwohl es kaum ein paar Sekunden gewesen sein können.

Noch lange stand der Langhaarige still und unbeweglich in der Gasse. Lauschte auf das entfernte brummen von Motoren und das heisere Krächzen einer Krähe. Irgendwo bellte ein Hund.

Jetzt wusste er, was mit ‚Esper’ gemeint war. Jetzt wusste er, was man mit paranormalen Fähigkeiten meinte. Es war beängstigend. Doch irgendwie auch faszinierend.

Dennoch, er wollte sich nicht am falschen Ende dieser Fähigkeiten wieder finden, denn das konnte, wie er heute gesehen hatte, wirklich böse enden.

Als Ray sich wieder in der Lage dazu fühlte, es mit dem Alltag aufzunehmen, machte er sich auf den Rückweg zum Heim. Den Bus hatte er verpasst, der Nächste würde erst in einer Stunde fahren. Da lief Ray lieber, das dauerte auch nur zwanzig Minuten.

Wie gut, das der Weg so leicht war, denn verlaufen wollte der Chinese sich in dieser Gegend nicht.
 

achat

Kapitel 5

5. Kapitel

Deprimiert hockte Ray auf dem Sofa und starrte auf den Fernseher.

Er befand sich in einem der Gemeinschaftszimmer, die im Heim verstreut lagen. In ihnen standen Tische mit Stühlen, Sessel, Sofas und Regale mit Spielen, Büchern und Bastel- und Malsachen. Und in diesem Gemeinschaftsraum stand der einzige Fernseher des ganzen Heims.

Es gab wohl auch einige Kinder, die einen eigenen im Zimmer zu stehen hatten, weil sie ihn vererbt bekommen hatten, aber dieser hier war sonst der Einzige für alle zugängliche. Daher war das Programm auch festgelegt, das heißt, wann was geschaut wurde. Außerdem achteten die Betreuer streng darauf, dass niemand zu viel Fern sah.

Müde starrte er auf den Bildschirm, nahm aber nicht wirklich wahr, was dort lief. Ein plötzliches Rascheln ließ ihn hochschrecken.

„Ich geh ins Bett“, meinte ein braunhaariger Junge. Es war in Rays Alter und wohnte auch in der dritten Etage, doch dem Langhaarigen fiel der Name des Jungen nicht ein. Leicht nickte er und beobachtete, wie der Teenager ging. Jetzt war Ray alleine im Zimmer.

Ein Blick auf die Uhr verriet auch, warum: Es war 21.54 Uhr, in sechs Minuten war Sperrstunde, zumindest vor Schultagen. Ab dann mussten alle in ihren Zimmern sein.

Gähnend erhob sich Ray und angelte nach der Fernbedienung, um das nervige Gerät endlich auszuschalten, doch er erwischte die falsche Taste. Kurz flimmerte der Bildschirm auf, die Werbung machte einer Nachrichtensendung platz.

Neugierig drehte Ray den Ton etwas lauter. Mit Nachrichten hatte er sich noch gar nicht beschäftigt, aber es ist sicher interessant zu erfahren, was außerhalb dieses Stadtteils vor sich ging.

Doch als der zugeknöpfte, ernste Nachrichtensprecher anfing, die Ergebnisse der letzten Fußballspiele herunterzuleiern, verging Ray die Neugierde. Was interessierten ihn zwanzig Idioten, die hinter ein Ball her rannten und zwei, die dazu zu faul waren und einfach im Tor blieben und hofften, dass das verfluchte runde Ding nicht zu ihnen kam?! Okay, er gab’s ja zu, er konnte diese Sportart nicht leiden! Männlichkeit verpflichtete ja nicht zur Fußballliebe!

Plötzlich hielt Ray in seinen Gedanken inne.

Warum mochte er kein Fußball? Woher wusste er das? War das schon wieder so eine merkwürdige Art, sich zu Erinnern?

Leicht verwirrt schüttelte er den Kopf, gerade, als der Nachrichtensprecher unerwartet etwas lauter und aufgeregter nach einer kurzen Pause weiterredete:

„Soeben erreichte uns eine Sondermeldung aus New York, USA! Eine Gruppe von fünf Espern, sowie zwei Zeros wurden dort soeben aufgespürt und nach einer kurzen Jagd und einem heftigen Kampf gestellt und verhaftet. Sie hatten sich in der Kanalisation unterhalb einer Bank zu schaffen gemacht. Allem Anschein nach, handelt es sich hierbei um einen schon länger geplanten Überfall, der nur durch Zufall von ein paar Mitarbeitern der öffentlichen Stadtreinigung aufgedeckt werden konnte. Auf Grund ihres verbrecherischen Aktes werden zwei der Esper, die der Polizei bisher noch nicht bekannt waren, vermutlich ein paar Jahre inhaftiert, die anderen drei Esper sind bereits vorher straffällig geworden. Ihnen steht vermutlich das Urteil lebenslänglich vom Gericht bevor.

Die zwei Zeros sind die ersten, die man seit über drei Monaten ausfindig machen konnte. Einer wurde noch an Ort und Stelle exekutiert, der Andere wird direkt nach Alcatraz überführt, um dort seine Hinrichtung zu vollstrecken. Sobald uns weitere Informationen erreichen, werden wir sie sofort informieren.“

Exekutieren?!

Hinrichten?!

Was war denn das für eine Farce?!

Und was zum Teufel waren jetzt schon wieder Zeros?!

Gespannt und gleichzeitig sehr durcheinander starrte Ray auf den Fernseher.

Dort sah man einen ganzen Haufen von Polizeiwagen, dazwischen rannten Polizisten sowie einige gänzlich in weiß gekleidete Leute herum. Immer wieder schwenkte die Kamera zu einer Gruppe von zwei Jugendlichen und drei Erwachsenen, die jeweils von zwei bis drei Polizisten festgehalten wurden. Das mussten diese Esper sein.

Die Gesichter wirkten verzweifelt und fertig, keiner der Esper sah sonderlich gesund aus. Einer weinte und schluchzte heftig.

Ein eisiger Schauer durchfuhr Ray und erschrocken zuckte er zusammen, als einer der Polizisten einen erwachsenen Esper plötzlich und scheinbar grundlos niederschlug.

Der Chinese konnte nicht ganz fassen, was sich dort abspielte. Er wollte wegschauen, abschalten. Doch es ging nicht. Die Bilder hielten seinen Blick gefangen und sie kamen dem Schwarzhaarigen seltsam vertraut vor. Warum?

Schon wieder schwenkte die Kamera.

Kurz verharrte sie bei einem Krankenwagen, in den gerade eine Trage gehievt wurde, die Person darauf war mit einem schwarzen Tuch abgedeckt. Das musste der Verstorbene sein.

Doch die Kamera drehte sich weiter, bis bei einem anderen Haufen Leute stehen blieb.

Im Zentrum befand sich dieses Mal nur eine einzige Person. Der Mann trug feste Kleidung im Stil der Armee, sie war teilweise zerrissen und Blut rann ihm aus diversen Verletzungen. Er wurde nicht von Polizisten festgehalten. Ihn hatten diese weiß gekleideten Menschen in die Zange genommen, zwei hielten ihn von hinten und einer stand in einer bedrohlichen Position vor ihm. Ein weiterer Mann hielt dem Gefangenen eine Pistole an die Schläfe.

Der Mann, der vor dem Gefangenen stand, hatte die Hände zu Fäusten geballt und kleine Funken sprühten daraus hervor.

‚Ein Esper’, schoss es Ray durch den Kopf.

Tyson hatte ihm heute noch Mal in aller Ruhe erklärt, dass richtig gute Esper auch fähig waren, kleinere Mengen reine Energie zu bündeln. Damit konnte man wirklich Schaden anrichten, es wäre extrem gefährlich, hatte der Blauhaarige noch hinzugefügt.

Fasziniert starrte Ray auf die Hände des Espers, eine Faust hob dieser und öffnete sie. Tatsächlich, eine kleine leuchtende Kugel. In Rays Innerem kribbelte es. Die offene Handfläche richtete der Esper auf die Stirn dieses Zeros – was auch immer das jetzt sein mochte – und kurz darauf verschwand das Leuchten. Zeitgleich sackte der sich bis dahin immer noch windende Mann scheinbar bewusstlos zusammen.

Grob wurde er gegriffen und aus dem Sichtfeld der Kamera geschliffen.

„Schon furchtbar, nicht wahr?“

Erschrocken fuhr Ray herum. Sein Herz pochte heftig gegen seine Brust, er konnte das Adrenalin in seinen Adern beinahe spüren.

„Frau Koraja!“, rief er überrascht aus.

Die Heimmutter stand in der Tür, den Blick starr auf den Fernseher gerichtet. Ihre Miene war unergründlich.

„Endlich zwei weniger auf dieser Welt“, sagte sie schließlich und in ihrer Stimme schwang so viel Hass mit, dass Ray unwillkürlich einen Schritt zurück weichen wollte.

„Diese Zeros… sie sollten alle ausgerottet werden! Aber sie verkriechen sich feige wie Ratten in ihren Löchern und wenn sie sich doch zeigen, dann richten sie nur Schaden an!“

„Sie mögen sie nicht“, bemerkte Ray schlicht.

Ein stechender Blick fixierte Ray.

„Sie nicht mögen? Ich hasse sie! Mit Espern komme ich ja noch klar, doch diese … Kreaturen dort ... das ist doch … unnatürlich!“

Leicht schüttelte sie sich, als denke sie an etwas Widerliches.

„Eigentlich wollte ich dich nur ins Bett schicken, es ist bereits nach zehn. Auch wenn die Nachrichten spannend sind, morgen musst du in die Schule. Also los!“

Eilig nickte Ray und verließ hastig das Zimmer und die Gesellschaft der Heimmutter. Die Frau war ihm unheimlich.

Leise schlüpfte er in sein Zimmer und fand plötzlich Kai gegenüber. Dieser hatte bei seinem Eintreten aufgesehen und starrte ihn nun an.

Kurz erwiderte Ray den Blick.

‚Was will er von mir? Nach dem, was heute passiert ist?!’

Demonstrativ wandte Ray den Kopf ab und widmete sich einem Buch, das er für die Schule lesen musste. Kai ignorierte er absichtlich, doch dieser war bereits wieder in seinen eigenen Sachen vertieft. Etwas wurmte es Ray schon, dass der Russe sich von seiner Ignoranz nicht stören ließ, doch der Chinese verdrängte den Gedanken schnell. Ab jetzt würde er Kai konsequent ignorieren! Sollte der doch sehen, wo er blieb, ihn interessierte es nicht mehr!

Kurz musste Ray noch an den Beitrag denken. Er hatte den Eindruck, in dieser Welt ging Einiges nicht mit rechten Dingen zu. Exekution auf der Straße, Hinrichtung ohne Verurteilung durch ein Gericht… Wer oder was waren diese Esper, das die Regierung zu derart drastischen Maßnahmen griff? Was hatten sie getan, um eine solche Reaktion, einen solchen Hass und eine solche Abscheu bei der Heimmutter hervorriefen?

Am liebsten würde Ray einfach fragen, aber er war sich nicht sicher, ob das klug war. Zeros schienen etwas mit Espern zu tun zu haben, doch trotz der Tatsache, dass Tyson und Max ihm heute noch so viel über Esper gezeigt und erklärt hatten, hatte sie Zeros mit keinem Wort erwähnt. Ob es ein Tabuthema war?

Aber diese Bilder wollten ihn nicht loslassen. Sie setzten sich in seinem Kopf fest und zerrten an seinen Gedanken. Ob er früher gewusst hatte, was Zeros waren?
 

„Ahhh! Ich hab ja so was von keinen Bock!“

Leicht schimpfend starrte Ray dem gerade abgefahrenen Bus hinterher, der ihn eigentlich hätte nach Hause ringen sollen.

Warum hatte dieser doofe Lehrer ihn auch aufhalten müssen?

Jetzt hatte er Chinese die Wahl, entweder Warten oder Laufen. Er überlegte. Den Weg zum Heim hatte er vor zwei Tagen auch zu Fuß gefunden, warum also nicht Laufen? Das Wetter überraschend gut, die Temperaturen vergleichsweise hoch und die Sonne lachte vom Himmel.

Leicht nickte Ray sich selbst zu. Er würde zurück laufen. Nach einem kurzen Blick überquerte er die Straße und tauchte in das Gewirr von Gassen und Straßen ein, das sich jenseits der Hauptstraße erstreckte.

Als er an einer Kreuzung vorbei kam, stoppte er kurz und ließ seinen Blick schweifen.

Vor zwei Tagen hatte Kai hier eine Gruppe Jugendlicher ohne mit der Wimper zu zucken fertig gemacht und ihm dann noch gedroht. Zum wiederholten Mal.

Zwei Tage war das jetzt her. Seit dem hatte der Schwarzhaarige den Russen absichtlich ignoriert, ihn keines Blickes gewürdigt und seine Existenz schlicht übersehen.

Und Kai hatte es genauso gehalten.

Ray hielt sich meist eh nur noch im Zimmer von Tyson und Max auf, lediglich zum Schlafen ging er in sein eigenes Zimmer. Kai wiederum verschwand nachts gerne Mal, letzte Nacht hatte er wieder einen Ausflug unternommen, doch Ray war egal, was der Graublauhaarige trieb. Er sollte ihn nur in Ruhe lassen.

Gedankenverloren kickte der Langhaarige einen Stein und dieser kullerte ein Stück über den Boden, bis er scheppernd an eine Blechdose stieß.

Plötzlich erregte etwas seine Aufmerksamkeit.

Vor ihm standen drei Jungs. Aber sie standen nicht einfach nur da und plauderten miteinander, sondern sie hatten sich demonstrativ bedrohlich nebeneinander vor ihm aufgereiht und jeder von ihnen fixierte Ray mit seinem Blick.

Etwa fünf Schritte vor der Gruppe hielt Ray an und musterte die Fremden kritisch.

Ich hätte doch auf den nächsten Bus warten sollen, schoss es ihm durch den Kopf.

Einen der Jungs, den linken, erkannte er wieder, er hatte auch zu der Gruppe gehört, die Kai am Mittwoch angegriffen hatte. Die anderen zwei waren ihm fremd.

„Du bist Ray Kon“, sprach ihn da der ganz rechts stehende Junge an.

Überraschte wandte Ray sich dem Sprecher zu, der scheinbar auch der Gruppenführer war. Ungewöhnlich, sonst steht der Anführer doch immer in der Mitte, schoss es Ray durch den Kopf.

„Was wollt ihr von mir?“, fragte Ray gezwungen ruhig.

Er hatte keinen Bedarf auf eine erneute Prügelei, zwei in einer Woche waren schon zu viel, aber drei? Nein danke. Außerdem würde er auch hier den Kürzeren ziehen, denn seine Gegner waren eindeutig in der Überzahl.

„Ich bin Azat Zueva, Anführer der All Starz“, stellte der Junge sich vor. Er hatte kurze, rote Haare und war kaum größer als Ray selbst.

Fragend runzelte Ray die Stirn.

„All Starz?“

Die anderen beiden Russen begannen zu grinsen, während nun Azat an der Reihe war, die Stirn zu runzeln.

„Du weißt noch nichts über die Banden hier? Dann sollte ich dich aufklären, nicht wahr?“, sprach der Andere ziemlich selbstgefällig weiter, „Nun, es gibt viele, aber besonders drei große. Die einen sind die White Tigers, die anderen sind die All Starz, dazu gehören wir hier, sowie die Jungs, die du vorgestern kennen gelernt hast.“ Den letzten Teil betonte Azat stark.

„Die dritte Bande sind die Demolition Boys, sie ist die kleinste der stärksten drei Gruppen, doch sie besteht ausschließlich aus Espern. Hiwatari ist ihr Leader.“

„Aha“, dazu wusste Ray nichts zu sagen.

„Wir wollen dich um einen Gefallen bitten“, fuhr Azat unbeirrt fort, wobei es eher wie ein Befehl klang. „Du bist Hiwataris Mitbewohner, wie ich in erfahren habe, der erste seit langer Zeit. Und du eröffnest uns ungeahnte Möglichkeiten. Ich will, dass du Hiwataris Sachen durchsuchst und uns alles erzählst, was auf seine Schwäche hindeuten könnte oder was anderweitig interessant sein könnte.“

„Ich soll ihn ausspionieren“, fasste Ray Azats Worte zusammen.

Der Rothaarige grinste leicht.

„Nun, wenn du es so ausdrücken willst, dann ja. Du sollst ihn ausspionieren.“

Grimmig verzog Ray das Gesicht und ballte die Hände zu Fäusten.

„Und warum sollte ich das tun?“, fragte er provokant.

„Nun ja…“ Azats Blick fuhr musternd über den Körper des Schwarzhaarigen, „ich habe zufällig erfahren, dass du einige Probleme mit deinen Mitschülern hast. Als Gangleader könnte ich diese Probleme ohne Schwierigkeiten lösen.“

„Und was hilft mir das, wenn ich im Schlaf von meinem Mitbewohner gemeuchelt werde?“

Leicht blitzten die Augen des Bandenführers bei diesen Worten auf. Anscheinend hatte er das Gefühl, auf fruchtbaren Boden gestoßen zu sein.

„Keine Sorge“, meinte er beruhigend, „wenn du uns wirklich brauchbare Informationen lieferst, wirst du bald keinen Mitbewohner mehr haben.“

Hart schluckte Ray.

Diese Typen waren wirklich gefährlich und schienen vor nichts zurückzuschrecken. Wo war er da nur rein geraten?

„Nein“, erwiderte er dennoch.

„Was?“ Entgeistert starrte Azat ihn an.

„Ich sagte nein. Ich werde Kai nicht ausspionieren.“

„Ist dir klar, was passiert, wenn du das Angebot ablehnst?“

Der mittlere Junge begann, gefährlich mit den Fingerknöcheln zu knacken, der Linke grinste noch breiter.

„Ich kann es mir denken, doch ich werde trotzdem ablehnen. Spionage ist wirklich unter aller Würde.“

Nein, so tief würde Ray nicht sinken. Er mochte Kai nicht, doch das hieß nicht, dass er ihm zusätzliche Probleme machen musste. Er würde sich aus Kais Sachen raushalten, sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne, das hatte er sich geschworen. Und er hatte nicht vor, diesen Schwur wegen einem Möchtegernanführer zu brechen.

Gefährlich funkelten Azats Augen.

„Du hast es ja nicht anders gewollt, los Jungs!“

Ruckartig drehte Ray sich um, um wegzulaufen, denn er wusste, ein Kampf wäre aussichtslos, doch prompt stolperte er in die Arme eines vierten Jungen. Micheal. Scheiße! Er war umzingelt.

Der Blonde stieß ihn zurück und zu dritt umkreisten sie den Chinesen.

Leicht panisch drahte Ray sich im Kreis, doch er konnte keinen Ausweg erkennen. Bei der Erkenntnis, dass er in der Falle saß, wurde sein Atem hektisch. Da schoss die erste Faust auf ihn zu.

Mit dem, was dann kam, hatte keiner gerechnet. Weder Azat, noch der Angreifer oder seine beiden Freunde und am allerwenigsten Ray selbst.

Wie aus Reflex duckte er sich unter dem Schlag weg, der ihn nur um Haaresbreite verfehlte, während sein eines Bein nach vorne schoss und dem Angreifer die Füße unter den Körper weg schlug.

Mit einem Aufschrei ging dieser zu Boden, während Ray sich eilig wieder aufrappelte.

„Nicht schlecht, das Kätzchen hat also Krallen“, murmelte Azat laut.

Wieso verglich ihn jeder mit einer Katze, fragte Ray sich. Kai hatte das ebenfalls schon getan.

Da zückten Micheal und der dritte Junge jeweils ein Messer, der zweite Junge rappelte sich gerade, ebenfalls ein Klappmesser in der Hand, stöhnend auf.

Scheiße!

Panisch riss Ray die Augen auf.

Schon schoss die erste Klinge auf ihn zu und Ray konnte nicht mehr rechtzeitig ganz ausweichen. Die Schneide schnitt ohne Probleme durch sein Oberteil und in seinen Oberarm. Erschrocken ob des plötzlichen Schmerzes stolperte Ray zurück und wurde von Michael heftig zu Boden gestoßen.

Verkrampft wartete Ray dort auf weitere Attacken, doch diese blieben aus. Überrascht öffnete er die Augen und sah vorsichtig auf.

Azat hatte sich vor ihm aufgebaut.

„Nun? Hast du es dir anders überlegt?“, fragte er freundlich lächelnd. Und das war beängstigend. Jeder andere hätte in seiner Situation vielleicht gegrinst, oder hönisch gelacht aber bestimmt nicht /gelächelt/!

Rays Atem ging leicht stoßweise, den Schmerz in seinem Arm nahm er kaum wahr, genauso wenig, wie das Blut, dass sein Oberteil durchnässte.

Rays Gedanken rasten. Ob diese Leute vor Mord zurückschreckten? Er war sich nicht sicher.

Dennoch schüttelte er leicht den Kopf, Azat dabei nie aus den Augen lassend.

„Nein“, wiederholte er, seine Stimme war dabei wesentlich dünner, als er es sich gewünscht hätte.

Der Rothaarige verzog grimmig das Gesicht.

„Du willst es ja nicht anders“, zischte er wütend und trat erneut einige Schritte zurück, damit seine – Freunde? – vor konnten. Selbst die Finger schmutzig machen wollte der Anführer sich also auch nicht, dachte Ray ironisch.

„Macht ihn fertig.“

Es waren nur drei Worte, doch sie klangen wie ein Urteilsspruch, der das Ende bedeutete. Und in den Augen der Schläger konnte Ray erkennen, dass diese drei Worte auch genau das bedeuteten. Zwei Jungen traten sichtlich erfreut noch näher auf ihn zu, Michael hielt sich ebenfalls im Hintergrund. Jetzt war es da. Das Ende.

Nein!

Das durfte nicht passieren!

Das wollte er nicht!

Um nicht hinsehen zu müssen, kniff Ray verkrampft die Augen zu, in Gedanken noch immer nach einem Ausweg suchend.

Er wollte hier nicht enden!

Weder wollte er ins Krankenhaus, noch auf den Friedhof!

Er weigerte sich!

Ein Schlag ließ seinen Kopf zur Seite fliegen, heftig zuckte Ray zusammen und schrie leise auf.

Er fühlte sich so beschissen. Es kribbelte schon wieder, aber dieses Mal war es sein ganzer Körper!

Noch ein Schlag.

Es sollte aufhören. Sie sollten ihn in Ruhe lassen.

Hört auf.

Hört auf!

„HÖRT AUF!“

Und plötzlich ging es ihm besser. Wesentlich besser.

Überrascht schlug Ray blinzelnd die Augen auf und starrte einen fassungslosen Azat an.

Die Schläge hatten aufgehört und auch das Kribbeln war auf ein erträgliches Maß zurückgegangen.

Doch wo waren seine Angreifer?

Verwirrt blickte der Chinese sich um. Da lagen sie, alle auf dem Rücken, Micheal saß schon wieder, versuchte jedoch, Abstand zwischen sich und Ray zu bekommen.

Ray begriff es nicht. Was war passiert?

„Zueva!“

Erschrocken fuhr Ray herum. Die Stimme kannte er doch! Und tatsächlich, da stand er.

Mit vor Wut sprühenden Augen schritt Kai langsam auf sie zu, rechts von ihm folgte ihm ein rothaariger Teenager, vielleicht ein Jahr älter als Kai.

„Wie tief kannst du sinken? Jemanden anzugreifen, der keiner Bande angehört ist gegen die Regeln und das weißt du!“

Der Schwarzhaarige hatte sich schnell gefasst.

„Du warst das also, Hiwatari. Misch dich nicht ein, das geht dich nichts an.“

„Und ob mich das was angeht! Und jetzt verschwinde, bevor ich gleich hier abrechne“, drohte Kai und plötzlich trat der Rothaarige vor, die Hand zu Faust geballt du leicht leuchtend.

Er musste auch ein Esper sein, schoss es Ray durch den Kopf.

Angespannt wich Azat zurück. Hasserfüllt kniff er seine Augen zusammen.

„Na gut, aber das war’s noch lange nicht, Hiwatari, ich kriege dich und deine beschissene Bande noch. Verlass dich drauf! Und den Kleinen hier“, dabei deutete er mit einem kurzen, ruckartigen Nicken auf Ray, welcher leicht zusammenzuckte, „kannst du auch nicht immer beschützen!“

Dann hastete er an Kai und dem Rothaarigen möglichst würdevoll vorbei, doch es war eindeutig eine Flucht. Seine Schläger folgten ihm gleich braver Hündchen, machten allerdings einen großen Bogen um Kai.

„Puh.“

Erleichtert atmete Ray auf. Gerade wollte er sich erheben, da ließ ihn ein heftiger Schmerz zusammenzucken und er keuchte erschrocken auf.

Bei der ganzen Aufregung hatte er den Schmerz in seinem Arm, der durch die Schnittwunde kam, nicht bemerkt, dafür wurde der Schaden jetzt richtig deutlich.

Leise fluchend kam Ray schwankend auf die Beine, wäre aber sofort wieder eingeknickt, hätte der Rothaarige nicht schnell zugegriffen und ihn gestützt.

„Na, dich haben sie aber fertig gemacht“, stellte er leise lachend fest.

„Schön, dass dir das so gefällt“, fauchte Ray bissig zurück. Dieser Kerl war ihm jetzt schon unsympathisch, denn der Langhaarige mochte es nicht, wenn man auf seinen Schwächen rumtrampelte.

„Ganz ruhig, Kleiner.“

Endlich hatte sich Rays Körper beruhigt, der Schmerz in seinem Arm war auf ein ertragbares Maß zurückgegangen und Welt um ihn herum hatte aufgehört, sich wie ein Karussell zu drehen. Langsam trat er einen Schritt von dem Rothaarigen zurück und sah zu Kai.

Dieser musterte ihn kritisch.

Nun, das an und für sich war nichts Ungewöhnliches, dennoch musste Ray schlucken.

Sonst hatten ihn die Augen immer nur kalt und abfällig angesehen, doch jetzt lag eher etwas Neugieriges und nun – fast Freundliches – darin.

„Danke“, brachte Ray schließlich leicht heiser hervor.

Kai zog eine Augenbraue in die Höhe und der Rothaarige grinste breit.

„Wofür?“, wollte der Graublauhaarige wissen.

Über diese Frage stolperte der Chinese doch kurz, da er sie nicht verstand.

„Also, … äh … vielleicht für deine Hilfe gerade?“, erwiderte er nach kurzem Zögern. Welches Spiel spielte der Andere jetzt schon wieder mit ihm?

Leicht schüttelte Kai den Kopf, ohne Ray aus den Augen zu lassen. Sein Gesicht war nachdenklich geworden.

„Ich habe Zueva nur an die Regeln erinnert“, sagte er schlicht, doch Ray lachte trocken.

„Ja, und mich mit deinen komischen Fähigkeiten nebenbei vor einem Totschlag gerettet!“

Plötzlich stand dieser Rothaarige vor Ray und starrte ihm tief in die Augen. Eisblau traf auf Berstein-Gold. Dann tippte der Russe Ray kurz auf die Nasenspitze, bevor er sich zu Kai umdrehte.

„Er scheint es wirklich nicht zu wissen“, bemerkte er sichtlich amüsiert.

Nun wurde es dem Schwarzhaarigen doch etwas zu bunt.

„Was nicht wissen? Wovon redet ihr?!“, wollte er fordernd erfahren.

„Nun…“, begann Kai, „ich habe mit meinen Esperfähigkeiten nicht eingegriffen.“

„Nicht?“ Rays Augen weiteten sich verständnislos, dann huschte sein Blick zu Tala, welcher wirklich Spaß zu haben schien. Als er Rays fragenden Blick auffing, schüttelte er den Kopf.

„Aber wer…?“

„Du“, sagte Kai schlicht, „du hast dich selbst gerettet. Es sieht ganz so aus, als wärst auch du ein Esper.“
 

Sorry wegen der Gangnamen, ich weiß, sie sind so nicht sonderlich passend, aber das hat einfach Beyblade-Wiedererkennungswert, deswegen musste ich die Banden nach den Teams benennen. Lasst euch nicht daran stören, ja?
 

Bis zum nächsten Kapitel,

eure achat

Kapitel 6

6. Kapitel

Stumm stand Ray da und starrte auf die Lagerhalle, die vor ihm aufragte. Sie war grau, wie eigentlich alles hier, einst erbaut aus stabilem Beton und Eisen, doch jetzt wiesen die Mauern einige größere und kleinere Risse auf, die meisten Fenster waren eingeschlagen und zersplittert und auch das Dach aus verbeultem Wellblech wirkte undicht.

„Willkommen in unserem Hauptquartier!“, sprach da der Rothaarige feierlich.

Der Chinese wandte seinen Kopf zur Seite, um den Russen besser sehen zu können. Er wusste nicht, was er hier sollte. Bis eben hatte er noch nicht einmal gewusst, was das Ziel der beiden Demolitionboys war, die ihn wortlos durch das Gewirr aus Gassen geführt hatten. Doch er hatte auch nicht gefragt. Sein Kopf war wie leergefegt.

Es sieht ganz so aus, als wärst du ein Esper.

Immer und immer wieder hörte er Kais Worte, doch ihren Sinn erfasste er nicht. Er konnte es nicht. Er wollte es nicht.

Denn schließlich war es eine Lüge, nicht? Er /konnte/ gar kein Esper sein! Das ging einfach nicht! Das hätte er doch wissen müssen! Wenigstens das!

„Willst du da im Stehen schlafen oder reinkommen?“, holte ihn da der Rothaarige aus seinen Gedanken. Verwirrt sah Ray auf und bemerkte, dass die beiden Russen bereits an der Tür zu der Lagerhalle standen und nur noch auf ihn warteten.

Also setzte er sich in Bewegung.

Von Innen machte die alte Lagerhalle einen ganz anderen Eindruck. Sie sah richtig bewohnt aus. Nun, vielleicht wohnte hier tatsächlich jemand, mutmaßte Ray.

Zumindest lagen mehrere Decken und Kissen herum, ein Tisch stand in der Mitte mit mehreren Stühlen und noch allerlei andere praktische Dinge.

„Setz dich!“, forderte ihn der Rothaarige auf.

Bereitwillig ließ Ray sich auf einem der Stühle nieder, während der Rothaarige in einem Erste-Hilfe-Kasten wühlte. Nacheinander legte er Mullbinden, Kompressen, Pflaster, Desinfektionsmittel und ein Dreieckstuch auf den Tisch. Dann wandte er sich zu dem Schwarzhaarigen.

„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, was?“, stellte er eine eher rhetorische Frage, dennoch nickte Ray leicht benommen, „Nun, mein Name ist Tala. Tala Iwanov! Ich bin der zweite Leader der Demolitionboys und somit Kais Stellvertreter. Freut mich dich kennen zu lernen, Ray Kon.“

Ray sparte sich die Frage, woher dieser Kerl denn /seinen/ Namen wusste.

„Und jetzt halt still, ich will dich verarzten!“

Und damit zog Tala sich einen Stuhl heran, setzte sich direkt vor Ray und begann, nachdem der Verletzte seine Jacke ausgezogen und seinen Ärmel hochgekrempelt hatte, dessen Arm zu reinigen und zu verbinden. Auf die anderen, kleineren Wunden klebte Tala mehr oder weniger ordentlich ein paar Pflaster.

„Hast du das ernst gemeint?“, brachte Ray schließlich heraus, seinen Blick auf Kai geheftet, welcher an der Wand gelehnt stand, die Arme vor dem Körper verschränkt.

Der Russe schien einen kurzen Moment zu überlegen, bevor er nickte.

„Ja, es gibt keinen Zweifel, du bist ein Esper. Und vermutlich ein ziemlich starker.“

„Und als solcher gehörst du zu uns!“, sagte Tala da bestimmt.

„Tala!“, sagte Kai streng.

Irritiert wanderte Rays Blick zwischen den Russen hin und her, die sich ein eisiges Blickduell lieferten. Schließlich seufzte Kai leise.

„Gut, eigentlich hat Tala Recht. Weißt du, Azat hat dir sicher erzählt, dass bei den Demolitionboys ausschließlich Esper dabei sind. Das liegt daran, dass sie von der Gesellschaft kaum oder gar nicht geduldet werden und schwer Anschluss finden, weil die normalen Menschen sie fürchten. Deswegen haben wir Esper hier uns zu einer Bande zusammengeschlossen und entschieden, dass wir jedem neuen Esper hier helfen werden und ihn auch automatisch bei uns aufnehmen.“ Kurz hielt Kai inne. Er schien zu überlegen, wie er weitermachen sollte. Dann gab er sich jedoch scheinbar einen Ruck.

„Es tut mir Leid. Mein Verhalten dir gegenüber war nicht gerechtfertigt, doch ich halte zu normalen Menschen so viel Anstand wie möglich. Doch da du jetzt ein Esper bist, ändert sich alles.“

Missmutig betrachtete Ray den Graublauhaarigen. Über die Entschuldigung freute er sich zwar, aber weder gefiel ihm die Sprunghaftigkeit Kais noch glaubte er Kais Begründung. Da steckte sicher noch mehr dahinter. Aber das war jetzt nebensächlich.

„Ich bin kein Esper!“, sagte er, den Blick entschlossen gehoben.

„Natürlich bist du das“, erwiderte Tala nur amüsiert. Er schien sich über Rays Sträuben lustig zu machen. Ray spürte die Wut, die in ihm schwelte und langsam aber sicher den Siedepunkt erreichte. Als er das breite Grinsen Talas sah, da platzte dem Schwarzhaarigen endgültig der Kragen.

Wütend sprang er auf und schlug mit einer Faust auf den Tisch neben ihm, während sein Stuhl scheppernd nach hinten umkippte.

„NEIN! Ich bin KEIN Esper!!! Begreift es!“, schrie er wütend.

„Hey, nun beruhige dich, du …“, sagte Tala, nachdem er seine Überraschung über den plötzlichen Ausbruch überwunden hatte, doch er wurde harsch unterbrochen.

„Ich werde mich nicht beruhigen!“, fauchte der Chinese, seine Augen verengten sich gefährlich und seine Haltung wurde sehr aggressiv. Auch Kai spannte sich an. Sein Blick wurde wachsam.

„Verdammt, ich bin siebzehn! Meint ihr nicht, inzwischen hätte ich bemerken müssen, wenn ich solche merkwürdigen Dinge kann? Hab ich aber nicht! Ich weiß nicht, was da vorhin bei dem Kampf passiert ist, ich will es auch gar nicht mehr wissen, aber ich hatte nichts, absolut NICHTS damit zu tun! Begreift es! Und in eure dämliche Gang will auch nicht, bleibt mir damit fern!“

„Ray“, versuchte es nun Kai. Langsam näherte er sich dem aufgebrachten Jungen und wollte ihn am Arm berühren, doch Ray schlug seine Hand sauer weg.

„Ray?! Ach, auf einmal kennst du meinen Namen, ja?! Die ganze Zeit wolltest du nichts mit mir zu tun haben, /Hiwatari/! Jetzt will ich nichts mehr von dir wissen, kapiert?! Wenn du nicht weißt, was du willst, dann kann ich dir nicht helfen, aber lass mich in Ruhe! Hör auf, mit mir zu spielen, verdammt!“

Schwer atmend stand Ray jetzt da. Dieser Ausbruch hatte ihn einiges an Kraft gekostet und er war noch von dem Kampf erschöpft.

Langsam schüttelte er den Kopf. Doch die Bewegung erst in Zeitlupe wurde schneller und immer schneller.

„Lasst mich einfach in Ruhe, ich bin kein Esper…“, flüsterte er letztendlich nur noch einmal erstickt, bevor er aus der Lagerhalle stürmte.

Schweigend starrten ihm die beiden Russen hinterher. Keiner machte sich die Mühe, ihn aufhalten zu wollen. Leicht legte Tala den Kopf schräg.

„Irre ich mich, oder hat der zum Schluss geheult?“, fragte er in die Stille hinein.

Doch Kai hatte ihm nicht zugehört. Seine Gedanken schwirrten noch immer um den langhaarigen Chinesen, der mit der Tatsache, dass er ein Esper sein sollte, überhaupt nicht klarzukommen schien.

Es gab öfter Fälle, dass die Betroffenen ihre Fähigkeiten nicht akzeptieren wollten, oder das was sie waren, doch eine solche Reaktion war sehr heftig. Etwas Derartiges hatte Kai noch nicht erlebt. Was war nur los mit dem Chinesen?

„Er ist ein Esper!“, meinte Kai noch einmal überzeugt.

„Natürlich“, entgegnete Tala, „die Energie ging eindeutig von ihm aus. Ich meine, scheiße, aber der Kerl hat drei Leute auf einmal von den Füßen gehauen! Die meisten Esper schaffen es gerade, einen Löffel zum Schweben zu bringen! Ist dir klar, welche Kräfte in dem Kleinen schlummern! Der könnte es vielleicht sogar mit uns aufnehmen!“

Kai nickte zustimmend.

„Ja, aber gerade wegen dieser außergewöhnlichen Fähigkeiten kann ich mir nicht vorstellen, dass Ray vorher noch keine übernatürlichen Anzeichen gehabt hat. Er müsste längst bemerkt haben, dass er ein Esper ist, aber dennoch …. Was verheimlichst du uns, Ray Kon?“

Fragend blickten die roten Augen auf die noch offene Tür der Lagerhalle, doch diese konnte dem Russen keine Antwort geben.

Das konnte nur Einer.
 

Fast panisch lief Ray die Straßen entlang, er bemerkte nicht, wie ein Auto quietschend zum Stehen kam, als er rücksichtslos eine Straße überquerte, noch war er sich der fragenden Blicke Max und Tysons bewusst, als er wortlos an ihnen vorbei die Treppe hinauf in sein Zimmer stürmte und es mit zitternden Händen von innen verriegelte.

Er wurde nur von einem einzigen Gedanken beherrscht: Weg hier, weg von diesen Irren, die meinten, ihn besser zu kennen als er selbst!

Vollkommen fertig ließ er sich zu Boden sinken, die Stirn gegen das kühle Holz der Tür gepresst. Sein Atem war stockend und erstaunt stellte er fest, dass er tatsächlich weinte. Die Tränen rannen sein Gesicht hinunter, bis sie an sein Kinn gelangten und von dort aus auf den Boden tropften.

Fast hysterisch begann der Schwarzhaarige dann zu lachen. Er drehte sich um, sodass er mit dem Rücken an der Tür lehnte und lachte, bis er sich verschluckte und ein heftiger Hustenanfall ihn schüttelte. Als er sich langsam wieder beruhigt hatte, schüttelte er nur noch leicht den Kopf.

„Gott, was für eine schräge Komödie war das denn?“
 

Wie lange er noch dort auf dem kalten Boden saß und einfach nur ins Leere starrte, konnte Ray nicht sagen. Als er das nächste Mal seine Umgebung wirklich bewusst wahrnahm, war die Sonne bereits jedenfalls bereits ein ganzes Stück weitergewandert.

Ihr Licht erinnerte ihn an das der Esper.

Schon drifteten Rays Gedanken erneut zu den Ereignessen des Tages.

War er ein Esper? Nein, das konnte nicht sein. Ja, gut, er hatte sein Gedächtnis verloren. Er hatte nicht einmal seinen eigenen Namen gewusst, geschweige denn, was sein Lieblingsessen war oder welche Band er denn gerne hörte. Aber die meisten Dinge fielen ihm gleich einer Eingebung wieder ein, wenn er davon hörte. So wie bei den Matheaufgaben in der Schule oder der Frage, ob er Fußball mochte, oder nicht. Und als sie sich über Esper unterhalten hatten, spätestens da hätte es ihm doch einfallen müssen, nicht? Er konnte doch nicht wirklich /alles/ vergessen haben! Nein, das ging einfach nicht!

Verzweifelt vergrub Ray den Kopf in seinen Händen, fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Unruhig löste er das weiße Haarband, sodass seine langen Haare sich über seinen Körper verteilten. Schon wieder liefen ihm die Tränen…

Da durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke.

Die Frau vom Jugendamt, die sich in den ersten Tagen um ihn gekümmert hatte, die ihm seinen Namen und sein Alter gesagt hatte, sie hätte sicher auch gewusst, wenn er ein Esper gewesen wäre, aber sie hatte nichts gesagt! Das konnte nur bedeuten, er hatte Recht!

Nun um einiges erleichterter ließ Ray sich auf sein Bett fallen und schloss die Augen. Leise lachte er.

„So viel Stress wegen nichts! Ha, Kai und dieser Tala, die haben doch einfach keine Ahnung!“, redete er zu sich selbst. „Ich bin kein Esper, natürlich nicht! Sonst wüsste ich das schließlich!“

Aber was war dann vorhin passiert? Kai und Tala hatten beide geagt, sie hätten nichts getan, ihre Kräfte nicht eingesetzt. Und Ray glaubte den Beiden, denn er konnte relativ gut erkennen, wenn jemand log und wann er die Wahrheit sagte. Keiner der beiden hatte gelogen. Aber es war auch kein anderer Esper in der Nähe gewesen, der ihm hätte helfen können.

Und dennoch hatten eindeutig solche übersinnliche Fähigkeiten seine Angreifer von den Füßen gehauen.

Er konnte die Schlussfolgerungen der Russen durchaus nachvollziehen. Eigentlich blieb nur er als möglicher Esper übrig. Doch das würde wiederum bedeuten …

Nein!

Ray begann zu zittern, schlang seine Arme um sich und rollte sich zusammen, doch die Kälte und die Angst, die von ihm Besitz ergriffen, wollten einfach nicht verschwinden.

Leise schluchzte der Chinese auf.

Er wusste nicht mehr, was er denken sollte, wem er vertrauen sollte und was er glauben sollte.

Alles schien so unbekannt, er fühlte sich so unwissend. Er lebte in einer Welt, die die seine war, doch er kannte sie nicht! Er kam nicht in ihr klar und er wusste nicht, wen er um Hilfe fragen könnte, wem er sein Geheimnis anvertrauen könnte und wer es nicht gegen ihn verwenden würde. Er fühlte sich so hilflos und allein.

Und jetzt… jetzt wusste er nicht einmal mehr, ob er noch sich selbst trauen konnte. Denn sollte er wirklich ein …. Esper …. sein, dann würde das bedeuten, dass …

Verdammt!

Er wollte nicht mehr! Er konnte einfach nicht mehr!

All die letzten Tage hatte er seine düsteren Gedanken, seine Zweifel, erfolgreich verdrängen können, aber jetzt stürzten sie mit einer Brachialgewalt auf ihn ein, dass es ihm jede Luft zum Atmen nahm.

Erschöpft und unfähig, sich noch weiter mit der harten und unbekannten Realität zu befassen driftete der Chinese in einen leichten Dämmerschlaf.

Plötzlich wurde er durch ein Klopfen aufgeschreckt. Verwirrt starrte er auf die Tür.

„Ray? Ray, bist du da? Sag was!“, hörte er Max durch das Holz. Der Blonde schien besorgt zu sein.

Es dauerte ein paar Sekunden, biss er begriff, dass der Blonde rein wollte. Seufzend setzte Ray sich leicht stöhnend auf. Ein Blick auf seinen Wecker sagte ihm, dass das Abendessen gerade angefangen hatte.

Seine Hand glitt automatisch zu seinem Bauch. Er hatte keinen Hunger, ihm war eher schlecht.

Müde starrte er auf die Tür.

Warum kam Max nicht rein? Sonst störte ihn eine geschlossene Tür doch auch nicht.

Da fiel Rays Blick auf den Schlüssel, der noch immer unschuldig im Schloss steckte. Hatte er die Tür abgeschlossen? Er konnte sich gar nicht daran erinnern. Doch als Max erfolglos an der Tür rüttelte, bewahrheitete sich Rays Vermutung.

Die Tür war fest verschlossen.

Erleichtert, dass ihn keiner plötzlich im Zimmer überraschen könnte, legte der Langhaarige sich wieder hin. Einer kurzen Eingebung folgend wanderte sein Blick noch einmal zum Fenster, doch das war ebenfalls zu. Gut so.

Gähnend kuschelte er sich in sein Kissen.

Max sollte endlich gehen, sein Geklopfe störte.

Ray wollte mit niemandem reden.

Ray wollte doch nur seine Ruhe.
 

Ein heftiges Klopfen an der Tür ließ Ray erneut hochschrecken.

Es war jetzt dunkel im Zimmer. Kurz warf der Junge einen Blick hinaus. Das helle gelbe Licht der Sonne war dem kalten Schein des Mondes gewichen.

Erneut hämmerte jemand an die Tür, jetzt wesentlich stärker. Ray zuckte zusammen.

„Ray! Mach die Tür auf!“, schrie ein sichtlich saurer Kai.

Natürlich, der Schlüssel steckte noch immer im Schloss, somit konnte Kai mit seinem Zimmerschlüssel nicht aufschließen, fiel dem Chinesen ein. Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Russen einfach draußen stehen zu lassen. Der konnte doch auch in seinem tollen Hauptquartier übernachten und Ray hatte auch keine Lust aufzustehen und ihn zu sehen. Dennoch öffnete er die Tür.

Überrascht wich Kai zurück, als die Tür plötzlich aufschwang. Damit hatte er schon fast nicht mehr gerechnet.

Noch weniger rechnete er allerdings mit Rays Verhalten.

Der kleine Chinese war völlig zerzaust, seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht und seine Augen waren ungewöhnlich leblos. Ohne Kai weiter zu beachten, drehte er sich wieder um und krabbelte wortlos in sein Bett zurück, drehte sich der Wand zu und zog seine Decke über den Kopf.

Anscheinend zog der Kleine es wirklich vor ihn zu ignorieren…

Schulterzuckend wandte Kai sich seinem Schrank zu. Er hatte nicht vor, den Kleinen zu bedrängen, zumindest noch nicht. Früher oder später müsste dieser sich allerdings der Wahrheit stellen. Und später konnte leider bereits zu spät sein.

Ohne es zu wollen kreisten die Gedanken des Graublauhaarigen weiter um seinen Mitbewohner. Er hatte Ray eben das erste Mal mit offenen Haaren gesehen und es hatte ihn überrascht. Im ersten Moment hatte er ihn glatt für ein Mädchen gehalten, doch Rays Körperbau war dafür doch zu kräftig. Dennoch, die langen Haare des Chinesen faszinierten den kalten Russen, dass musste dieser zugeben. Allgemein war dieser Junge, der plötzlich in seinem Leben aufgetaucht war, anders, als alles was er je erlebt hatte.

Zuerst hatte Kai das darauf geschoben, dass Ray Kon nicht in dieser Gegend aufgewachsen war, sondern vermutlich weit weg, und es die fremde Mentalität war, die Kais Sinne verwirrte, doch inzwischen glaubte der Russe nicht mehr, dass es daran lag. Es war einfach nur Ray.

Dieses irgendwie unschuldige Verhalten gleich einem Neugeborenen, dieser enorme Gerechtigkeitssinn, diese Sturheit und Verbissenheit selbst in schwierigen Situationen.

Leicht schüttelte Kai den Kopf.

Und jetzt – diese abweisende Haltung bei dem Gedanken er könne ein Esper sein. Diese Reaktion passte überhaupt nicht in Rays bisheriges Verhaltensschema.

Was soll ich nur von dir halten Ray Kon, fragte sich Kai zum wiederholten Mal an diesem Tage.
 

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Kapitel 7

7. Kapitel

„Ray? Ray! Komm schon, du kannst uns nicht für den Rest deines Lebens ignorieren!“, rief Max laut.

Doch Ray stellte sich taub und knabberte weiterhin lustlos an seinem Brötchen.

„Scheiße noch Mal, was ist denn gestern passiert?! Hat es etwas mit Kai zu tun? Rede mit uns!“, mischte sich auch Tyson ein.

Jetzt rechte es dem Schwarzhaarigen. Ruckartig stand er vom Tisch auf und ging. Er hatte keine Lust, sich mit den Beiden zu unterhalten. Er wollte ihnen nicht erzählen, was passiert war, er verstand es ja selbst nicht.

Am Besten wäre es, wenn gar nichts passiert wäre, und wer weiß, wenn er alles ignorierte, dann vergaß er es vielleicht auch. Nur durfte ihn halt auch keiner erinnern.

Außerdem konnte er es nicht ausstehen, die Besorgnis in den Augen seiner Freunde zu sehen, denn sie brachte ihn dazu, an seiner Entscheidung zu zweifeln. Doch Zweifel waren nicht erlaubt! So etwas konnte er sich nicht leisten.

Automatisch packte er seine Schultasche, zog sich Jacke und Schuhe an und verließ das Heim, um zur Bushaltestelle zu gehen. Es war das erste Mal, dass er alleine zum Bus ging, bisher hatten ihn immer Tyson und Max begleitet, doch er konnte Gesellschaft im Moment nicht ertragen.

Daher war er heute auch extra früh aufgestanden, nur leider noch nicht früh genug. Er war den Beiden trotzdem über den Weg gelaufen.

Tief seufzte er.

Der Bus kam und hielt, die Kinder drängelten hinein, der Chinese wurde automatisch mit hineingezogen. Lustlos starrte er auf den Boden. Um ihn herum redeten die Schüler, lachten und stritten miteinander, führten Diskussionen, sprachen über die neusten Nachrichten und unbeliebte Lehrer. Doch all das interessierte Ray nicht. Er fühlte sich einfach nur leer. Leer und ausgebrannt.

Ein Ruckeln ging durch das Fahrzeug, als es an der Schule hielt. Wieder ließ sich der Schwarzhaarige in der Masse treiben, trabte zwischen den anderen Schülern auf den Schulhof und in das Gebäude. Er betrat als erster das Klassenzimmer, packte seine Tasche aus und setzte sich an seinen Platz.

Nach und nach kamen auch seine Mitschüler. Keiner beachtete den einsamen Schwarzhaarigen und er beachtete die Anderen nicht. Ray starrte trübsinnig aus dem Fenster, seine Gedanken schweiften umher, mal zu dem Unfall, Mal zu den Geschehnissen der letzten Tage, Mal zu dem, was vorher gewesen sein könnte, doch nirgends hielten sie, sie trieben umher, wie Fische in einem reißenden Bach, unfähig, sich festzuhalten und an einem Ort zu verweilen.

Selbst der Unterricht konnte Rays Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen, die Pausen zogen wie in einem trüben Schleier an ihm vorbei. Erst das plötzliche, in Rays Ohren unnormal laute Klingen zur Mittagspause konnte ihn aus seinem Dämmerzustand reißen.

Träge erhob er sich, denn in der Mittagspause mussten alle auf den Schulhof.

Kaum betrat er diesen, wurde er auch schon von einem aufgeweckten Blonden und einem wütenden Blauhaarigen begrüßt.

„Warum hast du heute früh nicht auf uns gewartet?!“, begehrte Tyson wütend zu wissen.

Ray hob langsam den Blick und sah Tyson aus glanzlosen Augen an. Dann legte er den Kopf schief und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schien sich dann aber doch dagegen zu entscheiden und schloss ihn wieder.

„Hör Mal Ray“, sagte da Max, „was ist los? Was ist gestern passiert? Wir…“

Doch der Blonde wurde unterbrochen.

„Lasst mich einfach in Ruhe, ja?“, sagte Ray leise, aber deutlich. „Ich muss nachdenken…“, fügte er bei den entsetzten Blicken seiner Freunde aber noch hinzu.

Dann wandte er sich ab, um sich eine ruhige Ecke zu suchen.

Max und Tyson ließen ihn kommentarlos gehen, auch wenn das laute Seufzen des Blonden verdeutlichte, dass ihm das nicht gefiel.

Es war nicht leicht, dennoch fand der Chinese eine leere Bank im hintersten Teil des Schulhofes. Er setzte sich drauf und zog ein Bein an seinen Körper, um seinen Kopf darauf abzulegen. Deprimiert schloss er die Augen.

Was sollte er jetzt tun? Immer und immer wieder kreiste diese Frage in seinem Kopf. Doch ihm fiel keine Antwort ein. Er hatte darüber nachgedacht, die Frau vom Jugendamt zu kontaktieren, doch sich dagegen entschieden. Er wusste schließlich nicht, ob er ihr trauen konnte.

„Du ziehst dich zurück.“

Wie unter einem Schlag zuckte Ray zusammen und versteifte sich sofort. Sein Blick schoss nach vorne.

„Das solltest du nicht tun“, sprach Kai ruhig weiter.

Da stand der Russe, ruhig und gelassen wie immer, die Hände in den Hosentaschen vergraben und seine blutroten Augen auf den Schwarzhaarigen gerichtet.

Wieso hatte er ihn nicht kommen hören? War er so abgelenkt gewesen, von dem Chaos seiner Gedanken?

Leicht schüttelte Ray den Kopf und schloss wieder die Augen. Er wollte nicht mit Kai reden, der Graublauhaarige hatte bereits genug Schaden angerichtet. Deswegen würde Ray ihn jetzt ignorieren. Er schloss ihn einfach aus seiner Welt aus, tat so, als würde Kai nicht existieren. Dann würde der Andere ihn schon in Ruhe lassen. Dann /musste/ der Andere ihn in Ruhe lassen!

„Ray, ich muss mit dir reden!“, sagte Kai eindringlich. Ihm gefiel das Verhalten des Chinesen nicht. Überhaupt nicht.

Doch Ray reagierte nicht.

Das Geräusch leiser, knirschender Schritte im sandigen Boden verriet Ray, das Kai es aufgegeben hatte und gegangen war. Unbewusst seufzte er erleichtert auf. Das ignorieren war erstaunlich schwer. Doch ab jetzt hätte er endlich seine Ruhe.
 

Driiing. Driiing. Driiing.

Das Läuten der Schulglocke schreckte Ray schon zum zweiten Mal an diesem Tage unsanft hoch.

Träge packte er seine Tasche und schlurfte aus dem Gebäude.

Sein Blick schweifte über den Schulhof, doch wahr nahm er nicht wirklich etwas. Unbewusst machte er einen Bogen um die Bushaltestelle und lief wieder einmal zum Heim. Er war im Moment nicht auf das Gedränge und damit die Nähe anderer Leute erpicht. Der Gedanke daran verursachte ein flaues Gefühl in seinem Magen.

Zur Abwechslung und um Geschehnisse, wie sie in den letzten Tagen bedeutend zu oft passiert waren, zu vermeiden, wählte er heute den längeren aber sichereren Weg entlang der Hauptstraße.

So in trüben Gedanken versunken bemerkte Ray nicht die Gestalt, der er sich näherte. Sie stand mitten auf dem Fußweg und betrachtete ihn nachdenklich.

Den Kopf gesenkt lief der Langhaarige einfach an ihr vorbei.

„Hey!“

Eine Hand packte Ray an der Schulter, um ihn am Weitergehen zu hindern.

Erschrocken fuhr der Chinese herum und blickte verwirrt auf den Mann vor sich. Er hatte schulterlange braune Haare, die mit einem einfachen Gummi zusammengehalten wurden und sehr gut zu seinen rehbraunen Augen passten. Des Weiteren trug er einen langen, hellen Mantel und überragte Ray um mindestens einen Kopf. Der Schwarzhaarige schätzte den Fremden auf etwa 25 Jahre.

„Was?“, fragte Ray unwirsch. Er wollte nicht schon wieder in Schwierigkeiten geraten.

Beschwichtigend hob der Andere die Hände und begann, zu lächeln. Es war ein warmes und freundliches Lächeln und hatte durchaus etwas Beruhigendes, stellte Ray fest.

„Ganz ruhig. Ich will dir nichts tun, aber du sahst so deprimiert aus. Das konnte ich mir nicht mit ansehen.“

Rays Gesicht blieb ausdruckslos, was der Fremde mit einem Stirnrunzeln bedachte.

„Seit wann interessiert man sich in dieser Gegend um das Wohlergehen fremder Menschen?“ Rays Stimme klang bitter und der Fremde war sich nicht sicher, ob dieser Satz sich wirklich nur auf ihn, oder nicht vielleicht noch etwas anderes bezog.

Dann zuckte er jedoch mit den Schultern.

„Du hast Recht. In dieser Gegend ist das nicht üblich. Ich komme aber nicht von hier. Und außerdem passt so ein missmutiger Gesichtsausdruck nun wirklich nicht zu einem so süßen Jungen wie dir.“

Leicht zuckte Ray zusammen. Noch nie hatte ihn jemand ‚süß’ genannt. Zumindest nicht, dass er sich erinnern konnte… Er konnte einen leichten Rotschimmer auf seinem Gesicht nicht verhindern.

„Hast du Lust auf einen Kaffee? Da hinten ist ein nettes kleines Cafe.“

Zweifelnd betrachtete Ray den Anderen kurz. Dann nickte er jedoch, was konnte schon passieren?

Auf dem Gesicht des Mannes breitete sich ein strahlendes Lächeln aus.
 

„Wie heißt du?“

Fragend sah Ray, der bis eben in seinen Becher Schokolade gestarrt hatte, auf.

„Ich würde gerne wissen, mit wem ich gerade hier sitze. Mein Name ist übrigens. Alexey Felk. Ich bin im Moment geschäftlich hier.“

„Äh… Ray. Ich heiße Ray Kon.“

Leicht schmunzelte Alexey.

„Ein schöner Name.“

„Danke“, nuschelte Ray verlegen.

„Und, warum bist du so schlecht drauf?“

Sofort kehrten Rays düstere Gedanken wieder.

„Es ist nichts, das dich etwas angehen würde“, meinte er bestimmt.

Leicht seufzte Alexey.

„Gut, wenn du es nicht willst, werde ich dich nicht zwingen.“

Sofort entspannte sich Ray. Eigentlich mochte er diesen jungen Mann, auch wenn er ihn kaum kannte.

„Wo wohnst du?“, fragte der Braunhaarige da unerwartet. Überrascht sah Ray auf.

„Äh… ich wohne im Weisenheim. Hier in der Nähe…“

„Oh…“ Nun wirkte Alexey doch etwas betreten. „Ich habe davon schon gehört, aber noch nie ein Kind von dort getroffen.“

„Ich bin auch kein Kind mehr!“, beschwerte Ray sich so fort reflexartig. Skeptisch hob der Andere die Augenbrauen.

„Ach nein? Nun, dafür benimmst du dich aber sehr wie eines im Moment.“ „Was , wie….oh…“

Leicht rot im Gesicht sackte Ray in seinem Stuhl nach hinten. Alexey konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, das schnell zu einem lauten Lachen wurde. Davon angesteckt begann auch Ray, leise zu lachen.

Die Atmosphäre war ungewohnt entspannt und der Langhaarige hatte sich in letzter Zeit nie so relaxt gefühlt. Es war ein wunderschönes Gefühl.

„Ich hab gehört, dass es nicht so groß ist und ihr euch die Zimmer teilen müsst. Wie kommst du damit klar?“, fragte Alexey erneut, Neugierde lag in seiner Stimme.

Ray verstummte.

„Wird das hier ein Verhör oder so?“, fragte er schalkhaft anklagend.

„Nein, eigentlich nicht, aber wenn du darauf bestehst…“

„Hihi, nein, lass Mal. Eigentlich ist es gar nicht so schlimm, sich das Zimmer teilen zu müssen. Ich habe zwei Freunde, die sind fast schon aneinander festgewachsen. Eigentlich ist es gar nicht schlecht…“ Am Ende hatte Rays Stimme wieder einen deprimierten Klang angenommen. Alexey horchte auf.

„Und du? Was ist mit dir?“

„Na ja, weißt du…“, druckste Ray etwas herum, „ich komme nicht so mit meinem Mitbewohner Kai klar. Aber, ich will nicht darüber reden.“

Ray drehte seinen Kopf zur Seite, sein Blick wurde wieder leer. Dennoch schien Alexey nicht locker lassen zu wollen.

„Kai? Der Kai? Von dem Namen hab ich schon gehört, allerdings nicht unbedingt Gutes. Und er ist dein Mitbewohner?“

Der Schwarzhaarige nickte.

„Lass uns über etwas Anderes reden, ja? Ich will von Kai weder etwas hören, noch etwas mit ihm zu tun haben. Er ist ein Idiot.“

„Weißt du Ray, ich respektiere deinen Wunsch, aber es ist nicht immer hilfreich, ein Problem totzuschweigen. Manchmal muss man über die Dinge reden, damit sie besser werden.“

„Mh. Vielleicht hast du im Allgemeinen Recht, aber nicht in diesem speziellen Fall.“

Wieder lächelte Alexey und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

„Übrigens finde ich, dass du…“, begann er, wurde jedoch von einem lauten Piepen unterbrochen. „Oh, sorry. Warte bitte einen Moment.“

Eilig erhob er sich, kramte in seiner Tasche herum, bis er ein Handy daraus fischte und verzog sich in eine ruhigere Ecke des Cafes. Neugierig folgte Ray ihm mit seinen Blicken und beobachtete, wie sein neuer Freund erst angespannt lauschte und dann selbst sehr ernst aussehend etwas erwiderte, während Ray noch immer über ihr Gespräch nachdachte. Kurz darauf kehrte Alexey zu ihrem Tisch zurück und schnappte sich seinen Mantel.

„Tut mir Leid, Ray, aber ich muss los. Die Arbeit ruft.“ Etwas unglücklich aussehend wedelte er mit seinem Handy. „Aber wir sehen uns bestimmt wieder, zumindest hoffe ich das. Also, bis dann!“

„Ja, und danke!“, rief Ray ihm noch hinterher, als der Braunhaarige mit schnellen Schritten das Cafe verließ. Draußen konnte der Chinese beobachten, wie Alexey zu rennen begann. Es musste wirklich wichtig sein.

Wesentlich langsamer schlenderte Ray hinaus und weiter in Richtung Heim. Das Treffen eben war wirklich eine willkommene Abwechslung gewesen. Hoffentlich würde er Alexey wirklich noch einmal wieder treffen. Aber wie hieß es so schön… man trifft sich immer zwei Mal im Leben.

„Ray!“

Schon zum x-ten Mal wurde er aus den Gedanken gerissen. Doch als er sich dieses Mal umdrehte, wünschte er sich, er hätte es nicht getan.

„Was willst du jetzt schon wieder?“, forderte er mit kalter Stimme zu wissen.

Kais Augen verengten sich gefährlich.

„Das weißt du ganz genau und jetzt komm mit!“

Ohne auf den Protest des Schwarzhaarigen zu achten, packte der Russe ihn am Arm und schleifte ihn hinter sich her, hinein in das Gewirr aus engen Gassen. Doch weit kam er nicht. Mit einem heftigen Ruck riss Ray sich los, beide stolperten zurück.

„Du hast sie doch nicht mehr alle! Was soll der Scheiß?“, verlangte er zu wissen. Aufgebracht aber noch beherrscht sah Kai ihn an, wie ein Kleinkind, das nicht begreifen wollte.

„Wir müssen reden. Darüber, was gestern passiert ist.“

„Ich wüsste nicht, was es da noch zu sagen gibt!“

„Eine ganze Menge, nachdem du gestern mitten im Gespräch einfach abgehauen bist.“

„Ich bin nicht abgehauen!“ Wütend blitzten Rays goldene Opale auf.

„Oh doch, das bist du. Geflüchtet, wie ein Feigling, der die Wahrheit nicht verkraftet.“

Das brachte das Fass schließlich zum überlaufen. Mit einem Aufschrei stürzte Ray sich auf den überraschten Kai und schlug ihn zu Boden. Doch schnell hatte der Russe sich wieder aufgerappelt und fuhr sich mit dem Handrücken über den schmerzenden Kiefer.

„Was, du nutzt Gewalt, wenn du mit Worten nicht mehr weiter weißt? Das hätte ich nicht von dir gedacht, das du so ein Mensch bist.“

„Woher willst du denn bitte wissen, was ich für ein Mensch bin?! Du hast doch keine Ahnung!“ Wieder schoss Rays Faust nach vorne, doch Kai, dieses Mal auf den Angriff gefasst, wich geschockt aus und ergriff das Handgelenk des Chinesen, drehte ihm den Arm schmerzhaft auf den Rücken. Leicht keuchte der Chinese.

Kai grinste triumphierend und lehnte sich ganz dich an Ray heran.

„Und du bist doch ein Schwächling. Unfähig, mit der Welt, dir und der Wahrheit klarzukommen. Versager!“, flüsterte er ihm verachtend ins Ohr.

Wieder sah Ray rot. So würde er sichj sicher nicht geschlagen geben!

Unbewusst, geradezu als hätte er es schon tausend Mal getan, wand er sich geschickt aus dem festen Klammergriff und trat seinem Gegner mit einem kräftigen Tritt in den Magen.

Überrumpelt ging Kai zu Boden, doch er fing sich schnell und sein Bein schoss nach vorne. Nun trat er selbst nach Ray, welcher sich noch nicht aus seiner Reichweite hatzte bringen können, und schlug ihm die Füß0e unter dem Körper weg.

Während nun der Schwarzhaarige stürzte, rappelte Kai sich erneut auf und stürzte sich auf den für einige Sekunden völlig wehrlosen Ray. Der Graublauhaarige nagelte seine Hände über seinem Kopf auf dem Boden fest und setzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Rays Becken. So konnte der Chinese nicht weg, Kai aber auch nicht durch treten oder Schlagen verletzen.

„Und nun…“, fing der Russe wieder an zu reden, stoppte aber, als er in Rays Gesicht blickte.

Der Langhaarige hatte die Augen fest zusammengekniffen und hunderte von Tränen flossen unaufhaltsam daraus hervor.

„Ray…“, flüsterte Kai leise. Doch dieses Mal war seine Stimme fast sanft. Kurz zögerte der Rotäugige noch, dann entließ er den Chinesen aus seinem Griff und erhob sich langsam.

„Los, komm hoch“, meinte er fast freundlich und streckte Ray hilfreich die Hand entgegen.

Zitternd nahm Ray sie entgegen und stand ebenfalls langsam auf. Eben noch total aggressiv und kampfeswütig war seine Haltung jetzt eher unterwürfig und schutzlos. Dieser plötzliche Sinneswandel verwirrte Kai zwar, doch er wollte sich nicht beschweren. Ray konnte wesentlich besser kämpfen, als er erwartet hätte, denn sonst hätte er ihn nicht absichtlich derart provoziert. Warum hatte Ray sich nicht vorher bei den Übergriffen auf ihn verteidigt?

Er machte einen Schritt auf den Langhaarigen zu, welcher sich schon wieder etwas von ihm entfernt hatte, als ein stechender Schmerz seinen Körper durchfuhr. Seine Hand wanderte automatisch zu seinem Bauch. Der Kleine konnte echt heftig zutreten, das Gehen würde vorerst recht schmerzhaft werden, wie es aussah.

„Ray, warum stäubst du dich so sehr gegen die Vorstellung, ein Esper zu sein? Wusstest du es wirklich nicht bis gestern?“, fragte er.

Mit roten und feuchten Augen sah der Angesprochene auf. Dann schüttelte er hilflos den Kopf.

„Nein, ich…“ Ray stockte. Sollte er es wirklich erzählen? Sollte er wirklich sagen, dass er keine Ahnung von sich hatte, dass er sich an nicht aus seiner Vergangenheit erinnerte? Würde ihn das nicht noch schutzloser machen, als er ohnehin schon war?

Manchmal muss man über die Dinge reden, damit sie besser werden.

Er wusste nicht, warum er gerade jetzt an das Gespräch mit Alexey denken musste. Aber vielleicht hatte der Braunhaarige ja Recht. Vielleicht musste er wirklich mit jemandem darüber reden und wenn es nur darum ging, dass er sich dann besser fühlen würde. Und Kai war so gut wie jeder andere auch.

„Es ist nicht so einfach, weißt du…“, begann Ray leise. Noch immer achtete er auf einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen sich und Kai. „Vielleicht weiß ich wirklich schon längst, dass ich ein Esper bin. Vielleicht auch nicht. Es ist so verwirrend. Es ist, also, bevor ich ins Heim kam, ich hatte einen Unfall und dabei, also, …“

Plötzlich hörte Ray Schritte hinter sich. Schnelle Schritte. Er sah, wie Kais Augen sich geschockt weiteten und drehte sich um, doch bevor sein Blick irgendetwas erfassen konnte, spürte er einen heftigen Schmerz im Nacken und alles um ihn herum wurde Schwarz.

„Ray! Azat, was soll das?!“

Aufgebracht stürmte Kai nach vorne, um dem anderen Russen den bewusstlosen Ray aus den Armen zu entreißen, doch der Rothaarige war schneller.

„Tut mir Leid Kai, doch den Süßen hier nehme ich erst einmal mit. Bis dann also?“

Zwei weitere Leute aus Azats Team erschienen und nahmen den Langhaarigen, zu dritt rannte sie davon und verschwanden in einer Seitenstraße.

Kai wollte ihnen folgen, doch bereits nach ein paar Schritten sank er schwer atmend zu Boden, den Arm um seinen Bauch geschlungen.

Verdammt! Warum musste ihn diese Verletzung so aufhalten? Der Chinese hatte doch nicht etwa innere Organe verletzt, oder?

„Ray…“
 

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Kapitel 8

Viel Spaß beim Lesen!
 


 

8. Kapitel

Stöhnend kam Ray zu sich.

Sein Nacken schmerzte fürchterlich und sein ganzer Körper fühlte sich ungewöhnlich taub an. Nur bruchstückhaft konnte er sich erinnern, was passiert war.

Müde sah er sich um. Er lag auf einer alten Matratze in einem kleinen fensterlosen Raum. Sonst befand sich hier nichts.

Erschöpft beschloss der Schwarzhaarige, noch etwas liegen zu bleiben. Er konnte im Moment keinen klaren Gedanken fassen und wäre eh nicht in der Lage, etwas zu tun.
 

Wieder schreckte Ray aus seinem Dämmerschlaf hoch.

Hatte er etwas gehört? Angestrengt lauschte er in die Stille hinein. Er hätte schwören können, dass da Schritte und Stimmen waren, doch jetzt war wieder alles ruhig.

Schwerfällig erhob er sich. Alles tat ihm weh. Inzwischen konnte er das Geschehen allerdings ganz gut rekonstruieren.

Er wusste noch, dass er mit Kai gekämpft hatte. Nebenbei bemerkt war er echt gut gewesen, fand er. Anscheinend verstand er doch etwas von Kampfsport. Doch irgendwann war plötzlich wieder alles auf ihn eingestürzt und er hatte einen halben Nervenzusammenbruch erlitten. Er war kurz davor gewesen, Kai alles zu erzählen, von seinem Unfall und dem Tod seiner Eltern, von seiner Unsicherheit und seinen Ängsten, bis hin zu seinem totalen Gedächtnisverlust, der ihn an den Rand des Wahnsinns trieb.

Doch dann hatte er Schritte hinter sich gehört und als er sich umdrehte, erwischte sein Blick noch einen roten Haarschopf, bevor er niedergeschlagen worden war.

Ray hatte inzwischen auch geschlussfolgert, dass es wohl nicht Tala war, der ihn da entführt hatte, sondern entweder Azat oder ein anderer Unbekannter. Vermutlich Azat Zueva.

Unruhig tigerte Ray in dem kleinen Raum umher, welcher nur spärlich von einer nackten Glühbirne (in Deutschland wäre es jetzt eine Energiesparlampe ^^) erhellt wurde. Das flackernde Licht nagte noch zusätzlich an seinen dünnen Nerven.

Warum hatte man ihn entführt? War das die Rache von Azat? Oder ging es um etwas anderes? Und was hatten sie mit ihm vor?

„Verdammt!“ Frustriert trat er gegen die Stahltür, doch außer dem metallischen Geräusch regte sich nichts. Er wollte hier raus!

Dann lass mich dir helfen.

Ray erstarrte.

Erschrocken drehte er sich um, doch er konnte niemanden entdecken. Er war noch immer alleine in diesem Raum. Doch wessen Stimme hatte er gerade gehört? Sie war ihm fremd, aber sie war ganz nah gewesen!

Beunruhigt wich Ray an die Wand zurück. Was für ein Spiel spielten sie hier mit ihm?

Ich kann dich hier raus bringen.

Da! Da war sie wieder! Doch hier war niemand.

Eine plötzliche Kälte breitete sich in dem Langhaarigen aus und zitternd schlang er seine Arme um seinen Oberkörper. Langsam ließ er sich auf die Matzratze fallen.

Hörte er jetzt schon Stimmen? Wurde er jetzt verrückt? War das sein Ende?

Doch dann schüttelte er vehement den Kopf. Nein, er wurde sicher nicht verrückt! Vielleicht war er einfach zu erschöpft, aber sicher war das alles nur Einbildung.

Ich bin keine Einbildung.

Wie unter einem Schlag zuckte Ray zusammen und presste die Hände auf die Ohren. Wieso ging sie nicht weg?! Rays Atem wurde stockend, Panik erfasste ihn und ließ ihn fast hyperventilieren.

Beruhige dich! Ich werde dir nichts tun, ich bin dein Freund!

„Nein, nein, nein, geh weg!“, wimmerte Ray, presste die Hände noch fester auf seine Ohren. Dieses Mal erhielt er keine Antwort.

Nach Stunden, wie es ihm schien, ließ der Schwarzhaarige seine Hände sinken und begann, sich langsam zu entspannen. Doch sein Herz raste noch immer in der Angst, diese Stimme würde zurückkommen. Hatte er früher auch Stimmen gehört? Sicher nicht, denn dann wäre er doch eingewiesen worden.

Plötzlich klickte es.

Rays Blick schoss hoch und fixierte die Tür.

In der ganzen Aufregung hatte er seine missliche Lage völlig verdrängt. Nun jedoch wurde sie ihm wieder grausam bewusst. Schnell rappelte er sich hoch, er wollte seinen Entführern nicht auch noch kniend begegnen, er wollte nicht gezwungen sein, zu ihnen aufzusehen.

Mühsam gefasst beobachtete Ray, wie sich die Tür quälend langsam öffnete, nur, um die Sicht auf einen zufrieden grinsenden Azat freizugeben.
 

„Tala!“

Erschrocken sprang der Rothaarige auf, geradezu, als wäre er bei etwas Verbotenem erwischt worden. Verwirrt starrte er Kai an, welcher schwer atmend und völlig aufgelöst in der Tür stand.

Gut, so aufgelöst ein Kai Hiwatari eben aussehen konnte. Andere hätten wahrscheinlich kaum einen Unterschied zu dem sonst immer gelangweilten Gesichtsausdruck des Graublauhaarigen erkannt, doch Tala konnte auf Anhieb sagen, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist los?“, fragte er nach.

Kais Blick huschte unruhig durch die Lagerhalle.

„Wo sind Spencer und Ian schon wieder?“

„Unterwegs, sich die Beine vertreten“, antwortete Tala, den Blick noch immer auf Kai gerichtet.

„Was ist passiert?“, fragte er noch mal deutlicher, als er den blauen Fleck auf Kais Kiefer entdeckte, sowie, dass dieser sich leicht verkrampft den Bauch hielt. „Hat dich jemand angegriffen?“

Normalerweise brauchte es schon mindestens fünf Leute, um dem Rotäugigen auch nur einen Kratzer zu verpassen, da man meist dank dessen Esperfähigkeiten gar nicht an ihn heran kam. Es sein denn, ein Jäger hätte ihn aufgespürt…

„Ray“, meinte Kai schlicht.

Tala starrte ihn ungläubig an.

„Die kleine Schmusekatze?“, fragte er zur Sicherheit noch Mal nach und als Kai nickte, musste der Rothaarige losprusten. „Wie hat er denn das geschafft?“, erkundigte sich Tala lachend.

„Ich wollte Ray aus der Reserve locken, also hab ich ihn provoziert, mir aber geschworen, erst mein Talent einzusetzen, wenn er seines einsetzt. Er muss jedoch irgendeine Art von Kampfsport gelernt haben, die er stattdessen eingesetzt hat.“

„Und er hat dich echt besiegt?“ Tala konnte es nicht glauben, doch da Ray nicht hier war, war das der einzig logische Schluss. Ansonsten hätte Kai den kleinen Chinesen doch mitgeschleift. Doch Kai schüttelte den Kopf, sein Blick verfinsterte sich.

„Wir haben unsere Auseinandersetzung nicht beendet. Aber Ray wollte mir zum Schluss irgendetwas erzählen. Nur…“

„Nur was?“

„Die All Starz waren plötzlich da. Azat hat ihn entführt.“

„WAS?!“

Entgeistert starrte Tala Kai an. Das konnte nicht sein Ernst sein!

„Aber wie…“

„Keine Ahnung! Ich konnte einfach nicht reagieren, es ging alles viel zu schnell! Sie haben mich überrumpelt, okay? Zufrieden?“

Nun war Kai sichtlich aufgebracht, er hasste es einfach, Fehler zu machen und noch mehr hasste er es, diese Anderen eingestehen zu müssen. Doch dieses Mal nahm Tala keine Rücksicht auf den verletzten Stolz des Russen.

„Das hilft uns jetzt nicht weiter, wir müssen den Chinesen da raus holen. Azat ist in letzter Zeit einfach zu sehr außer Kontrolle geraten. Ich will nicht wissen, was der plant.“

Talas Augen zeigte Besorgnis, aber auch Schmerz.

Kai warf ihm einen verständnisvollen Blick zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Tal? Alles okay?“, fragte er besorgt.

Der Rothaarige nickte nur, die Hände zu Fäusten geballt.

„Wir sollten zum Hauptquartier der All Starz“, meinte er schließlich, nach seiner Jacke greifend.

Kai folgte ihm schweigend.
 

Ray fühlte sich unwohl. Sehr unwohl.

Er wusste nicht, wie lange Azat nun schon in der Tür stand, mit diesem breiten und dreckigen Grinsen im Gesicht. Es erschien ihm wie Stunden.

Lass mich dir helfen.

„Nein“, flüsterte Ray heiser, nicht sicher, ob es sich auf seine momentane Situation oder die wiedergekehrte Stimme in seinem Kopf bezog.

„Doch“, erwiderte der Rothaarige.

Langsam setzte er sich in Bewegung und schritt auf den Schwarzhaarigen zu, welcher schon längst mit dem Rücken zur Wand stand. Unauffällig versuchte Ray, an Azat vorbeizuschielen. Doch der Andere bemerkte es.

„Versuch es erst gar nicht. Direkt vor der Tür stehen zwei meiner Leute, drei andere befinden sich sonst noch im Gebäude. Du würdest also nicht weit kommen.“

Verdammt, fluchte der Langhaarige gedanklich. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder vollkommen auf die ihm nächste Gefahr: Azat.

„Was willst du?“, fragte er ruhig.

Leicht fuhr sich der Russe mit der Zungenspitze über die Lippen.

„Weißt du, das du mein Angebot abgelehnt hast, hat mich sehr wütend gemacht. Und mich in eine ungünstige Position gebracht, denn als Gangleader kann man sich solche Fehler nicht erlauben. Deswegen muss ich schleunigst einen Erfolg verzeichnen, denn meine Leute können nur zu schnell den Respekt vor mir verlieren. Und das darf ich nicht zulassen.“

Azat starrte tief in Rays Augen. Dieser schluckte hart, als er die Ernsthaftigkeit in Azats Augen sah, doch er konnte auch noch einen anderen Schimmer in ihnen erkennen. Wahnsinn?

„Eigentlich wollte ich dich in der Schule etwas fertig machen lassen. Aber dann kam mir der Gedanke, dass man mit dir, Kais Mitbewohner, doch sicher mehr und vor allem Besseres anfangen kann. Vor allem, nachdem ich eure Beziehung zueinander gesehen habe.“

„Beziehung?“, fragte Ray mit schwacher Stimme.

Er mochte diese Entwicklung der Ereignisse nicht. Er mochte sie ganz und gar nicht. Dabei konnte nichts Gutes herauskommen.

„Aber ja. Eure Beziehung. Obwohl ich nie gedacht hätte, dass ausgerechnet Kai so ticken würde. Ihm hätte ich als letztes zugetraut, einen Lover zu haben.“

Azats Blick fuhr über Rays doch vergleichsweise zierliche Gestalt.

„Aber bei dir kann sogar ich eine Ausnahme machen.“

Jetzt verlor Ray endgültig die Kontrolle über seinen Körper und begann zu zittern und Furcht breitete sich in ihm aus. Seine Gedanken überschlugen sich, als er nach einer Fluchtmöglichkeit suchte, doch Azat hatte ihn zu weit in die Ecke gedrängt und sein Körper fühlte sich noch immer zu schwach an, als das er an eine erfolgreiche Flucht glauben konnte.

Gib nicht auf. Du bist nicht allein.

„Doch, ich bin allein“, flüsterte Ray leise, als er den Wahnsinn erblickte, der nun hell in Azats Augen strahlte.
 

„Verdammt, WO IST ER?!“

Bedrohlich stand Kai im Hauptquartier der All Starz und funkelte einen Jungen wütend an. Seine rechte Hand, zur Faust geballt, leuchtete bedrohlich.

„Bleib ruhig, Kai. Es bringt nichts, wenn du hier alles auseinander nimmst. Weder Azat noch Ray sind hier.“

Kai und Tala waren vor gut zehn Minuten ziemlich rücksichtslos in das Hauptquartier der All Starz gestürmt und den rothaarigen Chef sowie Ray gesucht. Die anwesenden Bandenmitglieder waren zu ängstlich, um die beiden aufhalten zu können. Die Abwesenheit Azats schien sie enorm zu schwächen. Allgemein schien aber ein ziemliches Chaos hier zu herrschen, stellte Tala fest. Es gab keine festen Wachposten wie sonst, was ihnen das Eindringen sehr erleichtert hatte und auch jetzt schien keiner gewillt zu sein, die Festung zu verteidigen.

Azats Eskapaden und Niederlagen, seine fehlgeschlagenen Pläne und sein übriges Verhalten schienen bei seinen Leuten auf Verständnislosigkeit zu stoßen. Sie waren unsicher, ob Zueva noch länger fähig war, sie zu führen. Und diese Zweifel machten es Tala und Kai gerade unheimlich einfach.

Doch auf der anderen Seite können sie auch Azat nicht verborgen geblieben sein und Tala wusste, dass ein Bandenleader, dessen Herrschaft an des Messers Scheide stand, zu allem fähig machte. Und gerade das war jetzt sehr gefährlich und drängte sie zur Eile.

„Hört auf damit, sie sind nicht hier!“, rief da auf einmal jemand.

Die beiden Demolitionboys drehten sich zu dem Sprecher um.

Schwer atmend und ziemlich erschöpft vom Rennen wirkend stand Michael in der Tür.

„Parker“, sagte Kai, mit einer gefährlich ruhigen Stimme. „Was weißt du?“

„Ich weiß, wo Azat den Chinesen hingebracht hat. Und ich werde euch hinbringen“, fügte er schnell hinzu, als er sah, wie Kai schon wieder ansetzte, etwas zu sagen.

„Schnell, wir müssen uns beeilen.“ Und damit drehte er sich um und verschwand aus der Tür.

Kai und Tala folgten ihm eilig.

„Warum hilfst du uns?“, fragte der Rothaarige neugierig. „Das ist immerhin Verrat an deiner eigenen Bande, noch schlimmer, deinem Bandenchef. Damit wirst du nicht einfach davon kommen.“

Michael sah ernst auf die Straße vor ihnen und achtete darauf, an den richtigen Kreuzungen abzubiegen. Tala rechnete schon gar nicht mehr damit, als er schließlich doch noch antwortete.

„Azat Zueva ist nicht mehr mein Bandenchef. Ich kann und werde ihn nicht mehr als solchen anerkennen. Ihr habt es sicher mitbekommen, unsere Bande ist im Umbruch. Viele stehen nicht mehr hinter Azat, sind unzufrieden mit der Art und Weise, wie er die Dinge neuerdings angeht. Sicher, das Leben auf der Straße, gerade in dieser Gegend, war schon immer brutal und gefährlich, doch Azat ist dabei, eine Grenze zu überschreiten, die besser unangetastet bleibt. Deswegen bringe ich euch jetzt auch zu ihm, denn ich fürchte, heute will er diese Grenze überschreiten. Ich hoffe nur, wir kommen nicht zu spät…“

Darauf hin schwiegen sie wieder, der Blonde schien nicht gewillt, noch mehr zu sagen. Doch Kais Tempo hatte merklich zugenommen, die anderen beiden Russen konnten nur mit Mühe Schritt halten.
 

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Kapitel 9

9. Kapitel
 

Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Ray, wie Azat einen einfachen aber scharfen Dolch aus seinem Gürtel zog und ihn in seinen Händen drehte. Der Blick des Rothaarigen war nachdenklich auf die Waffe gerichtet, als er erneut sprach.

„Weißt du, es war immer unheimlich schwer, Kai zu erreichen. Mit roher Gewalt kommt man nicht gegen diesen beschissenen Esper an, doch auch mental ist Hiwatari so gut wie unangreifbar. Das einzige, was ihm je etwas bedeutet hat, war seine Gang, die Demolitionboys. Doch jeder von ihnen ist ein Esper, daher ist es auch kompliziert, ihn mit ihnen zu verletzen. Und leider sind diese Hexer auch so verdammt loyal!“

Azats Stimme klang aufgebracht, wütend, frustriert.

Doch dann lächelte er plötzlich wieder und sein Blick richtete sich auf Ray.

„Aber du hast mir ganz neue Möglichkeiten geöffnet… Was meinst du, wird Kai wohl tun, wenn er erfährt, dass dir etwas passiert ist? Und das es seine Schuld ist? Ob es ihn interessiert? Oder ob es ihm egal ist?“

Langsam hob er den Dolch und fuhr mit der Klinge sanft über Rays Wange, doch sie war scharf genug, um einen dünnen Schnitt zu hinterlassen aus welchem einige Tropfen Blut quollen.

Ray presste seinen Kiefer fest zusammen, unwillig, ein Geräusch von sich zu geben.

„Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, Hiwatari gehört zu jener Sorte Mensch, die man am ehesten verletzen kann, indem man sie mental fertig macht, ihren Kampfgeist langsam bricht. Dann sind sie am schwächsten und dann kann man sie endgültig platt machen.“

Ich will hier raus, flehte Ray im Stillen. Dieser Kerl war doch irre!

Dann akzeptiere mich endlich, sonst kann ich dir nicht helfen!

Kurz abgelenkt durch die fremde und doch so bekannte Stimme in seinem Kopf, konnte er auf Azats plötzliche Bewegung nicht reagieren. Ehe sich der Chinese versah, spürte er, wie die Lippen des Rothaarigen brutal auf seine gepresst wurden. Durch den Schwung schlug Rays Kopf heftig gegen die hinter ihm liegende Wand. Für einen kurzen Augenblick wurde ihm Schwarz vor Augen, doch er fing sich glücklicherweise schnell.

Gerade wollte er Azuat von sich stoßen, als ein weiterer, diesmal wesentlich heftigerer Schmerz, ihn aufkeuchen ließ.

Azat hatte ihm den Dolch in die Seite gerammt.

In dem Moment, in dem Ray seine Lippen einen Spalt weit öffnete, drang die Zunge des Rothaarigen in Rays Mündhöhle und erforschte sie rücksichtslos.

Dieses Mal konnte Ray ein Wimmern nicht unterdrücken. Der Schmerz ließ ihn Sterne sehen und über diese fremden Lippen wollte er gar nicht nachdenken.

Er wusste zwar nicht, ob er schon Mal jemanden geküsst hatte, vielleicht sogar Sex gehabt hatte, doch wenn er nach seinen tatsächlich vorhandenen Erinnerungen ging, dann war das hier sein erster Kuss. Und er entsprach bestimmt nicht seinen Vorstellungen.

Endlich, nach Stunden wie es schien, ließ der Russen von ihm ab und schwer atmend und leise wimmernd sank Ray auf die Knie, sich mit einer Hand seine verletzte Seite haltend. Er konnte das Blut zwischen seinen Fingern rinnen spüren. Es war klebrig.

Fahrig fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Er blinzelte, als er auch hier etwas Merkwürdiges schmeckte. Seine andere Hand fuhr zu seinem Mund und berührte ihn, er zuckte zusammen und als er seine Finger betrachtete, sah er noch mehr von der roten Flüssigkeit an ihnen. Der Rothaarige musste seine Lippen aufgebissen haben, doch vom Schmerz in seiner Seite abgelenkt hatte der Langhaarige nichts gespürt.

Ängstlich sah er nach oben, zu seinem Peiniger. Azat wirkte sichtlich zufrieden, besonders als er diesen Ausdruck der Angst in den Augen seines Opfers sehen konnte. Er war ihm vollkommen ausgeliefert.

„Ach, ich hab glaub ich, vergessen, etwas zu erwähnen. Siehst du die kleine Kamera da? Sie nimmt ganz brav alles auf, was hier passiert. Schließlich wirst du es Kai nicht mehr erzählen können, wenn ich mit dir fertig bin und wir wollen doch, dass dieser Esper trotzdem die Wahrheit erfährt, nicht?“

Ray schauderte bei dem Gedanken, dass Azat wirklich alles filmte, doch noch mehr bei dem Gedanken daran, was der Rothaarige gerade angedeutet hatte. Das brachte den Chinesen dazu, sich schwer atmend wieder zu erheben. Leicht gekrümmt stand er schließlich wieder vor Azat, Schweiß glänzte auf seiner Stirn.

Gib nicht auf.

Nein, er würde nicht aufgeben und ganz bestimmt auch nicht hier sterben!

„Was hast du jetzt vor?“, fragte er mit zittriger Stimme.

„Ah, ich bin froh, dass du das fragst“, sagte Azat. „Weißt du, du brauchst keine Angst zu haben. Als die Hure, die du zu sein scheinst, wirst du sicher denken, ich wäre auch nur hinter deinem Körper her, doch da muss ich dich enttäuschen. Ich bin nicht so abartig schwul. Obwohl Hiwatari das sicher noch mehr verletzen würde.“

Hier verzog sich Azats Gesicht angeekelt. Allein der Gedanke an das Thema Homosexualität schien ihm Übelkeit zu bereiten. Doch Ray atmete erleichtert aus. Wenigstens das blieb ihm erspart.

„Obwohl der Kuss ja ganz nett war. Aber nein, ich begnüge mich damit, die nur langsam die Haut abzuziehen und dich Stück für Stück auseinander zu nehmen.“

Na gut, das waren auch keine erfreulichen Aussichten.

Er musste hier raus, egal wie!

Der Chinese beobachtete, die Azat sich in scheinbarer Sicherheit wiegend, die Hand, die den Dolch hielt, neben seinen Körper sinken ließ.

Ray spürte das Adrenalin, dass durch seine Adern gepumpt wurde, die Anspannung, die ungewöhnlich gute Konzentration. Das musste er nutzen, jetzt war seine einzige Chance.

Ohne Vorwarnung spannte Ray seinen ganzen Körper an, stieß sich von der Wand hinter ihm ab und schoss nach vorne, rammte den Zueva und schleuderte ihn mit Gewalt zu Boden.

Der Rothaarige keuchte erschrocken auf und Ray konnte sehen, dass dieser sich ebenfalls den Kopf gestoßen hatte. Gut, das erkaufte ihm vielleicht etwas Zeit.

Eilig rappelte er sich wieder auf, den Schmerz ignorierend, und stürmte zur Tür. Doch er war unaufmerksam gewesen. Ein plötzlicher Ruck ging durch seinen Körper, als sein Knöchel festgehalten wurde und der Langhaarige stürzte zu Boden.

„Scheiße, du bist ja ein richtiges kleines Biest“, knurrte Azat aufgebracht, während er aufstand. Mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich den Hinterkopf. Dann sah er auf Ray hinab. Sein Blick war stechend.

Ray dagegen kauerte erschöpft auf dem Boden. Der Adrenalinrausch hatte nachgelassen und seinem ganzen Körper jegliche Kraft geraubt. Sein Atem ging schwer, er keuchte und hechelte, den Blick zu Boden gerichtet.

Das Blut rann nun auch über sein Gesicht, er hatte sich bei dem Sturz erfolgreich die Stirn aufgeschürft, außerdem manifestierte sich sein Verdacht, dass auch sein Hinterkopf mehr als nur eine Beule als Schaden aufwies.

Das war’s.

Er hatte es nicht geschafft.

Er hatte versagt.

Er würde hier sterben.

Langsam hob er den Kopf, sein Blick tastete sich von Azats Füßen seine Beine und seinen Oberkörper entlang, bis er bei seinem Gesicht hängen blieb. Der Blick des Rothaarigen ließ Ray nur noch mehr verzweifeln. Er fühlte sich wie ein Reh, dass gerade von einem Wolf in die Ecke gedrängt würde und nur hoffen konnte, dass der Wolf ihm schnell die Kehle durchbiss, damit es nicht ganz so lange leiden würde. Doch diese Hoffnung hatte Ray nicht.

Doch Azat hatte bereits klar gemacht, dass er ihn leiden lassen würde, jetzt wahrscheinlich umso mehr.

Ein Teil seines Gehirnes nahm den Lärm wahr, der draußen plötzlich aufgekommen war, doch nur sein Unterbewusstsein registrierte es wirklich.

Geschlagen schloss Ray die Augen.

Azats Lippen kräuselten sich zu einem zufriedenen Lächeln, als er sah, wie der Widerstand des Chinesen brach.

„Du gibst also auf? Das ist gut. Das macht vieles einfacher.“

Ray hörte, wie der Rothaarige den Abstand zwischen ihnen Überwand, konnte den Luftzug der Bewegung spüren. Es ließ das Blut in seinen Adern gefrieren.

Das war wohl sein Ende.

Bitte! Akzeptiere mich! Lass mich dir helfen!

Er hörte diese Stimme in seinem Kopf erneut flehen, doch jetzt störte es Ray nicht mehr, dass er scheinbar verrückt wurde. Es war eh alles egal.

Wenn alles egal ist, dann hör auf, dich so gegen mich zu sträuben und lass mich zu!

Gut, was konnte es jetzt noch schaden? Also gut, du Stimme in meinem Kopf, dann hilf mir halt, dachte Ray. Mal sehen, was du besser kannst als ich.

Und kaum hatte Ray diesen Gedanken zu Ende gedacht, begann sein ganzer Körper zu Kribbeln. Das Gefühl glich dem, dass er bei Azats letztem Angriff verspürt hatte, nur schien es tausendfach stärker. Und plötzlich begriff er, was das bedeutete. Das Kai Recht gehabt hatte. In Allem.

„Oh Scheiße“, flüsterte er erstickt.

Und der ganze Raum wurde von einem strahlenden Licht erfüllt.
 

„Da ist es! Azats zweites Versteck! Hierhin hat er Kon gebracht, da bin ich mir ganz sicher!“

Leicht außer Puste blieben Michael, Kai und Tala an einer einsamen Kreuzung stehen. Der Blonde zeigte um die Ecke auf eine Reihe alter Häuser, grau, drei Stockwerke hoch und ziemlich verfallen. Eindeutig unbewohnt.

„Ich seh schon“, murmelte Kai mit einem Blick auf den Jungen, der scheinbar als Wachposten vor dem noch am besten erhaltenen Haus stand. Gelangweilt lehnte er an der Wand und starrte ins Blaue, eine ziemlich krumme Melodie ziemlich laut summend. Anscheinend rechnete er nicht mit Problemen. Schlecht für ihn, gut für sie.

„Was habt ihr jetzt vor? Da drin sind noch mindestens zwei weitere von Azats Leuten. Wollt ihr versuchen, euch von hinten anzuschleichen?“

Kai ignorierte Michael total und konzentrierte sich nur auf das Haus und den Wachposten. Tala dagegen grinste den Blonden breit an.

„Uns von hinten anschleichen?“, fragte er belustigt. „Du scheinst uns aber sehr zu unterschätzen. Bleib einfach hier und warte, dann wirst du schon sehen.“

„NEIN!“

Plötzlich sahen sich Michael und Tala einem /sehr/ ernsten Kai Hiwatari gegenüber. Grob packte er Michael an der Schulter und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. Der Blonde schluckte überrascht.

„Du wirst jetzt von hier verschwinden, sofort! Verstanden? Danke, dass du uns hier her gebracht hast, aber jetzt wirst du nicht mehr gebraucht. Glaub mir, es ist wirklich besser für dich. Geh zurück zu deiner Bande und sag ihnen, dass sie einen neuen Anführer brauchen. Das ist für dich jetzt wichtiger, verstanden Parker?“

Hastig nickte Michael. Der Graublauhaarige machte ihm Angst.

„Gut“, knurrte Kai zufrieden und beobachtete dann, wie der blonde Russe sich schnellstmöglich aus dem Staub machte.

„Wie können hier keine zeugen gebrauchen“, erklärte er dann Tala, welcher ihn fragend ansah.

„Oh.“ Verständnis breitete sich auf den Zügen des Rothaarigen aus. „Da hast du natürlich Recht.“

Ohne zu zögern traten sie aus dem Schatten der Gasse, in der sie sich verborgen gehalten hatten und liefen gemächlichen Schrittes auf den armen All Star zu, der noch immer seine krumme Melodie summte.

Erst, als die Beiden ihn schon fast erreicht hatten, blickte er auf und bemerkte sie. Seine Augen weiteten sich überrascht, doch es war bereits zu spät. Mit einem schnellen Satz nach vorne erreichte Tala den Wachposten in Sekundenbruchteilen und schickte ihn mit einem gezielten Schlag schlafen.

„Das dürfte ne Weile reichen“, bemerkte Kai gefühllos und schob den leblosen Körper mit den Füßen von der Tür weg.

„Und jetzt geh aus dem Weg, die Tür übernehme ich.“

Tala trat wie aufgefordert zur Seite. Da wollte er nicht in die Schusslinie kommen.

„Aber pass auf, die Tür scheint erstaunlich stabil zu sein“, warnte er noch, doch Kai grinste nur diabolisch. Langsam hob er die Hand.

„Kein Problem für uns, oder Dranzer?“

Nein.

Die drei All Starz wussten gar nicht, was ihnen geschah, als die Haustür unter einen gewaltigen Explosion zu Bruch ging, begleitet vom lauten Schrei eines unbekannten Vogels. Einige Flammen züngelten noch am Türrahmen hinauf, als Kai dicht gefolgt von Tala hindurch traten. Die roten Augen des Graublauhaarigen leuchteten wie die eines Feuerdämons.

„Wo ist Ray?“, fragte er mit schneidender Stimme.

Die Anwesenden sahen sich kurz ängstlich an, unsicher, was sie tun sollte. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe, solche Eindringlinge abzuhalten, doch wer wollte sich bitte mit den Beiden anlegen.

„Wo ist er?“, wiederholte Kai sich noch mal, die Frage kam abgehackt, drohend. Seine Faust hob sich und leuchtete beängstigend, ja, schien fast zu brennen.

Zitternd hob einer der All Starz seinen Arm und deutete auf die Kellertür.

„Er… er ist da … unten. Mit Azat…“

Bei der Erwähnung des Rothaarigen verdunkelten sich Kais Augen nur noch mehr und auch Tala spannte sich an.

Ohne weiter auf die flüchtenden All Starz zu achten, gingen sie die schmale Kellertreppe vorsichtig hinunter. Auch wenn Kai sich beeilen wollte, doch der morsche Zustand der Treppe ließ es nicht zu. Es brachte niemandem etwas, wenn er sich jetzt seine Knochen brach.

Ein heiserer Schrei ließ ihn heftig zusammenzucken. Das war Ray!

„Verdammt“, fluchte er zwischen zusammengekniffenen Lippen machte einen überhasteten Schritt. Dabei rutsche er in eines der vielen Löcher der Treppe. Erschrocken so er die Luft ein und wartete auf einen heftigen Schmerz, doch Tala reagierte noch rechtzeitig und packte ihn am Oberarm, zog in vorsichtig wieder hoch.

„Pass auf du Idiot! Werd jetzt nicht unvorsichtig!“, murmelte er strafend.

Kai nickte. Vorsichtig gingen sie weiter, noch einmal um die Ecke, dann konnten sie das Ende der Treppe sehen. Beinahe erleichtert atmete Tala aus. Wie hatten die es nur geschafft, den Chinesen hier runter zu bringen?

„Hey, wie kommt ihr hier her?“, rief da jemand von unten. Noch eine Wache. Der große, stämmige Russe stürmte nach vorne, um sie anzugreifen, Kai machte sich gerade zu Verteidigung bereit, als plötzlich ein gleißendes Licht den dunklen Keller erhellte.

Kai und Tala kniffen überrascht die Augen zusammen, rührten sich aber geistesgegenwärtig nicht vom Fleck. Der Wachposten dagegen, noch mitten in der Vorwärtsbewegung, stolperte vor Schreck und fiel den Demolitionboys hilflos vor die Füße.

Ohne Rücksicht schickte Kai auch ihn ins Reich der Träume.

„Das Licht, kann es sein, dass…?“, fragte Tala fassungslos, Kai nickte stumm.

„Das ist wirklich eine Überraschung.“

Endlich die gefährliche Treppe überwunden stürmten sie zu der halb offenen Türe, aus der das Licht kam.

Was sie sahen, ließ Kai das Blut in den Adern stocken.
 

Leicht blinzelte Ray, ungläubig, was gerade geschah.

Das Licht ebbte relativ schnell ab und erlaubte dem Chinesen, wieder etwas zu sehen. Azat war von einer Druckwelle gegen die Wand geschleudert worden, ganz so, wie damals Michael und die anderen zwei Russen, die Ray gestern angegriffen hatten. War das wirklich erst gestern gewesen? Es erschien Ray wie Jahre.

Der Rothaarige hatte sich allerdings schnell wieder auf die Beine gekämpft, ebenfalls fassungslos. Jetzt starrte er mit weit aufgerissenen Augen auf die Gestalt, die zwischen Ray und ihm stand. Auch der Chinese war gebannt von ihr.

Ein majestätischer Tiger stand stolz und erhobenen Hauptes vor dem Schwarzhaarigen, die Zähne gebleckt, leicht knurrend und die scharfen Krallen ausgefahren. Trotz der Tatsache, dass er fast durchsichtig war, konnte man jedes Detail an ihm, jedes glänzende Haar seines weißen Felles und das stürmische Funkeln in seinen Goldenen Augen, erkennen.

Ray verstand nicht, doch auf einmal fühlte er sich besser. Die Schmerzen in seinem Körper erschienen nur noch halb so schlimm und all das Furchtbare, was Azat ihm angetan und angedroht hatte, all der Schrecken, geriet fast in Vergessenheit, schien furchtbar Unwichtig auf einmal. Und vor allem Anderen fühlte Ray sich unverständlich sicher.

„So einer bist du also!“, zischte Azat da aufgebracht. Hass glänzte in seinen Augen. „Du bist nicht nur ein gottverdammter Esper, sondern so … /ein Ding/!“

Ray zuckte zusammen. Er verstand die Worte des Rothaarigen nicht, sie machten keinen Sinn für ihn, doch er verstand, dass Azat ihn plötzlich nicht mehr als Mensch ansah.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es so weit kommt, aber es sieht ganz so aus, als hätte ich keine andere Wahl“, murmelte der Russe zu sich selbst und zog etwas aus seiner hinteren Hosentasche hervor.

Ray stockte der Atem, als er die sauber alte, aber mit Sicherheit noch funktionstüchtige Pistole erblickte, die Azat nun auf ihn richtete.

Der Tiger knurrte aufgebracht, fletschte die Zähne und spannte die Muskeln an. Er war zum Sprung bereit.

Azat löste die Sicherung und zielte nun eindeutig auf die Brust des Chinesen. Ray konnte sich nicht rühren. Er war unfähig, aufzustehen, seine Verletzung schwächte ihn enorm und der Blutverlust machte sich ebenfalls langsam bemerkbar. Sein Kopf fühlte sich ungewöhnlich leicht und schwerelos an.

Azats Grinsen wurde breiter, Wut und Hass mischten sich mit Wahnsinn, hinterließen nichts als Zerstörung und Chaos.

„Auf Wiedersehen, Ray Kon“, flüsterte er.

Plötzlich entspannte sich der weiße Tiger, der bis eben noch eindeutig zum Angriff bereit gewesen war. Ray sah sein letztes Stündchen damit gekommen, seine einzige Hoffnung war dieses Tier gewesen, dessen Herkunft ihm allerdings noch schleierhaft war, genauso wenig, wie das Veretrauen, dass er ihm gegenüber verspürte.

Auch Azat war durch diesen plötzlichen Sinneswandel des Tigers kurz abgelenkt, ein paar Millisekunden, doch sie reichten.

Plötzlich schrie er los.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Ray die Pistole in den Händen des Rothaarigen an. Sie glühte. Nein, sie brannte!

Aber sie war aus Metall! Wie zum Teufel konnte Metall brennen? Das ging nicht! So etwas war nicht möglich!

Wie vieles von dem, was du in den letzten Tagen erlebt hast, deiner Auffassung nach nicht möglich sein sollte - und doch ist es passiert.

Ja, da hast du Recht, dachte Ray.

Das brennende Stück Metall - inzwischen war von der einstigen Pistole nichts mehr zu erkennen, es war nur noch ein Klumpen halbflüssigen Eisens – fiel klatschend zu Boden. Das allein gab Ray eine vage Vorstellung davon, wie heiß dieses Feuer sein musste.

„Ich habe dich gewarnt, Zueva, und dieses Mal bist du zu weit gegangen!“

Der Rothaarige drehte sich zur Tür um und auch Rays Blick wanderte dorthin.

Da stand er. Kai. Eine Hand erhoben. Und irgendwie hatte der Chinese das Gefühl, dass Kai etwas mit dem Feuer zu tun hatte… Doch das machte keinen Sinn! Nirgends in den Büchern, die er zum Thema Esper gelesen hatte, stand etwas von derartigen Fähigkeiten. Wie also konnte das möglich sein?

„Du“, presste Azat hervor, sich die verbrannte Hand haltend.

„Ja, ich. Aber ich bin nicht allein.“

Tala trat nun aus dem Schatten, schob sich an Kai vorbei und ging, gebührend Abstand haltend, an Azat vorbei. Bei dem weißen Tiger hielt er kurz an, sah ihm fragend in die Augen. Würde Ray es nicht besser wissen, würde er denken, die beide würden sich unterhalten. Aber dann wieder: Wusste er es denn besser?

Plötzlich löste sich der Tiger auf, schien in hunderte und tausende kleine Lichtpartikel zu zerfallen, bis nichts mehr von ihm übrig war.

Tala trat zu Ray und beugte sich hinunter. Er musterte den noch immer schwer atmenden Chinesen.

„Kannst du aufstehen?“, fragte er sachlich.

Nein, wollte Ray sagen, doch sein Stolz ließ es nicht zu. Also kämpfte er sich wortlos mühsam hoch, unter dem zweifelnden Blick des Russen. Als er sein Gewicht jedoch auf das Bein verlagerte, auf dessen Seite ihm Azat den Dolch in den Körper gerammt hatte, knickte er mit einem kleinen Aufschrei zusammen. Tala fing ihn ohne Schwierigkeiten.

„Lass mal, wie sind nicht zu deiner Rettung gekommen, nur um dich wegen deinem Stolz sterben zu sehen. Es tut nicht weh, Hilfe zur Abwechslung auch einmal anzunehmen.“

Und damit hob Tala den kleineren Langhaarigen auf seine Arme und trat zu Kai.

Azat hatte alles schweigend beobachtet.

„Und, was habt ihr jetzt vor?“, fragte er leicht kichernd.

Tala zog die Stirn kraus, doch Kai hob lediglich erneut seinen Arm.

„Weißt du, Azat, seit ich dich kennen gelernt habe, wollte ich dir jemanden vorstellen. Ich denke, jetzt ist endlich der richtige Zeitpunkt gekommen“, sagte er ruhig, doch seine Stimme war voller Hass. „Zeig dich, Dranzer!“

Und Kais Hand, nein, sein ganzer Arm schien in Flammen gehüllt. Ray keuchte erschrocken auf, doch Tala hielt ihn fest.

„Keine Sorge“, wisperte er dem Chinesen beruhigend ins Ohr.

Das Feuer schien sich um Kais Hand zu konzentrieren und nahm langsam Formen an. Ein Vogel stieg daraus hervor, er wurde größer, sein Körper schien aus Flammen zu bestehen. Schließlich löste er sich ganz von Kais Hand und stieg in die Mitte des Raumes auf. Er sah so aus, wie Ray sich einen der sagenhaften Phönixe vorstellen würde. Ja, so sah er aus, wie ein Phönix.

Dranzer stieß einen hohen Schrei aus.

Azats Körper begann unkontrolliert zu zittern. Dann brach er in schallendes Gelächter aus.

„Ich wusste es! Ich wusste es! Ich wusste es! Von Anfang an! Aber es wollte ja keiner auf mich hören! Aber jetzt hab ich den Beweis, jetzt wird es die ganze Welt erfahren! Hihi…“ Das Kichern des Rothaarigen war krank, der Ausdruck in seinem Gesicht verzerrt zu einer hässlichen Maske.

Ray Hände krampften sich in Talas Shirt, aber auch der war angespannt.

„Tala?“, fragte Kai. Es klang, als bitte er um Erlaubnis.

Tala seufzte schwer und wandte seinen Kopf ab.

„Nur zu“, meinte er. Der Schmerz in seiner Stimme war zu hören. „Diese /Person/ hat es nicht anders verdient.“

Der Graublauhaarige nickte.

Dann schoss der Feuervogel von der Decke hinab und stürzte sich auf den noch immer lachenden Azat. Das Lachen wurde zu einem Gurgeln, das Gurgeln zu einem Schreien, die Schreie verebbten, bis nur noch das knisternde Geräusch des verbrennenden Körpers zu hören war und der Gestank von verbranntem Fleisch die Luft verpestete.

Ray würgte. Er sah zwar nicht, was geschah, denn der Tala drückte sein Gesicht fest gegen seine Brust, doch er hörte es … und er roch es. Die Augen waren vor grauen weit aufgerissen, als er begriff, was hier passierte und auch er zitterte am ganzen Körper.

„Auf Wiedersehen, Bruder“, flüsterte Tala und obwohl die Worte ganz leise gesprochen waren, vernahm Ray sie.

Und er begriff.

Er begriff die Ähnlichkeit in ihrem Aussehen, er begriff, warum Kai Tala um Erlaubnis gebeten hatte und er begriff den Schmerz in Talas Stimme.

Tala Ivanov und Azat Zueva waren Brüder gewesen.

Und jetzt vermochte Ray nicht mehr, die Tränen zu unterdrücken. Die ganze Zeit hatte er es geschafft, keinen Tropfen des salzigen Wassers zu vergießen, doch jetzt brachen sie in Sturzbächen aus seinen Augen. Mit einem Schluchzer krallte er sich noch fester in Talas Shirt und drückte seinen Kopf fest an die Brust des Rothaarigen. Er wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Es war alles zu viel. Der Schmerz in seinem Körper und der Schmerz in seinem Inneren.

Kaum nahm Ray wahr, wie Tala ihn zurück ins Freie trug, wie Kai erst den noch immer bewusstlosen Wachposten von der Tür wegschleppte und dann das ganze Haus mit einem Handwedeln in Brand setzte. Ray war nicht bewusst, wie lange die beiden Russen da standen und beobachteten, wie das zweite Versteck Azat Zuevas in Flammen aufging, wie die Asche des Gebäudes sich mit der Asche des Leaders der All Starz mischte und die ausgebrannte Ruine letztendlich zu seinem Grab wurde.

Als in der Ferne die ersten Sirenen der Feuerwehr zu hören waren, drehten Tala und Kai zusammen mit Ray dem noch immer brennenden Gebäude den Rücken zu und verschwanden langsam wieder im Gewirr der schmalen Gassen Moskaus.

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Kapitel 10

Also hallo meine lieben Leser!
 

Ich glaube, würden meine Kapitel wirklich Titel haben, würde dieses hier den langweiligen Namen „Gespräche“ haben, den ich schon in so vielen Fanfiktions gesehen hab. Oder „Gespräche und Enthüllungen“ oder so… Dann lieber doch keine Titel.

Stört euch das? (Ist das erste Mal, dass ich mir die Frage stelle, aber eigentlich wäre das Mal ganz interessant zu wissen.)
 

Ich wurde gefragt, woher die Wörter ‚Esper’ und ‚Zero’ kommen. Nun, das ist einfach. Kennt jemand den Manga ‚ES’? Nein? Ich auch nicht. Aber ich kenne die erste DVD der Serie. *g* Es geht darin auch um Menschen mit solch paranormalen Fähigkeiten, ich habe mich etwas daran orientiert. Und bei Kaori Yukis 'Neji Screw' werden sie auch Esper genannt.

Woher der Name ‚Zero’ kommt, tja, das wird später noch beantwortet, hat aber auch einen Hintergrund. Aber da werdet ihr euch noch etwas in Geduld üben müssen…
 

Und jetzt viel Spaß beim 10. Kapitel!!!
 

10. Kapitel

„Wir sind da“, bemerkte Tala leise.

Ray hob den Kopf. Die ganze Zeit über hatte er sich von Tala tragen lassen. Sein Gesicht in dessen Shirt gedrückt und krampfhaft versucht, alles um ihn herum auszublenden. Sein Kopf war einfach überfordert, zu viele verschiedene Informationen hatte er bekommen und zu viel war passiert.

Der Schmerz, der zusätzlich in seiner Seite pochte und sich langsam aber sich in seinem ganzen Körper ausbreitete, schienen seine Gedanken zu lähmen. Der Blutverlust machte ihn müde und erschöpft.

Alles in Allem war Ray überrascht, dass er noch bei Bewusstsein und nicht längst zusammengebrochen war. Doch er hatte Fragen, die beantwortet werden wollten.

Er erkannte recht schnell, wohin Tala ihn gebracht hatte, Kai an ihrer Seite. Das Hauptquartier der Demolitionboys, wohin auch sonst.

Langsam kam wieder Bewegung in den schmalen Körper. Der Langhaarige versuchte vorsichtig, sich Talas Griff zu entwinden.

„Hey, pass auf, Vorsicht!“, rief dieser überrascht und hielt Ray nur noch fester.

„Du bist zu schwach und schwer verletzt, um alleine zu stehen. Tala wird dich drinnen auf einem Stuhl absetzen, Ray“, meinte nun auch Kai, der die Versuche des Chinesen nur widerwillig beobachtete. Das Blut, dass schon einen großen Teil dessen Kleider tränkte, beruhigte ihn nicht gerade. Was zum Teufel hatte Azat nur getan?!

Kai verfluchte sich wieder einmal dafür, dass er es überhaupt so weit hatte kommen lassen. Er mochte zwar stark sein, doch es sah ganz danach aus, als war er noch lange nicht stark genug.

Leise seufzte Ray. Kai hatte Recht. Leider.

Aber gut, er hatte sich durch die halbe Stadt tragen lassen, da würden die paar Meter seinem so schon angeschlagenem Stolz auch kaum noch Schaden zufügen können, oder?

Ergeben schloss er die Augen. Er war so unendlich müde.

In der Lagerhalle war es bedeutend wärmer als draußen, scheinbar gab es hier eine intakte Heizung. Noch immer die Augen geschlossen, spürte Ray, wie Tala ihn vorsichtig, um ihm nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen, auf einen Stuhl setzte. Er hätte nie gedacht, dass der Rothaarige so sanft sein konnte. Ob Kai das auch war? Und was in drei Teufels Namen dachte er hier?!

„Hey, was habt ihr denn da mitgebracht? Ein neues Spielzeug?“, hörte er da eine fremde Stimme. Nun, eigentlich war die Stimme ihm gar nicht so fremd und gerade dass missfiel Ray.

Sein Kopf ruckte hoch und sein Blick fand sofort den Sprecher.

„Was…?!“, fragte leise, nicht die Kraft dazu aufbringend, seiner Stimme auch nur etwas Schärfe oder Wut geben zu können.

„Ian, Spencer, ihr lasst euch auch mal wieder blicken?“ Tala begrüßte den kleinen Lilahaarigen und den großen Blonden, der Ray erst jetzt auffiel. Der Hüne saß auf dem provisorischen Bett und beobachtete ihn grimmig.

„Was hat das Mädel hier zu suchen? Er…“, fragte er abfällig, Unterbrach sich jedoch, als er Kais mörderischen Blick auffing. Auch Tala wirkte nicht zufrieden.

„Räum das Bett, Spencer. Das ist für Leute die es brauchen und Ray hat im Gegensatz zu dir ganz dringend etwas Schlaf nötig, falls du es nicht siehst“, meinte der Graublauhaarige kalt.

Noch einmal wanderte Spencers Blick zu dem Chinesen, der zusammengesunken auf dem Stuhl saß. Erst jetzt fiel ihm auf, dass dessen Kleidung normalerweise eigentlich nicht rot waren, auch die Verletzungen im Gesicht hatte er vorher nicht bemerkt. Kurz gesagt, schien dieser Kon in einem erbärmlichen Zustand.

„Oh…“, entwich es Spencer intelligent. Eilig erhob er sich.

„Ja oh“, meinte Tala. „Los, komm Kleiner, Onkel Tala bringt dich jetzt ins Bett.“ Doch der Rothaarige lächelte bei diesen Worten nicht, so wie man es jetzt vielleicht von ihm erwartet hätte. Seit den Geschehnissen in Azats Versteck hatte Tala nicht mehr gelächelt.

„Nein“, widersprach Ray bestimmt. „Ich werde jetzt nicht schlafen.“

Kais Augen verengten sich wütend zu Schlitzen.

„Und warum nicht, wenn man fragen darf? Glaubst du, in deinem Zustand noch Bäume ausreißen zu können?“

„Bäume vielleicht nicht, aber ich will Antworten. Und zwar eine ganze Menge. Außerdem muss ich meine Verletzungen verarzten, besonders meine Seite. Sonst verblute ich noch im Schlaf.“

Aus seiner Stichwunde sickerte noch immer leicht Blut, bemerkte Ray besorgt.

„Hihi, ich glaub, da hat er Recht, Kai. Ich werde ihn verarzten!“, rief Ian da aufgeregt.

Überrascht sah Ray auf. Warum bot sich gerade der Lilahaarige feiwillig an? Das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, schienen er und Spencer eher daran interessiert, ihm Verletzungen zuzufügen, als sie zu versorgen.

„Er kann das wirklich gut, Ian ist so was wie unser persönlicher Arzt. Seine Eltern sind auch beide Doktoren“, erklärte Kai.

„Spencer und Ian gehören übrigens auch zu unserer Gang. Eigentlich sind wir nur zu viert, wie gesagt, die kleinste Gang in der Umgebung. Die Beiden sind auch Esper.“

„Aha“, Ray musterte sie kritisch.

„Das erklärt aber noch lange nicht, was er hier macht, Kai, und wie er zu diesen Verletzungen kommt“, mischte sich erneut Spencer ein.

„Nun“, meinte Tala schlicht, „Ray gehört jetzt zu uns. Er ist auch ein Esper. Nein, sogar mehr als ein Esper.“

Ungläubig starrte der Blonde Ray an.

„Er?“, echote er fragend. „Das kann ich nicht glauben!“

Leise seufzte Kai.

„Du müsstest wissen was passiert ist, um zu verstehen“, bemerkte er und warf dem Langhaarigen, welcher gerade von Ian untersucht wurde, einen fragenden Blick zu. Als dieser diesen Auffing, nickte er kurz.

Also schilderte der Graublauhaarige mit einigen vielen langen und kurzen sinnvollen und meist eher nicht sinnvollen Einwürfen von Tala, was in der letzten Woche geschehen war.

Am Ende sah Spencer mitleidig an. Doch der Schwarzhaarige glaubte auch, so etwas wie Respekt in seinem Blick erkennen zu können.

„Nun, ich muss mich dann wohl entschuldigen. Hätte ich gewusst, dass du ein Zero bist, hätten Ian und ich dich in der Schule nicht verprügelt.“

Ray nickte nur, verzog im selben Moment jedoch leicht das Gesicht, als Ian den Verband um seinen Oberkörper befestigte und dabei versehentlich auf seine Verletzung drückte.

„Sorry“, nuschelte der Lilahaarige nu hoch konzentriert.

„Du solltest jetzt schlafen“, sagte Kai noch einmal Ray starrte ihn wütend an.

„Wie oft noch?! Ich werde nicht schlafen, bevor ihr mir nicht erklärt habt, was da vorhin passiert ist! Warum geht das nicht in deinen Kopf rein?!“

Kai verstummte bei diesem Ausbruch, er runzelte leicht die Stirn.

„Was verstehst du denn nicht, Ray?“, fragte Tala ernst.

„Alles! Was zum Beispiel war das für ein … /Ding/, was da plötzlich aufgetaucht ist? Ihr wisst schon, dieser Tiger? Und der Vogel? Und Kais Hand hat gebrannt, zum Teufel noch mal! Aber es wirkte so … natürlich? Seit wann können Esper so etwas?“

Nun starrten Ray alle vier Demolitionboys ziemlich schräg an. Der Chinese schluckte. Hatte er was Falsches gesagt?

„Nun, ich hätte dich für klüger gehalten. Ich dachte, inzwischen hättest sogar du geschlussfolgert, dass Kai ein Zero ist, genauso wie du scheinbar“, meinte Tala, der wie meistens als erstes seine Stimme wieder fand.

Und was Tala da sagte klang so natürlich, dass Ray sich kaum traute, die nächste Frage zu stellen, aber er musste es einfach wissen! Und er war inzwischischen auch zu dem Schluss gekommen, dass er diesen vier Russen vertrauen konnte. Also nahm er all seinen Mut zusammen.

„Und was sind Zeros?“

Krach!

Etwas bedröppelt starrte Ray auf Ian, der gerade mit seinem Stuhl umgefallen war. Tja, Kippeln ist halt eine gefährliche Angewohnheit.

„Was?!“, fragte Ian, als höre er nicht richtig. „Du weißt nicht, was Zeros sind?“ Er klang ziemlich entgeistert.

„Ray?“

Vorsichtig sah der Langhaarige zu Kai, unsicher, ob dieser auch so reagieren würde. Doch der Rotäugige starrte ihn nur außerordentlich interessiert an.

„Was war es eigentlich, was du mir letztens erzählen wolltest. Nach unserem Kampf, kurz bevor Azat dich entführt hat?“

Geschlagen schloss Ray die Augen.

Er kam also doch nicht drum herum, es zu erzählen, aber gut, was hatte er auch erwartet?

Etwas nervös kaute er auf seiner Unterlippe.

„Ihr wisst doch, dass ich erst vor einer Woche in das Waisenhaus gekommen bin, nicht? Nun, ich bin auch erst seit einer Woche Waise. Ich.. Wir… Meine Eltern und ich, wir hatten einen Autounfall, ziemlich heftig. Sie sind dabei ums Leben gekommen, ich wurde in s Krankenhaus gebracht. Ich hatte ziemlich Glück und trug kaum schwerwiegende Verletzungen davon. Naja, bis auf eine Sache.“ Hier stockte Ray. Sollte er es ihnen erzählen? Würden sie ihm glauben? Oder würden sie ihn auslachen?

„Was?“, fragte Kai ermutigend. Seine Stimme war überraschend weich.

Noch einen Moment haderte Ray mit sich.

„Ich habe mein Gedächtnis verloren.“

Er hörte die Anderen nach Luft schnappen, doch bevor sie etwas sagen konnten, sprach er schnell weiter.

„Ich weiß nichts mehr, was vor dem Unfall war. Selbst an diesen erinnere ich mich nur Bruchstückhaft. Nein, nicht mal wirklich den Unfall, eher die Bergung. Sonst weiß ich nichts mehr. Weder meinen Namen, noch mein Alter. Das wurde mir alles im Krankenhaus gesagt. An vieles erinnere ich mich zwar wieder, aber…“

Der Schwarzhaarige war immer schneller geworden, bis ihm zum Ende hin die Stimme weg gebrochen war. Verzweifelt schluckte Ray. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte, doch er hätte auch kein Wort mehr herausgebracht. Ere fühlte, wie seine Augen langsam feucht wurden, doch er wollte nicht schon wieder heulen. Zitternd klammerten sich seine Finger in den Stoff seiner Hose. Er wagte es nicht, aufzusehen.

Das Schweigen, was folgte, war erdrückend.

Plötzlich spürte Ray eine Hand auf seiner Schulter, die beruhigend zudrückte. Verwirrt sah er auf. Rote Augen blickten ihn ausdruckslos an.

„Keine Sorge, wir tun dir nichts. Aber ich denke, jetzt verstehe ich dein Verhalten wesentlich besser. Deshalb warst du auch so unsicher, nicht?“

Verhalten nickte Ray, doch er konnte nicht verleugnen, dass ihm ein riesiger Stein vom Herzen fiel.

Er hatte Recht gehabt.

Er konnte ihnen vertrauen.

„MMhh… irgendwie cool. Und weißt echt nix mehr. Keinen Schimmer von irgendetwas? Wo du gewohnt hast, wie deine Eltern aussahen, was du mit deinen Freunden gemacht hast?“ Jans Stimme klang begeistert - der Lilahaarige hatte sich nämlich zum Bedauern aller von seiner doch recht uneleganten Bruchlandung erholt -, doch Ray konnte nicht mit einstimmen. Bedrückt schüttelte er den Kopf.

„Ian!“, wies Kai den Lilahaarigen zurecht. „Ich denke nicht, das so etwas ‚cool’ ist! Das ist eine ernste Angelegenheit!“ Dann wandte der Graublauhaarige wieder Ray seine Aufmerksamkeit zu. Ein ungutes Gefühl ergriff Besitz von dem Langhaarigen, als er in Kais intensive rote Augen sah.

Gerade setzte der Russe wieder zum Sprechen an, als es laut an der Tür klopfte.

Das Geräusch hallte unnatürlich stark in der Lagerhalle wieder. Ray zuckte erschrocken zusammen und die Demolitionboys starten überrascht zum Eingang.

„Was zum…?“, fragte Ian irritiert und Spencer öffnete vorsichtig die Tür. Kai runzelte die Stirn.

„Parker“, stellte er sachlich fest.

Und tatsächlich. Niemand anders als Michael stand draußen und trat nun, vorsichtige Blicke auf den bedrohlich wirkenden Spencer werfen – welcher nebenbei bemerkt demonstrativ mit seinen Fingerknöcheln knackte und ihm böse Bliche zuwarf -, in die Lagerhalle.

„Hiwatari? Ich sehe, ihr habt Ray finden können, das freut mich“, begann der Blonde und klang dabei erstaunlich ehrlich, „Ich bin hier, weil ich euch zum einen darüber informieren wollte, dass ich seit einigen Stunden der neue Leader der All Starz bin. Wir haben in Azats Abwesenheit sein Verhalten diskutiert und ich konnte mich … nun ja, an die Spitze setzen. Und als neuer Leader wollte ich einen ersten Waffenstillstand zwischen den Demolitionboys und uns vorschlagen. Es gab zu viele Verletzte in den Bandenkämpfen zwischen euch und uns, die eigentlich unnötig gewesen wären. Ihr lasst uns in Ruhe und wir lassen euch in Ruhe, das ist mein Vorschlag.“

Michael war während seiner Rede immer selbstsicherer geworden, auch wenn es ihm in seiner Ausstrahlung noch etwas an Autorität fehlte, wie Ray auffiel. Aber M ichael würde sich sicher gut als Leader machen.

Kai schaute Michael nachdenklich an.

„Deine Leute werden sich daran halten?“, fragte er skeptisch. Es war selten, dass sofort alle Mitglieder einer Bande auf einen noch so neuen Leader hörten, wie Michael es jetzt war, noch dazu, bei einem solch ungewöhnlichen Befehl. Doch Michael nickte nur überzeugt. Keine Sorge, ich habe die Gang im Griff. Azat wird nicht wissen, was ihm widerfahren ist, wenn er zurückkommt!“

Erneut zuckte Ray zusammen und verkrampfte sich schlagartig.

Nein Michael, du hast Unrecht, denn Azat wird nie zurückkommen, dachte er sich. Und erneut hatte er das Gefühl, die Schreie des Rothaarigen zu hören, das Geräusch der alles verzehrenden Flammen, ihre Hitze zu spüren und den Geruch des verbrannten Fleisches zu riechen. Er schluckte hart.

Kai nickte.

„Gut, wir akzeptieren den Waffenstillstand. Doch sollte sich auch nur einer eurer Bande nicht daran halten, werden wir nicht davor zurück schrecken, uns zu rächen. Du wurdest hiermit gewarnt, Parker, ja?!“

Auch Michael nickte, er war deutlich erleichtert. Ein breites Grinsen schlich sich auf sein Gesicht und fröhlich meinte er, schon fast zur Tür hinaus: „Keine Sorge, verlasst euch drauf, wir halten uns dran!“ Und dann war er weg.

„Na so’ne Überraschung… Das ist heute vielleicht ein Tag. Ray ist ein Zero und hat sein Gedächtnis verloren, Parker ist der neue Leader der All Starz und schließt einen Waffenstillstand mit uns, …. Was kommt als nächstes? Rosa Elefanten, die in unser Hauptquartier einziehen wollen?“

Ale starrten Ian an, als hätte er seinen Verstand verloren, während dieser noch immer über eine eventuelle Zukunft sinnierte und gedankenverloren in die Luft starrte.

Leicht schüttelte Kai den Kopf, während Tala amüsiert grinste und Spencer frustriert stöhnte.

„Also gut“, ergriff Kai wieder das Wort, „Du weißt also nichts mehr über Esper, Zeros und Jäger?“

Ray nickte nach einigen Sekunden leicht. Seine Sicht verschwamm plötzlich und Ray wurde sich wieder seines schlechten Zustandes bewusst, doch er durfte jetzt noch nicht schlapp machen. Er blinzelte mehrmals und konzentrierte sich auf sein Innerstes, auf seinen Atem und sein Herzschlag. Langsam klärte sich sein Blick wieder.

„Dann sollten wir es dir erklären. Es ist nicht so ganz einfach, wenn du Fragen hast, dann stell sie, ja? Was Esper sind, scheinst du ja inzwischen gelernt zu haben. Sie haben Übernatürlich, paranormale Fähigkeiten. Manche bezeichnen es auch als Telekinese, Telepathie, oder was auch immer. Sie können sich in allen möglichen Formen zeigen und ganz unterschiedlicher Stärke sein. Ian und Spencer sind zum Beispiel Esper, aber auch Max und Tyson, wie die Beiden dir sicher erzählt haben. Du hattest ja ziemlich viel Kontakt mit ihnen.“ Bei dem letzten Satz verzog der Graublauhaarige leicht das Gesicht.

Rays Blick wurde fragend und Tala grinste wieder einmal breit.

„Kai mag die Beiden nicht. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich geweigert haben, unserer Bande beizutreten, oder einfach, weil sie sich wie Kindergartenkinder verhalten, aber er kann sie überhaupt nicht leiden. Besonders den Blauhaarigen, Tyren, oder wie er heißt.“

„Tyson“, verbesserte Ray automatisch, doch Tala zuckte nur nachlässig mit den Schultern.

„Wie auch immer…“, murmelte er.

„Danke für die kurze Einführung in mein Verhältnis zu diesem Kindergarten, Tala, aber ich denke nicht, dass das jetzt wichtig ist. Wo war ich? Ach ja, dann gibt es da noch die Zeros. Frag mich nicht, woher der Name kommt. Den hat sich die Regierung ausgedacht. Genau genommen sind Zeros auch Esper, nur wesentlich stärker. Wenn Esper eine gewisse Stärke erreichen, wenn ihre Fähigkeit gewisse Ausmaße annimmt, dann fängt sie an, sie zu verkörpern. Sie erschafft sozusagen einen Körper, sie personifiziert sich. Und das eigentlich immer in Form von Tieren. Außerdem besitzt diese Verkörperung, die allgemein als BitBeast bezeichnet wird, eine gewisse Elementarkontrolle. Sie kann ein Element, etwas aus der Natur kommendes, wie zum Beispiel Wasser, Erde, Wind, Feuer, Pflanzen, Sand oder Ähnliches kontrollieren. Und da der Zero das BitBeast kontrolliert, hat er praktisch diese Kontrolle über ein Element. Ich weiß, dass es sehr fantastisch klingt, aber es ist Realität. Schmerzhafte und unveränderliche Realität.“

Irgendwie wurde Ray das Gefühl nicht los, das Kai seine Fähigkeiten hasste. Der Blick des Rotäugigen war seltsam entrückt, er starrte zwar die graue Wand an, doch der Schwarzhaarige wusste instinktiv, dass vor dem geistigen Auge Kais sich jetzt ganz andere Bilder abspielten. Ray hätte zu gerne gewusst, woran Kai gerade dachte.

„Woher die Esper kommen, das weiß eigentlich niemand so genau. Die Regierung meint, Esper wären von einer Terrororganisation erschaffen worden. Denn Fakt ist, dass sie durch genetische Manipulationen – etwas, das an sich schon verboten ist, ganz besonders an Menschen – entstanden sind, nicht durch natürliche Mutation. Sie wären angeblich erschaffen worden, um die Regierungen zu stürzen und die Welt ins Chaos zu stürzen und nur durch das schnelle und präzise eingreifen der Armee hätte das verhindert werden können. Völliger Schwachsinn, wenn man mich fragt!

Was jedoch auch bewiesen wurde ist, dass die Gene für die paranormalen Fähigkeiten dominant sind und sicht daher sehr schnell Verbreiten. Deshalb will die Regierung verhindern, dass Esper Kinder bekommen. Sie können es nicht ertragen, dass Esper den normalen Menschen scheinbar überlegen sind.

Vor ein paar Jahrzehnten wurde dann Biovolt gegründet. Biovolt ist eine von er Arme, Polizei und Regierung unabhängige Organisation, die dennoch mit diesen Organen eng zusammen arbeitet, ihnen aber keine Rechenschaft schuldig ist. Biovolt bildet Jäger aus und fördert sie. Und Jäger jagen Esper und Zeros. Das Ironische ist nur, dass die meisten Jäger selbst Esper sind. Denn Feuer bekämpft man ja bekanntlich am Besten mit Feuer.

Sie können allerdings nur Esper festnehmen, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben, denn Esper gelten bis zu einem bestimmten Grad noch immer als Menschen. Daher werden diese auch mit Argusaugen bewacht und schon bei der kleinsten Auffälligkeit nimmt man sie hoch. Ganz anders Zeros. Zeros gelten nicht mehr als Menschen. Ihre genetische Mutation ist angeblich so stark, dass man sie nicht mehr zu den Homo Sapiens zählen kann. Sie werden also wie Tiere behandelt. Wie äußerst gefährliche und unnütze Tiere. Sie werden gejagt und getötet, ohne Gnade. Deshalb halten sie sich im Verborgenen, versteckt.“

Hart schluckte Ray. Das klang wirklich alles irreal. Und unglaublich grausam.

„Aber… aber wie können die Jäger gegen andere, die wie sie sind vorgehen. Wenn sie selbst Esper sind…“, fragte er mit leicht bebender Stimme.

Kais Blick wurde hart.

„Die Jäger wurden angeblich von Biovolt /bekehrt/. Sie arbeiten für Biovolt und im Gegenzug dürfen sie in Freiheit leben! Anstatt selbst gegen diese Unterdrückung vorzugehen wählen sie den Weg des Geringsten Widerstandes, hoffen, von den ‚normalen’ Menschen akzeptiert oder sogar geachtet zu werden. Dafür dürfen sie sich aber nicht fortpflanzen. Kinder werden sofort abgetrieben, sollte es entgegen aller Vorkehrungen dennoch zu einer Schwangerschaft kommen. Wenn du mich fragst sind sie schlimmer als die billigsten Huren. Sie verkaufen nicht nur ihren Körper, sondern auch ihren Geist, ihre Identität und ihre ‚Rasse’ an Mörder und Verbrecher!“

Der Hass war inzwischen im Raum fast greifbar, alle Russen hatten eine starre Haltung angenommen, ihre Blicke starr und zwischen tiefster Verachtung und purem Hass. Der Chinese zitterte leicht. Die Atmosphäre schien ihn schier zu erdrücken.

„Ich… ich habe letztens einen Bericht über ein paar Esper und zwei Zeros im Fernsehen gesehen. In Mexiko…“, meinte er leise.

In Talas Augen blitzte erkennen auf.

„Ah ja, ich weiß was du meinst. Die Gruppe um Manuel und Erendira. Manuel Garcia und Erendira Armendariz sind zwei Zeros aus Mexiko. Wir hatten Mal kurzzeitig Kontakt mit ihnen, mussten ich jedoch abbrechen, weil es zu gefährlich wurde. Sie gehörten dem Widerstand an, der sich gegen die Unterdrückung zur Wehr setzt. Von der Regierung werden sie als Terroristen beschimpft, sie selbst nennen sich Freiheitskämpfer. Sie wollten wohl versuchen, zusammen mit ihrer Gruppe von Espern, die sie um sich gescharrt hatten, hinter das wahre Geheimnis der Herkunft der Esper und Zeros zu kommen. Sie glauben genauso wenig wie wir und viele andere an die Story mit den genmanipulierende Verbrechern. Da muss etwas Anderes dahinter stecken!“

Talas Gesichtsausdruck wurde betrübt.

„Das war das letzte, was wir vor zwei Monaten von ihnen gehört haben. Doch so wie es aussieht, waren sie nicht erfolgreich. Erendira haben sie noch an Ort und Stelle ermordet und auch Manuel werden sie bald getötet haben, wenn sie es noch nicht getan haben sollten. Es ist so verdammt frustrierend!“

Wütend ballte der Rothaarige die Fäuste zusammen und sah so aus, als wolle er auf etwas einschlagen. Kai legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter, dann fixierte er wieder Ray. Sein Blick war ernst.

„Wie auch immer, jetzt verstehst du vielleicht, warum es so wichtig ist, dass niemand von unseren Fähigkeiten erfährt. Tala und ich, wir sind beide Zeros und es ist schon ungewöhnlich das wir zusammen so lange unentdeckt geblieben sind. Eigentlich sind Zeros ziemlich selten. Vielleicht einer unter hindert Espern. Doch mit dir sind wir zu dritt, deswegen heißt es jetzt absolute Aufmerksamkeit! Wir dürfen uns auf keinen Fall verraten, sonst ist bald ganz Biovolt auf unseren Fersen. Deswegen möchte ich auch nicht, dass du dich mit diesem Kerl, diesem Alexey, triffst.“

Überrascht riss Ray die Augen auf.

„Woher weißt du von ihm?!“

„Er ist ein Jäger, Ray. Und er ist nicht zum ersten Mal hier. Wir befürchten, dass er Kai im Visier hat, denn anfangs war er etwas aufdringlich und er kommt in regelmäßigen Abständen in diese Gegend. Das ist allein schon ungewöhnlich“, erklärte Tala.

Einen Moment dachte Ray über die Worte des Rothaarigen nach, dann schüttelte er allerdings den Kopf.

„Nein. Ich werde mich trotzdem weiter mit ihm treffen, er ist wirklich nett.“ Gerade als Spencer Luft holte, um zu protestieren, fuhr der Langhaarige jedoch schon fort: „Aber ich werde aufpassen, dass ich ihm nichts verrate, versprochen! Es könnte außerdem … erst Recht Aufmerksamkeit erregen, wenn ich ihn … plötzlich … total ignoriere.“

Die letzten Worte kamen nur noch stockend.

Die ganze Zeit hatte er es nicht beachtet, hatte seiner enormen Erschöpfung und seinen Verletzungen keine Aufmerksamkeit geschenkt, hatte sie im Laufe des Gespräches schon fast vergessen, doch jetzt holte ihn dieser Fehler ein. Schnell und unbezwingbar.

Sein Atem wurde flacher und schwarze Punkte erschienen vor seinen Augen, tanzten und sprangen. Sein Kopf fühlte sich seltsam fremd und fern an, doch seine Verletzungen schmerzten beinahe noch stärker als zuvor.

Zitternd fuhr er mit einer Hand zu seinem Kopf und rieb sich leicht die Stirn, doch es wurde nicht besser.

„Das reicht jetzt! Du hast deine Belastungsgrenze überschritten, also leg dich hin!“

Müde blickte Ray auf und sah Kai ein. Die Gestalt des Russen verwischte leicht vor seinen Augen und er blinzelte, doch dieses Mal ging es nicht weg. Im Gegenteil, es wurde schlimmer. Er stöhnte leise.

Plötzlich spürte er wieder, wie er von zwei starken Armen hochgehoben wurde. Zum überrascht sein reichte seine Kraft schon nicht mehr, also warf er nur einen Blick nach oben. Sein Atem stockte. Eigentlich hatte er Tala erwartet, vielleicht noch Spencer, doch niemals den unterkühlten Hiwatari. Kais Blick war ernst, doch sah der Chinese da nicht auch eine Spur Besorgnis?

Kurz darauf legte der Graublauhaarige ihn vorsichtig auf dem Bett ab und deckte ihn sanft mit einer Wolldecke zu.

„Schlaf jetzt. Tala und ich bleiben auch hier, keine Sorge“, flüsterte er leise und strich Ray eine Strähne aus dem Gesicht.

Die Wangen des Schwarzhaarigen standen in Flammen. Eine solch /intime/ Berührung hatte er seit dem Unfall nicht erfahren, er war es praktisch nicht mehr gewohnt. Doch es fühlte sich erstaunlich gut an.

„Also dann, bis demnächst!“, hörte er noch Ians laute Stimme im Hintergrund. Der Kleine und Spencer verließen das Hauptquartier, um zu Hause zu schlafen.

Aber Kai und Tala würden hier bleiben.

Was auch immer jetzt kommen würde, was auch immer die Zukunft bringen würde, was auch immer sich ihm in den Weg stellen würde, er wäre nicht alleine!

Mit diesem beruhigenden letzten Gedanken gab Ray sich schließlich dem erholsamen Schlaf hin.
 

Kann es sein, dass Tala etwas Out-Of-Character ist?

Wenn dem so ist, tut es mir Leid, aber es ist sooo lange her, dass ich die Serie gesehen hab, da hab ich ihn nicht mehr so in Erinnerung. Naja, zumindest bei Kai und Ray gebe ich mir ja größte Mühe. Aber mir gefällt Tala so!^^
 

Wenn jemand etwas von den vielen Erklärungen in diesem Kapitel nicht verstanden hat, dann fragt ruhig! Ich hab mir zwar Mühe gegeben, aber so viele Dialoge... das ist eigentlich nicht so mein Ding.
 

Bis zum nächsten Mal,

achat
 

PS: Und DANKE für die Kommis! Hab mich wieder RIESIG gefreut (Sorry nochmal für die Verzögerung...*versteck*)

Kapitel 11

Hallo! Da bin ich wieder!
 

Und dieses Mal hab ich eine Betaleserin im Gepäck! Ein ganz dollen Dank an Anni91, die sich dazu bereit erklärt hat, meine Kapitel zu verbessern! DANKE!^^
 

Und jetzt viel Spaß mit Kapitel 11:

11. Kapitel

Immer lauter wurden die Geräusche um ihn herum.

Ray spürte förmlich wie er vom Schlaf ins Wachsein driftete, spürte den Übergang und stemmte sich dagegen.

Er wollte nicht aufwachen; es war gerade so schön.

Doch letztendlich verlor sein Geist gegen seinen Körper und überraschend munter schlug er die Augen auf.

Es war bereits hell.

Laut gähnend streckte er sich und fuhr sich durch die langen Haare. Einen Moment stockte Ray.

Na toll! Er war gestern ins Bett gegangen, ohne sich seine lange Mähne zu flechten und das bedeutete, sie war jetzt ein einziges, zerzaustes Knäuel. Er würde ewig zum Kämmen brauchen und schmerzhaft würde es wohl auch werden. Super Aussichten, so am frühen Morgen.

"Auch endlich wach?", fragte ihn da eine, ihm nur zu bekannte und eindeutig zu gut gelaunte, Stimme.

Leicht grummelte der Chinese und taxierte Tala mit einem giftigen Blick. Der schüttelte nur belustigt den Kopf.

"Ach herrje! Noch so ein Morgenmuffel wie Kai! Da haben sich ja zwei gefunden", murmelte er leise.

Kai?

Suchend blickte Ray sich um, doch er konnte den anderen Russen nirgends entdecken.

"Der holt uns gerade Frühstück", rief Tala, der sich denken konnte wen Ray suchte, über seine Schulter.

Mmh. Frühstück. Lecker.

Stöhnend erhob Ray sich und ließ sich gleich wieder zurück fallen. Verdammt, seine Verletzungen schienen nicht besser geworden zu sein, es tat ihm noch immer alles weh. Beim nächsten Versuch Aufzustehen war er etwas vorsichtiger und schaffte es auch, sich möglichst schmerzlos zu bewegen.

Mit einem recht knappen Morgengruß kam dann auch Kai und die Drei setzten sich gemeinsam an den Tisch, um etwas zu Essen.

Dann streckte sich Tala ausgiebig und kippelte leicht mit dem Stuhl nach hinten.

"Und, was machen wir heut?", fragte er voller Tatendrang.

"Ray muss sich schonen", antwortete Kai wie aus der Pistole geschossen.

Wütend blitzte eben dieser den Graublauhaarigen an. "Danke, aber ich denke, solche Entscheidungen kann ich schon alleine treffen!", meinte er bissig. Er mochte es nicht, bevormundet zu werden. Doch ehe Kai darauf etwas sagen konnte, was sicher zu einem Streit geführt hätte, fuhr Tala dazwischen. "Halt den Ball flach Kleiner, Kai hat wirklich Recht. Erinnere dich, heute früh bist du kaum aus dem Bett gekommen. Was haben wir davon, wenn du zusammenbrichst?"

Immerhin hatte Ray den Anstand rot zu werden und sich klein zu machen. So ein Pech aber auch, Tala hat es also gemerkt, dachte er bei sich.

Die folgende Stille wurde durch ein plötzliches Piepen unterbrochen. Erschrocken sah Ray sich um und beobachtete dann wie Tala auf einmal hektisch zu seiner Jacke rannte und die Taschen durchsuchte. Mit einem erleichterten Seufzen holte er ein Handy heraus und ging ran.

"Ja?", fragte er. "Ja, ich bin's Tala."

Dann schwieg der Rothaarige und lauschte angespannt seinem Gesprächspartner. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich zunehmend.

Schließlich nickte er und schloss die Augen.

"Ja, schon klar. Ich komme sofort, gib mit zehn Minuten, ja? Ich beeil mich."

Dann legte er auf.

Ohne den Blick von dem Display seines Handys zu nehmen, das er in seiner verkrampften Hand hielt, meinte er: "Das war meine Mutter. Die Polizei ist gerade bei uns. Man hat wohl ein paar Überreste Azats in einem verbrannten Haus am Stadtrand gefunden. Ich soll sofort kommen."

Dann nahm er seine Jacke und verschwand aus der Lagerhalle ohne Kai oder Ray auch nur noch einmal anzusehen.

Ray wollte ihm erst folgen, aber Kai hielt ihn auf.

"Lass ihn! Da muss er alleine durch. Außerdem würde es nur Verdacht erregen, wenn wir auch bei seiner Familie aufkreuzen."

Widerwillig musste Ray zustimmen.

"Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie Brüder gewesen sein sollen. Sie sind so /verschieden/!"

Der Russe nickte.

"Ja, das stimmt. Weißt du, ich glaube einfach, dass Azat nie verkraftet hat, dass Tala ein Esper ist. Ich glaube früher haben sie sich richtig gut verstanden, doch dann konnte man bei Tala die ersten Anzeichen seiner Gabe sehen. Und ab da ging es mit ihrer brüderlichen Beziehung bergab. Dann hat sich Tala unserer Bande angeschlossen, hat kaum noch Zeit für Azat gehabt und der hat sich schlicht weg vernachlässigt gefühlt. Er war wohl der Meinung, Talas Gabe habe ihm seinen Bruder weggenommen. Und deswegen hat er erst Talas Gabe gehasst und diesen Hass irgendwann auf Esper verallgemeinert. Und so hat er auch angefangen Tala zu hassen. Es ging sogar so weit, dass er den Namen ihres, im Gefängnis sitzenden, Vaters angenommen hat. Tala trägt den ihrer Mutter."

Leicht verdunkelten sich Kais Augen. Ray seufzte leise.

Plötzlich schlich sich ein leichtes Lächeln auf Kais Lippen.

"Los komm. Wir verkriechen uns in unser Zimmer und schlafen noch ne Runde. Es ist einfach noch zu früh um munter zu sein."
 

Die nächsten Tage und Wochen zogen wie im Flug an Ray vorbei.

Sein Leben hatte sich komplett geändert, zum Besseren, wie man wohl anmerken sollte. Er war jetzt offiziell ein Esper und Mitglied der Demolitionboys. Am Tage ging er in die Schule; seine Klassenkameraden verhielten sich ihm gegenüber jetzt wesentlich freundlicher. Keiner machte ihn mehr wegen seinem "weibischen Aussehen" an. Im Gegenteil, viele Behaupteten plötzlich, sie würden das sogar total cool finden. Es war schon interessant, was seine Mitgliedschaft in einer der mächtigsten Banden des Stadtteils ausmachte.

Nachmittags trieb er sich mit Kai und Tala in der Gegend herum. Spencer und Ian waren auch öfters dabei, doch sie gingen auch gerne ihre eigenen Wege.

Tala hatte den Verlust seines Bruders glücklicherweise gut verkraftet.

Der Chinese traf sich noch immer mit Alexey, entgegen Kais und Talas Warnungen, aber bis jetzt gab es keine besonderen Vorkommnisse. Er verstand sich einfach prächtig mit dem Braunhaarigen. Sie hatten bei ihren Treffen viel Spaß und lachten gemeinsam. Auf das Thema Kai kamen sie nie wieder zu sprechen. Obwohl es Alexey nicht entgangen sein konnte, dass Ray und Kai sich inzwischen sogar angefreundet hatten, sagte er nichts weiter dazu.

Tala und Kai hatten sogar angefangen, Ray etwas im Umgang mit seinem BitBeast, dass, neben bei bemerkt, Drigger heißt, zu trainieren. Es war für den Chinesen ein ganz schöner Schock, als er feststellen musste, dass er tatsächlich mit seinem BitBeast reden konnte und es sogar einen eigenen Namen hatte. Nur leider konnte oder wollte Drigger ihm auch nichts über seine Vergangenheit sagen. Der weiße Tiger schwieg sich bei Fragen in dieser Richtung immer aus. Überrascht musste der Langhaarige außerdem feststellen, dass auch Tala ein BitBeast, Wolborg, besaß. Ein Wolf dessen Fähigkeiten einem wortwörtlich das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Es dauerte etwas länger bis sie herausgefunden hatten, dass Rays Element vermutlich die Erde war und er bereits verdammt viel Kontrolle über seine Fähigkeiten zu haben schien.

Ihre Trainingssessionen fanden immer in einem kleinen Wäldchen, etwas außerhalb der Stadtgrenze, statt, damit sie niemand sah. Und sie waren jedes Mal sehr lustig.

Nur eine der vielen Änderungen, die in Rays Leben stattgefunden hatten, bedauerte der Chinese etwas. Max und Tyson hatten klar gemacht, dass sie es nicht für gut befanden, dass er so viel mit dem "gefährlichen" Kai zu tun hatte. Zuerst hielten sie es wohl für eine Phase, doch als sie begriffen, dass Ray tatsächlich Kais Freund geworden war, brachen die Beiden den Kontakt komplett ab. Der Schwarzhaarige verstand es nicht, doch er akzeptierte es. Man konnte halt nicht alles haben.
 


 

„Los komm, wir gehen heut Mal zum See!“, rief Tala aufgeregt und warf Ray seine Jacke über den Kopf. Der Schwarzhaarige lugte ärgerlich darunter hervor.

„Lass das!“, beschwerte er sich ärgerlich, doch dann hellte sich sein Gesicht auf. „Jetzt sofort?“

Es war ein offenes Geheimnis unter den Demolitionboys, dass Ray den kleinen See – oder eher Froschtümpel, wie Tala das Wässerchen abfällig nannte – liebte. Er befand sich mitten in ihrem Trainingswald und diente dem Rothaarigen als Materialquelle beim Trainieren. Immerhin brauchte man Wasser als Rohstoff, um Eis zu erschaffen. Denn Dinge aus dem Nichts zu erschaffen, dazu waren nicht einmal Zeros fähig.

„Ja, jetzt sofort“, meinte Kai, der gerade das Hauptquartier betrat. Allerdings hatte er noch eine große Tüte dabei.

Neugierig wollte Ray hinein schauen, doch Kai hielt sie fest verschlossen.

„Das wird ne Überraschung!“, trompetete Tala fröhlich und damit zog er den Chinesen hinter sich her.

Mit Bus und etwas Fußweg brauchten sie nur etwa 45 Minuten zum See.

Als sie dort waren, schüttete Kai rücksichtslos den Inhalt der Tüte auf den kalten, aber trockenen Waldboden. Dank der Tannen über ihnen lag kaum Schnee auf dem Gras.

Staunend beobachtete Ray, wie aus der billigen Plastiktüte allerlei leckere Dinge, wie Kekstüten, Schokolade, eingepackte Sandwichs und Getränkedosen purzelten.

„Ein Picknick?“, fragte er ungläubig, aber dennoch begeistert lächelnd.

Kai nickte.

„Ja, das machen die Demolitionboys jedes halbe Jahr und wir dachten, diesmal nehmen wir dich mit. Du gehörst jetzt schließlich zu uns.“

„Danke“, strahlte Ray glücklich.

Vorsichtig breitete er seine eine Jacke – er trug meistens zwei Stück – auf einem Baumstumpf aus und setzte sich darauf. Die abgehärteten Russen setzten sich, ohne mit der Wimper zu zucken, auf den halb vereisten Erdboden. Ray bekam schon beim Anblick Schüttelfrost.

„Warum sind Ian und Spencer nicht mitgekommen?“, fragte er neugierig.

„Oh, das ist einfach. Spencers Vater ist seit langem mal wieder da, er ist nämlich LKW-Fahrer. Da wollte Spencer die Zeit mit ihm verbringen. Und Ian liegt mit ner Erkältung im Bett, der Arme… Mmh“, nachdenklich sah sich der Rothaarige das Angebot an. Plötzlich fixierte er mit seinem Blick eine Packung Kekse. Interessiert beobachtete Ray, wie die Schachtel erst leicht zu wackeln begann, bis sie sich leicht anhob und zu Tala herüber schwebte. Plötzlich grinste Ray.

„Weißt du, es wäre einfacher, wenn du deinen Arm ausstrecken und sie dir einfach nehmen würdest“, meinte er belustigt.

„Vielleicht“, entgegnete Tala hochkonzentriert, “aber wann hat man sonst schon die Gelegenheit seine Kräfte so offen zu nutzen? Außerdem macht es Spaß!“

„Das mag ja sein“, sagte Ray, während er nachdenklich die gerade an ihm vorbei schwebende Packung beobachtete. Er verstand nicht ganz, warum Tala sich so viel Zeit damit ließ, sonst konnte er solch einfache Dinge auch schneller. Plötzlich lächelte Ray und streckte die Hand aus.

„Aber mit der Hand wäre es sicherer gewesen!“ Und damit schlossen sich seine Finger um die Schachtel und brachen Talas Einfluss. Schnell holte der Chinese die Kekse zu sich, öffnete den Karton und schob sich einen Keks genüsslich in den Mund.

„Mmh. Wirklich lecker!“

Kai hob nur amüsiert eine Augenbraue und beobachtete das Geschehen zwischen seinen Freunden still.

„Na warte, ich soll also meine Hände benutzen, ja?“, zischte Tala sauer, griff sich ein Sandwich und warf es nach Ray. Der, doch recht überrascht von der leichten Überreaktion, konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen und hatte nur Sekunden später eine Gurkenscheibe und eine Salamischeibe im Gesicht kleben. Das Brot fiel fast geräuschlos in seinen Schoß.

„Hey, was soll das?!“, rief er aufgebracht und sprang auf. Seine Augen verengten sich kurz gefährlich, doch dann beruhigte sich Ray wieder. Er atmete tief durch. Dieses Picknick sollte nicht wegen ihm in einen Streit ausarten, nein, das wollte er wirklich nicht.

Ohne ein weiteres Wort schritt er zum See. Als er seine Hände in das kalte Wasser tauchte, zitterte er leicht. Vorsichtig wusch er sich sein Gesicht und entfernte die Fremdkörper. Als er wieder in das Wasser schaute, starrten zwei blaue Augen zurück. Gleichzeitig erklang hinter ihm eine tiefe Stimme: „Es tut mir Leid.“

Erschrocken verlor der Langhaarige das Gleichgewicht und purzelte mit einem Aufschrei kopfüber in den See.

„Tala!“, beschwerte er sich lauthals. Der Rothaarige lachte schon wieder.

„Wer konnte denn ahnen, dass du so schreckhaft bist?!“, meinte dieser zu seiner Verteidigung. „Aber warte, ich helfe dir raus!“

Und damit hob er seine Hand und konzentrierte sich. „Wolborg“, flüsterte er leise.

Misstrauisch beobachtete Ray, wie vom Ufer aus das Wasser zu gefrieren begann. Das Eis kam langsam auf ihn zu. Anstatt allerdings vor dem Chinesen anzuhalten, hatte es diesen bald vollständig eingeschlossen. Nur Rays Oberkörper schaute noch aus dem halb zugefrorenen See.

Jetzt sprang auch Kai auf.

„Tala!“, rief er entgeistert. „Willst du ihn umbringen?! Halt durch Ray! Los Dranzer.“

Am Rand des Eises züngelten sofort kleine Flämmchen auf. Schnell begann alles zu schmelzen. Auch Ray wurde nach und nach befreit, doch das Feuer schien seine Kleidung als ausgezeichnete Nahrung anzusehen und Rays Jacke fing Feuer.

„Ahhh!!!“, schrie dieser aufgebracht und hüpfte in dem See herum, verzweifelt bemüht die Flammen zu löschen.

Hustend stolperte er schließlich – nicht mehr brennend aber ziemlich feucht – aus dem See.

So tropfnass stand Ray nun da und starrte leicht bedröppelt drein.

Erst das unfreiwillige Bad, dann das Einfieren von Tala und zum Schluss der recht heiße Versuch Kais, ihn wieder aufzutauen, lähmten ihn und seine Gedanken für einige Sekunden.

Dann hörte er den Rothaarigen lachen.

„Darf ich servieren?“, meinte dieser trocken und hob den erschrockenen Chinesen hoch. „Unser heutiges Spezialmenü: Chinesische Schmusekatze, schockgefrostet und flambiert! Stellt jedes Dessert um Längen in den Schatten.“

Nun konnte selbst Kai nicht mehr ernst bleiben, besonders bei dem Bild, das sich in seinem Kopf formte. Noch etwas Schokosauce und eine schöne rote Kirsche – obwohl er den kleinen Schwarzhaarigen auch so vernaschen würde.

Außerdem sah der Gesichtsausdruck des noch immer leicht verwirrten und ziemlich angekokelten Ray einfach zu niedlich aus.


 

So, das war ein entspanntes Kapitel zum Ende des Jahres. Ob ich vor Silvester noch eins schaffe, weiß ich nicht, aber ich glaube nicht. Deswegen wünsche ich an dieser Stelle allen meinen Lesern schon Mal FROHE WEIHNACHTEN und einen GUTEN RUTSCH ins neue Jahr!!!
 

eure achat

Kapitel 12

12. Kapitel

Es herrschte Finsternis. Totale und absolute Finsternis.

Kein Geräusch nahm er wahr, kein Funken Licht, kein Geruch, gar nichts. Langsam tastete er sich vorwärts. Sein Körper war angespannt wie eine Bogensehne, jeder seiner Muskeln bereit zu reagieren. Sein Atem war flach und bemüht leise, sein ganzes Verhalten darauf ausgerichtet keinen Lärm zu verursachen.

Wo war er überhaupt? Was war los? Warum war er so vorsichtig.

Da hörte er etwas tropfen.

Tropf. Tropf. Tropf.

Ein stetiger und gleichmäßiger Rhythmus. Der einzige Laut in diesem Nichts. Und dieses Tropfen machte ihn beinahe wahnsinnig. Er wusste nicht warum, doch das Geräusch machte ihm Angst. Es war, als wüsste sein Unterbewusstsein etwas, das ihm noch verborgen war. Etwas das er nicht wissen wollte.

Plötzlich war das Geräusch ganz nah. Plötzlich spürte er ein schweres Gewicht zwischen seinen Fingern.

Irritiert sah er zu seiner Hand. Und erstarrte.

Sein Blick lag auf dem scharfen Messer, dass er fest umklammert hielt. Blut triefte von dem Messer, tropfte hinunter. Eine Lache aus roter Flüssigkeit hatte sich bereits zu seinen Füßen gebildet.

Er wollte das Messer loslassen, es wegwerfen, weit von sich schleudern.

Doch er konnte nicht. Er konnte keinen Muskel rühren, nur die bluttriefende Klinge anstarren. Angst kroch in ihm hoch, lähmte seine Glieder, ließ seinen Atem stocken und trieb eisigen Schweiß auf seine Stirn.

Was war hier los?!

Er wünschte, er könnte schreien, doch nicht einmal das war ihm möglich.

Und dann war es plötzlich nicht mehr dunkel.

Ein sanftes blaues Licht erfüllte den Raum, die endlose Weite, in der er sich zu befinden schien.

Er wollte nicht aufsehen. Eine böse Vorahnung sagte ihm, er sollte nicht aufsehen. Er sollte sich herum drehen und rennen. Rennen, so weit ihn seine Füße trugen. Doch wieder gehorchte ihm sein Körper nicht.

Wie von einer fremden Macht gelenkt, hob er langsam den Kopf.

Sein Blick folgte der Blutspur, die, von der immer größer werdenden Blutlache zu seinen Füßen aus, weiter in den Raum hinein ging.

Bis sie in einer noch größeren Blutlache endete.

Ein See aus rubinrotem Blut in dessen Zentrum der leblose Körper eines silberhaarigen jungen Mannes lag.

Nach Luft schnappend öffnete er bei diesem Anblick den Mund.

Und schrie.

Schreiend und keuchend fuhr er aus seinem Bett hoch, fixierte mit starrem Blick die Wand, während sein ganzer Körper zitterte.

Ängstlich umschlang er sich selbst mit seinen Armen und zog seine Knie dicht an sich heran.

Ein heftiges Zittern schüttelte ihn.

Warum verfolgten diese Alpträume ihn?

Warum verfolgte ER ihn?!
 

Zufrieden stellte Ray fest, dass es wieder wärmer wurde.

Eine sanfte Brise fuhr durch seine Haare, ein paar Vögel zwitscherten und das erste Grün war zu sehen. Hach, das Leben war einfach schön!

Mit einem glücklichen Lächeln trat der Chinese ins Freie, froh endlich Schulschluss zu haben. Kai, Spencer und Ian hatten heute nicht so lange Unterricht und waren schon längst gegangen. Tala besuchte sowieso eine andere Schule.

Leicht verträumt beobachtete Ray Tyson und Max. Die Beiden gingen fröhlich lachend und schwatzend über den Schulhof zur Bushaltestelle. Sie hatte seit einer halben Ewigkeit kein Wort mehr mit ihm gewechselt.

Frustriert seufzte Ray und sein Blick verfinsterte sich etwas bei dem Gedanken daran, doch dann schüttelte er leicht den Kopf, um die deprimierenden Gedanken zu verscheuchen. Er selbst würde heute nicht mit dem Bus ins Heim fahren, sondern sofort zum Hauptquartier der Demolitionboys – seiner Bande – gehen. Kai und Tala hatten heute nämlich wieder Training mit ihm im Wald eingeplant. Es machte wirklich Spaß, die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu erforschen, zu stärken und zu verfeinern. Außerdem war Drigger erstaunlich stark, das mussten sogar die Russen zugeben!

Nicht ich, du bist stark. Ich bin nur ein Teil von dir, ich gehöre zu dir, doch es ist deine Kraft, die ich verwende.

„Okay, sagen wir, wir sind zusammen wirklich ziemlich stark, ja Drigger?“, murmelte Ray leise.

Langsam hatte er sich daran gewöhnt, die Stimme seines BitBeasts in seinem Kopf zu hören. Der weiße Tiger sprach zwar nur selten von sich aus mit ihm, doch anfangs hatte der Schwarzhaarige sich immer ziemlich erschreckt. Inzwischen mochte er die kurzen Gespräche sogar. Wenn Drigger nur nicht immer so in Rätseln sprechen würde!

Aber laut Tala hatte er noch Glück mit Drigger. Wolborg würde meistens nur Knurren und selten etwas, für den Rothaarigen verständliches, sagen. Der Russe hatte sich schon öfter darüber beschwert, Ray fand dir Vorstellung dagegen ganz lustig, dass Tala andauernd ein Knurren in seinem Kopf hörte.

Inwieweit sich Kai mit Dranzer unterhielt, darüber schwieg sich der Rotäugige im Großen und Ganzen aus, doch er rede mehr mit dem Vogel, als dass der Phönix singen würde. Ray war sich gar nicht so sicher, ob Dranzer überhaupt singen konnte, bisher hatte er ihn nur Kreischen gehört. Und zwar bei Angriffen, bei denen der Chinese nicht am falschen Ende stehen wollte. Der Vogel war extrem stark und sehr gefährlich. Er war mindestens genauso zerstörerisch, wie das Element, dass er kontrollierte – das Feuer.

Laute Schreie holten Ray aus seinen Gedanken. Zuerst war er etwas irritiert und vorsichtig, bis er erkannte, dass es sich nicht um Angst- oder Schmerzensschreie handelte, sondern eher um gebrüllte Befehle und sehr laute Kommunikation. Neugierig geworden beschleunigte der Chinese seine Schritte noch einmal. Der Lärm stieg, je mehr er sich ihrem Hauptquartier näherte. Der Lärm schien direkt von der Lagerhalle zu kommen.

Eine kleine Falte bildete sich auf Rays Stirn und sein Instinkt riet ihm zur Vorsicht. Die Geräusche waren nicht normal. Sonst herrschte hier eher Ruhe und nur wenige Menschen verirrten sich in diese Gegend. Einfach, weil es bekannt war, dass dies das Gebiet der Demolitionboys war.

Als Ray um die Ecke kam und endlich das Hauptquartier sah, hielt er abrupt an. Nach einigen Sekunden des Schreckens reagierte sein Körper von ganz alleine und verschwand wieder im Schatten eines anderen Gebäudes; verbarg sich vor den vielen Menschen, die sich um die Lagerhalle tummelten. Das Gebäude war – im wahrsten Sinne des Wortes – umstellt. Autos, LKWs und hunderte von Menschen standen um das Gebäude, rannten hinein und hinaus, transportierten merkwürdige Gegenstände, räumten die Lagerhalle aus und standen vor Rechnern.

Was zum Teufel war hier los?!

Unruhig huschte Rays Blick über die Menschen. Kai und Tala konnte er nirgends entdecken, genauso wie Spencer und Ian. Irgendwie war Ray über diese Tatsache erleichtert. Sein Instinkt sagte ihm, es wäre nicht gut, wenn einer seine Freunde hier wäre.

Und dann sah er sie.

Zwar hatte der Langhaarige sie bisher nur im Fernsehen gesehen und kannte sie sonst nur aus den Geschichten seiner Freunde, aber er erkannte sie trotzdem sofort. Ihre gänzlich weiße Kleidung, ihre überheblichen aber auch ernsten Minen und ihre Ausstrahlung, die Ray noch bis zu seinem, einige hundert Meter entfernten, Standpunkt wahrnehmen konnte. All das verriet sie, ließ sie aus der Masse der einfachen Polizisten und anderen Menschen herausstechen.

Die Jäger.

Ray schluckte.

Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sein Verstand raste, doch kein klarer Gedanke wollte sich bilden. Was taten sie hier? Was wollten sie? Wussten sie von Kai und Tala? Wussten sie von ihm? Aber wenn ja, woher?

„Sie müssen hier irgendwo sein! Ihr müsst doch eine Spur haben, verdammt! Sie dürfen uns nicht entwischen. ER darf uns nicht schon wieder entwischen!“

Erschrocken starrte Ray zu dem großen muskulösen Mann. Er hatte merkwürdige fliederfarbene Haare und trug eine Maske, die den Großteil seines Gesichtes verdeckte. Seine Stimme klang laut und befehlsgewohnt. Es war nicht schwer zu erraten, dass dieser Fremde hier das Sagen hatte.

Es war Zeit sich aus dem Staub zu machen, entschloss sich Ray. Dass keiner seiner Freunde hier war, hatte der Lilahaarige ja jetzt mit seinem Geschrei laut genug kundgetan. Es gab keinen Grund für den Chinesen, sich hier noch länger als nötig aufzuhalten.

Leise trat er einen Schritt zurück, die Jäger nicht aus dem Blick lassend. Fast war er außer Sichtweite, als er mit dem Rücken gegen etwas stieß. Gegen etwas Weiches!

Aufgeschreckt wirbelte er herum und starrte direkt in ein Paar rehbraune Augen.

„Alexey!“, keuchte Ray. „Gott, hast du mich erschreckt!“

Unsicher blickte Ray sich zu dem Trubel an der Lagerhalle um, doch niemand schien sie zu bemerken, wahrscheinlich waren sie zu weit weg. Dann wandte sich Ray wieder zu seinem Freund: „Hör Mal, es ist grad etwas ungünstig. Ich muss schnell weg, hab noch was vor. Tut mir Leid, wir können uns doch sicher ein anderes Mal unterhalten, ja?“

Der Braunhaarige musterte ihn mit einem unergründlichen Ausdruck. Ein ungutes Gefühl stieg in dem Schwarzhaarigen auf. Sein Blick schweifte über die Gestalt Alexeys. Rays Atem stockte. Sein Blick blieb an der weißen Kleidung hängen.

„Alexey?“, flüsterte er tonlos.

„Ja. Ich bin ein Jäger.“ Die Stimme des Älteren klang kalt und emotionslos.

Rays Denken setzte aus. Wie ein Film spielten sich die Warnungen Talas und Kais vor seinen Augen ab, die er alle rücksichtslos in den Wind geschlagen hatte. Er war so dumm gewesen…

„Was?“, flüsterte er heiser.

Mehr brachte er nicht heraus. Ray wusste nicht, wie stark Alexey wirklich war, als Esper. Doch Ray wusste er war stärker, als Zero. Doch würden sie jetzt einen Kampf beginnen, würden sie mit Sicherheit die Aufmerksamkeit der Polizisten, der Soldaten und vor allem der Jäger am Lagerhaus wecken. Und gegen alle würde der Langhaarige nie ankommen. Ray fühlte sich in die Ecke gedrängt, wie die Maus, die zwischen den Pfoten der Katze sitzt.

Tief durchatmen, befahl sich Ray. Er weiß nicht, dass auch du ein Zero bist. Woher sollte er das auch wissen? Sie sind sicher nur hinter Kai, vielleicht auch hinter Tala, aber niemals hinter dir her.

„Was soll das alles hier?“ Diesmal klang seine Stimme schon fester.

Doch Alexeys Blick ließ ihn nicht los, folgte jeder seiner Bewegungen. Er schien nicht einmal zu blinzeln.

„Wir haben den endgültigen Beweis dafür, dass Kai derjenige ist, durch den die ganzen Zero-Aktivitäten in der Umgebung hier ausgelöst wurden. Obwohl bei der Stärke der Aktivität sich sicher noch mehr Zeros hier aufhalten.“

„Aktivitäten?“, fragte Ray irritiert.

„Ja. Man kann mit Hilfe modernster Technik und spezieller Satelliten, die mit bestimmten Kameras ausgerüstet sind, feststellen, wie hoch die Aktivitäten der Esper an jeder Stelle der Erde sind. Und natürlich die viel stärkere Aktivität der Zeros. Allerdings ist die genaue Positionsbestimmung noch nicht möglich. Daher wussten wir, dass es hier in der Umgebung mindestens einen Zero geben muss, aber seine Position war uns unklar.“

Diese Informationen musste Rays Gehirn erst einmal verarbeiten. Das bedeutete ja, dass, wo immer sie ihre Fähigkeiten als Zeros einsetzten, Biovolt es sofort merken würde und ihren Aufenthaltsort in etwa bestimmen könnte. Das war nicht gut.

„Was für einen Beweis habt ihr dann?“, fragte Ray schnell, um ihre Unterhaltung am Laufen zu halten. Der Chinese brauchte mehr Informationen und musste außerdem Alexey weiter ablenken, bevor dieser auf die Idee kam Hilfe zu holen.

„Vor ein paar Wochen gab es einen Unfall in einem alten Industriegebiet nicht weit von hier. Ein Haus ist scheinbar grundlos bis auf seine Grundmauern abgebrannt und einen Menschen hat das das Leben gekostet.“

Rays Mund wurde trocken.

„Zuerst hat uns das nicht weiter interessiert, aber durch Zufall konnte vor zwei Wochen ein Videoband bei den Aufräumarbeiten geborgen werden. Die Kamera war Schrott, dank der enormen Hitze total geschmolzen. Aber das Gehäuse hat die meiste Wärme absorbiert und der Chip, auf dem der aufgenommene Film gespeichert wurde, war nahezu unbeschädigt. Es hat leider eine Weile gedauert, bis man Experten darauf angesetzt hatte, das noch vorhandene Filmmaterial so weit wieder herzustellen, dass man etwas Sinnvolles erkennen konnte, doch es hat sich gelohnt. Das Video zeigt eindeutig, dass Kai ein Zero ist.“

Das Blut in Rays Adern schien wie zu Eis gefroren. Sein Blick traf den noch immer ruhigen und gelassenen des Russen und keiner der Beiden sprach es aus, doch beide wussten, was Alexey noch dachte.

/Und es hat gezeigt, dass auch du ein Zero bist, Ray./

Er weiß es! Sie wissen es! Schoss es Ray durch den Kopf und sein Atem wurde hektischer. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, doch er versuchte ruhig zu bleiben. In Panik auszubrechen würde ihm jetzt nicht helfen.

„Und, bin ich jetzt verhaftet oder bringst du mich gleich um?“, fragte er bemüht spöttisch.

Alexey zuckte leicht zusammen. Der Chinese registrierte das erstaunt. Er hatte den Russen doch nicht etwa mit seinen Worten verletzt?

„Zuerst habe ich dich nur angesprochen, um Informationen über Kai zu sammeln“, meinte da plötzlich der Braunhaarige.

Ray erwartete, dass ihm dieses Geständnis wehtun würde, doch erstaunlicher Weise fühlte er nichts.

„Aber dann merkte ich, dass du eigentlich ganz nett bist. Ich fing an dich zu mögen und traf mich bald nicht mehr wegen meines Auftrages mit dir, sondern einfach um deinetwillen. Ich habe unsere gemeinsame Zeit wirklich genossen. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, du warst mein Freund. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein Schock es für mich war, die Wahrheit zu erfahren.“

„Die Wahrheit? Welche Wahrheit?!“, fuhr Ray dazwischen. Er konnte sich das nicht mehr länger schweigend mit anhören. „Die Wahrheit darüber, dass ich anders bin als du? Das ich dir etwas verschwiegen habe, wegen dem man mich ohne zu fragen getötet hätte? Oder konntest du es nicht ertragen vor Augen geführt bekommen zu haben, dass Zeros nichts anderes sind als Esper oder Menschen, nur halt mit anderen Talenten? Was ist es, mh?“

„Ich konnte es nicht ertragen, die ganze Zeit mit dem Feind zusammen gewesen zu sein.“

Das brachte Ray zum Schweigen.

„Versteh mich nicht falsch, Ray. Ich mag dich, ich mag dich wirklich. Zumindest den menschlichen Teil in dir. Doch du bist ein Zero. Ein Monster. Eine Bestie. Im Sinne unserer schönen gemeinsam verbrachten Zeit und als letzten Freundschaftsdienst an das Menschliche in dir werde ich dich jetzt gehen lassen. Doch wenn wir uns das nächste Mal treffen, dann werde ich dein Feind sein und nicht zögern dich zu töten.“

Stocksteif stand Ray da. Er konnte keinen Muskel rühren, nichts sagen und nichts tun, als Alexey Felk – bis eben noch sein Freund, jetzt sein schlimmster Feind – ohne ihm einen letzten Blick zuzuwerfen, an ihm vorbeiging. Hinüber zu der Lagerhalle, an der sich noch viele andere seiner Sorte aufhielten. Noch viele andere, Menschen und Esper, die nichts weiter in ihm sahen als ein Monster, eine Bestie…
 

achat

Kapitel 13

Hallo!
 

Hier kommt das 13. Kapitel, das wieder von Anni beta gelesen wurde. Danke!
 

13. Kapitel

Widerwillig schüttelte Ray den Kopf. Er durfte sich jetzt nicht von seinen verletzten Gefühlen ablenken lassen. Aber eins stand fest, die Worte hatten ihn verletzt! Er war doch trotz allem noch ein Mensch, er konnte doch nichts für seine Fähigkeiten und er würde auch nie auf die Idee kommen einem anderen Lebewesen in vollem Bewusstsein zu schaden, nur weil er es /konnte/! Aber das verstanden die Menschen scheinbar nicht. Oder sie wollten es nicht verstehen.

Ohne noch einmal zur Lagerhalle zu sehen, rannte Ray los. Rannte die Straße hinunter, die er gekommen war, bog ab, schlitterte kurz über den schlammigen und verdreckten Boden, fing sich jedoch und rannte weiter.

Seine Ausdauer war gut, er konnte über eine längere Zeit ein relativ hohes Tempo beibehalten, doch als er endlich das Gebäude des Waisenheims vor sich aufragen sah, da ging inzwischen auch sein Atem schneller.

Gerade wollte er die letzten hundert Meter zum Heim rennen, als eine Hand seine Schulter griff und ihn gewaltsam in einen Hauseingang zog. Erschrocken fiepte Ray auf, bevor ihm jemand die Hand fest auf den Mund drückte. Hatten sie ihn gefasst?

„Schhhh!“, machte eine raue Stimme hinter ihm. „Ich bin’s.“

Augenblicklich entspannte sich der Chinese und stieß die Luft zwischen den Zähnen aus. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er den Atem angehalten hatte…

„Kai“, flüsterte er, mindestens genauso leise wie der Russe vorher. Ray spürte, wie die Person hinter ihm nickte. Der heiße Atem des Russen streifte seinen Nacken und jagte ihm unwillkürlich warme Schauer über den Rücken. Ray spürte förmlich die Hitze, die in seinen Wangen aufstieg.

„Die Lagerhalle, das Hauptquartier, die Jäger, …“, fing Ray stotternd an, doch Kai drückte den leicht aufgelösten Chinesen nur stärker an sich. Ray spürte die warme Brust hinter sich, den muskulösen Oberkörper, die starken Arme, die ihm Halt gaben. Seine Gesichtsfarbe wurde noch dunkler.

„Ich weiß. Sie haben uns gefunden, dich wollen sie wahrscheinlich auch.“

„Ja, Azat hat uns damals gefilmt. Sie haben das Video gefunden.“

Kurz schwieg Kai.

„Verstehe… Verdammt! Ausgerechnet jetzt! Aber gut, wir müssen hier weg. Hör zu, Spencers Vater ist LKW-Fahrer, wie wir dir sicher erzählt haben. Heute Abend fährt er wieder los, in den asiatischen Teil Russlands. Er überquert das Uralgebirge. Er hat sich bereiterklärt uns mitzunehmen. Spencer und Ian sind nur Esper, sie sind mehr oder weniger sicher, solange sie nicht zugeben, dass sie wussten, dass wir Zeros sind. Und das werden sie sicher nicht zugeben. Tala, du und ich, wir werden heute Abend um acht Uhr mit Spencers Vater die Stadt verlassen, im Laderaum, gut versteckt. Bis dahin müssen wir äußerst vorsichtig sein und sollten uns nicht von den Jägern schnappen lassen. Im Moment ist Biovolt nur beim Lagerhaus, doch bald werden sie das ganze Viertel nach uns absuchen.“

Ray nickte. Er hatte verstanden. Sie sollten so schnell wie möglich zu Spencers Vater und sich in dem LKW verkriechen.

„Aber meine Sachen…“, flüsterte Ray und sah zum Waisenhaus. „Ich will sie noch kurz holen.“

Er wartete auf Kais Protest, doch dieser blieb überraschender Weise aus.

„Nimm den Weg über den Baum, lass dich von niemandem sehen. Noch war kein Jäger hier, aber es wird nicht mehr lange dauern.“

„Okay. Ich beeil mich.“
 

Es war überraschend einfach, ungesehen den Baum vor ihrem Fenster zu erklimmen und in ihr Zimmer einzusteigen. Leise schlich Ray durch das Zimmer, holte einen Rucksack unter seinem Bett hervor und öffnete die Schranktür.

Als er Schritte aus dem Flur hörte, verharrte er kurz.

„Und, schon was passiert?“ Das war Tysons Stimme.

„Nö, aber einer der Beiden taucht sicher auf, wenn wir nur lange genug warten.“ Max!

Es brauchte nicht viel, um zu schlussfolgern, dass die Beiden vor Kais und seinem Zimmer Wache standen und darauf warteten, dass sie kamen. Die Beiden gehörten also auch zu den Jägern!

Ray musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu Fauchen. Sein BitBeast schien auf ihn abzufärben.

Schnell räumte er ein paar Kleider, sowie drei Fotos, die er später noch entdeckt hatte, ein Buch, den mp3-Player, die Taschenlampe und einen Anhänger, der eventuell von seinen Eltern sein könnte, in die Tasche. Eben alles, was ihm helfen könnte sich doch noch an seine Vergangenheit zu erinnern.

Dann schloss er den Reißverschluss des Rucksacks und schob die Schranktür zu.

Es quietschte.

Sofort hielt Ray in der Bewegung inne und den Atem an. Von draußen war nichts zu hören. Der Chinese wollte schon erleichtert aus dem Fenster klettern, als plötzlich die Tür unter einem lauten Knall nachgab und ein blonder und ein blauhaariger Junge in das Zimmer stürzten.

„Keinen Schritt weiter!“, schrie Tyson aufgebracht.

Aber es war bereits zu spät.

Der Chinese sprang mit einem gewagten Satz aus dem Fenster, direkt in die unteren Äste und von dort auf den Boden.

Mit einer fließenden Handbewegung schloss er das Fenster und verriegelte es von außen mit einem Ast.

Sie wussten, dass er ein Zero war, worin läge also der Sinn seine Fähigkeiten weiterhin zu verstecken. Fluchend klopften Max und Tyson von innen gegen die Glasscheibe, versuchten sie zu zerstören, doch Ray hielt gedanklich dagegen. Seinen Fähigkeiten waren sie noch lange nicht gewachsen.

„Schnell, komm!“

Überrascht drehte Ray sich um, nur, um Kai am Zaun stehen zu sehen. Ohne noch einen Gedanken an seine zwei ehemaligen Freunde zu verschwenden stürmte er zu dem Russen und gemeinsam rannten sie fort, außer Sichtweite der Anderen.

Auf dem Weg zu Spencers Vater liefen sie einige Umwege, versteckte Pfade und überflüssige Kreise, nur, um eventuelle Verfolger zu verwirren.

Als sie endlich bei dem blonden Russen angekommen waren, schnappten sie nach Luft.

Tala war bereits da und wartete.

Als er sie kommen sah, hellte sich seine Mine deutlich auf.

„Endlich! Ich dachte schon, sie hätten euch geschnappt!“ Sein Ton klang zwar nicht so, doch aus den Worten konnte man seine Besorgnis entnehmen.

„Wo ist der Lastwagen und wann geht es los?“, fragte Kai sofort.

„Kommt mit.“

Das war Spencer. Der blonde Hüne führte sie ein paar Straßen weiter, auf einen ausgestorbenen Innenhof. Ein großer Lastwagen mit zwei Anhängern stand darauf.

„Oh! Hallo! Da seid ihr ja endlich“, begrüßte sie ein eher schmächtiger blonder Mann. Seinen Körperbau hatte Spencer eindeutig nicht von ihm geerbt. Sorgenfalten zierten sein Gesicht, doch das war kein Wunder, immerhin stand der Mann kurz davor drei gesuchte Flüchtlinge und Schwerverbrecher aus der Stadt zu schmuggeln. Dafür würde er lebenslang in den Knast kommen, sollten sie erwischt werden.

„Ich bin Igor, Spencers Vater. Los, ihr steigt in den ersten Anhänger. Spencer und ich stellen noch ein paar Kisten davor, damit man euch nicht sehen kann und dann geht’s los.“

Eile sprach aus seiner Stimme, der Mann wollte diese Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Desto eher sie die Stadt hinter sich ließen, desto sicherer waren sie. Da sich die drei Zeros dieser Tatsache durchaus bewusst waren, folgte sie der Anweisung ohne zu zögern.

Als Igors Blick allerdings auf Ray fiel, runzelte er kurz die Stirn. Der Chinese ignorierte das, er war es gewohnt, dass die Leute ihn wegen seines femininen Aussehens merkwürdig anstarrten.

„Lebt wohl“, rief ihnen Spencer noch kurz zu, ehe er eine große Holzkiste hinter ihnen auf den Lastwagen stellte und ihnen damit jedes Licht nahm. „Wir werden uns sicher nie wieder sehen, aber ich wünsche euch viel Glück. Passt auf euch auf! Ian lässt euch grüßen.“

„Keine Sorge, Unkraut vergeht nicht“, rief Tala durch die Kisten zu ihm.

Dann spürten sie ein Zittern, das durch den gesamten LKW ging. Der Motor wurde gestartet und mit einem lauten Summen und einem knirschenden Geräusch setzte sich das Monster von Auto in Bewegung.

Sie alle atmeten tief durch, verkrochen sich in den Ecken ihres sehr begrenzten, engen Platzes und beteten innerlich, dass niemand sie aufhalten würde und keiner den Inhalt der Anhänger sehen wollte.
 

Mit leerem Blick starrte Ray das Holz der Kiste ihm gegenüber an.

Das gleichmäßige Rumpeln des LKWs und das Brummen des Motors hatte ihn in eine Art Trance versetzt. Sie fuhren schon so lange, dass der Langhaarige gar nicht sagen konnte wie lange genau. Vielleicht waren sie erst ein paar Minuten unterwegs, vielleicht schon Stunden oder Tage – er wusste es nicht. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Neben sich nahm er den gleichmäßigen Atem seiner Freunde wahr. Seit der LKW gestartet war, hatten sie kein Wort gesagt, aus Angst man könnte sie draußen hören und entdecken. Jedes Mal, wenn der Wagen langsamer wurde, spannten sie sich an, wenn der Wagen jedoch anhielt, hielten sie die Luft an, wagten kaum zu atmen und beteten zu einem unbekannten Gott.

Doch jedes Mal fuhr der Wagen nach kurzer Zeit weiter. Wahrscheinlich handelte es sich immer nur um Ampeln oder ähnliches, doch ihr Herzschlag erklomm neue, unbekannte Höhen und die Anspannung war förmlich zu greifen. Angst lag in der Luft. Angst, dass man sie entdecken würde. Angst, dass man sie fangen würde. Angst, dass man sie töten würde.

Inzwischen müssten sie Moskau schon längst hinter sich gelassen haben, die größte Gefahr müsste vorüber sein. Dennoch, keiner von ihnen sagte etwas.

Was sollte man auch sagen?

Was sollte man sagen, wenn man gerade seine einzige Heimat verloren hatte?

Was sollte man sagen, wenn man gerade all seine Freunde und die Familie hinter sich lassen musste?

Was sollte man sagen, wenn man wie, ein Schwerverbrecher gejagt, in einem LKW flüchtete?

Was sollte man sagen, wenn man keine Aussicht auf irgendeine Art von Zukunft hatte?

Wenn man nicht wusste, was der nächste Tag, die nächste Stunde bringen würde? Wenn man nichts mehr besaß, nichts hatte, wenn einem nichts weiter gelassen wurde, als das eigene Leben und der eigene Stolz, die man krampfhaft zu retten versuchte?

Ray seufzte.

Sein Leben war wirklich wunderbar!

Er warf einen kurzen Seitenblick zu Kai und Tala. Ein kleines Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Zumindest war er nicht allein. Er hätte nicht gewusst, was er ohne die Beiden gemacht hätte. Und solange sie zusammenblieben, so war Ray überzeugt, gab es noch Hoffnung für sie. Zusammen konnten sie es schaffen: Zusammen konnten sie sich ein neues, friedliches Leben aufbauen!

Oh ja, die Beiden waren wirklich wahre Freunde. Nicht so wie Alexey…

Ray musste einen tiefen Seufzer unterdrücken. Alexey. Aber wo er gerade an diesen Bastard dachte, da fiel ihm glatt etwas ein.

„Kai?“, fragte er leise, nicht sicher, ob der Andere vielleicht schlief, obwohl ihre momentane Lage ziemlich unbequem war und daher weniger zum Schlafen einlud. Aber Tala schien das nicht zu beeindrucken. Er schnarchte sogar leise. Der Rotschopf konnte einfach überall schlafen.

„Ja“, antwortete ihm der Graublauhaarige ebenso leise.

Vorsichtig rutschte Ray näher an Kai heran, bis sich ihre Schultern berührten, damit sie sich besser unterhalten konnten.

„Ich hab an der Lagerhalle Alexey getroffen, er…“

„Verdammter Arsch!“, unterbrach Kai ihn wütend zischend. „Er hat uns das eingebrockt, nicht wahr? Ich hab dir gesagt, er ist gefährlich!“

Leicht zuckte Ray unter der Rüge zusammen.

„Ja, aber darum geht es jetzt gar nicht, außerdem hat er mich gehen lassen, ohne mich zu verraten. Aber was ich dir sagen wollte: Er meinte, die Jäger wären in der Lage Zeros zu lokalisieren, wenn diese ihre Kräfte benutzen.“

Kai wurde hellhörig.

„Was?“

„Er meinte, Biovolt hat irgendwelche speziellen Satelliten am Himmel. Die können irgendwie die paranormalen Aktivitäten auf der Erde wahrnehmen, sowie die Stärke dieser Aktivitäten. Wenn ein Zero seine Fähigkeiten benutzt, ist die Aktivität wesentlich stärker, als zum Beispiel bei einem Esper und daher können sie wohl ausmachen, wo auf der Erde sich Zeros befinden und wie viele ungefähr.“

„Scheiße!“

„Aber, sie können nicht die genaue Position der Zeros bestimmen, nur die ungefähre… meinte zumindest Alexey….“

„Mmh…“

Ray brauchte Kai nicht anzusehen, um zu wissen, dass dieser Mal wieder die Stirn gerunzelt hatte und scharf nachdachte.

„Und das hat dir alles Alexey erzählt, bevor er dich hat laufen lassen…?“

„Ja.“

„Vielleicht ist der Kerl doch gar nicht so übel. Zumindest für einen Jäger.“ Das letzte Wort klang bei Kai wie eine Beleidigung. „Immerhin hat er uns damit gewarnt. Jetzt wissen wir, dass wir unsere BitBeasts nicht nutzen sollten. Damit würde man uns ausfindig machen und unsere Flucht wäre schneller vorbei, als ich Dranzer sagen könnte.“

Leicht nickte Ray. So hatte er das noch gar nicht gesehen! Vielleicht war Alexey doch gar nicht so schlecht… Nein! Der Kerl hatte ihn als Monster bezeichnet! Und das hatte er absolut ernst gemeint! Verräter!

„Er hat dir nicht wehgetan, oder?“, fragte da auf einmal Kai, Sorge schwang in seiner Stimme mit. Ray spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss und mit einem Mal war er für die Finsternis, die in dem Anhänger herrschte, wirklich dankbar.

„Also, nein. Nicht körperlich. … Er hat mich, also uns, als Monster und Bestien bezeichnet…“

Kai spannte sich an.

„Dieses Arschloch! Vergiss, was ich gerade über ihn gesagt habe, dieser Kerl ist genauso wie die anderen Esper! Ein verräterischer, heuchlerischer Mörder!!!“

Der Hass, der von dem Russen ausging, war fast greifbar. Vorsichtig fasste Ray nach Kais Arm, um ihn zu beruhigen.

„Kai…? Kann ich dich mal was fragen?“

„… Klar, warum nicht?“

„Warum hasst du die Esper so?“

Jetzt wandte sich der Ältere vollständig Ray zu.

„Was meinst du damit?“, fragte er misstrauisch. Ray schluckte, doch er ließ sich nicht beirren.

„Na ja, du hast gesagt, du hasst sie, weil sie angeblich unsere Rasse verraten hätten. Auch Tala hasst sie deswegen. Aber dein Hass ist wesentlich stärker, wesentlich deutlicher. Ich glaube nicht, dass es nur an diesem Verrat liegt. Da steckt doch mehr dahinter…?“

Kai schob den Chinesen etwas von sich weg und starrte ihn nachdenklich an. Ray rutschte unruhig umher, er fühlte sich nicht sonderlich wohl unter dem Blick aus den blutroten Augen, die unheimlich in der Finsternis blitzten.

„Brooklyn. Sie haben dir bestimmt von ihm erzählt, oder?“

Erstaunt sah Ray auf. Er hatte nicht mehr mit einer Antwort seines Freundes gerechnet. Brooklin…? Kurz dachte der Schwarzhaarige nach. Ja, der Name sagte ihm was.

„Tyson und Max meinten, du und Brooklyn wären beste Freunde gewesen, ihr hättet euch ein Zimmer im Heim geteilt. Aber dann ist Brooklyn plötzlich verstorben.“

„Hmpf. Plötzlich verstorben? Komm schon Ray, sie haben dir erzählt ich hätte ihn umgebracht, stimmt's?“

Rays Wangen färbten sich zartrosa.

„Äh… Na ja…“

„Schon okay, mich stört diese Behauptung gar nicht. Immerhin entspricht es ja der Wahrheit.“

„Wa…“ Entgeistert starrte Ray zu dem Russen. Kai hatte Brooklyn getötet? Es klang so irreal, so unwirklich. Der Chinese konnte sich seinen Graublauhaarigen – auch wenn dieser meist etwas reserviert war – nicht als Mörder vorstellen. Vor allem gab dieser es auch so leicht zu.

„Schau nicht so geschockt, oder hast du Azat schon wieder vergessen?“, fragte da Kai leicht belustigt.

Ertappt zuckte Ray zusammen und starrte zur Seite. Der rothaarige Russe. Talas kleiner Bruder. Ray würde ihn nie vergessen können, auch wenn er es seit damals erfolgreich verdrängte. Doch die Erinnerung lag, nur bedürftig bedeckt, dicht unter der Oberfläche in seinem Kopf, wartete nur darauf heraus zu brechen und ihn zu quälen. Der Langhaarige war in den zwei Wochen nach seiner Entführung öfters nachts hoch geschreckt, schwer atmend und schwitzend. Er hatte oft von Azat geträumt, von dem was dieser getan hatte und von dem, was dieser noch hatte tun wollen. Doch inzwischen waren auch die Träume verschwunden, sehr zu Rays Erleichterung.

Aber es stimmte. Der Rothaarige war Kais Wut, Kais Zorn zum Opfer gefallen. Der Graublauhaarige hatte Azat getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Könnte er das Gleiche mit Brooklyn getan haben?

„Und warum?“, fragte Ray schließlich, dazu bereit den Gedanken zu akzeptieren, dass Kai ein mehrfacher Mörder war. Azat hatte er schließlich auch nicht grundlos umgebracht, sicher gab es auch bei Brooklyn Gründe, oder? Ray hoffte es, sonst wüsste er nicht, wie er mit Kai zukünftig umgehen sollte.

„Vor zweieinhalb Jahren sind meine Eltern gestorben und ich bin in das Heim gekommen. Nur ich. Du musst wissen, ich hatte noch einen Bruder, aber er war schon zu alt, um im Waisenhaus aufgenommen zu werden, aber auch zu jung und mittellos, um mich aufnehmen zu können. Ich habe ihn anfangs ziemlich vermisst. Wir waren immer zusammen gewesen, die Trennung von ihm war fast noch schmerzlicher für mich, als der Tod meiner Eltern. Aber er hat sich eine kleine Wohnung in der Nähe gesucht, daher hab ich ihn oft besuchen können. Damals war ich sechzehn…“

Kais Stimme hatte einen etwas weltfremden Klang angenommen. Ray hörte deutlich, dass der Graublauhaarige in Erinnerungen schwebte, daher schwieg er und wollte ihn nicht stören. Dennoch wartete er gespannt darauf, dass Kai weitererzählte. Schon die Tatsache, dass Kai einen Bruder hatte – oder gehabt hatte – war neu für ihn. Und es interessierte ihn ungemein.

„Brooklyn war achtzehn, zwei Jahre älter. Er hat mir anfangs im Heim sehr geholfen, wir haben viel zusammen unternommen. Wir waren in der Stadt, in unserem Trainingswald, den mir Brooklyn erst gezeigt hat und auch sehr häufig bei meinem Bruder. Auf meinen Wunsch hin natürlich. Die Beiden konnten sich nicht leiden, warum hab ich nie verstanden. Damals war ich eindeutig noch zu naiv. Heute weiß ich, dass Brooklyns Aufmerksamkeit mir gegenüber weit mehr als freundschaftlicher Natur war. Es war Besessenheit. Der Kerl war der Meinung, er hätte sich in mich verliebt und deshalb der Ansicht, ich würde nur ihm gehören. Damals hab ich das nicht gesehen. Mein Bruder sah es. Er hat Brooklyn gedroht, ihn gewarnt, mir nicht zu nahe zu kommen. Aber Brooklyn wollte davon nichts wissen. Im Gegenteil, jetzt hat er meinen Bruder als potentielle Gefahr für unsere Beziehung gesehen. Ein Beziehung, die, von meiner Seite aus, nie bestand. Er fing an meinen Bruder zu beobachten, um ihn von mir zu trennen. Und dadurch hat er etwas erfahren, was für immer geheim bleiben sollte…“

Kais Stimme wurde immer leise, verlor sich am Ende ganz.

„Was?“, fragte Ray, als er sicher war, dass der Russe von selbst nicht weitererzählen würde. Erschrocken sah Kai auf, starrte Ray an, als wäre dieser eine Erscheinung, als würde Kai ihn erst jetzt bemerken.

Kurz räusperte er sich.

„Mein Bruder war ebenfalls ein Zero. Ein starker sogar, sein BitBeast hieß Falborg, sein Element war der Wind. Als Brooklyn das sah, ist er sofort zu Biovolt gerannt. Das Schwein hat meinen Bruder verraten.“ Kais Stimme triefte vor Hass, sein Körper zitterte jetzt vor Zorn.

„Und Biovolt hat natürlich sofort ein paar Jäger geschickt. Innerhalb von zwei Tagen war mein Bruder tot. Ich habe es erst später von einem Jäger erfahren, der kontrolliert hat, ob ich auch ein Zero bin. Zum Glück konnte ich ihn vom Gegenteil überzeugen. Ich habe nie erfahren, wer genau meinen Bruder auf dem gewissen hat, doch wer auch immer, er wird dafür bezahlen. Irgendwann finde ich den verantwortlichen Jäger und dann wird er zahlen! … Die Leiche meines Bruders, ich werde ihren Anblick nie vergessen. Er lag in einer Lache aus Blut, seinem Blut.“

Kurz rang Kai um Fassung, fing sich aber schnell wieder.

„Dass Brooklyn ihn verraten hat, habe ich erst drei Wochen später von ihm persönlich erfahren. Ich glaube nicht, dass er es mir je verraten wollte, aber es ist ihm bei einem unserer Ausflüge irgendwie rausgerutscht. Und ich habe endgültig die Kontrolle verloren. Ich war so voller Hass und Wut, dass ich auf ihn losgegangen bin. Weißt du, es wird gesagt, dass Verrückte manchmal immense Kräfte entwickeln können. Ich glaube, in so einem Zustand befand ich mich damals, sonst hätte ich Brooklyn nie ohne Dranzer töten können. Doch alles, was ich zu jenem Zeitpunkt gefühlt habe, war dieser brennende Rachedurst. Brooklyn wusste wahrscheinlich gar nicht was ihn traf. Als ich gesehen hatte, was ich getan hatte, war ich verzweifelt. Ich wollte die Leiche verbrennen, um sie verschwinden zu lassen und rief Dranzer.“

Kais Blick glitt zu Tala, der noch immer in seiner Ecke leise schnarchte.

„Aber Tala hat mich aufgehalten. Ich kannte ihn vorher gar nicht, für mich war er bis dahin nur jemand gewesen, der in meine Klasse ging. Doch Tala hat den Mord beobachtet und auch Dranzer gesehen. Ich wurde panisch. Tala rief Wolborg. Du glaubst gar nicht, wie geschockt ich war, einen anderen Zero zu treffen. Er hielt mich davon ab, Brooklyns Leiche zu verbrennen, da sein Verschwinden mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, als seine Ermordung. Tala gab mir auch ein Alibi, erzählte er Polizei, wir hätten zusammen Hausaufgaben gemacht oder so… Ich weiß nicht, was ich ohne ihn getan hätte…“

Nun sah Kai wieder Ray in die Augen. Er lächelte leicht.

„Das war auch der Beginn der Demolitionboys. Ian und Spencer kamen nur wenig später dazu.“

Leicht nickte Ray. Die Geschichte hatte ihn nachdenklich gemacht, ihm gezeigt, wie wenig er doch eigentlich über seine zwei besten und einzigen Freunde wusste. Aber eine Frage hatte er noch.

„Wie hieß dein Bruder eigentlich?“

Kai, der sich bereits mit geschlossenen Augen einen halbwegs bequemen Platz gesucht hatte, um scheinbar ein bisschen zu schlafen, murmelte leise: „Bryan.“

„Bryan…“, wiederholte Ray den Namen flüsternd. Eng drückte er seine Tasche an sich. Irgendwie erinnerte ihn der Name an etwas…


 

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Kapitel 14

14. Kapitel


 

Jemand rüttelte ihn.

Langsam schlug er die Augen auf und blinzelte. Dann gähnte er Kai direkt ins Gesicht. Verwirrt sah er sich um.

„Was is‘ los?“, fragte Ray durcheinander.

„Es ist Nacht. Igor hat gerade auf einem verlassenen Parkplatz etwas abseits der Straße geparkt. Wir könnten uns jetzt die Beine vertreten, meinte er. Los komm schon!“

Es dauerte kurz, bis Ray die Worte begriff. Er musste wohl in einen mehr oder weniger erholsamen Dämmerschlaf gefallen sein, nach dem Gespräch mit Kai. Vorsichtig stand er auf. Jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Verdammt! So eine Fahrt im Anhänger eine LKWs war wirklich unbequem!

Kaum trat er aus dem windgeschützten Anhänger, umfing ihn eisige Kälte. Es lag noch immer ein wenig Schnee, obwohl fast Frühling war. In den Bergen würde wohl noch wesentlich mehr von dem weißen Puder liegen. Hurra.

Ray mochte die Kälte nicht so. Man musste sich viel anziehen und hatte trotzdem noch immer das Gefühl zu frieren, kaum kam man aber an einen etwas wärmeren oder gar beheizten Ort, fing man tierisch an zu schwitzen. Nein, Ray mochte Kälte wirklich nicht.

Tala stand bereits neben einem Baum und reckte und streckte sich. Dann ging er ein paar Runden um den Baum herum. Ray starrte ihn fragend an.

„Na ich brauch Bewegung! Da drinnen rostet man ja ein!“, erklärte der Rothaarige.

Leicht grinsend schüttelte Ray den Kopf.

„Wo sind wir?“, fragte er dann neugierig. Um sie herum war nichts als Finsternis, einige Bäume, kahle Felder und kein einziges Haus, keine Tiere, keine Zeichen von Leben.

„Irgendwo in der Nähe von Nizjn Novgorod. Morgen oder Übermorgen werden wir das Uralgebirge erreichen. Nachdem wir dieses überquert haben, ist die nächste große Stadt, durch die wir fahren, Perm. Dann Jekaterinburg, Omsk, Tomsk, Jakutsk und Skovorodino. Ab da fahren wir ein kurzes Stück an der russisch-chinesischen Grenze entlang, bevor wir sie etwa bei Blagovescens überqueren. Und dann geht’s über Hegang nach Shenjang, Igors Ziel. Spätestens ab da müssen wir uns selbst durchschlagen.“

Tala und Ray starrten den Graublauhaarigen mit offenen Mündern an.

„Was denn?“, zuckte dieser nur mit den Schultern, „Ich hab mir von Spencers Vater den Plan geben lassen.“

„Ja, aber…“, Ray schüttelte sich kurz, „dass du dir die ganzen Namen gemerkt hast… Aber mal nebenbei gefragt, wäre es nicht besser, wenn wir uns noch in Russland von Spencers Vater absetzen? Ich denke, bei der Grenzüberquerung könnten wir sonst in Schwierigkeiten geraten…“

Kai nickte. „Ja, da müssen wir uns noch was einfallen lassen.“
 

Die nächsten paar Tage nahm Ray wie in Trance wahr. Das rhythmische Rumpeln und Holpern des Anhängers über die immer schlechter werdenden Straßen, das Eingesperrtsein zwischen Kisten und Planen, die ganze Zeit in Finsternis, denn Licht kam kaum in den Anhänger und ihn zu verlassen trauten sie sich nur bei Nacht, und die ziemlich regelmäßig eingenommenen spärlichen Mahlzeiten zehrten an ihren Nerven, ließen sie in eine leichte Apathie fallen. Nicht einmal Tala konnte sich dem entziehen. Man fühlte sich plötzlich so leicht und sorglos, wenn das ganze Universum auf zwei Quadratmeter zusammenschrumpfte.

Anfangs hatten sie sich noch unterhalten und Ray hatte noch viel über sein Gespräch mit Kai nachgedacht. Hatte sich gefreut, dass dieser ihm genug vertraute, um ihm von seiner Vergangenheit zu erzählen. In Momenten wie diesen wünschte der Chinese sich, er könnte es dem Rotäugigen gleichtun, ihm ebenfalls so sein Vertrauen demonstrieren. Doch Ray hatte noch immer keine Vergangenheit. Ray Kon existierte in seiner Erinnerung noch immer gerade mal ein paar Monate. Und über diesen Ray Kon wusste Kai bereits alles.

Aber je mehr Zeit verging, desto mehr schweiften Rays Gedanken umher, verirrten sich, schienen teilweise ganz auszusetzen.

Er konnte nicht Mal mehr genau sagen, wie lange sie schon unterwegs waren. Sein Verstand sagte Ray, dass sie wohl gerade den Ural überqueren mussten, denn die Anstiege waren deutlich spürbar, die Kälte nahm mit zunehmender Höhe ebenfalls zu und sie kamen nur ziemlich langsam voran. Außerdem hörte man immer seltener die Geräusche anderer Fahrzeuge. Die Straßen hier wurden selten genutzt.

Plötzlich krachte es leise, dann wurde Ray ohne Vorwarnung auf die Seite geschleudert. Er stieß unsanft gegen eine der Holzkisten, Tala landete auf ihm und der Chinese stöhnte bei dem zusätzlichen Gewicht. Verdammt, das würde blaue Flecken geben.

Verwirrt blinzelnd öffnete er die Augen und sah sofort Kais rot glühende Rubine in dem Dämmerlicht. Der Russe war halb aufgestanden, hielt sich an einer Plane fest. Sein ganzer Körper angespannt, als ob er einen Angriff erwartete.

Und wahrscheinlich tut er das auch, dachte Ray sich.

Der Anhänger schlingerte weiter, Spencers Vater schien die Kontrolle über das Fahrzeug verloren zu haben.

Lag es an den vereisten Straßen? Gab es einen Unfall? … Oder hatten SIE sie gefunden?

Keiner der Zeros wusste es, aber auch Tala und Ray waren inzwischen wachsam, sie atmeten leise, versuchten keine Geräusche zu machen. Doch bei dem Lärm, den der, scheinbar von der Straße abgekommene, LKW verursachte, hätten sie vermutlich auch laut Witze reißen können, ohne dass es jemand mitbekommen hätte.

Plötzlich gab es noch ein Knall, dann ein merkwürdiges Ruckeln und dann – Stille.

Es war unheimlich. Die Spannung fast greifbar. Bis sie Spencers Vater laut fluchen hörten.

Ray verstand die Worte nicht ganz, sie waren zu undeutlich, hatten auch einen Einschlag irgendeines Dialektes, aber Tala und Kai entspannten sich augenblicklich. Es war also nichts Schlimmes.

„Los, komm. Mal sehen, vielleicht können wir helfen“, meinte Kai, zwängte sich zwischen ein paar Kisten hindurch und kletterte vom Anhänger. Tala folgte kommentarlos. Ray dagegen war etwas unschlüssig. Er wusste noch immer nicht, was los war. Aber die plötzliche gespenstige Stille in dem einsamen Anhänger gefiel ihm erst Recht nicht. Schnell folgte er den beiden Russen.

Und draußen wurde ihm das Problem auch gleich klar.

Geradezu höhnisch wirkten die beiden unschuldig aussehenden, schwarzen und ziemlich luftleeren Reifen, die vorne am Fahrzeug waren.

Sie hatten zwei Platten. Na hurra.

Spencers Vater kniete schon davor und inspizierte mit geübten Augen beide Reifen. Sie waren riesig, das Problem schien aber noch riesiger.

Noch einmal ziemlich farbenfroh fluchend, fuhr sich der Blonde durch die Haare und wandte sich dann an seine drei Passagiere.

„Ich hab nur einen Ersatzreifen dabei und wechseln kann ich die Reifen auch nicht alleine. Ich muss zur nächsten Werkstatt, Reifen besorgen. Aber wir haben Glück im Unglück. Hier in der Nähe ist ein kleines, ziemlich abgeschnittenes Bergdorf. Die Leute haben kaum was mit der Außenwelt zu tun. Sicher können wir dort übernachten. Selbst wenn ihr inzwischen steckbrieflich gesucht werdet, werden sie nichts davon wissen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die ein Radio da oben haben.“

Kai nickte.

„Wie weit ist es weg und was ist mit der Reparatur?“

„Nun, es wird bald dunkel, in einer halben Stunde oder so.“ Igor spuckte noch mal fluchend auf den Boden. Man konnte ihm sein Missfallen an der ganzen Situation deutlich ansehen. „Wir gehen jetzt in das Dorf und schlafen da. Morgen früh ruf ich per Funk die nächste Werkstatt. Das wird sicher den ganzen Tag dauern. Bis die hier sind und die Reparatur fertig ist und so weiter. Da bleibt ihr gefälligst da oben und seid unauffällig! Fehlt mir noch, wegen so ner beschissen Panne erwischt zu werden! Ich komm hoch, wenn der LKW wieder einsatzbereit ist und hol euch, dann geht’s so schnell wie möglich weiter. Ich will keine Zeit verlieren!“

Ray und Tala nickten, doch Kai starrte Igor stumm aus seinen blutroten Augen an.

„Was?!“, blaffte der Blonde nervös.

„Ich will deinen Pass“, meinte der Graublauhaarige ruhig. Rays Kopf ruckte herum und auch Tala schien überrascht. Igor sah nur verblüfft auf den Zero.

„Was?“, fragte er, als ob er nicht richtig gehört hätte, „Spinnst du, Kleiner! Ohne den komm ich nicht über die Grenze nach China! Das kannst aber abhaken!“

Doch Kai zuckte nicht einmal mit der Wimper.

„Genau deswegen will ich den Pass. Ich hab keinen Bock, morgen da in dem Dorf zu warten, nur um irgendwann festzustellen, dass du beschlossen hast, deine kleine Spritztour ohne uns fortzusetzen. Dein Gedächtnis mag nicht das jüngste sein, aber an deinen Pass wirst du dich schon erinnern, oder?“ Jetzt grinste Kai gefährlich.

Ray nahm ein leichtes Prickeln auf seiner Haut wahr. Der Russe setzte minimal seine Fähigkeiten auf Esperstufe ein, um dem Blonden noch etwas Angst zu machen.

Hastig nickte Igor und zog leicht zitternd seinen Pass aus seiner Brieftasche hervor.

„Da hast du ihn!“, stieß er atemlos hervor. „Und jetzt hör auf damit!“

Anscheinend wirkte Kais kleiner Trick auf normale Menschen stärker, als auf Zeros. Sofort ließ das Kribbeln nach und Igor atmete erleichtert auf.

„Ach, und noch was“, meinte Kai da noch nebenbei, als er den Pass ordentlich bei sich verstaute, „solltest du beschließen, dass du deinen Pass doch nicht brachst, glaub mir, wir finden dich. Wir sind Zeros und du hast keine Ahnung, wozu wir im Stande sind, glaub mir.“

Igor erstarrte und blickte mit schreckensgeweiteten Augen auf Kais Rücken, als dieser sich in Richtung Dorf auf den Weg machte.

Ray konnte den kühlen Russen nur bewundern. Seine Drohung hatte wirklich gesessen. Eigentlich konnten sie zwar nicht viel machen, wenn Igor sich doch aus dem Staub machte, da sie ihre Fähigkeiten dank dieses Suchsatteliten nicht einsetzen konnten, aber das wusste Spencers Vater ja nicht. Ray grinste leicht.

Der Weg zum Dorf dauerte doch etwas länger als angenommen. Es lag jedoch nicht an der Entfernung, sondern daran, dass sie nur sehr langsam vorankamen. Es ging fast den gesamten Weg steil bergauf. Rays Kleider waren bereits nach den ersten Minuten schweißdurchtränkt und er sah aus den Augenwinkeln, dass es den Anderen nicht besser ging. Außerdem wurde es immer glatter, immer eisiger, je höher sie kamen. Im Flachland mochte der Frühling bereits Einzug halten, hier herrschte noch tiefster Winter. Der Schnee lag stellenweise fast kniehoch, dabei ragten über ihnen die hohen, völlig in weiß gekleideten, Gipfel erst noch auf.

„Passt auf“, meinte da Igor keuchend. Sein Gesicht war ganz rot vor Kälte und Anstrengung. „Zu dieser Jahreszeit herrscht hier erhöhte Lawinengefahr.“

Alle murmelten verstehend. Aber ehrlich, Ray fragte sich, was sie tun sollten, wenn jetzt eine Lawine kommen würde. Sie hätten dann wohl kaum eine Chance.

Tala schüttelte leicht den Kopf. Er schien den gleichen Gedanken zu haben.

Doch bevor der Chinese noch weiter darüber grübeln konnte, wurde er abgelenkt. Die Gruppe hatte gerade einen großen Felsvorsprung umrundet und direkt dahinter schlug ihnen das Geräusch von Leben entgegen. Leises Stimmengewirr, Schafe, Kühe, Esel und das Lachen von Kindern konnten sie hören. Neugierig fuhr Ray mit den Augen die Ansammlung von kleinen und recht leichten Hütten ab.

Er wusste nicht warum, aber er fühlte sich sofort wohl. Dieses Dorf, es fühlte sich fast /heimisch/ an.

Sofort schlug sein Herz schneller vor Aufregung. Das einzige Heim, das der Schwarzhaarige bisher gekannt hatte, war Moskau gewesen. Aber sein Gefühl war eindeutig! War das etwa ein Hinweis auf seine Vergangenheit?

„Ray, alles okay?“

Aus seinen Gedanken aufgeschreckt starrte der Chinese Tala an, welcher ein paar Meter weiter auf ihn wartete und ihn fragend ansah. Kai und Igor schienen bereits ins Dorf gegangen zu sein. Kurz schüttelte Ray seinen Kopf, um ihn freizubekommen und strahlte Tala glücklich an.

„Alles Bestens!“
 

„Ah, hier können sie schlafen.“

Die drei Zeros und Igor sahen sich in dem Stall um. Es war relativ warm hier, dank der Tiere und dem Anschluss an das Wohnhaus. Stroh bedeckte einen Großteil des Bodens und auch der Wind pfiff nur schwach durch die Ritzen der Wände. Das komplette Haus wurde aus Lehm, Holz und Stroh errichtet und sah aus, als würde es sofort umfallen, doch ihre Gastgeberin hatte ihnen versichert, dass das Häuschen bereits seit über fünfzig Jahren stehen würde und auch weitere fünfzig Jahre überstehen würde. Ray hoffte es auch.

„Mmh…ein bisschen klein, oder?“, fragte Tala vorsichtig. Und der Rotschopf hatte Recht. Für zwei von ihnen würde es vielleicht reichen, aber selbst zu dritt müssten sie sich schon ganz schön mit den Tieren drängeln.

Doch die ältere Frau lächelte nur nachsichtig und sagte noch etwas. Talas Mine hellte sich daraufhin deutlich auf, auch Kai schien zufrieden.

„Am Besten, ihr Beide“, meinte Tala und nickte zu Kai und Ray. Der Chinese stand wie ein Fragezeichen daneben. Da die Bewohner des Dorfes alle einen sehr starken Dialekt sprachen, verstand er nur schwer etwas.

„Du und ich schlafen in einem anderen Stall“, meinte Kai, der Rays Misere erkannt hatte.

„Oh!“

Plötzlich wurde die Tür des Stalls aufgestoßen und ein kleines Mädchen rannte herein.

„Svetlana!“, rief die Frau tadelnd. Doch das Kind lächelte nur kurz entschuldigend und starrte dann mit großen Augen die Fremden an. Vermutlich kamen nicht oft andere Menschen in dieses abgelegene Dorf. Sie waren jetzt so etwas wie eine Attraktion, mutmaßte Ray.

Wieder sagte die Frau etwas, diesmal aber eindeutig zu dem Kind. Das hörte erst sehr ernst zu, lächelte dann und nickte aufgeregt. Dann griff es, ohne zu zögern, Rays Hand und zog ihn mit sich. Überrascht ließ dieser es mit sich geschehen.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Kai noch einmal mit Igor und Tala redete, dann folgte der Graublauhaarige ihnen.

„Sie zeigt uns, wo wir schlafen werden“, übersetzte er das unverständliche Geplauder des Mädchens für Ray.

„Hier!“, rief Svetlana fröhlich und deutete auf einen anderen Stall. Er war dem anderen sehr ähnlich. Äußerlich und innerlich.

Das Stroh war überraschend weich und noch immer in seine Jacke gehüllt ließ der Langhaarige sich darauf nieder. Kai folgte ihm schnell.

„Endlich etwas Ruhe“, murmelte er leise.

Ray kicherte leise.

Es stimmte. Ruhe herrsche hier wirklich. Die Tiere schienen schon zu schlafen, nur das Rascheln von Stroh verriet ab und an, dass sie sich bewegten. Ansonsten war das gesamte Dorf in Stille gehüllt. Der helle Mond schien durch ein paar Ritzen der Tür, dadurch wurde die Finsternis nicht erdrückend. Das fehlende Geräusch von fahrenden Autos und anderem Großstadtlärm war etwas unheimlich. Ungewohnt.

Doch Ray gefiel es.

„Was hast du mit den Anderen besprochen?“, fragte er Kai. Dieser schwieg einen Moment, dachte sicher darüber nach, was Ray meinte. Doch zur genauen Erläuterung war der Chinese im Moment einfach zu faul.

„Ach, bei Tala und Igor? Nur, dass ich Igor morgen früh begleite und die Reparatur des LKWs aus sicherer Entfernung beobachte. Zur Sicherheit. Tala weckt mich morgen früh, wenn Igor aufbricht.“

Leise lachte Ray.

„Spencers Vater war sicher nicht sehr begeistert.“

„Nein. Er bereut sicher schon, uns überhaupt mitgenommen zu haben. Spätestens jetzt dürfte ihm klar sein, dass er uns nicht so schnell wieder los wird.“

„Mmh. Er könnte mir glatt Leid tun… Ich bin nur froh, dass wir heil aus Moskau herausgekommen sind.“

Kai neben ihm nickte.

„Danke…“, rang sich Ray schließlich dazu durch seine Gedanken endlich auszusprechen.

„Wofür?“

„Dafür, dass ihr mir geholfen habt mit meinen Kräften umzugehen. Überhaupt, dass ihr mich bei euch in der Bande aufgenommen habt. Und, dass ihr mich jetzt mitgenommen habt. Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne euch tun würde. Gott, wahrscheinlich hätte Biovolt mich schon längst geschnappt, weil ich mich unwissendlich als Zero geoutet hätte. Wenn ihr mir nicht alles erklärt hättet; es hätte so viel passieren können… Und ich kann euch nicht mal helfen … ich kann mir ja selbst nicht mal helfen…ich weiß ja nicht mal…“

„Schhhhh…“

Erschrocken hielt Ray in seinem Gestotter inne, als er Kais kühle Finger auf seiner Wange spürte. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er angefangen hatte zu weinen.

„Ist es das, was dich während der Fahrt so beschäftigt hat? Dann lass dir sagen, du bist ein Idiot. Du hilfst uns, du unterstützt uns, auch ohne zu wissen, wer du bist. Du solltest dein Leben nicht so von deinem Gedächtnisverlust überschatten lassen. Du bist Ray. Ray Kon. Und du bist unser Freund. Das ist das Wichtigste.“

Leicht nickte Ray. Er fühlte sich auf einmal so unglaublich dumm. Aber die Zweifel, die Zweifel an ihm selbst, an dem, was er war, sie ließen ihn nicht los.

„Du hast gemerkt, dass ich über etwas nachgedacht hab?“, versuchte er, das Thema zu wechseln.

Neben ihm raschelte es. Kai hatte sich aufgesetzt. Ray sah es an der schwarzen Silhouette, die unheimlich nah wirkte.

„Es war offensichtlich. Du hast kaum geredet und die ganze Zeit gegrübelt. Ich dachte nur, es hätte etwas mit unserem Gespräch zu tun…“

Ray runzelte die Stirn.

„Mit unserem Gespräch…?“

„Na ja, nicht viele nehmen es positiv auf, wenn ich ihnen erzähle, dass ich mit sechzehn meinen besten Freund umgebracht habe. Ich dachte, du würdest jetzt lieber etwas Abstand halten wollen. Tala dachte wohl ähnlich…“

„Deshalb hat er uns zusammen hier in die Scheune geschickt. Dabei wäre es sinnvoller gewesen, wenn du und Igor zusammen übernachtet hättet, da ihr morgen zusammen los müsst!“

Kai nickte. Jetzt setzte sich auch Ray auf.

„Du Idiot! Dachtest du, ich würde deswegen nichts mehr mit dir zu tun haben wollen? Oder würde Angst vor dir haben?!“ Ray beugte sich zu Kai vor, dessen rote Augen fixierend, „Dieser Brooklin hatte es nicht anders verdient! Und du bist mein Freund! Ich vertraue dir!“

Und als er diesen Satz sagte, wurde Ray auf einmal klar, wie nah er und Kai sich gerade waren.
 

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Kapitel 15

15. Kapitel

Nachdenklich starrte Ray an die Decke des Stalls, während er im Stroh lag. Sein Atem ging ruhig und er bewegte sich nicht - er blinzelte nicht einmal – und nur das Heben und Senken seiner Brust verriet, dass er noch lebte.

Im Gegensatz dazu, rasten seine Gedanken.

Es war alles so schnell gegangen. Schneller und unerwarteter, als er es je geahnt hätte, sich je vorgestellt hätte, je zu hoffen gewagt hätte!

In einem Moment hatten sie sich nur angestarrt – er und Kai – tief in die Augen des jeweils Anderen, im nächsten Moment hatten sie sich geküsst.

Nicht fordernd, nicht leidenschaftlich, wie man vielleicht denken würde. Nein, die Berührung war eher vorsichtig gewesen, geradeso als hätten sie Angst vor dem, was sie taten. Was in gewisser Weise wahrscheinlich auch stimmte.

Für Ray selbst war es so gesehen sein erster Versuch eines Kusses. Außerdem waren sie Freunde, gute Freunde. Freunde sollten sich nicht küssen. Und was, wenn man den Anderen missverstand?

Nur langsam hatten sie ihre Zweifel vergessen, ihre Ängste und Sorgen verdrängen können, nur langsam hatte Kai den Kuss intensiviert, geradezu als fürchte er, Ray würde weglaufen. Oder daran zerbrechen.

Aber Ray war nicht zerbrochen. Im Gegenteil. Er war regelrecht geschmolzen.

Diese Sanftheit der Berührung, diese Intimität – dabei war es nur ein harmloser Kuss, rief Ray sich in Erinnerung -, diese Nähe, all das hatte seine Sinne verrückt spielen lassen, sein Körper hatte sich erhitzt, seine Beine waren weich geworden. Er hatte nicht anders gekonnt, als den Kuss vorsichtig zu erwidern, sich darauf einzulassen. Es war ein wunderbares Gefühl gewesen.

Doch als sie sich getrennt hatten, als Kai sich sanft aber bestimmt wieder von Ray gelöst hatte, konnte der Chinese nicht anders, als beschämt und mit geröteten Wangen zu Boden zu sehen. Erst da war ihm bewusst geworden, was sie gerade getan hatten – und es kam ihm falsch vor.

„Ray…?“

Der Schwarzhaarige hatte die Unsicherheit in Kais Stimme hören können. Es tat ihm fast körperlich weh. Doch er konnte sich nicht dazu bringen, den Anderen anzusehen.

Er hörte, wie Kai leise von ihm wegrutschte. Das Rascheln des Strohs klang unnatürlich laut in seinen Ohren. Etwas in seinem Inneren schrie ‚NEIN! ‘, aber er unterdrückte das Gefühl.

„Es tut mir Leid…“, hörte er Kai, „Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich werde die Nacht wo anders schlafen, ich denke, das wäre besser.“

Ray war noch immer mit seinem inneren Gefühlschaos beschäftigt. Er hatte gerade einen Jungen geküsst…. Und es hatte ihm /gefallen/! Was hatte das zu bedeuten? Er war doch nicht schwul?

Woher willst du das wissen?

Leicht zuckte Ray zusammen.

Drigger war in letzter Zeit erstaunlich ruhig gewesen, warum meldete er sich gerade jetzt zu Wort? Und warum stellte er Rays Überzeugung, hetero zu sein, in Frage? Wobei Ray sich selbst fragte, woher er diese Überzeugung nahm. Bei allem Respekt, er wusste nicht mal seinen eigenen Namen, sondern musste ihn von einem Anderen gesagt bekommen. Sollte er ausgerechnet seine sexuelle Ausrichtung trotz seines Gedächtnisverlustes noch wissen? Das war doch absurd!

Und in den letzten Monaten, seit er in Moskau war, war so viel passiert. Viel Schönes, viel Unschönes. Aber alles hatte ihn voll eingenommen, seine gesamte Konzentration gebraucht. Über Liebe und eventuelle Freundinnen (oder Freunde?) hatte er nie nachgedacht. Es war ihm nie in den Sinn gekommen. Er hatte die Demolitionboys, mehr brauchte er nicht.

Ein leises Knarren holte ihn aus seinen Gedanken. Erschrocken blickte er auf, dachte, es kommt jemand.

Doch niemand kam.

Jemand ging.

Kai ging.

Erst jetzt sickerte die Bedeutung von Kais Worten in Rays Gehirn. Erschrocken sprang er auf.

Er wusste zwar noch nicht, wo er seine Gefühle für Kai einordnen sollte, aber er wusste, Kai sollte bei ihm bleiben.

Erschrockene rote Augen starrten ihn an, kurz flackerte etwas in ihnen auf, das der Langhaarige nicht direkt zuordnen konnte, bevor eine eisige Schicht das Rot zu überziehen schien. Jedes Gefühl aus den Seelenspiegeln verbannte. Wieder fühlte Ray einen Stich in seinem Herzen, denn er wusste, er war schuld daran.

„Bitte geh nicht...“, hatte er leise geflüstert.

So im Nachhinein musste der Chinese zugeben, dass es erstaunlich war, dass der Andere ihn überhaupt gehört hatte. Ray hatte kaum geflüstert.

Doch Kai hatte ihn gehört.

Und er war stehen geblieben, obwohl er deutlich verkrampft war. Seine Augen waren fragend.

Wieder wandte Ray den Kopf ab, doch dieses Mal schwieg er nicht. Er ließ auch Kais Arm nicht los, in der Angst, der Graublauhaarige würde verschwinden, sollte er dies tun.

„Ich wollte dich nicht verletzen… Nur… du hast mich verwirrt. Das kam… unerwartet…“, hatte Ray leise gestottert. Kai hatte sich nicht gerührt, keinerlei Reaktion gezeigt. Das gab Ray das Gefühl, seine Worte waren nicht ausreichend genug. Krampfhaft suchte er nach weiteren.

„Ich… hab nie über so etwas nachgedacht… bitte, bleib hier, ja? Ich… ich mein, es stört mich nicht, was du getan hast. Also, das wir uns... geküsst… haben. Es war sogar ganz schön…“ gestand er schließlich leise.

Als Ray klar wurde, was er soeben gesagt hatte, schoss sein Kopf hoch, rot vor Scham. Er sah gerade noch, wie Kai zweifelnd eine Augenbraue hob.

Der Russe legte den Kopf leicht schief, schließlich seufzte er leise.

„Schon gut…“, murmelte er leise und fuhr mit seiner Hand durch Rays schwarze Haare. Dann setzten sie sich wieder in das Stroh. Leicht fröstelte Ray. Trotz der Kleidung und der Tiere war es noch immer kalt im Stall. Plötzlich fühlte er, wie sich ein Arm um ihn wand. Erstaunt blickte er sich um, nur um erneut in Kais blutrote Augen zu sehen.

„Was…?“, fragte er verwirrt. Doch Kai schwieg auf seine Frage. Stattdessen drückte er Ray näher an sich heran, in seine Arme, an seine Brust, und vergrub sein Gesicht in dessen Halsbeuge.

Sofort verspannte Ray sich. Nicht aufgrund der plötzlichen Nähe, nein, viel eher wegen der plötzlichen Hitze, die in ihm aufstieg.

„Es hat dir also gefallen?“, hörte er da Kais raue Stimme hinter sich.

Und schon wieder spürte er diese angenehme, aber irgendwie auch peinliche, Hitze in ihm aufsteigen. Sein Gesicht glühte vermutlich wie ein eine 100 Watt-Glühbirne.

Er nickte.

Hinter ihm entspannte sich Kai deutlich. Und senkte seine Lippen erneut auf Rays Nacken, nur, um ihn dieses Mal zu berühren. Sanft fuhr die Zunge des Grauhaarigen über die entblößte Haut. Lauter kleine aber heftige Schauer jagten Rays Wirbelsäule hinunter, brachten ihn zum Erzittern. Er seufzte wohlig.

„Verführst du mich gerade?“, fragte er leicht neckisch. Er konnte Kais Grinsen förmlich spüren.

„Vielleicht…“, antwortete der Russe wage. „Würdest du dich denn verführen lassen?“

Kurz überlegte Ray.

„Vielleicht…“, entgegnete er dann genauso kryptisch.

Leise lachte Kai. Dann ließ er jedoch unerwartet von dem Chinesen ab, fast hätte jener enttäuscht geseufzt. Hinter ihm erhob sich der Graublauhaarige und ging um den Chinesen herum, nur, um sich vor ihm niederzuknien. Seine blutroten Augen starrten direkt in Rays goldene Opale. Plötzlich grinste er listig.

„Dann sollten wir es vielleicht ausprobieren.“

Und damit zog Kai Ray erneut zu sich und in einen tiefen Kuss.

Und dieses Mal ließ Ray sich fallen, dieses Mal hatte er keine Zweifel oder Angst. Dieses Mal genoss er es einfach.

Und dann lagen sie im Stroh, Kai über Ray. Schwer atmend und erhitzt hatten sie sich angesehen, Ray, die Frage in Kais Augen erkennend, war nur zu einem leichten Nicken fähig gewesen.

Vergessen war die draußen herrschende Eiseskälte, vergessen die Tiere, die mit ihnen im Stall standen und sich vermutlich über das merkwürdige Verhalten der Menschen wunderten und vergessen die dünnen Holzwände, die sie umgaben und kaum Lärmschutz nach außen boten. In diesem Moment hatten nur sie Beide gezählt, so kitschig es auch klingen mochte.

Während sie sich wieder aufsetzten hatte Kai vorsichtig Rays Jacke geöffnet. Der Schwarzhaarige hatte sich dann selbst den dicken Pullover über den Kopf gezogen und ihn achtlos beiseite geworfen. Ihm war heiß und er brauchte Abkühlung, schnell. Der Russe war seinem Beispiel gefolgt und nur wenige Sekunden später waren beide Teenager nur noch mit ihren Hosen bekleidet.

Neugierig inspizierte Ray Kais nackten Oberkörper, nahm jedes noch so winzige Detail auf. Sicher, er hatte den anderen schon oben ohne gesehen, doch damals … damals war halt damals. Jetzt betrachtete er den Graublauhaarigen in einem völlig anderen Licht, in einem Licht, über das er nie zuvor nachgedacht hatte.

„Und, gefällt dir was du siehst?“, fragte Kai rau. Ray nickte. Ja, im gefiel, was er sah. Die Muskeln zeichneten sich deutlich ab und die recht blasse Haut war fast makellos.

„Nun, mir gefällt auch, was ich sehe.“ Kai grinste.

Langsam hob er die Hand und berührte Rays Brust. Der Schwarzhaarige zitterte leicht, als die kühlen Finger auf seine heiße Haut trafen. Langsam fuhr Kai die Konturen ab, bis er plötzlich Druck auf Rays Brust ausübte, sodass dieser nach hinten ins Stroh fiel. Keine Sekunde später war Kai über ihm. Wieder küsste er Ray, doch schnell löste er sich wieder. Schon wollte der Schwarzhaarige protestieren, als er erneut Kais Lippen spürte, nur dieses Mal nicht auf den seinen, sondern auf seiner nackten Brust. Er stöhnte leicht.

„Kai…“, flüsterte er rau und leicht hilflos. Er wusste nicht, was er machen sollte. Er hatte keine Erfahrungen mit so etwas. Solche Berührungen waren ihm fremd.

Kai stoppte bei seiner Brustwarze, saugte dran, fuhr mit der Zunge darüber, und heftige Erregung wallte in Ray auf. Was machte sein Freund da mit ihm.

Er selbst fuhr haltsuchend mit seinen Händen über Kais Rücken, kratzte leicht an der Haut und krallte sich schlussendlich einfach fest. Kai beschwerte sich nicht.

Plötzlich spürte Ray flinke Finger an dem Verschluss seiner Hose. Und da wurde ihm bewusst, was sie eigentlich taten. Er spürte seine eigene Erregung, wie sie unangenehm drückte, er glaubte, auch Kais Erregung zu spüren, aber…

Da zog er Kai wieder hoch zu sich.

„Warte!“, sagte er zwar nach Luft schnappend aber bestimmt. Sofort erstarrte Kai. Unsicher sah er hoch.

„Was? Hab ich etwas falsch gemacht?“, fragte er besorgt.

Fast hätte Ray gelacht. Kai war hier der Erfahrene von ihnen und ausgerechnet er machte sich Sorgen, etwas falsch gemacht zu haben? Im Gegenteil, er machte seine Sache zu gut, das war das Problem.

„Nein“, antwortete Ray jedoch nur. „Aber… ich bin noch nicht …. also ich will noch nicht …“ Er wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte, doch der Russe schien ihn auch so zu verstehen.

Er lächelte leicht und ließ von Rays Hose ab.

„Schon gut, du hast wahrscheinlich Recht. Wir sollten nichts überstürzen.“

Und dieses Mal war es Ray, der den Kuss initiierte.

Danach hatten sie lediglich noch etwas gekuschelt, nicht geredet, einfach nur nebeneinander gelegen und die Nähe zu dem jeweils Anderen genossen.

Es war schön gewesen.

Kai schlief inzwischen, aber Ray fand keine Ruhe. Zu viel schwirrte in seinem Kopf rum, als dass er sich in Morpheus Arme begeben könnte. Der ruhige und gleichmäßige Atem neben ihm beruhigte den Chinesen, nachdenklich betrachtete er Kai. Vorsichtig strich er eine Strähne aus dessen Gesicht und fuhr sanft Kais Wange hinab. Was würde nur aus ihnen werden? Aus ihrer Zukunft? Hatten sie eigentlich eine Chance, zu dritt gegen die ganze Welt? Und wenn er und Kai jetzt auch noch eine Beziehung starteten, würde das nicht eventuell Probleme in ihrer Gruppe heraufbeschwören, würde Tala sich ausgeschlossen vorkommen? War es klug was sie hier begonnen hatten?

Ray wusste es nicht, aber ihm war klar, dass er die Antwort heute Nacht auch nicht mehr finden würde.

Und ehe es ihm bewusst war driftete er in einen erholsamen Schlaf.
 

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Kapitel 16

16. Kapitel

„Aufwachen, Schlafmütze!“

Müde blinzelte Ray in das Sonnenlicht. Und gähnte.

„Tala? Was soll das, lass mich in Ruhe, ja?“, meinte er schläfrig.

„Nix da, es sei denn, du bist damit einverstanden, dass die Kühe deine Haare als dunkles Heu ansehen und fressen. Dann kannst du natürlich gerne weiterschlafen.“

„Waaaas?!“ Mit einem Ruck war Ray auf den Beinen und starrte mit schreckgeweiteten Augen dahin, wo sich gestern Nacht noch zwei Kühe befunden hatten. Doch die waren weg.

Hinter ihm krümmte sich dagegen ein gewisser Rothaariger vor Lachen.

„Tala!“, fauchte Ray, jetzt sichtlich gereizt. Doch das beeindruckte den Russen wenig.

„Was denn“, fragte er breit grinsend, „du musst zugeben, deine Reaktion war köstlich. Und so schnell bist du garantiert auch noch nie in deinem Leben aufgestanden.“

„Pass auf Ivanov“, funkelte der Chinese ihn an, „denn sonst liegst du schneller schlafen, als je zuvor in deinem Leben.“

Abwehrend hob Tala die Hände.

„Hey hey, nun beruhig dich mal wieder. Es war ein Witz, ja. Und er war lustig… fand ich zumindest. Was kann ich dafür, wenn du meinen grandiosen Humor nicht verstehst.“ Tala ließ es gerade so klingen, als wäre Ray hier der humorlose Idiot, etwas, wofür dieser dem Rothaarigen am liebsten wieder an die Kehle gesprungen wäre. „Und jetzt komm, Kleiner, sonst gibt’s kein Frühstück.“

Ah, Frühstück. Das klang gut. Halbwegs besänftigt folgte der Schwarzhaarige Tala aus der Scheune. Suchend sah er sich um.

„Wo ist Kai?“, fragte er schließlich.

„Kai? Ach, der ist schon vor über einer Stunde mit Igor zusammen los. Echt, du kannst froh sein, mit Kai zusammen geschlafen zu haben. Igor hat so geschnarcht, ich hab kein Auge zugekriegt. Grässlich!“

Ray wusste zwar nicht, ob die Wortwahl des Rothaarigen so beabsichtigt war – dem traute er alles zu – aber bei dem Teil ‚mit Kai zusammen geschlafen’ lief er sofort rot an. Tiefrot.

Und Tala wäre nicht Tala, wenn er das nicht bemerkt hätte.

Diese Erkenntnis schlich sich auch bei Ray ein, als er das dreckige Grinsen des Rothaarigen sah.

„Und, habt ihr denn gut /geschlafen/? Oder seid ihr gar nicht dazu gekommen? Das würde natürlich erklären, warum du bis gerade eben noch völlig erschöpft im stacheligen Heu träumen konntest. Kai kann einen da echt auslaugen, ne?“

„Tala!“, zischte Ray, als er noch um einige Rottöne dunkler wurde.

Und schon wieder lachte Tala.

Wirklich, dachte sich Ray, der Tag hätte nicht besser anfangen können.

„So, da sind wir. Wir hätten Brot, Käse und irgend so einen komischen Haferschleim zur Auswahl. Im Winter sind die Lebensmittel hier oben extrem eingeschränkt, aber der Käse und das Brot sind essbar. Nur das glibberige Zeug, das die hier Haferschleim nennen, davon solltest du die Finger lassen, wenn du dich nicht auch noch deines gestrigen Mageninhaltes entledigen willst. Nur so ein Tipp von meiner Seite.“ Den letzten Teil flüsterte Tala nur, darauf bedacht, dass ihn die Dorfbewohner nicht hörten. Die schienen nämlich total zufrieden über die ‚große Auswahl’ an Essen, die sie ihren seltenen Gästen anbieten konnten.

Ray dagegen hätte Talas freundlichen Hinweis nicht gebraucht, denn diese gelbbräunliche Masse, für die ‚Haferschleim’ noch ein Kompliment zu sein schien, hätte er in zehn Jahren nicht angerührt. Höchstens, wenn er kurz vorm Verhungern wäre. Ansonsten – keine Chance.

Aber das recht harte und grobe Brot und der Käse waren essbar. Ehrlich gesagt, sogar ziemlich lecker.

„Was machen wir heute?“, fragte Ray kauend.

„Svetlana hat vorgeschlagen, uns die Umgebung etwas zu zeigen. Du weißt schon, das Mädchen, dass dir und Kai gestern den Weg in die Scheune gezeigt hat.“

„Was will sie uns hier denn zeigen? So groß ist das Dorf ja nun nicht.“

„Nicht das Dorf, Dummi. Die Umgebung. Damit meine ich das, was sich um das Dorf herum befindet.“

„Schnee?“

„Ja, um den werden wir nicht drum herum kommen, den Fakt bedenkend, dass es gerade erst Anfang des Frühlings ist und wir uns hier auf über 2000 Meter Höhe befinden. Aber ich dachte eigentlich eher an die Berge, Gletscher, die schöne Aussicht. Heut ist vergleichsweise wenig Nebel, das sollten wir nutzen. Wenn wir Glück haben, sehen wir auch ein paar Gämsen oder andere seltene Bergtiere. Sieh es einfach als einen Urlaubsausflug, ja? Was sagst du dazu?“

„Klingt gut… Aber was ist mit Kai?“

Leicht seufzte Tala und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

„Der wird wohl den ganzen Tag weg sein. Es wird eine Weile in Anspruch nehmen, überhaupt erst einmal Hilfe zu holen, dann dauert die Reparatur auch noch ein bisschen. Zwei LKW-Reifen auszutauschen ist sicher kein Kinderspiel. Und bis Igor und Kai fertig und wieder im Dorf sind, werden wir auch schon längst von unserem Ausflug zurück sein. Außerdem…“, kurz zögerte Tala, „Außerdem kam der Vorschlag mit dem Ausflug auch von Kai. Er meinte, etwas Abwechslung würde uns ganz gut tun, immerhin ist die Flucht und der ganze Kram echt belastend.“

Tala musste es nicht aussprechen, Ray wusste auch so, was Kai gemeint hatte. Es ging nicht um Tala und ihn, es ging nur um ihn. Kai hatte Angst, dass Ray diesen ganzen Stress nicht ohne Schaden verkraften würde, besonders, da ihm sein Gedächtnisverlust zu schaffen machte und jetzt die verwirrende Beziehung zu dem Graublauhaarigen ihn auch noch belastete. Kai wollte Ray ablenken, denn er hatte wohl Angst, dass der Schwarzhaarige seine Entscheidung, sich mit ihnen anzufreunden und sie zu begleiten bereuen würde.

Ray schluckte hart und seufzte. Hielt Kai ihn für so schwach?

Ein Blick auf Talas stirnrunzelnden Gesichtsausdruck sagte Ray aber, dass nicht nur er sich das fragte. Zumindest Tala schien ihn auch für nicht so schwach zu halten. Dafür war Ray unverhofft dankbar.

„Okay, machen wir den kleinen Wandertrip in die Berge. Wird sicher lustig“, meinte Ray dann leicht beschwichtigt und grinsend.

Auch wenn ihn der Grund, weshalb dieser Ausflug zustande gekommen war, störte, würde er ihn doch genießen. Es stimmte ja, wer wusste schon, was der nächste Tag brachte? Und es klang auch interessant. Sie würden sicher viel Spaß haben.
 

„Wow!!!“

Ein besseres Wort fiel Ray nicht ein, um zu beschreiben was er sah.

Die hohen Berggipfel waren völlig weiß, wirkten wie von Puderzucker bedeckt. In den Tälern dagegen konnte man bereits das erste, allerdings noch recht spärlich verteilte Grün sehen. Hier und da ragten ein paar graue-braune Felsen unter der dicken Schnee- und Eisschicht hervor, doch sie wirkten in dem ganzen Weiß eher verloren. Der Schnee blendete stark, daher hatten die Dorfbewohner Ray und Tala auch jeweils eine Sonnenbrille geliehen.

„Da!“, rief auf einmal Svetlana Aufmerksamkeit erregend, aber bemüht leise.

Ray schaute in die Richtung, in die das Mädchen zeigte.

Gämsen!

Tatsächlich! Drei von den ziegenähnlichen Tieren mit dem braunen Fell, den dünnen Beinen und den spitzen Hörnern konnte man auf dem gegenüberliegenden Gipfel sehen. Also, nicht auf dem Gipfel, aber an der steilen Wand davor. Wie Artisten sprangen sie auf den schmalen Felsvorsprüngen herum, sich scheinbar dem enormen Abgrund neben ihnen nicht bewusst. Wahre Meister! Ray musste zugeben, es war beeindruckend.

Auch Tala pfiff leise durch die Zähne.

„Lecker“, meinte er jedoch nur.

Ray warf dem Rothaarigen darauf hin einen ungläubigen Blick zu. Wie konnte er bei dem Anblick dieser schönen Tiere nur ans Essen denken? Doch dann sah er Talas leicht leuchtende Augen und ihm wurde bewusst, dass da wohl weniger sein rothaariger Freund, als viel mehr dessen BitBeast Wolborg, aus ihm gesprochen hatte. Ja ja, der weiße Wolf war wirklich ein Jäger.

Aber wenn Ray so darüber nachdachte… Tala musste es hier richtig gut gefallen. Immerhin befanden sie sich mitten im Schnee, ringsherum nur das kalte Weiß. Und Talas BitBeast war immerhin ein Polarwolf, sein Element das Eis. Oh ja, Tala musste es hier wirklich gefallen.

Trotzdem, die schönen Gämsen konnte er doch nicht ernsthaft essen wollen, oder? Drigger schien ja auch kein Bedürfnis dazu zu haben!

An denen ist mir zu wenig Fleisch dran. Außerdem bin ich kein Felsenkletterer, ich jage lieber im Wald, im Dschungel oder in der Wüste, nicht in den Bergen.

Oooookay…. So viel dazu… Hieß das, Ray musste jetzt Angst haben, andere Tiere im Wald anzufallen?

Tala und sein BitBeast sind sich geistig wesentlich näher als wir.

Sie verstehen sich besser? Ray konnte einen kleinen Stich Eifersucht bei dem Gedanken nicht unterdrücken.

Nein, das meinte ich nicht. Tala ist Wolborg einfach näher, das heißt, er hat viele Instinkte seines BitBeasts übernommen. In manchen Situationen ist das äußerst praktisch, besonders, da Wolborg ein Jagdtier ist.

Hat das etwas damit zu tun, dass Wolborg eher weiniger mit Tala redet, so wie du mit mir, und ihn eher anknurrt? Der Chinese erinnerte sich dunkel, dass sein Freund ihm mal etwas Derartiges erzählt hatte.

Nun, ich weiß es nicht sicher, aber ich denke, Tala kommuniziert mit Wolborg eher über Gefühle, Emotionen, nonverbale tierisch wirkende Laute und Instinkte. Obwohl das nur eine Vermutung ist. Da wir nicht die gleiche Art der Kommunikation nutzen, kann ich dir nichts mit Sicherheit sagen.

Zeros und ihre BitBeasts schienen eine recht komplizierte Angelegenheit zu sein, dachte sich Ray. Da man scheinbar seit ihrem Auftauchen versucht hat, sie umzubringen und auszulöschen, hat nie jemand versucht, die komplexe Beziehung zwischen einem Zero und seinem Partner zu erforschen. Viel lag hier noch im Dunklen.

Was wussten sie schon über ihre Existenz, über die Ursache ihrer Fähigkeiten, darüber, wie sie entstanden waren? Nach allem, was Ray bisher erfahren hatte, waren sowohl Esper als auch Zeros ganz plötzlich aufgetaucht. Wie aus dem Nichts. Aber wenn Ray etwas mit Sicherheit sagen konnte, dann, dass nichts aus dem Nichts auftauchte. Wo also kamen sie her? Wo hatten sie ihren Ursprung?

Eine plötzliche Ladung Schnee holte Ray aus seinen Grübeleien. Erschrocken wischte er den Schnee von seinem Gesicht und starrte blinzelnd zu dem Übeltäter.

Tala dagegen schien sich köstlich zu amüsieren und formte fleißig noch einen weiteren Schneeball. Nun, dass konnte der Langhaarige natürlich nicht auf sich sitzen lassen, also griff er ebenfalls eilig etwas Schnee und formte eine runde Kugel. Gleichzeitig beobachtete er Tala, welcher, bereits fertig mit seinem Schneeball, in drohender Haltung etwa zehn Meter vor ihm stand und dann plötzlich warf.

Ray wich problemlos aus.

Und wurde von einem zweiten Ball unerwartet im Nacken getroffen.

„Hey!”, wütend drehte er sich um, nur um eine lachende Svetlana vorzufinden.

Und dann startete eine Schneeballschlacht gigantischen Ausmaßes. Die drei Leute, jeder gleichzeitig an zwei Fronten kämpfend und Unmassen an Schnee um sich herum, sodass niemandem die Munition ausgehen konnte, waren letztendlich aus purer Erschöpfung gezwungen, einen Waffenstillstand zu schließen.

Lachend fiel Tala neben dem erschöpften Ray in den Schnee. Der Rothaarige setzte sich neben den am Boden liegenden, schwer atmenden Chinesen. Kleine Dampfwölkchen begleiteten jeden Atemzug, Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Die honigfarbenen Opale strahlten vor Lebensfreude.

Svetlana sagte kurz etwas zu Tala, bevor sie hinter einem Hügel verschwand.

„Was meinte sie?“, wollte Ray wissen, welcher mit dem starken Dialekt nicht klar kam.

„Sie geht schon mal ins Dorf zurück, den Weg dorthin finden wir auch alleine. Es ist ja nicht weit.“

Ray nickte und schloss träumerisch die Augen.

„Er vertraut dir“, bemerkte da unerwartet Tala.

Rays Augen schnappten auf. Fragend starrte er zu Tala hoch. Der ernste Blick des Rothaarigen ließ ihn etwas nervös werden. Selten sah Tala so ernst drein.

„Kai“, fuhr Tala fort, als er erkannte, dass Ray ihn nicht ganz verstanden hatte, „er vertraut dir. Er hat dir von seiner Vergangenheit erzählt, von Brooklin und von Bryan. Ich war bis jetzt der Einzige, der die ganze Geschichte kannte.“

Ray wusste nicht, was er drauf antworten sollte, daher schwieg er.

„Ich freu mich, dass Kai dir vertraut, er braucht das. Ich freu mich auch, dass du Kai nicht abgewiesen hast. Aber verletz ihn nicht, das würden weder er noch ich ertragen können.“

Zumindest einer Sache war sich Ray jetzt sicher: Tala wusste von Kais Gefühlen und Avancen ihm gegenüber.

Wie er jetzt darüber denken sollte, da war sich der Chinese jedoch weniger sicher.

„Du?“, fragte er nach, nicht sicher, was er eigentlich wissen wollte.

„Wenn du Kais Vertrauen verletzen würdest und ihm wehtun würdest, würde das auch mich verletzen, Ray. So ist es, denn dann müsste ich dich verletzten, da ich nicht zulassen werde, dass du Kai schadest. Und ich wäre nur ungerne dein Feind, denn ich mag dich, Ray.“

Und damit beugte sich der Russe hinunter und küsste Ray sanft aber bestimmt auf die Lippen.

Rays Kopf war wie leergefegt.

Ein plötzliches Grollen riss Beide aus ihrer Position. Sofort sprang Tala auf und sah sich um. Doch er konnte die Ursache des unheimlichen Geräusches nicht finden. Nach einigen Sekunden war es wieder verstummt.

„Es klang, als käme es von da oben“, meinte Ray und deutete den Berg hinauf. Innerlich war er dankbar für die Ablenkung.

Dann hörten sie die panischen Schreie aus dem Dorf.

Ein kurzer Blickwechsel reichte und ohne ein weiteres Wort stürmten Tala und Ray den Berg ein Stück hinab, bis sie die Ansammlung an Häusern erreicht hatten. Dort rannten die Bewohner eilig hin und her, schienen Dinge zusammenzusuchen und trieben ihre Tiere aus den Ställen.

Schwer atmend und sichtlich verwirrt kamen Ray und Tala unten an. Letzterer schnappte sich eine Frau, die gerade ihr Kind geholt hatte, und fragte, was los sei. Die Frau redete schnell und noch undeutlicher, doch Ray konnte die Angst in ihrer Stimme deutlich wahrnehmen.

Dann riss sich die Frau aus Talas Griff los und rannte weiter. Der Rothaarige war unnatürlich blass geworden.

„Eine Lawine“, sagte er leise.

„Was?“ Ray war sicher, sich verhört zu haben.

Doch Tala schüttelte den Kopf und starrte Ray aus aufgerissenen Augen an.

„Eine gottverdammte Lawine! Und wenn ich das richtig verstanden habe, wird sie genau das Dorf erwischen!“

Jetzt wich auch Ray die Farbe aus dem Gesicht.

„Was tun wir jetzt?“, fragte er etwas hilflos. „Und was machen die Dorfbewohner?“

„Das siehst du doch!“, zischte Tala, man konnte sehen, dass auch er gestresst und überfordert war von der plötzlichen Wendung der Ereignisse. „Sie versuchen zu fliehen. Anscheinend ist so etwas noch nie vorgekommen und sie haben keinerlei Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist zu rennen!“

Fassungslos warf Ray einen Blick auf die Leute. Kurz sah er Svetlana, das kleine nette Mädchen, das von seiner Großmutter den Berg hinunter gescheucht wurde. Sie kamen nicht sehr schnell voran. Zwei Sekunden später waren sie hinter einem Haus verschwunden.

In diesem Moment schien der Boden erneut zu beben und über ihnen grollte es heftig. Die Intensität der Schreie nahm für einen kurzen Augenblick zu, dann wurde es auf einmal totenstill. Alle starrten den Berg hinauf, der Horror war jedem Einzelnen deutlich ins Gesicht geschrieben.

Ray wagte es kaum, sich umzudrehen, er wollte nicht sehen, was den Menschen solche Angst machte, doch er wollte seinem Tod schon ins Auge sehen.

Als sein Blick wieder den Berg hinauf glitt sah er sie. Die Schneemassen, die mit lautem Getöse auf sie zu rollten. Unhaltbare Mengen an Schnee, die das Dorf bald unter sich begraben würden. Würde dieses Dorf ihr Grab werden?

„Das schaffen wir nie“, flüsterte Ray. Es brachte nichts, sie mussten der Realität ins Auge sehen.

Talas Blick war grimmig. Sein ganzer Körper war angespannt. Er streifte sich beide Handschuhe ab und ballte die Hände zu Fäusten, so stark, dass man die Knöchel weiß hervortreten sehen konnte.

„Nein, zum Weglaufen ist es zu spät. Und wenn man nicht fliehen kann, dann muss man kämpfen!“

Leicht zuckte Ray bei Talas scharfem Ton zusammen. Der Rothaarige klang überzeugt und selbstsicher, doch nach so langer Zeit mit ihm zusammen, konnte der Chinese den verzweifelten Unterton heraushören.

Tief atmete der Langhaarige durch, entledigte sich ebenfalls seiner Handschuhe und versuchte, sich zu konzentrieren.

„Du hast Recht“, stimmte er schließlich zu.

Wenn sie versuchen würden zu fliehen, würden sie sterben, zusammen mit den netten Einheimischen, die sie so gastfreundlich aufgenommen hatten. Sie hatten also nur eine einzige Chance zu überleben, und selbst wenn sie nicht überleben sollten, so würden sie vielleicht wenigstens einige der Bewohner retten können. Sie hatten nichts zu verlieren.

Erleichtert atmete Tala auf. Scheinbar hatte der Russe Angst gehabt, Ray würde ihn nicht unterstützen, doch seine Sorge war unbegründet.

Noch einmal atmete Ray tief durch, schloss die Augen und versuchte nicht an die Gefahr zu denken, die sie innerhalb der nächsten dreißig Sekunden erreichen würde. Er hob beide Hände und sammelte all seine Kräfte.

Bereit Drigger?

Immer.

Gut, dann lass uns anfangen.

Tala hatte eine ähnliche Position eingenommen, auch seine Augen waren geschlossen. Allerdings konzentrierte sich der Rothaarige nicht wie Ray auf den steinigen Boden zu ihren Füßen, sondern direkt auf die Schneemassen, die sich mit wachsender Geschwindigkeit näherten.

Da beide die Augen geschlossen hatten, sahen sie weder, dass sie von einem hellen Licht umschlossen waren, fast selbst zu leuchten schienen, noch sahen sie den mächtigen weißen Tiger und den geschmeidigen kräftigen Polarwolf, die sich, am oberen Ende des Dorfes, direkt vor ihnen, materialisierten.

Dann hob Ray in einem Ruck beide Hände, der Tiger fauchte laut und machte einen großen Satz. An der Stelle, an der er sich vor wenigen Sekunden noch befunden hatte, ragte nun eine Mauer aus Felsen empor, scheinbar aus dem Berg selbst entwachsen. Wie ein Schutzschild umrahmte sie die zum Berg hin gewandte Hälfte des Dorfes.

Doch Ray wusste, dass diese steinerne Mauer alleine nicht gegen die Wucht der Lawine ankommen würde.

Er konzentrierte sich darauf, weitere Mauern zu errichten, doch die erste und größte hatte ihn sehr viel seiner Kraft gekostet.

Tala dagegen wandte seine Kraft direkt gegen die Lawine selbst. Er mochte Eis und Schnee beherrschen, doch eine ganze Lawine ging auch über seine Macht hinaus. Er konnte sie nur verlangsamen, dem Schnee so seine Wucht nehmen, um den Aufprall so schwach wie möglich zu gestalten. Gleichzeitig zweigte er ständig kleine Teile der Lawine ab und lenkte sie in andere Richtungen, um das Dorf herum.

Und dann kam der Aufprall.

Da die Mauer direkt mit dem Berg verbunden war, bebte der Untergrund und hätte Ray fast von den Füßen geworfen.

Einige große Schneebrocken flogen über die Mauer, aus welcher gleichzeitig größere Stücke heraus brachen und in das Dorf fielen, Häuser beschädigten und Menschen und Tiere gefährdeten.

„Wolborg!“

„Drigger!“

Beide BitBeasts tauchten sofort vor ihren Partnern auf und Tala und Ray gelang es gemeinsam, ein telekinetisches Schild aufzubauen, gleich einer Halbkugel um das Dorf. Drigger und Wolborg schützen dabei die zwei Zeros persönlich.

Und dann war alles vorbei.

So plötzlich, wie die Lawine gekommen war, so plötzlich war sie auch abgeebbt. Eine unheimliche Stille breitete sich über dem Dorf aus.

Nach Atem ringend sank Ray auf die Knie, auch Tala musste sich erschöpft abstützen, weil er das Gefühl hatte, seine Beine würden ihn nicht mehr länger tragen. Die BitBeasts lösten sich in tausend kleine Punkte auf.

Langsam wandte Ray sich zu den noch anwesenden Dorfbewohnern und sein Blick fiel auf Svetlana und ihre Großmutter.

Dann wurde alles schwarz.
 

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Kapitel 17

17. Kapitel

Langsam öffnete er die Augen.

Inzwischen war er oft genug bewusstlos gewesen um zu wissen, dass man selbst von schummerigem Licht leicht geblendet werden konnte, wenn man die Augen zu schnell aufriss.

Vorsichtig setzte er sich auf.

Wo war er? Was war passiert?

Ach ja, die Lawine, das Dorf, Tala, ihre BitBeasts…

Warum mussten sie auch so ein ausgesprochenes Glück haben? Sicher lag es an Talas schlechtem Karma. Anders konnte Ray sich das nicht erklären.

„Alles klar?“

Überrascht sah Ray in die Richtung der Stimme.

„Tala“, stellte er fest.

Der Rothaarige grinste. „Der Einmalige und Einzige! Du hast mich ganz schön erschreckt, als du plötzlich aus den Latschen gekippt bist. Anscheinend hast du dich etwas überanstrengt. Deine ganzen Energiereserven aufgebraucht und so.“

Stumm nickte Ray. Er fühlte sich noch immer ziemlich schwach und mitgenommen.

„Aber lass mal, ich bin auch total fertig und am Ende. Viel hat bei mir auch nicht mehr gefehlt und ich hätte dir im Traumland Gesellschaft geleistet.“

„Wo sind wir?“, fragte da Ray, da er seine Umgebung nicht erkannte.

„Noch immer im Dorf. Zuerst waren die Einwohner echt geschockt, dass ihre Hütten noch standen. Konnten gar nicht fassen, dass wir sie gerettet haben. Aber als das dann endlich durchgesickert war, waren sie ganz versessen darauf, uns zu helfen. Wir sind hier in der Hütte des Dorfältesten.“

„Sie haben uns nicht rausgeworfen oder angegriffen?“

Tala schüttelte den Kopf.

„Nein. Anscheinend hat man in den Bergen nicht derart starke Vorurteile gegen uns Zeros, wie im Flachland. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Leute so genau wissen, /was/ wir sind. Immerhin gibt es hier nur ein altes Radio, das die meiste Zeit Störungssignale empfängt. Von daher…“, leise lachte Tala. „Die Einwohner sind eigentlich nur dankbar, dass wir sie gerettet haben, alles andere zählt für sie nicht. Schon witzig. Vielleicht sollten wir hier bleiben. Biovolt wird sicher nicht hier suchen.“

Ray nickte. Ihm war gerade ein gigantischer Stein vom Herzen gefallen. Es gab also auch normale Leute, die fähig waren, sie als Zeros zu akzeptieren. Die ganzen Vorurteile gingen nur von den Medien und der Angst der Menschen aus. Aber dagegen konnte man leider kaum vorgehen, oder?

Plötzlich hörten sie ein immer lauter werdendes Motorengeräusch von draußen. Einige Dorfbewohner schrien aufgeregt.

Fragend sahen Tala und Ray sich an.

Motorengeräusche? Hier? Hier kam doch kein Auto hin!

Schnell erhob sich Tala von seinem Stuhl, sein Gesicht zierte ein skeptischer Ausdruck. Vorsichtig zog er die braunen, groben Stoffvorhänge beiseite und spähte durch ein Fenster nach draußen. Wie geschlagen zuckte er zurück.

„Shit!“, fluchte er laut und trat einige Schritte vom Fenster weg.

Nun war auch Ray vollkommen wach.

„Was ist los?“, fragte er.

Tala warf dem Chinesen seine Kleider zu.

„Zieh dich an, schnell!“, sagte er drängend. „Biovolt! Sie haben uns gefunden! Helikopter! Müssen weg!“, erklärte er abgehackt.

Rays Augen weiteten sich mit erschrockenem Verständnis.

Sie hatten ihre Fähigkeiten als Zeros verwendet - ihre BitBeasts - und das in hohem Grade. Der Satellit musste sie aufgespürt haben! Verdammt, warum hatte er nicht eher daran gedacht?!

Kaum hatte Ray sich fertig angezogen, schlichen die beiden die Treppe hinunter. Rays Herz pochte so stark gegen seine Brust, als wolle es herausspringen. Sein Atem ging schnell, aber auch Tala zitterte leicht. Sie waren beide noch von der Rettungsaktion geschwächt. In ihrem Zustand wären sie nie in der Lage, sich gegen Biovolt zu wehren. Sie konnten nicht mal ihre Fähigkeiten auf Esperniveau einsetzten, geschweige denn, Drigger und Wolborg rufen. Ihre einzige Hoffnung war die Flucht.

Im schmalen Flur verharrten sie. An der Vordertür konnten sie Stimmen vernehmen. Die des Dorfältesten, das erkannte Ray an dem Dialekt, aber auch noch eine andere Stimme, ohne Dialekt. Eine Stimme, die Ray schon einmal gehört hatte, als Biovolt die Lagerhalle, ihr Hauptquartier, hochgenommen hatte. Nur wusste Ray nicht mehr, zu wem die Stimme gehörte…

Tala deutete auf die Hintertür und Ray nickte verstehend. Ob bewusst oder unbewusst, doch die Dorfbewohner gaben ihnen dadurch, dass sie die Jäger aufhielten, Zeit zur Flucht. Unwillkürlich stieg ein Gefühl der Dankbarkeit und Hoffnung in Ray auf.

Vorsichtig öffnete Tala die Hintertür einen Spalt und warf einen Blick hinaus.

Es war niemand zu sehen.

„Wir versuchen, zu dem Weg zu gelangen, über den wir von der Straße hierher gekommen sind“, flüsterte Tala, „Dort gab es genug Nischen und Felsvorsprünge, dort werden wir uns verstecken können. Dann sehen wir weiter.“

Ray nickte nur, da ihm auch nichts Besseres einfiel.

Kurz schaute Tala noch mal raus, dann rannte er los, dicht von Ray gefolgt. Der Weg war nicht weit, vielleicht einhundert Meter entfernt. Wenn sie es bis dahin schaffen würden, hätten sie noch eine Chance, zu entkommen. Andernfalls würde Biovolt sie gefangen nehmen.

Oder töten.

Kurz stolperte Ray bei dem Gedanken.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es gar nicht darum ging, sie zu fangen, sondern nur, sie aus dem Weg zu räumen. Biovolt wurde keine Rücksicht auf ihre Leben nehmen!

Der Puls des Schwarzhaarigen beschleunigte sich. Daran hatte er noch gar nicht gedacht!

Noch zwanzig Meter bis zum Weg, der sofort um einen Felsen herum führte. Dahinter würde man sie erst einmal nicht mehr sehen können.

Und dann wurde Ray von einer unsichtbaren Kraft zurückgerissen.

Schmerzhaft landete er auf dem Rücken und konnte sich einen Schrei nicht verkneifen.

Neben ihm kam Tala zu Fall.

„Na, na, wer hat es den da so eilig?“

Mühsam kämpfte Ray sich auf die Beine und starrte einen Jungen an. Nicht älter als er selbst, mit dunkelbraunen, halblangen und ziemlich wirren Haaren, ebenfalls chinesischer Herkunft. Und er war vollkommen in weiß gekleidet.

Ein Esper.

Ein Jäger.

Sie waren geliefert.

Neben Ray richtete sich auch Tala leise fluchend auf. Anscheinend war dem Rothaarigen jetzt ebenfalls klar, dass sie nicht entkommen konnten. In ihrem jetzigen Zustand waren sie nicht mehr als zwei physisch und mental erschöpfte, normale Menschen, keine Gegner für die ausgeruhten Esper Biovolts.

Rechts von ihnen tauchte ein Mädchen auf, mit langen pinken Haaren. Links stand plötzlich ein Hüne von Junge mit kurzen dunklen Haaren, hinter ihnen stand ein kleiner Junge mit grünen Haaren. Sie alle waren etwa in Rays Alter.

Und Ray war klar, dass sie geradewegs in eine Falle gelaufen waren. Wer auch immer an der Vordertür mit dem Dorfältesten geredet hatte, hatte die Absicht gehabt, sie aus dem Hinterausgang heraus zu treiben. Wo die Jäger nur darauf warteten, sie einzufangen.

Plötzlich legte der Junge vor ihnen, scheinbar der Anführer, den Kopf leicht schief.

„Ich glaub es nicht, aber du bist es wirklich“, stellte er fest, sein Blick auf Ray gerichtet. Verachtung lag in seiner Stimme.

Ray zuckte leicht zusammen.

„Du kennst mich?“ Unglauben.

Jetzt lächelte der Junge, aber es war ein grimmiges Lächeln.

„Und ob ich dich kenne. Wir alle kennen dich!“ Damit deutete er auf die anderen Jäger. Erst jetzt wurde Ray bewusst, dass auch die anderen zwei Jungen und das Mädchen ihn anstarrten, aus kalten wütend funkelnden Augen. Tala wurde völlig ignoriert.

Ein mieses Gefühl stieg in dem Langhaarigen auf.

„Aber du nicht. Scheinbar ist die Story mit deinem Gedächtnisverlust wahr. So ein Jammer aber auch, da erinnerst du dich gar nicht mehr an den Verrat, den du begangen hast, und für den du noch furchtbar leiden wirst, /Rei/!“

Hart schluckte Ray. Verrat? Er? Wovon sprach dieser Junge? Und Rei? Nicht Ray? Was sollte das alles?

Mit zitternden Händen fasste er sich an die Stirn, sein Kopf tat plötzlich schrecklich weh. Leicht schwankte er, doch Tala stütze ihn sofort.

„Was hat er gesagt? Worüber habt ihr euch unterhalten?“, raunte ihm der Rothaarige fragend ins Ohr.

Ray erstarrte. Tala hatte sie nicht verstanden? Was für ein Spiel spielten hier alle? Wo war der Regisseur, der jetzt eigentlich irgendwo hervorgesprungen kommen und ‚Reingelegt, das war versteckte Kamera! ‘ rufen sollte?

„Habt ihr chinesisch geredet?“, fragte Tala weiter, als er Rays Verwirrung bemerkte.

Chinesisch? Hatte er nicht Russisch geredet? … Nein, die Worte, die er verwendet hatte, waren keine russischen Wörter gewesen.

Fassungslos nickte Ray, als ihm die Wahrheit bewusst wurde. Ja, er hatte Chinesisch geredet.

Wie war das möglich? Warum hatte er das vorher nicht gewusst? Hatte es erst eine Art Reiz, einen Anstoß gebraucht, damit sich sein Gehirn an die Sprache, die scheinbar wirklich seine Heimatsprache war, erinnert?

Ray war am verzweifeln, es verstand das alles einfach nicht! Und seine Kopfschmerzen wurden auch immer schlimmer.

„So, und jetzt seid brav und kommt freiwillig mit, ansonsten müssen wir euch ausknocken und das wollt ihr sicher nicht, oder?“

Der Junge vor den Zeros hatte ins Englische gewechselt, mit der Absicht, dass auch Tala ihn verstehen konnte. Der regierte prompt.

„Was? Glaubst du wirklich, wir lassen uns einfach so von euch umbringen? Niemals, nicht ohne uns zu wehren!“, spie Tala wütend aus und ging in eine Angriffshaltung, doch bevor er sich dem Jungen auch nur nähern konnte, wurden ihm die Füße unter dem Körper weggezogen und er landete schmerzhaft auf dem Rücken. Laut zischte er auf.

„Also wirklich, glaubst du wir hätten euch nicht schon längst umgebracht, wenn das unser Ziel gewesen wäre? Nein, wir werden euch nicht töten. Zumindest noch nicht. Zuerst haben wir noch etwas anderes geplant.“

Ray lief es bei dem berechnenden Ton eiskalt den Rücken herunter. Er gab es nicht gerne zu, doch er hatte Angst. Und diese Angst lähmte seinen ganzen Körper, machte ihn bewegungsunfähig. Er wollte sich so gerne wegdrehen, Tala helfen, welcher sich gerade mit schmerzverzerrtem Gesicht aufrappelte, und dann weglaufen. Doch alles, wozu er fähig war, war den chinesischen Jäger anzustarren, dessen Gesicht ein hinterhältiges Grinsen zierte. Seine braunen Augen waren voller Hass auf ihn gerichtet. Auf Ray.

Und der Schwarzhaarige wusste partout nicht, was er diesem Fremden getan haben sollte, um diesen Hass zu erzeugen. Denn das hatte er, wie vieles Andere auch, einfach vergessen. Der Junge war ihm vollkommen fremd.

Auch Tala schien das negative Verhalten der Jäger zu bemerken, denn der hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und klammerte sich jetzt an Ray, gerade so, als hätte er Angst, dass der Chinese plötzlich verschwinden könnte. Oder das sie getrennt wurden, was in ihrer momentanen Situation wahrscheinlicher war.

„Egal, genug geredet. Wir haben heute noch was vor!“

Bei diesen Worten kam Bewegung in das komische Mädchen mit den rosa Haaren, sowie den größeren muskulös wirkenden Jungen. Beide näherten sich den Zeros und packten ihre Hände. Kurz schoss Ray noch einmal durch den Kopf, dass er nicht so einfach aufgeben dürfte sondern Widerstand leisten müsste, doch als er spürte, wie sich kaltes Metall um seine Handgelenke schloss, verflüchtigte sich jeder dieser Ideen.

Der Russe dagegen war etwas entschlussfreudiger - oder aggressiver, wie man es auch nennen will – und wich dem Mädchen aus, in dem ehrlich gesagt ziemlich jämmerlichen Versuch, zu entkommen. Keine zwei Sekunden später hatte der Junge ihn niedergeschlagen.

„Tala!“, rief Ray erschrocken.

Der Rothaarige war sofort zusammengesackt und lag jetzt regungslos am Boden. Blut tropfte langsam auf die braune Erde. Ray versuchte, seinen Freund zu erreichen und ihm zu helfen. Er hatte Angst, dass dem Russen etwas passiert war. Alleine würde er die Gefangenschaft, in die sie jetzt zweifelsfrei gerieten, und weiß Gott was sonst noch, nicht überstehen. Doch der Jäger hatte ihn fest im Griff. Ray war zu schwach, um sich von ihm loszureißen.

Hilflos musste er zusehen, wie der Chinese sich den bewusstlosen Tala rücksichtslos über die Schulter warf und ihn mitschleppte, während er selbst an den Handschellen hinter dem offensichtlichen Anführer hinterher stolperte.

Sie steuerten geradewegs auf den großen Helikopter zu, wie Ray sie nur aus Kriegsfilmen kannte. Er hatte die Ausmaße eines Kleintransporters und schien aus blanken Stahlplatten zu bestehen, in denen sich der blaue Himmel widerspiegelte. An den Seiten konnte man groß das Zeichen von Biovolt erkennen.

Von Innen sah der Helikopter nicht freundlicher aus, rechts und links befanden sich Bänke, doch weiter befand sich im Laderaum, der vom Piloten getrennt war, nichts. Anscheinend transportierte man mit dieser Art von Helikopter für gewöhnliche größere Gegenstände oder mehrere Personen.

Vor ihnen stiegen noch andere Soldaten – denn das waren sie ihrer Kleidung nach zu urteilen – ein. Die vier Jäger, die Tala und ihm aufgelauert hatten, schienen die einzigen Esper zu sein. Als letztes wurde der Langhaarige durch die große Schiebetür in den Heli gestoßen.

Noch einmal drehte Ray sich um, in der Hoffnung, einen letzten Blick auf das Dorf werfen zu können, doch er sah nur den Rand des Dorfes und Felsen, eingehüllt in den weißen Schnee, der noch vor ein paar Stunden fast die gesamte Siedlung zerstört hätte.

In diesem Moment, als vor seiner Nase die große, eiserne Schiebetür zugeknallt wurde und ihn zusammen mit den Soldaten und den Jägern in der Finsternis einschloss, war Ray erstmals richtig zum Heulen zumute.

Noch nie hatte er sich so verzweifelt gefühlt. Noch nie zuvor hatte er seine Situation als so hoffnungslos empfunden.

Als ein paar Sekunden später schwache Lichter aufflackerten und das Innere des Helis spärlich beleuchteten, schluckte er hart und unterdrückte die Tränen. Diese Genugtuung wollte er diesen Bastarden nicht geben.

Grob wurde er auf eine der Bänke gedrückt, rechts von ihm setzte sich der Anführer der Jäger, links nahm das Mädchen mit den rosafarbenen Haaren Platz. Im gegenüber saß Tala zusammengesunken auf der Bank. Auch er wurde rechts und links von den zwei anderen Jägern bewacht. Kurz stöhnte der Rothaarige, doch er wachte nicht auf.

Leicht lehnte sich Ray an die kühle Wand und schloss ergeben die Augen. Einige Zeit lauschte er dem Atem seiner Wachen und den verhaltenen Gesprächen der Soldaten.

„Wohin fliegen wir?“, fragte er leise in den Raum hinein. Eigentlich hatte er nur laut gedacht, umso überraschter war er über die Antwort des braunhaarigen Jägers.

„Nach China.“
 

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Kapitel 18

18. Kapitel
 

Das gleichmäßige laute Brummen der Rotoren und das leicht spürbare Schwanken des Helikopters ließen Ray nach einiger Zeit in einen leichten Schlaf driften.
 

Es war hell und die Sonne strahlte.

Er stand vor einem kleinen Einfamilienhaus. Es war zweistöckig, hatte einen Dachboden mit einem roten Ziegeldach, einen Erker und scheinbar auch einen Keller. Das weiß der Hauswände reflektierte das Sonnenlicht und blendete ihn. Er musste die Augen leicht zusammenkneifen.

Dann tat er näher. Immer mehr Einzelheiten wurden erkennbar, wie das bunte Blumenbeet im Vorgarten, dass von einem verzierten grünen Zaun umrandet wurde. Die drei flachen Stufen aus grauen und roten Ziegelsteinen, die zu der blau-weißen Tür führten, wurden rechts und links von kleinen grünen Hecken gesäumt.

In den Fenstern standen ebenfalls Pflanzen, hingen meist farbige Gardinen und ein Fensterbild aus Glas, das ein Reisfeld zu zeigen schien, fiel dem Schwarzhaarigen besonders ins Auge.

Alles in Allem war es ein einfaches aber schönes Haus im amerikanischen Stil.

Plötzlich wurde die Haustür geöffnet. Ein Glockenspiel, welches über der Tür hing, klingelte leise.

Ray kniff die Augen noch mehr zusammen, denn im Haus schien absolute Finsternis zu herrschen. Er konnte die Person nicht identifizieren, bis sie ganz hinaus in das Licht trat.

„Kai!“, rief Ray fröhlich und rannte zu dem graublauhaarigen Russen.

Doch dieser sah plötzlich auf und seine blutroten Augen spießten den Chinesen förmlich auf. Abrupt hielt Ray an und starrte zu Kai, welcher ihn hasserfüllt ansah.

„Was…“, fragte Ray, doch ihm blieb der Rest im Halse stecken, als er plötzlich das Blut sah, welches Kais Kleidung tränkte. Sein weißer Schal war schon fast gänzlich rot und unter ihm bildete sich langsam aber sicher eine Lache des roten Lebenssaftes.

Doch der Russe wandte seine hasserfüllten Augen nicht von Ray ab.

„Verräter.“

Eisig und verachtend sagte Kai das Wort; es schnürte Ray die Kehle zu, ließ ihn hilflos nach Luft schnappen und zwang ihn schließlich in die Knie.

„Nein…“, wollte er sich wehren. „Ich habe dich nicht verraten“, rief er. Doch Kai schwieg wieder. Stattdessen trat er jetzt zu Ray, hockte sich neben ihn und fuhr mit seiner, vom Blut roten, Hand durch Rays Haare, bevor er heftig daran zog. Der Chinese schrie überrascht auf.

„Mörder!“, schrie Kai jetzt.

Gleichzeitig ging das Haus hinter ihm in Flammen auf. Sie züngelten an den weißen Wänden empor, leckten an den roten Ziegelsteinen des Daches und färbten diese schwarz.

Und dann konnte man die Schreie hören. Helle, spitze, laute Schreie. Hundert und tausendfach klangen sie in seinem Kopf wieder, hallten nach. Jeder qualvolle Laut ging ihm durch Mark und Bein. Mit trockenem Mund starrte er in Kais Augen, versuchte, sich die Ohren zuzuhalten, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.

Bald wurden die Schreie leiser, bis sie zuerst in ein gequältes Wimmern übergingen, dann zu einem schwachen Röcheln wurden und letztendlich verstummten.

Erleichtert atmete Ray aus.

Von dem Haus war nicht mehr als das schwarze, verbrannte Gerippe übrig geblieben.

Plötzlich fuhr eine Hand sanft über Rays Wange. Bei dem unerwarteten Kontakt zuckte er zusammen und fixierte wieder Kai. Dessen Gesicht hatte jetzt einen eher mitleidigen Ausdruck angenommen.

Er wischt meine Tränen weg, wurde Ray auf einmal klar. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er zu weinen begonnen hatte. Doch jetzt schmeckte er die salzige Flüssigkeit auf seinen Lippen, vermischt mit dem metallischen Geschmack von Kais Blut.

Er schüttelte sich.

Da verhärtete sich Kais Blick wieder.

„Es ist deine Schuld“, zischte er, „alles ist deine Schuld, du Mörder!“
 

Nach Luft schnappend schreckte Ray hoch, konnte gerade noch so den Drang zu schreien unterdrücken.

Der Jäger neben ihm warf ihm einen undefinierbaren Blick zu, doch Ray beachtete ihn gar nicht, da er sich eher langsam der Tatsache bewusst wurde, dass er sich noch immer im Helikopter von Biovolt befand. Er war fast erleichtert über diese Tatsache.

Es war nur ein Traum gewesen.
 

„Los, raus mit euch, aber ein bisschen plötzlich!“, raunzte der Anführer der Jäger plötzlich.

Erschrocken zuckte Ray zusammen und sprang hoch. Das Geräusch des Propellers verstummte allmählich. Ihm gegenüber wurde Tala, welcher inzwischen wieder zu sich gekommen war, rüde am Kragen hochgezogen. Leise aber farbenfroh fluchte der Russe. Da wurde Ray klar, dass der Jäger eben wieder chinesisch gesprochen hatte. Tala hatte den Befehl gar nicht verstanden.

Eilig verließen sie den Heli.

Neugierig sah Ray sich um. Inzwischen war es dunkel geworden, doch der Hubschrauberlandeplatz wurde von großen Flutlichtern taghell beleuchtet. Dafür konnte man die Umgebung absolut nicht erkennen, sie lag in totaler Finsternis.

„Beweg gefälligst deinen Arsch, Zero!“, schrie der Anführer und drängte Ray an den Rand des Landeplatzes, hinein in die Dunkelheit. Vor ihm trat Tala aus dem Lichtkegel. Es sah aus, als würde die Finsternis ihn fressen, ihn verschlucken und sich einverleiben. Leicht fröstelte Ray. Dann trat auch er aus dem Licht und fiel fast prompt eine Treppe hinunter.

„Kannst du nicht aufpassen?!“ Der Jäger schien gereizt zu sein.

Der Langhaarige sparte sich die Mühe, zu antworten. Sein Magen grummelte leise. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen? Heute früh? Oder war es schon gestern? Fünfzehn Stunden war es mindestens her und trotz der ganzen Aufregung machte sich die fehlende Nahrung langsam bemerkbar.

Wie viele Stufen sie hinunter gingen, konnte Ray nicht sagen, aber es waren eine ganze Menge. Jetzt, wo seine Augen sich langsam an die Finsternis gewöhnt hatten, konnte er zumindest sagen, dass sie sich noch immer, oder schon wieder, in den Bergen befanden. Eher schon wieder. Wenn das hier tatsächlich China war, dann mussten sie im Himalaya sein. Sie schienen sich in einem Tal aufzuhalten, um sie herum ragten hohe Berge auf, deren Gipfel in der Nacht verschwanden. Der Hubschrauberlandeplatz schien sich auf einem künstlichen Plateau zu befinden. Die Treppe dagegen führte zu einer größeren Gruppe Häuser. Nicht die Art Häuser, die in dem russischen Dorf standen, eher die Art Häuser, die ‚militärische Geheimbasis‘ praktisch schrien.

Große Hallen und langgezogene Häuser, allesamt aus Stahl gebaut. Auf ihren Dächern lagen Steine und Dreck, damit man die Basis vom Himmel vermutlich nicht entdecken konnte. Vorausgesetzt, das Licht wurde ausgeschaltet.

Im Moment brannten eher wenige Lichter, hier und da flackerten Lampen in vereinzelten Fenstern und die Laternen, die über das gesamte, nicht gerade kleine, Gelände verteilt waren, gaben einen schwachen Lichtschein von sich.

Ray bekam schon wieder Kopfschmerzen.

Das kleine Grüppchen aus Espern und Zeros steuerte jetzt auf ein eher kleineres Gebäude zu. Heraus trat ein großer, kräftiger Mann. Er hatte auffällig lilafarbene Haare und trug eine Maske, die sein halbes Gesicht verdeckte. Ray erinnerte sich an ihn. Er war auch da gewesen, als man ihre Lagerhalle auseinandergenommen hatte.

„Balkov!“, stellte Tala fest.

Fragend blickte Ray zu dem Rothaarigen. Sie kannten sich? Bis er sich an ein Gespräch erinnerte, in dem Kai und Tala ihm von einem der Gründer Biovolts erzählt hatten - von Boris Balkov, dem Chef der Jäger und erklärter Todfeind aller Zeros. Na Hurra.

„Wie schön, dass du mich erkennst, Zero. Dann muss ich mich ja nicht mehr vorstellen“, bemerkte der Mann, scheinbar auch ein Russe, leicht hämisch.

„Gleich zwei von eurem Abschaum, na das nenne ich Mal eine Ausbeute! Sehr gut Lee, ich bin wirklich zufrieden mit euch.“

„Danke Boris“, sagte der Anführer der Jäger fast unterwürfig. Lee war also sein Name…

„Und sieh mal einer an, wer da nach Hause gekommen ist“, meinte da Boris.

Und er starrte dabei Ray an. Dieser wurde unter dem Blick unruhig.

„Kennen wir uns?“, fragte er daher.

Und Balkov brach in schallendes Gelächter aus. Ray wurde noch unwohler. Was wollte dieser Mann von ihm?

„Ob wir uns kennen? Der war gut! Aber stimmt ja, ich hatte ganz vergessen“, plötzlich wurde Balkov wieder ernst, „dass du dich nicht erinnerst. Du hast wirklich keine Ahnung, nicht wahr? Nun, das ist amüsant.“

Und wieder grinste Balkov. Ray würde ihm am liebsten einmal ordentlich in die Fresse schlagen.

„Egal, ich werde mich später mit euch beschäftigen. Bringt sie in eines unserer /Gästezimmer/!“ Die Art, mit der er das letzte Wort betonte, gefiel Ray überhaupt nicht.

Keine zehn Minuten später fanden Ray und Tala sich in einer kleinen dunklen Zelle wieder, vielleicht drei Mal drei Meter groß. Die Wände und der Boden waren aus kaltem Stahl, der Raum war nicht beheizt und schon nach ein paar Minuten zitterte Ray trotz seiner warmen Jacke. Die Tür ihres Gefängnisses passte sich perfekt an die Wände an und nur weil Ray wusste wo sie war, konnte er schwach ihre Umrisse ausmachen. Eine kleine Neonröhre erhellte die Zelle spärlich. Alles in allem wurde Ray etwas an seine kurze Gefangenschaft bei Azat erinnert. Der Gedanke daran ließ ihn frösteln.

„Alte Bekannte, hu?“, fragte da auf einmal Tala. Der Chinese hob den Kopf und starrte direkt in blaue stechende Augen. Bitte nicht.

„Ich weiß nicht“, murmelte er geschlagen.

Tala nickte, nicht ganz überzeugt.

„Weiß du, wenn ich nicht genau wüsste, dass du ein Zero bist und deshalb genauso wie Kai und ich auf Biovolts Abschussliste stehst, wäre ich jetzt fest davon überzeugt, dass du uns verraten hättest.“

Die Worte schmerzten, aber Ray konnte die Gedanken des Anderen nachvollziehen.

„Aber ich bin ein Zero“, flüsterte er tonlos.

Tala nickte.

„Das macht die Dinge komplizierter. Denn jetzt muss ich mich entscheiden, ob du wirklich nicht weißt, wer diese Leute sind und genauso ein Opfer bist wie ich, oder ob Biovolt sich dazu entschieden hat, auch Zeros auf seine Seite zu holen und für sich arbeiten zu lassen und Kai und ich deiner Charade auf den Leim gegangen sind.“

Wütend schoss Ray hoch.

„Wenn du glaubst, dass ich mit diesen Leuten da draußen gemeinsame Sache mach, dann irrst du dich! Nie würde ich für sie arbeiten! Ich bin doch kein Mörder!“, rief er aufgebracht.

„Aber scheinbar ein Verräter!“, zischte nun auch Tala. „Zumindest haben sie dich als einen solchen bezeichnet, wenn ich mich nicht irre!“

Hier fehlten Ray die Worte. Geschlagen sank er zu Boden und zog die Knie an die Brust, die Arme schlag er darum. Seine Hände verkrallten sich in dem Stoff seiner Hose, sodass die Knöchel weiß hervor traten, der Kopf ruhte auf den Knien.

„Das haben sie“, flüsterte er leise.

Sein Kopf schmerzte wieder. Ein Pochen, das ihn seit der Ankunft hier begleitet hatte. Jetzt wurde es stärker, intensiver, breitete sich aus und schien seinen ganzen Körper zu lähmen. Vor Schmerz kniff Ray die Augen zusammen. Plötzlich durchzuckten Bilder seine Gedanken, ein kleines Dorf, ein lachendes rosahaariges Mädchen und ein dunkelhaariger Junge, die ihm einen Ball zuwarfen, eine lächelnde schwarzhaarige Frau, die ihm über den Kopf streichele und ihm etwas sagte, ein braunhaariger Mann mit Sorgenfalten im Gesicht und Augen, die ihn ernst ansahen, ein kleines Mädchen, dass zusammengekauert in einer Ecke saß und ihn angsterfüllt anblickte, ein silberhaariger Mann, in einer Lache aus seinem eigenen Blut liegend, dessen hasserfüllte Augen zu ihm aufstarrten.

„RAY!“

Sein Kopf ruckte hoch, sein Atem ging schwer und nur langsam fokussierte sich sein Blick auf Tala. Dessen besorgte blaue Augen sahen zu ihm herunter, seine Hände lagen noch immer schwer auf Rays Schultern. Dem Schwarzhaarigen wurde klar, dass der Andere ihn wohl geschüttelt hatte.

„Was … was war das?“, fragte Ray zitternd.

Talas Blick wurde nachdenklich.

„Gute Frage. Im einen Moment saßt du einfach da, dann hast du dich plötzlich verkrampft und bist weiß wie eine Wand geworden. Dann fingst du an zu zittern, richtig heftig, da bin ich zu dir gekommen und hab dich geschüttelt und deinen Namen geschrien. Ich glaub, beim fünften Mal oder so bist du dann endlich wieder zu dir gekommen. Was war los?“

Doch Ray schüttelte nur hilflos den Kopf.

„Ich weiß es nicht. …Ich weiß es wirklich nicht.“
 

Stumm starrten rote Augen auf das Dorf. Ruhig lag es da, einen Tag nach der Lawine. Außer den Schneebergen, die sich um die Häuser türmten deutete nichts mehr auf die Naturkatastrophe hin. Genauso wenig wie auf den Helikopter, der bereits vor Stunden in den weißen Wolken verschwunden war.

Er festigte den Griff um die Tasche und drehte sich bestimmt um, kehrte zu dem bereits reparierten Laster zurück.

„Lass uns weiterfahren“, sagte er zu dem blonden Mann, der neben der Fahrertür auf ihn gewartet hatte. Dieser nickte stumm und stieg ein.

Der Motor startete mit einem lauten Brummen und bald ließen sie das große Gebirge des Urals hinter sich. Noch immer umklammerte er die Tasche, unwillig, sie aus den Augen zu lassen.

„Keine Sorge…“, wisperte er rau, „…keine Sorge…“
 

Bis zum nächsten Mal,

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Kapitel 19

19. Kapitel
 

Leicht blinzelte Tala.

Er hatte geschlafen, entgegen seiner Entscheidung, wach zu bleiben, aber irgendwann hatte ihn die Müdigkeit einfach übermannt. Da konnte man nichts machen.

Etwas desorientiert sah er sich um und bereute die Bewegung sofort. Sein Kopf und Nacken schmerzten höllisch. Kein Wunder eigentlich, er war vor noch nicht gar so langer Zeit einfach niedergeschlagen worden.

„Wie lange sind wir schon hier?“, hörte er da eine schläfrige Stimme. Ray ging es wohl nicht besser als ihm.

Kurz warf er einen Blick auf seine ramponierte Armbanduhr. Sollten sie das hier überleben, würde er wohl eine neue brauchen.

„Dreiundzwanzig Uhr“, antwortete er laut dem Chinesen.

„Schon fast ein ganzer Tag“, murmelte dieser daraufhin abwesend, „worauf sie wohl warten?“

Das war eine gute Frage. Misstrauisch beäugte Tala Ray, wie er es schon so oft in den letzten Stunden getan hatte. Er wusste nicht, was er mit dem Chinesen anfangen sollte. Sicher, der Kleine war ihr Freund gewesen, hatte ihnen geholfen, sie hatten zusammen trainiert und soweit Tala das beurteilen konnte, hatte Ray sie nie, aber auch wirklich nie, angelogen. Die Frage war nur: Konnte Tala es beurteilen?

Boris kannte Ray offensichtlich. Genauso, wie diese anderen Jäger. War das Beweis genug, dass Ray Kai und ihn hintergangen und sie verraten hatte, dass er sie von Anfang an nur ausspioniert hatte, um sie ausliefern zu können? Hatte Alexey ihn damals deshalb gehen lassen? Nicht aus einem plötzlichen Akt der Humanität, für den Jäger schließlich auch nicht gerade bekannt waren – zumindest nicht Zeros gegenüber -, sondern weil Ray zu Biovolt gehörte? Es würde Sinn machen… Und trotzdem…

Warum saß der Langhaarige dann hier, zusammen mit ihm, in dieser kleinen, stickigen und unbequemen Zelle? Wenn Ray wirklich nur ein Spion Biovolts war, dann könnte er seine Tarnung doch jetzt fallen lassen, schließlich wäre sein Ziel erreicht. Er hatte zumindest einen Zero enttarnt.

Obwohl, enttarnt hatte Ray sie schon viel früher, eigentlich hätte der Chinese bei Weitem nicht so lange warten müssen, um sie hoch gehen zu lassen. Das hätte er schon längst in Moskau tun können und er hatte bei Gott genügend Zeit gehabt!

Tala rieb sich die Stirn. Das alles verstärkte seine Kopfschmerzen nur.

Und dann war da ja noch die kleine aber feine Tatsache, dass Ray ein Zero war. Und Biovolt arbeitet nicht mit Zeros zusammen. Und sie hatten ihn einen Verräter geschimpft…

Es war verwirrend, doch der einzig logische Schluss war in der Tat, dass Ray die Wahrheit gesprochen hatte.

„Du kannst dich wirklich nicht an sie erinnern, oder?“, fragte Tala leise.

Verwirrt blickte Ray auf, bis ihm die Bedeutung der Frage dämmerte. Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Überhaupt nicht.“

Tala seufzte.

„Anscheinend hast du für Biovolt gearbeitet“, bemerkte er dann.

Ray ging sofort hoch.

„Was? Nein! Das würde ich nie tun! Nie würde ich mit diesen Mördern arbeiten oder sie unterstützen!“, wehrte er sich gegen Talas Vermutung, doch der Rothaarige bedeutete dem Anderen, zu schweigen.

„Du hast Recht, jetzt würdest du nie für Biovolt arbeiten. Das glaube ich dir.“ Zu sehr tat Tala der Gedanke weh, dass Ray tatsächlich zu den Jägern gehören könnte, als dass er ihn akzeptieren würde. Er mochte den Schwarzhaarigen sehr, aber das alles hier, es war einfach zu viel für ihn.

„Aber wie warst du, bevor du dein Gedächtnis verloren hast? Vielleicht hattest du einen anderen Charakter, andere Ideale, andere Meinungen. Wir wissen es doch nicht, oder? Also wäre es durchaus im Bereich des Möglichen, dass du zu Biovolt gehört hast.“

Widerwillig sah Ray zur Seite, seine Hände zu Fäusten geballt, aber er widersprach nicht, denn Tala hatte Recht.

„Und es muss einen Grund dafür geben, dass sie dich Verräter nennen, nicht? Es würde alles passen.“

„Aber ich bin ein Zero.“

„Mmh. Keine Ahnung, wie das ins Bild passt.“

Wieder wanderte Talas Blick zu Ray. In der nackten Zelle gab es sowieso nichts anderes, was man sonst hätte ansehen könnte. Da stockte er. Leicht kopfschüttelnd erhob er sich und setzte sich zu dem Langhaarigen. Mit seinen Fingern strich er eine Strähne aus Rays Gesicht und strich ihm zart über die Wange, verwischte dabei die nassen Spuren.

„Das ist doch kein Grund zum Heulen!“, meinte er unnatürlich fröhlich. Fragend sah Ray auf. Ihm waren die Tränen sichtlich unangenehm.

„Ich mein, komm schon, wir wurden von Kai getrennt, sind von Biovolt gefangen genommen worden, sitzen in einer kleinen Zelle, haben seit Stunden nichts gegessen und getrunken und werden vermutlich bald exekutiert, schlichtweg, weil wir geboren wurden, aber hey, das ist doch wirklich alles kein Grund zum Heulen!“

Talas Stimme war wirklich unerträglich aufmunternd. Nur die Worte passten nicht dazu.

Und bei der Erwähnung von Kai traf Tala scheinbar irgendetwas in Ray, denn dieser schluchzte plötzlich laut und warf sich in die Arme seines Freundes. Doch der lächelte nur nachsichtig und zeichnete mit seiner Hand Kreise auf Rays Rücken.

„Und sieh es doch Mal so: Wie lange hast du jetzt absolut keine Ahnung gehabt, wer du wirklich bist? Jetzt gibt es endlich ein Hinweis auf deine verlorene Vergangenheit, wenn das mal kein Grund zur Freude ist!“

„Du bist so ein Idiot“, nuschelte Ray in den Stoff von Talas Pullover.

„Mmh. Ich weiß. Deswegen magst du mich ja so.“

Fast zärtlich küsste der Rothaarige Rays Haupt.

Da schaute Ray auf.

„Warum…?“

„Warum nicht? Ich mag dich.“

Ray schüttelte den Kopf.

„Aber Kai…?“

Jetzt lächelte Tala traurig.

„Mensch, du hast dich wirklich richtig in ihn verknallt, was? Das ist schade für mich, aber da kann man wohl nichts machen“, seufzte der Russe theatralisch, doch dann umspielte wieder ein Grinsen seine Lippen, „Aber hey, ich kann doch wenigstens deine Nähe etwas genießen, oder? So lange, bis wir Kai wiedersehen? Ich mach auch nichts Unanständiges, versprochen.“

Kurz zögerte Ray.

„Was meinst du, wo er jetzt ist?“, fragte er dann, ohne weiter auf Talas Avancen einzugehen.

„Der? Vermutlich noch mit ihm unterwegs.“

Tala vermied es, Igors Namen oder andere markante Dinge zu erwähnen, falls die Zelle abgehört wurde.

„Dem geht’s sicher gut, so wie ich ihn kenne. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen!“

Nur halb beruhigt nickte Ray und kuschelte sich näher an den Anderen, um die Kälte in seinem Inneren wenigstens ein bisschen zu vertreiben. Er machte sich Sorgen um Kai und er hatte Angst, selbst bald zu sterben, sein Leben war einfach nur ruiniert. Aber sicher hatte Tala Recht. Kai war stark. Er würde auch alleine klar kommen, ganz sicher.

Und vielleicht war es gut, dass Ray nicht die Wahrheit wusste, denn der Gedanke, dass Kai in Sicherheit war, gehörte zu den einzigen Dingen, die ihm noch Hoffnung gaben. Hätte Ray von Kais wirklicher Situation gewusst, wer weiß…?
 

Erschütterung auf Erschütterung folgte, der unebene Boden brachte den Laster regelmäßig zum Erbeben.

Doch Kai störte es nicht. Er merkte es nicht einmal wirklich. Er saß in der hintersten Ecke des Lasters, verborgen hinter unzähligen Holzkisten, die Knie angezogen und mit den Armen umschlossen. Abwesend starrte er ins Leere.

Wie konnte das nur passieren? Wie hatte es so weit kommen können? Warum war das ausgerechnet ihnen passiert? Was sollte er jetzt tun? Gab es noch eine Chance, sie zu retten? Oder war es schon längst zu spät? Weilten sie bereits nicht mehr unter den Lebenden?

Unzählige Fragen schwirrten in Kais Kopf, seine Gedanken drehten sich im Kreis und er wusste, er würde nirgendwo ankommen. Dennoch, er konnte nicht anders als sich die Frage zu stellen, was sie falsch gemacht hatten.

Der Blaugrauhaarige glaubte, alles ganz gut rekonstruieren zu können.

Tief in Gedanken erinnerte er sich an das Geschehene.

Igor hatte gerade eine Pannenhilfe erreichen können, als ein lautes Rumpeln und Donnern zu hören war und die Erde erbebte, stark genug, dass Kai fast sein Gleichgewicht verloren hätte.

Völlig schockiert hatte er sich in Richtung der Quelle gedreht und die weiße Wolke aus Schnee gesehen, die den Berg hinab direkt zum Dorf und darüber hinweg rollte.

Wie aus weiter Entfernung hörte er die Stimme Igors: „Das war wohl wieder eine Lawine. Die kommen im Frühling, zur Schneeschmelze, hier in den Bergen öfter vor.“

Fassungslos und wütend begann Kai zu zittern, die Hände zu Fäusten geballt.

„Junge, was ist denn mit dir los?!“, fragte Igor erschrocken, „das war nur ne Lawine! Das ist doch kein Grund … … … oh shit! Das Dorf!!!“

Ah, da schien ihn die Erkenntnis getroffen zu haben.

„Wir müssen zurück, sofort!“, sagte Kai nur schwer beherrscht, doch zum Glück widersprach der Andere nicht. Was aber auch daran liegen könnte, dass es um Kai knisterte und knackte und ein paar vereinzelte Grashalme, die den harten Winter überstanden hatten, um sie herum in Flammen aufgingen. Kai hatte sich nur verdammt schwer unter Kontrolle.

Trotz Allem brauchten sie fast zwei Stunden, um zurück zum LKW zu kommen, von dort aus machte sich Kai allein auf den Weg. Igor wartete am Laster auf die Mechaniker, die die Reifen wechseln sollten.

Der Aufstieg war beschwerlich, wesentlich beschwerlicher als beim letzten Mal. Die ersten hundert Meter waren noch kein Problem, aber dann gelangte Kai in das Gebiet, das von den seitlichen Ausläufern der Lawine erwischt worden war. Zum Glück hatte die Naturkatastrophe die Straße verschont, aber das Dorf…

Trotz aller Hindernisse beeilte sich der Graublauhaarige. Der Weg, für den sie vorher eine knappe Stunde gebraucht hatten, war zu einem wahrscheinlich doppelt so langen Gewaltmarsch geworden. Mehrmals war sich der Russe, in der nunmehr fast komplett weißen Landschaft, nicht sicher, ob er sich nicht verlaufen hatte. Teilweise versank er hüfttief im Schnee, seine Kleidung war längst durchnässt, aber er weigerte sich, Dranzer zur Hilfe zu holen, auch wenn der Phönix in seinem Kopf ihn gerade dazu drängte. Doch Kai hatte den Satelliten nicht vergessen. Das wollte er nicht riskieren.

Er hatte vielleicht zwei Drittel des Weges zum Dorf hinter sich, als über ihm das laute Geräusch von Propellern zu hören war. Erschrocken verbarg er sich unter einem aus dem Schnee herausragenden Felsen, dem einzigen Schutz, den er finden konnte. Vorsichtig warf er einen Blick in den bewölkten Himmel. Für eine Weile war nichts zu sehen, die Wolken verbargen den vermeintlichen Hubschrauber vor den Blicken des Rotäugigen, doch schließlich brach er aus der Wolkendecke hervor.

Kai stockte der Atem.

Das konnte nicht sein!

Das durfte nicht sein!!!

Aus Reflex drückte er sich tiefer an den Fels, als versuche er, darin zu verschwinden. Seine Hände waren kalt und feucht. Sie zitterten.

Biovolt.

Was machten diese Bastarde hier?!

Die waren nicht wegen der Lawine hier. Nein. Sie waren wegen ihnen hier, dessen war sich Kai bewusst. Aber woher wussten sie…?

Da durchzuckte es Kai wie ein greller Blitz.

Tala und Ray! Natürlich! Die Lawine, sie haben sicher nicht tatenlos daneben gestanden, sondern geholfen! Und Tala hatte gute Karten gegen so eine Lawine, immerhin war Wolborgs Element Eis und Schnee, also die Bestandteile dieser Naturkatastrophe. Aber das hieß wiederum, dass sie ihre BitBeasts eingesetzt hatten und damit hatte Biovolt sie mit diesem Satelliten, von dem Ray ihm erzählt hatte, orten können.

Plötzlich verstummte das Geräusch der Motoren. Eine gespenstige Stille senkte sich wieder über das Gebirge, Kais Nackenhaare stellten sich auf. Der Hubschrauber – Biovolt – hatte das Dorf erreicht.

Er warf noch einen vorsichtigen Blick nach draußen, als er niemanden sah, hetzte er weiter.

Doch er war zu langsam. Viel zu langsam. Er würde es nicht rechtzeitig schaffen.

Plötzlich hatte er wieder Fels und Stein unter seinen Füßen. Überrascht stolperte der Russe und drehte sich um. Tatsächlich. Wie an einer unsichtbaren Grenze hörte der Schnee, den die Lawine mit sich gebracht hatte, plötzlich auf. Das hieß, das Dorf konnte nicht mehr weit sein.

Von neuer Hoffnung beflügelt, beschleunigte Kai erneut seine Schritte. Da erklang wieder das Geräusch der Rotoren.

"Sie fliegen wieder ab!", schoss es Kai durch den Kopf. Verzweifelt schüttelte er den Kopf.

Noch nicht! Noch nicht! Nur noch ein kleines bisschen!

Doch alles Flehen half nichts. Als er die letzte Kurve zum Dorf nahm, konnte er gerade noch beobachten, wie der Hubschrauber, bereits vier Meter in der Luft, drehte, und dann in Richtung Asien davonflog.

Schwer atmend starrte Kai ihm hinterher.

„Los! Dranzer, wir müssen sie aufhalten!“, rief er.

Nein. Sie sind bereits zu weit weg. Es ist zu spät.

Der Vogel war erstaunlich realistisch und verpasste Kai einen riesigen Dämpfer. Erschöpft und am Ende, physisch wie psychisch, sank Kai auf die Knie. Mit der Faust schlug er frustriert auf den Boden, seine, von der eisigen Kälte bereits trockne und rissige, Haut riss und Blut tropfte auf die noch dünne Schneeschicht.

Wie lange er dort gesessen hatte, konnte er im Nachhinein gar nicht sagen. Sein Kopf war wie leergefegt gewesen. Nur einen einzigen Gedanken konnte er noch klar fassen.

Er war allein.

Völlig allein.

Ray und Tala waren von Biovolt gefangen genommen.

Sie würden sterben, da war sich Kai sicher.

Vielleicht noch nicht heute.

Vielleicht noch nicht morgen.

Aber sie würden sterben, das war sicher.

Und Kai hatte nicht die geringste Chance, sie zu retten. Wie denn auch? Er wusste weder, wo sie hingebracht wurden, noch wie er selbst dort hingelangen konnte. Es war zum Verzweifeln.

Irgendwann, als die eisige Kälte sich durch seine Kleider tief in seine Knochen gefressen hatte, als die Sonne gerade dem Mond Platz machte und die Schatten immer länger wurden und Dranzers drängendes Gekreische in seinem Kopf ihn fast um den Verstand brachte, rappelte Kai sich mühsam auf.

Es macht keinen Sinn, hier in der Kälte zu sterben! Beweg dich endlich! Vielleicht hast du noch eine Chance Ray und Tala zu retten, aber nicht, wenn du hier sitzen bleibst und erfrierst! Rahhh!

Sein BitBeast hatte Recht.

Langsam schleppte Kai sich in das Dorf hinunter. Vielleicht wusste dort jemand, wo seine Freunde hingebracht worden waren.

Doch dort erfuhr er nicht viel. Den Einwohnern tat Leid, was passiert war, aber sie hatten es nicht verhindern können. Viele der Fremden, also Biovolts Leute, hatten chinesisch gesprochen, sie kamen also vermutlich aus dem Land der Drachen. Aber sicher waren sich die Dorfbewohner nicht.

Das Einzige, was Kai noch erhalten hatte, außer diesen vagen Informationen, war Rays Tasche, die dieser in der Hektik ihrer missglückten Flucht wohl vergessen hatte. Dankend nahm der Graublauhaarige sie entgegen. Er hoffte, sie ihrem Besitzer irgendwann einmal wiedergeben zu können.

Ein letztes Mal sah er noch zum Dorf zurück und in den Himmel hinauf, Rays Tasche fest im Griff, bevor er sich abwandte und zurück zu Igor ging, welcher bereits ungeduldig am LKW warten musste.
 

Plötzlich hielt der LKW an.

Kai wurde aus seinen Gedanken gerissen und horchte angespannt in die Stille.

Warum hielten sie? Sie waren vielleicht gerade Mal eine Stunde gefahren! Für eine Pause war es noch viel zu früh und auch der Tank müsste noch mehr als voll sein!

Vorsichtig erhob der Graublauhaarige sich. Er konnte eine Tür zuschlagen hören. Igor war also ausgestiegen.

Dann Stimmen. Mit wem unterhielt er sich? Waren sie aufgehalten worden? Ein Unfall vielleicht, der ihnen den Weg versperrte?

Schritte.

Mindestens fünf Leute, wenn nicht sogar mehr. Was ging hier vor?

Plötzlich wurde die Plane des Lasters zurückgeschlagen. Hastig wich Kai in die hinterste Ecke, in den tiefsten Schatten, zurück. Er durfte nicht entdeckt werden.

Und dann hörte er die Worte, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen.

„Da ist er! Ganz hinten! Wie ich es euch gesagt habe! Aber passt auf, er mag nur noch alleine sein, aber er ist verdammt gefährlich!“

Igor hatte ihn verraten.

Verraten.

Verraten.

Verraten.
 

Bis zum nächsten Mal,

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Kapitel 20

20. Kapitel

Er war ein Idiot.

Er war so ein gottverdammter Idiot.

Wie hatte er das nur zulassen können? Wie?!

Wütend zerrte Kai an den Handschellen, die seine Hände hinter seinem Rücken zusammen banden. Seine Handgelenke schmerzten bereits, sicher waren sie auch aufgeschürft und blutig, doch das war im Moment egal. Alles, was zählte, war, dass er sich befreite.

In seinem Inneren hörte er Dranzer empört kreischen und trillern, doch sein BitBeast konnte ihm im Moment, wie es schien, nicht helfen.

„Was habt ihr mit mir gemacht?!“, wollte er aufgebracht wissen und funkelte mit seinen roten Augen die beiden Jäger an, die vor ihm standen und sich über ihn amüsierten.

„Was, Zero, kann ist du dich nicht wehren? Wo ist denn jetzt dein ach so tolles und unbesiegbares BitBeast? Na? Wo hast du es versteckt? Oder hat es sich vor Angst verkrochen?“, spottete der Jäger.

Was zu viel war, war zu viel.

Schneller als einer der beiden reagieren konnte, war Kai aus seiner knieenden Position aufgesprungen und hatte dem arroganten Bastard sein Knie in den Magen gerammt. Doch die Rechnung kam sofort. Ein scharfer Schmerz am Hinterkopf zeigte Kai, dass der andere ihn niedergeschlagen hatte. In Sekundenschnelle wurde alles schwarz.

Als Kai wieder zu sich kam, lag er am Boden. Sein Atem ging flach.

Neben ihm standen sechs Jäger, darunter auch der, den er eben angegriffen hatte und der sich noch den Bauch rieb. Er konnte nicht lange bewusstlos gewesen sein. Vielleicht ein paar Minuten.

„Ganz schön aufmüpfig“, meinte einer der Jäger. Die anderen lachten, als er Kai heftig in den Magen trat. Der Graublauhaarige krümmte sich vor Schmerz zusammen.

„Los, hoch mit ihm, wir müssen los!“, rief da ein anderer.

Er wurde grob gepackt und nach oben gezogen, bis er halbwegs aufrecht stand.

„Ach, versuch gar nicht, deine ach so tollen Esper- oder Zerotricks anzuwenden. Die bringen nichts mehr. Erinnerst du dich an den Pfeil, mit dem wir dich vorhin getroffen haben?“

Ja, Kai erinnerte sich. Sehr gut sogar. Vier Esper hatten an der offenen Ladeluke gestanden, zusammen mit Igor, und alle hatten Pistolen in ihren Händen, mit denen sie sofort feuerten.

Der Russe hatte es geschafft, zumindest ein paar Pfeile – aus den Pistolen kamen tatsächlich Pfeile und keine Kugeln – abzulenken oder ihnen auszuweichen, aber zwei hatten ihn gestreift, ein anderer sich tief in Kais Oberarm gebohrt. Zwar konnte er ihn herausziehen, aber ab diesem Zeitpunkt waren seine übernatürlichen Fähigkeiten stark gesunken, bis er sie nach ein paar Minuten gar nicht mehr hatte einsetzen können.

„Das waren Spezialhormone mit herzlichen Grüßen aus den Biovolt-Laboratorien. Sie sorgen dafür, dass die Aktivität des Gehirnteils, der für die Ausbildung und Kontrolle der Esper- und Zerofähigkeiten verantwortlich ist, auf ein Minimum reduziert wird. Deine Kräfte sind also für die nächsten paar Stunden … futsch.“

Wieder lachte der Jäger hämisch, doch Kai achtet gar nicht mehr auf ihn. Seine rubinroten Augen starrten Igor an, welcher unter dem Blick unruhig wurde.

„Warum? Warum hast du uns verraten?“, fragte Kai.

„Ihr seid gefährlich“, flüsterte Igor und schaute nach Bestätigung suchend zu den Jägern. „Euch zu helfen ist ein Schwerverbrechen, ich will nicht verhaftet werden. Und ihr müsst … es darf euch einfach nicht geben! Kein Mensch sollte solche Kräfte haben! Das ist nicht normal!“

„Und alles, was nicht total normal ist, muss vernichtet werden, oder was? Nur weil wir nicht wie ihr sind! Nur deswegen! Weißt du, was mit dem Dorf passiert ist? Mit dem Dorf, auf das vorhin die Lawine hereingestürzt ist?! Das Dorf, in dem uns die Menschen so freundlich aufgenommen und uns geholfen haben?!“, schrie Kai den Blonden an. Er hatte seine Beherrschung verloren, doch es kümmerte ihn nicht. Spencers Vater hatte seine Augen weit aufgerissen und war einen Schritt zurück gestolpert. Er zitterte aus Angst.

„Es steht noch! Als hätte es nie eine Lawine gegeben, die das Dorf plattgemacht hätte! Das Dorf und alle Einwohner haben die Naturkatastrophe überlebt, ohne einen Kratzer! Und weißt du warum? Weißt du es?! Weil Tala und Ray das Dorf beschützt haben, mit ihren Fähigkeiten! Warum begreift ihr nicht, dass wir unsere Kräfte nicht für Böses, sondern genauso gut für Gutes einsetzen können?! Warum begreift ihr nicht, dass wir niemanden verletzen wollen?! Dass ihr es seid, die uns so weit treibt, andere zum Selbstschutz zu verletzen?! Warum?! Wir wollen doch auch nur in Frieden leben!!!“

„Bringt ihn endlich zum Schweigen!“, hörte Kai im Hintergrund jemanden rufen, doch er achtete nicht darauf. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Igor gerichtet, welcher zitternd und schwitzend vor ihm stand, mit weit aufgerissenen Augen und verängstigtem Begreifen darin. Doch es war zu spät. Igor mochte seinen Fehler vielleicht begriffen und seine Entscheidung, die Zeros verraten zu haben bereuen, doch für Kai war es zu spät.

Ein kleiner Stich im Arm sagte dem Graublauhaarigen, dass ihm wieder etwas injiziert wurde, dann umfing undurchdringliche Schwärze sein Bewusstsein.
 

Das leise Klicken des Schlosses riss Tala und Ray aus ihrer Starre. Eng zusammengedrängt saßen sie in einer Ecke der Zelle. Beide richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Tür, welche sich langsam öffnete.

Herein trat Boris, selbstsicher grinsend.

„Na, wie geht es euch?“

Tala zog die Augenbrauen zusammen. Doch er schwieg, ebenso wie Ray. Was sollten sie auch sagen?

„Nicht sehr gesprächig heute, was? Aber das ist egal, denn ich bin ja hier, weil ich euch etwas erzählen möchte. Besonders dir, lieber Ray. Oder Rei, wie du eigentlich heißt.“

„Du kanntest mich also wirklich?“, fragte Ray leicht fassungslos.

„Aber natürlich. Ich kannte dich sogar sehr gut, und deine Eltern. Zumindest hatte ich das bis vor einem halben Jahr noch gedacht.“

Ray schluckte.

„Und da du alles vergessen zu haben scheinst, will ich dich wieder einweihen. In deine Vergangenheit. Armer, ahnungsloser Rei...“

Spätestens jetzt hatte Boris Rays komplette Aufmerksamkeit. Der Chinese hing geradezu an den Lippen des Anderen.

„Und warum sollten wir dir glauben? Woher sollen wir wissen, dass ihr Rays Situation nicht einfach ausnutzt, um ihn zu verwirren und auf eure Seite zu ziehen?“, unterbrach Tala den Lilahaarigen. Als Boris den Rothaarigen ansah, lag ein Hauch von Anerkennung in seinem Blick.

„Du hast Recht. Woher sollt ihr das wissen. Nun, lasst mich meine Geschichte erzählen, dann können wir zu den Beweisen kommen. Einverstanden?“

Immer noch unzufrieden aber handlungsunfähig nickte Tala mit dem Kopf.

„Gut. Also, die ersten Esper sind ja vor ein paar Jahrzehnten aufgetaucht. Die Zeros kamen nur wenig später. Das war der Moment, in dem Biovolt gegründet würde. Vor zwanzig Jahren haben zwei Mitarbeiter von Biovolt, eine junge Koordinatorin und ein ausgezeichneter Jäger und Esper, geheiratet. Da man damals noch nichts von der Dominanz des Espergenes wusste, haben die beiden knapp drei Jahre später ein Kind bekommen. Einen Jungen namens Rei. Dich.“

Ray stockte der Atem. Seine Eltern hatten für Biovolt gearbeitet? Der Gedanke sorgte für Unbehagen bei ihm.

„Und ihr Sohn war natürlich auch ein Esper. Ein sehr guter sogar. Er hat mit vierzehn die chinesische Juniorengruppe der Jäger geleitet und bis zu seinem 16. Lebensjahr viele Erfolge für Biovolt eingeholt.“

Ray schüttelte den Kopf.

Nein, du lügst, wollte Ray schreien. Er wollte den Russen zum Schweigen bringen, ihn zwingen zu gestehen, dass er nicht die Wahrheit sprach, doch Ray konnte sich nicht rühren. Seine Gelenke waren steif, sein Körper wie erstarrt. Denn, wusste er denn, dass Boris log? Konnte es, so schrecklich es auch klang, nicht auch der Wahrheit entsprechen? Ray wollte nicht daran denken.

Und so fuhr Boris unbeirrt fort.

„Aber kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag passierte ein Unfall bei einer der Missionen. Rei wäre gestorben, doch er konnte sich retten. Mit der Hilfe eines BitBeasts. Seines BitBeasts, um genau zu sein. Für Biovolt war es natürlich ein Schock, zu erfahren, dass direkt unter ihrer Nase die ganze Zeit ihr schlimmster Feind gewesen war, ohne dass sie etwas bemerkt hatten.“

Boris hielt inne, der Mann sah Ray tief in die Augen, wie ein Raubtier es bei seiner Beute zu tun pflegte. Langsam sprach er weiter, als ob er über jedes Wort vorher genau nachdachte.

„Inzwischen sind wir zu der Feststellung gekommen, dass deine Eltern bereits sehr früh herausgefunden haben mussten, was du wirklich bist, Rei. Und sie haben dir wohl eingebläut, nie jemandem deine wahre Stärke, deine bösartige Natur, zu zeigen. Leider musstet ihr bei Biovolt bleiben, denn wer einmal für uns arbeitet, besonders in den hohen Positionen, die deine Eltern erreicht haben, der ist uns für ewig verpflichtet.“

Ernst blickte Boris zu Ray herunter. Man sah ihm an, dass es ihn wurme, dass der Chinese so lange hatte unentdeckt bleiben können.

„Jedenfalls hatten deine Eltern wohl einen Notfallplan ausgearbeitet. Keine fünf Stunden nach dem Unfall und der Entlarvung deiner wahren Natur wart ihr verschwunden. Ihr habt eure Namen geändert und seit untergetaucht. Mit Erfolg. Tja, und dann muss wohl irgendwann dieser tragische Unfall passiert sein, der deinen Eltern das Leben und dich dein Gedächtnis gekostet hat.“

Plötzlich grinste Boris.

„Schon lustig, da entkommt eine Dreiköpfige Familie der größten Organisation der Welt, nur um bei einem lächerlichen Autounfall zerstört zu werden. Das Schicksal ist schon manchmal tragisch. Nicht wahr, /Rei/?“

Doch Ray antwortete nicht. Der Chinese hatte sich in der Ecke noch mehr zusammengekauert und zitterte leicht.

Tala drückte kurz ermutigend Rays Schulter, dann erhob er sich, um mit dem Lilahaarigen auf Augenhöhe zu sein.

„Und? Was war jetzt der Sinn? Warum hast du uns das erzählt, Balkov? Wir werden eh bald sterben.“

Boris schüttelte seufzend den Kopf.

„Aber mein lieber Tala Ivanov, wer hat denn behauptet, dass ihr sterben werdet?“

Unverständnis zeigte sich auf den Gesichtszügen des Rothaarigen.

„Ob ihr lebt oder sterbt liegt ganz in euren Händen. Ich habe euch nämlich einen Vorschlag zu unterbreiten. Der Kampf gegen diese Plage von Zeros erweist sich als immer schwerer. Dieses Ungeziefer versteckt sich zu gut und dann sind immer mindestens drei Esper von uns notwendig, um einen Zero auszuschalten. Von daher wäre es nicht schlecht, selbst Zeros in den Reihen zu haben. Daher…“

„Was?! Ihr wollt, dass wir für euch arbeiten?! Ihr spinnt, niemals! Wir verraten uns doch nicht selbst!“, unterbrach Tala ihn aufgebracht.

Boris holte aus und verpasste dem Rothaarigen eine kräftige Ohrfeige, die diesen fast zu Boden schickte.

„Sei still und lass mich ausreden!“, zischte er, jetzt etwas ungehalten. „Also wo war ich? Ach ja! Von daher habe ich beschlossen, euch beide zu rekrutieren, als Jäger, wenn ihr es denn wollt. Als Gegenleistung erhaltet ihr in aller erster Linie euer Leben, ansonsten gelten für euch die gleichen Regeln, wie für die Esper, die für uns arbeiten. Verstanden? Oh, und wenn dann nehmen wir nur euch beide oder keinen. Wenn sich nur einer von euch entschließt, unser Angebot abzulehnen, werdet ihr Beide exekutiert. Ich gebe euch vierundzwanzig Stunde um euch zu entscheiden. Denkt gut darüber nach. Immerhin hängt davon ab, ob ihr noch eine Zukunft haben werdet.“

Ray schluckte. Sie saßen in der Falle, Tala ballte nur wütend die Fäuste zusammen und knirschte mit den Zähnen.

„Kai. Was ist mit ihm?“, fragte da plötzlich Ray.

Er machte sich Sorgen um den Graublauhaarigen. Doch Boris wedelte nur abwinkend mit der Hand.

„Der kleine Feuerteufel wurde vor ein paar Stunden gefangen. Er wird im Moment zu einer anderen Basis gebracht. Macht euch keine Hoffnungen, ihn wiederzusehen.“

Rays Herz zog sich schmerzhaft bei den Worten zusammen. Nein! Das konnte nicht sein! Nicht Kai! Bitte nicht Kai!

Ein lautes metallisches Klicken sagte den beiden Zeros, dass Boris sie soeben wieder alleine gelassen hatte.

Kraftlos sank Tala zu Boden.

„Scheiße“, flüsterte er leise. Ray schluchzte still.
 

Es konnten nur ein paar Minuten vergangen sein, zumindest kam es Ray so vor, doch sein Zeitgefühl hatte sich bereits vor Ewigkeiten verabschiedet. Jedenfalls öffnete sich die schwere Stahltür erneut. Zuerst dachte der Chinese, dass ihre Entscheidungsfrist bereits abgelaufen wäre, doch es war Lee, der die kleine –Zelle betrat.

Tala war schon wieder auf den Beinen und musterte den Jäger aus zu Schlitzen verengten Augen.

Nur noch ein paar Stunden, betete Ray. In ein bis zwei Stunden könnten sie sich befreien. War ihre Kraft am Anfang nur langsam widergekehrt, regenerierte sie sich inzwischen immer schneller, das spürte der Schwarzhaarige. seinem Freund konnte es nicht anders gehen. In ein par Stunden spätestens hätten sei wieder genug Energie gesammelt, um ihre BitBeasts einzusetzen und zu fliehen. Und dann könnten sie Kai retten.

„Was willst du?!“, spie Tala aus. Englisch, damit der Jäger ihn auch verstand. Der grinste selbstsicher.

Dann jedoch blickte er zu Ray und seine Augen verdunkelten sich.

„Und jetzt zu dir“, knurrte er und näherte sich dem noch immer am Boden kauernden Schwarzhaarigen. Diese wich etwas verängstigt zurück, Tala stellte sich sofort vor ihn. Erstaunt sah Ray hinauf. Er hätte damit gerechnet, dass der andere Zero ihn jetzt ignorieren oder sogar hassen würde, immerhin war er selbst ja mal einer dieser Jäger gewesen. Doch Ray schien sich verschätzt zu haben. Zum Glück.

„Geh aus dem Weg, dich geht das nichts an. Das ist eine Sache zwischen mir und /dem/ da“, zischte Lee, doch Tala rührte sich kein Stück. Auch Ray erhob sich langsam.

„Was ist dein Problem“, fragte er, wesentlich mutiger, als er sich fühlte.

„Was mein Problem ist? Du bist mein Problem!“

„Ach, und warum. Ich kann mich nämlich leider nicht daran /erinnern/, dir je etwas getan zu haben!“ Jetzt wurde auch Ray bissig. Er hasste es, dass ihm hier scheinbar etwas vorgeworfen wurde, von dem er nichts mehr wusste.

„Okay, dann erklär ich‘s dir! Du gehörtest zu unserem Team! Du warst unser Leader, der Stärkste von uns! Wir haben dir blind vertraut! Und du? Du hast uns verraten! Verraten und hintergangen und dann bist du ganz feige abgehauen! Gib‘s doch zu, du hast uns die ganze Zeit nur ausspioniert, wolltest unsere Schwächen testen und uns im richtigen Moment ausschalten und uns dann noch auslachen dabei! Du elender Bastard! Du hast keinerlei Ehrgefühl, Zero! Ich kann einfach nicht glauben, dass ich so was wie dich mal als Freund, fast Bruder, betrachtet habe! Unfassbar, wie blind ich doch war!“

„Ach, darum geht es dir also? Dein verletztes Ehrgefühl? Du bist genauso wie Balkov! Dich ärgert es doch nur, dass du nicht bemerkt hast, dass ich ein Zero bin! Das ich mich so lange vor euch verstecken konnte. Ich mag mich nicht daran erinnern, doch wenn das was ihr sagt wahr ist, dann seid ihr die Idioten, die sich von ihrem verletzten Stolz hinreißen lassen. Die nicht damit klar kommen, einen Fehler gemacht zu haben. Und hätte ich euch damals wirklich umbringen wollen, hätte ich das jederzeit tun können! Ehrlich“, hier stockte Ray kurz, “ich frage mich, warum ich das nicht getan habe…“

„Skrupel. Du hattest schon immer zu viele Skrupel davor, den letzten Schritt zu machen! Du warst bereits damals in dieser Hinsicht zu schwach, zu gefühlsduselig, zu friedlich! Und das hat sich wohl nicht geändert, selbst wenn du physisch stark sein magst, psychisch bist zu schwach und kümmerlich. Du hast es nur einmal jemals bis zu Ende bringen können!“

Ray schüttelte den Kopf. Lee betrachtete friedvolle Menschen also als schwach? Das war doch …

„…krank.“

Überrascht schaute Ray zu Tala, welcher sich bis zu diesem Punkt herausgehalten hatte.

„Ihr seid doch alle krank. Was glaubst du denn, Jäger, hätte Ray tun sollen? Er war ein Zero. Hätte er es euch verraten sollen? Damit ihr ihn töten könnt? Hättest du das denn an seiner Stelle getan? Wohl kaum!“

Lee blinzelte verwirrt. Diese Frage schien ihn aus dem Konzept zu bringen. Er schüttelte den Kopf.

„Darum geht es nicht! Er ist ein Zero, so wie du, menschlicher Abschaum! Zu gefährlich, um am Leben gelassen zu werden!“

„Feiglinge! Tötet nicht immer alles, was ihr nicht versteht! Sonst wird sich die Menschheit nie weiterentwickeln, kein Wunder, dass sich die Leute langsam aber sicher selbst ausrotten. Dazu braucht ihr unsere Hilfe doch gar nicht! Eure Massenvernichtungswaffen erledigen das doch schon für uns!“

„Das ist was völlig anderes!“

„Ach, ist es das wirklich?“

Mit einem Wink seiner Hand, hatte Lee Tala zu Boden befördert und mit einem zweiten Wink Ray zurück an die Wand geschleudert.

„Es reicht!“

Dann zog er aus seiner Tasche zwei kleine Spritzen hervor und während er Ray und Tala mit seinen Kräften zu Boden drückte, injizierte er ihnen den Inhalt.

Keiner von ihnen hatte die Chance, sich zu wehren.

Und Ray spürte die vernichtende Wirkung des unbekannten Mittels sofort. Seine paranormalen Kräfte, die sich in den letzten Stunden immer mehr erholt hatten, ließen plötzlich wieder nach, als ob sie ihm entzogen wurden. Konnte das denn sein?

Nein, als Ray genauer in sich hinein horchte merkte er, dass ihm seine Kräfte nicht entzogen worden. Sie waren noch da, da war sich der Langhaarige sicher. Ray war sich viel mehr sicher, dass seine Kräfte durchaus noch da waren, auch Drigger war noch da, wurde sogar weiter stärker, aber er konnte ihn schlichtweg nicht mehr spüren, nicht greifen, nicht kontrollieren und lenken. Es war, als wären seine Kräfte zwar noch da, aber er hatte einfach keinen Zugriff mehr darauf. Als wären sie weggesperrt worden. Aber ging das denn? War so etwas möglich?

„Was zum Teufel hast du uns gegeben?“, forderte Tala zu wissen.

Lee grinste zufrieden.

„Nicht mehr so aufmüpfig, was?“

In kurzen Sätzen schilderte der Jäger ihnen die Wirkung des Mittels, das er ihnen gerade verabreicht hatte.

„Wir wollen doch nicht, dass ihr eure Kräfte wiedererlangt und einfach flüchtet, noch dazu mit dem Wissen, wo sich unsere Trainingsbasis befindet. Das können wir nun wirklich nicht zulassen. Euer Freund hat mit dem gleichen Mittel Bekanntschaft geschlossen. Wie hieß er? Hitari?“

„Hiwatari!“

„Ja, genau, Hiwatari, das war es! Na, auch egal, euch geht das eh nichts mehr an.“

Mit einem letzten Blick auf die zwei fassungslosen Zeros verließ Lee die Zelle.

Und wieder wurden Ray und Tala allein in ihrem Gefängnis zurückgelassen, allein, nur mit sich selbst und ihren wirren Gedanken.
 

Erwartungsvoll blickte Boris Balkov zu ihnen hinunter.

Dieses Mal hatte sich Tala nicht mehr die Mühe gemacht, aufzustehen. Er sah nicht einmal mehr auf, sein Blick war müde auf den Boden gerichtet. Ray lehnte erschöpft an dessen Schulter.

„Und, habt ihr euch entschieden?“

Der Rotschopf ballte die Hände zu Fäusten, blieb ansonsten jedoch regungslos. Dafür blickte Rays ziemlich hoffnungslosen Bernsteinaugen zu dem Lilahaarigen auf.

„Ja“, flüsterte er heiser, „ja, wir treten euch bei.“
 

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Kapitel 21


 

21. Kapitel

Hatten sie zu früh aufgegeben?

Hätten sie noch eine Chance gehabt?

Hätten sie noch entkommen können?

Hätten sie Kai noch retten können?

All diese Dinge gingen Ray durch den Kopf, als er die Knöpfe der grässlichen, blendend weißen Jacke schloss - das letzte Teil seiner neuen Jägeruniform. Der glatte, dehnbare Stoff schmiegte sich angenehm an seinem Körper und ermöglichte optimale Bewegungsfreiheit. Die Kleidung war sicher teuer, doch Ray hasste sie jetzt schon. Da konnten auch die dünnen roten Nähte nichts ändern, die ihm vorher nie aufgefallen waren. Man sah sie nur von Nahem und bis jetzt hatte der Schwarzhaarige derartige Nähe zu Jägern vermieden. Außer bei Alexey, aber das war etwas anderes gewesen. Und Alexey hatte auch nie seine Uniform bei ihren Treffen getragen, wahrscheinlich, damit Ray nicht an Augenkrebs erkrankte. Die rote Farbe der Nähte erinnerte ihn an Blut.

Er fürchtete sich schon vor dem Blick in den Spiegel.

Seufzend strich er den so schon tadellos sitzenden Stoff noch einmal glatt und trat aus dem Raum, den man ihm zum Umziehen zur Verfügung gestellt hatte. Seine Kräfte waren noch gebannt, von daher stellte er keinerlei Gefahr da.

„Huch, Tala? Musst du deine Uniform etwa nicht anziehen?“, fragte er beinahe neidisch.

Der Rothaarige trug zwar nicht mehr die beschädigten Kleider, in denen sie gefangen genommen wurden, dafür aber nur einfache Jeans und einen dünnen dunkelgrünen Rollkragenpullover. Keine grässliche, weiße Uniform mit Biovolt-Logo.

Tala zuckte mit den Schultern. Er sah unglücklich aus. Er /war/ unglücklich. Genauso wie Ray.

„Sie haben mir keine gegeben. Ich bräuchte wohl keine, meinten sie…“

Unwohl blickte er sich um. Noch waren sie alleine. Noch war keiner von Biovolt bei ihnen.

„War unsere Entscheidung richtig?“, fragte er leise.

Überrascht sah Ray auf.

Tala zweifelte.

Noch nie hatte er Tala zweifeln sehen. Der Rotschopf wirkte immer so selbstsicher, so stark. Doch auch er schien seine Grenzen zu haben. Und diese waren jetzt erreicht. An dem Punkt, an dem ihm die Situation völlig entglitten war und er über keinerlei Kontrolle mehr verfügte. An dem er völlig auf die Gnade seiner Todfeinde angewiesen war. Das schien der Punkt zu sein, an dem auch Tala Ivanov Schwäche zeigte.

„Tod bringen wir niemandem etwas“, war das Einzige, was Ray antwortete, leise, falls es Kameras oder Wanzen gab.

Seine Antwort meinte er vollkommen ernst. Ihr Tod hier wäre sinnlos. Es wäre kein öffentlicher Tod, der die Leute aufrütteln könnte, so wie es die Märtyrer gemacht haben. Doch so, lebend, wenn auch in Biovolts Krallen, könnten sie versuchen zu fliehen, so könnten sie Informationen über den Feind sammeln. So hätten sie eine Möglichkeit, vielleicht Kai noch einmal wiedezusehen.

Kai…

Ray vermisste ihn. Immer öfter musste er an den sturen, graublauhaarigen Russen denken, der sich in sein Herz geschlichen hatte.

Inzwischen wusste Ray nicht, ob er es bereuen sollte, dass sie damals in der Scheune nicht miteinander geschlafen hatten. Vielleicht war das ihre einzige Chance gewesen. Die einzige Chance, den Anderen jemals so nah spüren zu können. Und sie hatten sie vertan…

Der Chinese wusste, tief in seinem Inneren, dass Kai wahrscheinlich nicht mehr lebte. Wenn die Jäger ihn wirklich gefangen hatten, dann war der Russe sicher schon Tod oder aber auf dem direkten Weg dorthin. Doch diese Gedanken verbat Ray sich vehement. Denn allein die Hoffnung, Kai noch retten zu können, war es, die ihn dazu gebracht hatte, Biovolts Angebot anzunehmen.

Tala war sich dessen sicher bewusst. Was Tala dazu bewegt hatte, Biovolt – die er über alles hasste – beizutreten, konnte Ray dagegen nicht sagen. Vielleicht wollte der Russe ihn einfach nur nicht im Stich lassen? Denn hätte er abgelehnt, wären sie Beide gestorben, hingerichtet worden. Mit richterlichem Einverständnis.
 

Grimmig sah er sich um, während er dem untersetzten kahlköpfigen Mann folgte.

Kai war nicht glücklich.

Kai war überhaupt nicht glücklich.

Vielleicht einen Tag war es her, dass Igor ihn verraten und an Biovolt ausgeliefert hatte. Seitdem war er bestimmt drei Mal bewusstlos geschlagen und mindestens zwei Mal mit diesem Zeug, das seine paranormalen Fähigkeiten unterdrückte, vergiftet worden.

Und jetzt gerade befand er sich irgendwo in einem Gebäude.

Und irgendwo traf es gut, denn der Graublauhaarige hatte absolut keine Ahnung, wo dieses /Irgendwo/ denn sein könnte. Idiotischer Weise überall auf der Welt aber vermutlich ziemlich weit weg von Russland. Aber auch das war nur ne Vermutung. Gott, sie könnten genauso gut direkt neben seinem alten Heim in Moskau sein, ohne dass Kai das merken würde, in diesem Gebäude eingesperrt! Es war frustrierend!

Ein kleiner Teil in Kai hoffte ja, dass er sich am selben Ort befand, wie Ray und Tala. Dass sie sich noch einmal wiedersehen und gemeinsam flüchten könnten.

Aber der wesentlich größere und vernünftigere Teil von Kai schalt diesen kleinen Teil einen naiven Dummkopf, denn niemals würde Biovolt, selbst wenn seine beiden Freunde hier in der Nähe waren, ein Treffen zwischen ihnen zulassen. Und selbst wenn es, entgegen aller Erwartungen, doch dazu kommen sollte, dann hätten sie niemals eine Chance zu fliehen. Nicht ohne ihre BitBeasts aus einer Hochburg Biovolts.

„So, da wären wir!“, verkündete der Dicke vor ihm.

Kai kam zum Stehen und starrte die graue Stahltür vor sich an. Was auch immer dahinter lag, wurde gut geschützt. Vor Eindringlingen oder gegen Ausbrecher?

Unruhig zerrte Kai an seinen Handschellen, die seine Handgelenke fest hinter seinem Rücken zusammen hielten. Seine Arme schmerzten bereits von der dauerhaft unnatürlichen Haltung.

Hinter der Tür konnte so ziemlich alles liegen, von weiteren Gefängniszellen über Büros von hochrangigen Biovoltangestellten bis hin zum elektrischen Stuhl. Bei dem letzten Gedanken musste Kai schlucken. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er wohl nie wieder einen Sonnenaufgang sehen würde.

Gott, er würde wahrscheinlich nie wieder die /Sonne/ sehen!

Und auch seine Freunde …

Aber vielleicht waren sie schon längst tot? Immerhin hatte Biovolt Ray und Tala bereits früher geschnappt, also warum sollten die Beiden noch leben? Und er hatte sich nicht einmal von Ray verabschiedet…

Kai musste blinzeln. Seine Hände zitterten leicht und eine plötzliche Übelkeit machte sich in ihm breit.

Er würde sterben.

Endgültig von dieser Welt verschwinden.

Für immer.

Diese Erkenntnis traf den Zero hart, doch die Realität war nun einmal grausam.

Fast hätte der Graublauhaarige den Mann vor sich gefragt, was jetzt mit ihm passieren würde, doch er konnte sich gerade noch so auf die Zunge beißen. Er würde keine Schwäche zeigen! Und er würde niemals bei Biovolt betteln oder um Gnade flehen, so tief würde er nicht sinken!

Obwohl all das eigentlich völlig egal war, er war eh bald tot.

„Nun beweg endlich deinen Arsch!“, schnauzte der Mann ihn an und stieß die Tür auf.

Sofort verkrampften sich Kais Innereien, hunderte Horrorszenarien spielten sich in seinem Kopf ab, von dem, was dahinter lag, doch was er sah, übertraf all seine Erwartungen.

Geschäftiges Treiben herrschte in dem großen Raum, dessen Decke von mehreren Säulen gestützt werden musste.

Männer und Frauen in weißen Kitteln arbeiteten an Rechnern, trugen merkwürdige Gerätschaften durch die Gegend oder diskutierten heftig miteinander.

Das hier war ein gottverdammtes Labor!

Kai schüttelte sich. Ein furchtbarer Gedanke keimte in ihm heran.

Sie wollten ihn doch nicht etwa als Laborrate benutzen?! Da wäre ihm der elektrische Stuhl dann doch um einiges lieber.

„Ah, Thompson, sie haben den Neuen gebracht? Das ist gut, in den OP 6 bitte, wären sie so gut?“

Der Mann, der ihn hierher gebracht hatte brummte zustimmend und zog Kai rücksichtslos weiter.

Doch da erregte etwas die Aufmerksamkeit des Zeros.

„Garcia? Garcia?! Manuel!!!“, schrie er laut in dem Versuch, die anderen Geräusche zu übertönen und die Aufmerksamkeit des schwarzhaarigen Mexikaners zu erlangen, welcher dort stand, mitten in einer Gruppe von weißgekleideten Wissenschaftlern.

Kais Gedanken wirbelten wie wild.

Manuel lebte noch? Manuel Garcia? Der Anführer der Rebellengruppen aus Mexiko? Der Mann wurde vor mindestens einem Monat gefangen genommen, etwa zu der Zeit, als Ray gerade ins Heim gekommen war.

Die Demolitionboys waren davon ausgegangen, dass Manuel längst hingerichtet worden war, denn war es nicht das gewesen, was sie in den Nachrichten gesagt hatten?

Andererseits – wer vertraute schon den Nachrichten in Zeiten wie diesen?

Doch der schwarzhaarige Zero reagierte nicht. Ein paar der Wissenschaftler drehten sich irritiert zu ihm herum, als Kai laut den Namen geschrien hatte und ermöglichten dem Russen dadurch einen besseren Blick auf seinen ‚Kollegen‘.

Manuels einst kräftiger Körper war abgemagert – sicher eine Folge der Gefangenschaft – und seine Haare reichten ihm bis über die Schultern. Und sein Gesicht war völlig ausdruckslos, kein Muskel zuckte, keine Regung, nicht mal ein Blinzeln. Und die Augen waren weit offen, doch sie schienen ins Leere zu blicken, waren unfixiert und lagen tief in den Höhlen.

Kai schauderte. Was hatten sie mit ihm gemacht?

Da wurde er grob herumgerissen.

„Schluss mit den Mätzchen, du verdammter Bastard! Komm endlich!“

Sein ‚Führer‘ schien ziemlich angepisst von Kais Eskapade zu sein, doch den hätte das nicht weniger kümmern können. Manuels Bild spukte in seinem Kopf herum und der Gedanke, selbst so zu Enden, machte ihm mehr Angst, als seine eben noch aufkommende Panik vor einem baldigen Tod.
 

Erwartungsvoll sahen Tala und Ray auf, als Balkov eintrat.

Ray zog etwas unruhig an seiner Jäger-Uniform, während Tala einfach ruhig neben ihm stand.

„Ah, sie steht dir noch immer fabelhaft, Rei“, lobte der Lilahaarige, doch Ray fühlte sich nicht im Geringsten geschmeichelt.

„Warum hab nur ich eine Uniform belkommen?“, fragte er daher.

„Nun“, Balkov lächelte unbekümmert weiter, als hinter ihm Lee eintrat und Ray aus hasserfüllten Augen anblitzte. Der Chinese schien nicht glücklich damit, dass der Langhaarige jetzt wieder ein Jäger war und für Biovolt arbeitete. Lee wollte ihn wohl lieber tot sehen, mutmaßte Ray.

„Du glaubst doch nicht, dass wir euch vertrauen, oder? Selbst Biovolt braucht eine Rückversicherung, denn dumm sind wir nicht. Und wir brauchen euch Zeros mit euren Kräften, daher müssen wir einer möglichen Flucht schon einmal vorbeugen. Klar?“

Irritiert nickte Ray.

Ihm war schon klar, was Boris ihm da zu erklären versuchte, aber worauf wollte der Leiter von Biovolt hinaus? Was hatte die Uniform damit zu tun?

„Ach klar, was denn sonst, und mich erwischt es wieder, was?“, schnaubte da Tala neben ihm.

Ray Blick wanderte zu Tala. Der Rothaarige schien verstanden zu haben, worauf Boris hinaus wollte.

„Ah, du bist wirklich nicht dumm, Ivanov. Vielleicht können wir dich auch ohne deine Kräfte im koordinierenden Bereich einsetzen. Du könntest dich dort wirklich als sehr nützlich erweisen.“

„Tala, was meint er? Wovon redet ihr?“, fragte Ray noch immer kein bisschen schlauer.

„Ganz einfach, Rei. Der Grund, warum wir nur euch beide zusammen nehmen und nicht nur einen von euch. Hast du dich nicht nach dem Hintergrund dafür gefragt? Ganz einfach, einer von euch wird als Pfand auf unserer Basis bleiben. Damit der von euch, der draußen arbeitet, einen Anreiz hat zurückzukommen.“

„Tala soll als Geisel hierbleiben?!“, rief Ray schockiert.

Boris nickte bestätigend: „So ist es.“

„Aber warum er?“

Boris zuckte mit den Schultern.

„Zum Einen hast du schon Mal für uns gearbeitet, auch wenn du selbst es nicht mehr weiß. /Wir/ wissen noch, wie du in etwa operierst, viel wird sich da sicher nicht geändert haben. Außerdem bist du psychisch abhängiger von Ivanov als er von dir, daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass du ihn zurücklässt und allein flüchtest geringer als umgekehrt. Genau genommen geht sie gegen null.“

„Psychisch abhängiger?“ Was wollte Boris damit sagen? Dass Ray abhängig von Tala war? Auch der Rothaarige runzelte die Stirn.

„Na ja“, Balkov grinste leicht, „da Ray sein Gedächtnis verloren hat und seine einzigen Freunde Ivanov und Hiwatari waren, an die er sich je erinnern kann dadurch, hat er im Gegensatz zu Ivanov keinen Ort oder keine Person, zu der er flüchten könnte oder würde. Hiwatari fällt ja raus. Außerdem hat er eine größere Bindung zu Ivanov und ist damit praktisch emotional sehr anhängig von ihm als umgekehrt. Du würdest Ivanov nie wissentlich irgendeiner Gefahr aussetzen, Rei. Dazu kommt, dass schon dein Charakter von wesentlich freundlicherer und friedlicherer Natur ist, als Ivanovs.“

Verdammt, das klang sogar ziemlich logisch, auch wenn Ray sich weigerte auch nur eine Sekunde daran zu denken, dass Tala ihn an seiner Stelle im Stich lassen würde. Obwohl Ray es ihm dann wahrscheinlich nicht einmal übel nehmen würde.

„Lee, geleite unseren stationären Zero doch bitte schon Mal zum Hubschrauber. Ich habe Rei noch ein paar Dinge zu erklären.“

Lee nickte und bedeutete Tala, ihm zu folgen.

„Zum Hubschrauber?“

„Ja, ihr werdet nach Amerika gebracht, dort gibt es mehr Zeros, derer wir habhaft werden müssen. Dort seid ihr nützlicher.“
 

Er wehrte sich. Er wehrte sich wirklich.

Er stemmte sich gegen die fremden Hände, die Fesseln, er trat und schlug nach allem, was in seine Nähe kam, doch im Endeffekt war alles sinnlos.

Keuchend und schwitzend lag Kai auf dem Operationstisch, auf dem ihn die Wissenschaftler mit Hilfe einiger kräftiger Männer fixiert hatten.

Seine Oberarme und Handgelenke wurden durch feste Lederriemen auf die Tischplatte gepresst, ähnliche Lederriemen hielten seine Oberschenkel und Fußgelenke. Während seine Arme im neunzig Grad Winkel zu seinem Körper befestigt worden waren, waren seine Beine nur leicht gespreizt.

„Was soll das werden, wenn‘s fertig ist?!“, knurrte er aufgebracht.

Ein Wissenschaftler mit lichtem, schwarzem Haar, dessen kurze Locken in alle Richtungen abstanden und mit einer dicken, runden Brille, tauchte in seinem Blickfeld auf.

„Je leichter sie es uns machen, desto schmerzloser wird der Eingriff. Bitte bleiben sie darum ruhig junger Mann.“

Fast hätte Kai gelacht. War der Mann verblödet? Erwartete er tatsächlich, dass Kai still da lag und diese … diese /Irren/ …. an ihm herumexperimentieren ließ?!

„Was wir hier tun, haben wir bereits ein paar Mal erfolgreich ausgeführt. Wir werden ihnen sehr helfen damit. Wir werden sie wieder in einen normalen, vernünftigen Bürger verwandeln. In einen Menschen!“

Okay, der Mann war wirklich total durchgeknallt. Erneut stemmte Kai sich gegen die Fixierung.

„Und gleichzeitig werden wir eine ungeheure Energiequelle bergen, die der Menschheit äußerst nützlich sein wird! Ist das nicht wunderbar?!“

Der Kerl war total begeistert von seiner wahnwitzigen – was auch immer - Idee.

„Und das alles, indem wir ihnen einfach ihr BitBeast entfernen!“

Was?!!!

Kai erstarrte.

Was wollten sie tun?!

Ungläubig schüttelte er den Kopf.

„Das … das geht nicht“, brachte er schließlich heraus.

Das ging nicht! Dranzer gehörte zu ihm, war ein Teil von ihm! Sie konnten ihn ihm nicht einfach wegnehmen! Das war nicht möglich!

„Papperlapapp“, widersprach der Wissenschaftler, „bei Manuel Garcia hat es wunderbar funktioniert, und das wird es bei ihnen auch. Sie werden schon sehen, danach werden sie sich ganz wunderbar fühlen! Und so menschlich!“

Ja. Ganz wunderbar. So hatte der Mexikaner auch ausgesehen.

Schweiß rann über Kais Stirn. Angstschweiß.

Ihm wurde klar, dass er nicht gegen die Fesseln ankam. Und ihm wurde klar, dass es dieser irre Wissenschaftler ernst meinte.

Kurz musste er an Viktor Frankenstein denken, den Erfinder von Frankensteins Monster. Der hat sich sicher auch so wahnsinnig benommen. Ob sie verwandt waren?

„So, aber da sie solche Angst zu haben scheinen, kann ich dir denn noch einen Wunsch vorher erfüllen? Im Bereich des Möglichen natürlich? Um sie aufzulockern?“

Überrascht schaute Kai auf. Der Mann schien es ernst zu meinen.

Mich freizulassen war sicher keine Option, aber…

Kai überlegte. Er würde sterben, oder zumindest ein Teil von ihm. Und trotzdem, der Mann war bereit, ihm einen ’Wunsch‘ zu erfüllen. Wie konnte er das Beste aus der Situation herausschlagen.

Plötzlich kam ihm etwas in den Sinn, etwas, dass er noch zu erledigen hatte, bevor er diese Welt verließ.

Bryan.

„Wer… wer hat meinen Bruder umgebracht?“, würgte Kai hervor. Es wäre einen Versuch wert.

Der Schwarzhaarige blinzelte.

„Ihren Bruder? Wurde er etwa von Jägern getötet? War er ein Zero? Ja? Sie armer, noch ein Monster in der Familie, das war sicher schrecklich! Wie hieß er denn?“

„Bryan…“

„Ahhh, warten sie einen Moment, ja? Eine Sekunde. Es wird sicher im System drin stehen, immerhin sind dort die Berichte aller Missionen der Jäger gespeichert.“

Der Mann tippte etwas auf seinem Computer ein.

Kai verrenkte sich den Kopf, um einen Blick auf den Bildschirm werfen zu können. Er konnte nicht fassen, dass der Kerl wirklich versuchte, seine Frage zu beantworten! Das Suchprogramm lief.

Dann gab es einen Treffer. Und noch einen, und einen weiteren!

„Ja, da haben wir‘s“, murmelte der Wissenschaftler, „die Auflistung der Erfolge, die Lokalisierungsdaten, da, der Hauptbericht!“

Eilig blätterte er durch die Seiten, verlagerte dabei sein Gewicht und versperrte Kai die Sicht auf den Bildschirm.

„Ja, Bryan Hiwatari, Zero aus Moskau. Ziel wurde vor zwei Jahren ausgeschaltet von den chinesischen Jägern… Exekutiert von…. Rei Kon.“

Kais Blut gefror.

„Was“, hauchte er.

Der Schwarzhaarige trat einen Schritt beiseite, sodass Kai wieder beste Sicht auf den Bildschirm hatte. Dort sah er zwei Bilder.

Das erste zeigte seinen Bruder. Tot, in seinem eigenen Blut liegend. Kai schluckte, es war das gleiche Bild, dass ihm der Jäger damals gezeigt hatte, als er ihn vor Bryans Tod informiert hatte.

Das zweite Foto aber war es, das Kais Aufmerksamkeit auf sich zog. Darauf konnte man einen Jäger erkennen, noch recht jung. Rote Flecken zierten seine weiße Uniform, lange schwarze Haare umrandeten das Gesicht.

Ray.

Ray war ein Jäger.

Und Ray hatte Bryan getötet.

Kai sah Rot.
 

Bis zum nächsten Mal,

achat

Kapitel 22

22. Kapitel

Wie viel konnte ein Mensch ertragen, bis er zerbrach?

Wie viel konnte eine Seele ertragen, bis sie in tausend Teile zersprang?

Wie viel konnte der Geist ertragen, bis er sich auflöste?

Wie viel konnte der Verstand ertragen, bis er dem gierigen Griff des Wahnsinns nachgab?

All diese Fragen schwirrten in Kais Kopf herum. Er wusste die Antwort nicht. Doch er wusste, dass er längst alle Grenzen überschritten hatte.

Seine leeren Augen starrten auf seine Hände, während er vollkommen bewegungslos in der Ecke seiner eisigen grauen Zelle verharrte.

Am Ende war doch alles egal.
 

„Wo sind wir hier?“

Neugierig blickte Ray sich um.

Tala und er wurden von Boris und Lees Team zum Flughafen in China gebracht, dort flogen sie mit einem Jet von Biovolt nach Amerika, wo sie wiederrum von einem anderen Team abgeholt und mit dem Auto hier her gebracht wurden.

Da es bereits dunkel draußen war, sahen sie nicht viel von der Umgebung, obwohl Ray während der ganzen Fahrt ausschließlich aus dem Fenster starrte.

Er wollte weder Boris noch die Jäger sehen, denn sie erinnerten ihn nur daran, dass er jetzt ‚dazugehörte‘. Dass sie seine ‚Kollegen‘ waren, in Boris‘ Fall sein Vorgesetzter.

Und immer wenn Ray Tala sah, seine leicht gebeugte Haltung, die gedrückte Stimmung, die er ausstrahlte, die Hoffnungslosigkeit, die seine Augen zu schreien schienen, dann wurde ihm speiübel.

So war das Einzige, was Ray tun konnte, aus dem Fenster zu starren, den Anderen den Rücken zuzudrehen und sich von der Außenwelt abzuschließen.

Doch jetzt waren sie angekommen.

Und der Anblick, der sie begrüßte, war überwältigend.

Von einem hohen, stromdurchflossenen Stacheldrahtzaun umgeben, befand sich ein großes Areal, in dessen Mitte mehrere Häuser kreisförmig angeordnet zu sein schienen.

Es waren große Bauten, im modernen Stil, aus Stahl und Glas. Doch trotz der recht eigenwilligen Eleganz und Schönheit, die sie hatten, kam man nicht umhin, die starken Sicherheitsvorkehrungen zu bemerken.

Im Abstand von fast dreißig Metern waren Wachposten um jedes der Häuser aufgestellt, Soldaten patrouillierten in regelmäßigen Abständen an dem Schutzzaun entlang, alle hatten mindestens eine Schusswaffe bei sich, die sie offen sichtbar trugen.

Dazu kamen noch unzählige Kameras, die wohl jeden Quadratmillimeter des gesamten Geländes abdeckten. Und Ray war sicher, dass er nur weniger als ein Drittel der Kameras aktuell sehen konnte und der Rest gut verborgen war.

Hier konnte man keinen Schritt unbeobachtet tun, keine Handlung blieb unbemerkt, es war schon jetzt nervenaufreibend.

„Heilige Scheiße“, flüsterte Tala neben ihm. Auch er schien widerwillig beeindruckt.

Was befand sich in den Häusern, dass Biovolt es stärker sichern ließ, als das Weiße Haus?

„Willkommen in eurem neuen Zuhause“, grinste Boris zufrieden.

Ray schauderte.

„Hier werden wir also ab jetzt leben?“, fragte er unwohl.

Diese Gegend sah zu unwirtlich aus. Alle Bäume – falls hier Mal welche gestanden hatten – waren abgeholzt worden, kein Grashalm wuchs, alles, was man sah, war eine einzige Betonwüste.

„Ihr werdet euch schon daran gewöhnen. Außerdem wirst du sehr viel unterwegs sein Ray, um Zeros zu jagen.“

Ray schüttelte den Kopf bei dem Gedanken daran.

„Kommt, ich zeig euch eure Zimmer. Außerdem ist es Zeit für Talas Spritze.“

Trotz der Zusage wurden Talas Kräfte noch immer unterdrückt, damit er wehrlos war. Und das würde auch solange so bleiben, bis Biovolt sicher war, dass weder Ray noch Tala sich gegen die Organisation wenden würden, also für immer.

Einen Fakt, den der Rothaarige über alles hasste. Aber im Moment blieb ihnen keine andere Wahl.

„Hat das Mittel auf Dauer keine Nebenwirkungen?“, fragte der Rothaarige genervt, als sie Gebäude Nummer Drei betraten.

„Nein, zumindest wurden noch keinen entdeckt. Aber Langzeittests gibt es in der Hinsicht auch noch nicht, da wir diese Spezialhormone ja erst vor ein paar Monaten entwickelt haben. Melde dich bei den Ärzten, wenn du was Unnormales bei dir feststellst.“

Boris sagte das, als wäre es das normalste der Welt. Manchmal hasste Tala Ehrlichkeit.

„So, da wären wir. Das hier ist dein Zimmer, Ivanov. Es ist eine Art kleine Wohnung mit Küche, Bad und Schlafzimmer. Ray, du wirst im Trakt der Jäger untergebracht. Folge mir bitte.“

Mit einem letzten besorgten Blick zu seinem Freund folgte der Chinese dem Lilahaarigen. Nie war den Beiden der Gedanke gekommen, dass man sie trennen würde. Ray fühlte sich unwohl, so ganz allein, ohne die Unterstützung Talas. Irgendwie schutzlos und nackt. Vielleicht hatte Balkov recht gehabt. Vielleicht war er tatsächlich von Tala abhängig...
 

Langsam schlich Ray durch die Gänge. Er war müde. So unendlich müde und erschöpft.

Vor knapp zwei Wochen waren Tala und er in Amerika angekommen. Vor knapp zwei Wochen hatte der Chinese seinen neuen Job begonnen. Und vor knapp einer Woche hatten die Zweifel begonnen.

Zweifel, ob das, was sie hier taten, richtig war. Ob es einen Zweck hatte, ob sie ihr Ziel, Kai zu retten, erreichen würden. Ob sie jemals wider in Freiheit sein würden.

Vor einer hellen stählernen Tür, welche genauso langweilig und kalt aussah, wie all die anderen, blieb er schließlich stehen, zog eine weiße Karte durch den Schlitz daneben und wartete, bis das Lämpchen von rot zu grün wechselte.

Dann klopfte er kurz und betrat die dahinter liegenden Räume. Auf ein ‚Herein’ wartete er gar nicht erst, er würde sowieso keines erhalten.

„Oh, hi Ray, du bist es“, wurde der Chinese von Tala begrüßt.

Dem Rotschopf hing eine leuchtend grüne Zahnbürste aus dem Mundwinkel, deren Farbe sich sehr mit seinem Haar biss.

Bei dem Anblick musste Ray leicht grinsten.

„Geh schon mal in die Küche, ich komm gleich“, nuschelte Tala.

Lustlos folgte der Schwarzhaarige der Anweisung und ließ sich ziemlich unelegant und lustlos auf einen der beiden weißen Plastikstühle plumpsen.

Auf dem Herd köchelte bereits etwas vor sich hin, wahrscheinlich ihr Abendessen, mutmaßte Ray.

Seit sie hier waren, nahm er seine Mahlzeiten ausschließlich mit seinem Freund zusammen ein und nicht, wie die anderen Jäger, in der großen Kantine. Zum Einen hatte er sich das angewöhnt, damit Tala nicht alleine Essen musste, denn der durfte ja seine Räume nicht verlassen, zum Anderen hatte Ray nicht vor, mehr Zeit als notwendig mit seinen ‚Kollegen’ zu verbringen.

Tief durchatmend schloss Ray die Augen und versuchte, sich zu entspannen.

Langsam beruhiget sich sein Innerstes, er nahm die Geräusche um sich wahr, das Brodeln des Inhaltes des Topfes auf dem Herd, die Rauschen des Wassers aus dem Badezimmer, das leise Klicken des Herdes, wann immer sich dieser ein- oder ausschaltete, das Öffnen und Schließen einer Tür, Schritte, die immer lauter wurden, …

„Alles in Ordnung?“

Hilflos zuckte Ray mit den Schultern.

Er spürte Tala hinter sich, doch dann wandte dieser sich den Schränken zu. Geschirr klapperte, Besteck klirrte, etwas tropfte.

Dann wurde etwas vor ihm auf dem Tisch abgestellt.

„Nudelsuppe, zu mehr hatte ich keine Lust, auch, da ich nicht wusste, ob du heute kommen wirst. Ich hab übrigens schon gegessen.“

Erst jetzt öffnete Ray die Augen.

Er versuchte, jegliche Emotionen aus seinen Zügen herauszuhalten.

„Tut mir Leid. Der Auftrag gestern kam sehr plötzlich, sie haben mir keine Zeit gegeben, dir was zu sagen.“

Tala zuckte nur mit den Schultern.

„Schon okay, du kannst ja nichts dafür.“

„Mh…“

Ray machte keine Anstalten, das Essen anzurühren. Tala musterte ihn misstrauisch.

„Was ist passiert?“

Normalerweise fragte der Rotschopf nie, was Ray während seiner ‚Arbeit’ machen musste, denn er wollte nicht wissen, wofür ihre Kräfte missbraucht wurden.

Fragend hob Ray eine Augenbraue.

„Was lässt dich glauben, es wäre etwas passiert?“

„…“

Beide schwiegen eine Weile.

Ein bitteres Grinsen schlich sich schließlich auf Rays Lippen.

„Du hast recht… Der Auftrag gestern… Ein paar Jäger und ich, wir sollten einer ziemlich heißen Spur nachgehen. Ein Zero wurde in New Jersey gesichtet, wir sollten ihn ausfindig machen und vernichten.“

Bei dem letzten Wort schluckte Ray hart.

Auch Tala war blass geworden.

„Ich meine… ich wusste, dass es früher oder später passieren würde, immerhin sind wir nur deswegen hier aufgenommen worden, aber als ich von dem Auftrag erfahren haben… war ich schockiert. Und ich hatte Angst. Höllische Angst.“

„Habt ihr den Zero gefunden? Ihn… eleminiert?“

Ray schüttelte den Kopf.

„Es war eine falsche Information…. leider“, das letzte Wort fügte er noch schnell hinzu.

Tala schieg weiterhin, doch er entspannte sich sofort. Auch Rays Blick drückte Erleichterung über die erfolglose Jagd aus.

Zustimmend nickte der Rothaarige. „So ein Pech“, erwiderte er fast emotionslos, sein Blick schweifte ziellos umher.

Sie mussten vorsichtig sein, mit dem was sie sagten, dass war ihnen bereits früh klar geworden.

Sie waren jetzt Jäger und das größte Ziel der Jäger war die Auslöschung aller Zeros.

Sollten Ray und Tala jemals auch nur andeuten, dass sie das anders sahen, war das genug Grund, sie als Verräter abzustempeln und zu töten.

Zwar hatten die beiden Zeros bereits ziemlich am Anfang ihrer Zeit hier Talas Wohnräume nach Wanzen oder Kameras abgesucht, waren jedoch nicht fündig geworden. Dennoch waren sie sich einig, dass sie wahrscheinlich mindestens abgehört wurden.

Und daher mussten sie höllisch darauf achten, was sie sagten und Ray hatte genau genommen bereits zu viel gesagt.

Schwächen zu zeigen konnten sie sich mitten im Nest der Feinde nicht leisten.

„Na los, iss etwas“, ermunterte Tala seinen Freund, während er selbst sich mit einem lauten Seufzen zurücklehnte.

Ein Grinsen umspielte Ray Mundwinkel.

„Was ist los? Warum so betrübt? Dir ist doch nicht etwa langweilig?“

Genervt sah Tala zu Ray. Frustration spiegelte sich in den eisblauen Iriden.

„Nein, wie kommst du nur darauf? Warum sollte mir langweilig sein? Ich meine, hier bin ich ja nur, vierundzwanzig Stunden den Tag, sieben Tage die Woche, eingesperrt in einer kleinen Wohnung mit einer Küche, einem Bett, einem Sofa, zwei kleinen Fenstern, einem kleinen Bad und einem Fernseher. Ich, und ein paar Bücher. Wo ich doch so gerne lese. Besonders solche Texte wie die Biographie des großen Boris Balkov.“

„Ohhh, armer Tala“, neckte Ray ihn etwas, um die Stimmung zu lockern. „Sag, wie kann man seiner hoheitlichen Einsamkeit denn etwas Gutes tun?“

„Mh…“, nachdenklich fasste sich der Rothaarige ans Kinn, „vielleicht mit einem Radio? Der Fernseher ist ja gut und schön, aber mir fehlt die Musik! Und die Musiksender sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Oder aber du lässt mich gleich frei, eine Runde nach draußen, etwas Joggen, frische Luft schnappen. Oder aber du ziehst hier ein und bleibst hier mit mir zusammen. Dann sind wir gemeinsam einsam. Was hältst du davon?“

Ray schüttelte nur amüsiert den Kopf, bevor er wieder ernster wurde.

„Ich werde mal mit Boris reden, ob er dich nicht wenigstens mal für ein paar Stunden raus lassen kann. Immerhin stehst du eh unter dem Einfluss dieses Mittels und kannst deine Kräfte nicht im Geringsten einsetzten. Was also soll schon passieren, wenn er dir mal ein paar Stunden draußen gewählt. Biovolt kann dich ja nicht ewig hier einsperren.“

Tala schnaubte.

„Und ob sie das können. Da haben die keinerlei Hemmungen. Immerhin bin ich doch nicht mehr als ein niederes wertloses Tier für sie. Da setzten die sich lieber gegen die Massentierhaltung ein, anstatt sich für meine Rechte einzusetzen.“

Rays Hände verkrampften sich auf seinem Schoss. Wütend sah er auf sie herab und biss sich leicht auf die Unterlippe. Er gab es ungern zu, aber Tala hatte Recht.

„Dennoch“, sagte er leise, aber bestimmt, „dennoch kann ich es wenigstens versuchen.“

Etwas steif stand er auf und brachte seinen noch fast vollen Teller zur Spüle.

„Tut mir Leid, aber ich hab irgendwie keinen Hunger.“
 

Aufgebracht stürmte Ray durch die relativ verlassen Gänge des Biovolt-Stützpunktes.

Er kam gerade von einem Gespräch mit Boris.

Jedes Mal, wenn er diesen Mann sah, bekam er eine unheimliche Gänsehaut. Und jedes Mal, wenn er mit ihm redete, dann hatte er das Gefühl völliger Hilflosigkeit.

Dieser Mann verstrahlte eine Aura, die Ray Schauer über den Rücken jagte und all seine Warninstinkte Alarm schlagen ließ.

Er hasste Gespräche mit Balkov. Er hasste sie über alles. Und daher vermied er es wie die Pest, diesem Kerl zu nahe zu kommen.

Die wässrigen Augen des Russen… wenn sie Ray ansahen … dann schienen sie direkt in das Innere des Chinesen zu blicken, sie schien sein Seele zu finden und sie mit ihren Blicken langsam aber sicher zu zerreißen.

Und jedes Mal, wenn der Russe ihn ansah, lag etwas in seinem Blick, dass Ray das Gefühl gab, das der Andere ihn besser kannte als er selbst. Das er alle kleinen und großen Geheimnisse Rays kannte, jeden Tick, jede Angewohnheit, besser sogar, als Ray selbst.

Und das Schlimmste war, dass es wahrscheinlich auch genau so stimmte.

Denn Balkov kannte ihn, länger sogar, als Ray sich selbst kannte. Er wusste mehr über ihn als der junge Chinese selbst und das ließ dieser lilahaarige Bastard ihn auch jedes Mal spüren.

Und Ray hasste es. Es hasste es einfach!

Wütend trat der Schwarzhaarige gegen eine Wand, die gerade zufällig und eigentlich völlig unschuldig vor ihm stand und ihm den Weg versperrte.

Aber er musste seinen Frust an irgendetwas auslassen.

Drigger in seinem Inneren spielte ebenfalls verrückt, tigerte unerlässlich in seinem Inneren hin und her, wollte raus, wollte in die Freiheit und kämpfen. Aber er durfte nicht. Du das machte sie beide langsam aber sicher irre. Ihn und Drigger.

„Ruhig, ganz ruhig“, versuchte Ray, sich wieder zu beruhigen und in den Griff zu kriegen.

Als er wieder einen halbwegs klaren Kopf hatte, beschloss er, zu Tala zurück zu gehen und diesem zu erklären, dass er wohl noch eine ganze Weile in seinen Räumen eingesperrt würde bleiben müssen.

Doch Ray war noch keine drei Schritte gelaufen, als ihm klar wurde, dass er keine Ahnung hatte, wo er überhaupt war.

Verwirrt blickte er sich um.

Um zu Boris zu kommen, musste er in die Nähe des fünften Gebäudes. Dem Gebäude, in dem sich die Labore befanden. Dem Gebäude, für das er absolutes Zutrittsverbot hatte.

Oh Scheiße. Er musste sich in genau diesem Gebäude verlaufen haben, als er vorhin so gedankenlos von Balkov weggestürmt war.

Vorsichtig sah er sich um. Niemand war in der Nähe. Ray hatte nicht wirklich vor, hier erwischt zu werden, denn das würde riesigen Ärger geben, etwas, was weder Tala noch er im Moment gebrauchen könnte.

Eilig beschloss er, den Ausgang des Gebäudes oder den Übergang zu einem der anderen Gebäude zu finden. Das konnte ja nicht so schwer sein.

Wachsam um sich blickend ging Ray leise und unauffällig durch die Gänge. Ein oder zwei Mal begegnete er einer Gruppe von Wissenschaftler in langen weißen Kitteln, doch diese waren meist so in ihre Diskussionen vertieft, dass sie ihn nicht wahrnahmen. Und darüber war der Chinese dankbar, denn Möglichkeiten, sich zu verbergen, gab es in den langen, kahlen Gängen nicht.

Endlich hatte Ray den Ausgang erreicht. Erleichtert atmete er auf, als er am Ende des Ganges die große Eingangshalle sah, durch die er nach draußen kam. Die Schritte beschleunigend bemerkte er zunächst nicht die zwei Gestalten, die noch vor ihm in den Gang einbogen und ihm entgegen kamen. Ray schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit, sondern wollte nur zu Tala und dessen Wohnung, dem einzigen Ort, an dem er sich wenigstens noch ein bisschen entspannen konnte.

Es war eher Zufall, dass sein Blick dennoch auf die zwei Entgegenkommenden fiel.

Und er stoppte aprubt.

Kurz blinzelte Ray. Das konnte doch nicht sein, oder? Doch nicht hier, mitten in Amerika? Ein paar Tausend Meilen von Russland entfernt?

Doch er irrte sich nicht.

Überall würde er ihn erkennen. Nie würde er ihn vergessen.

Und für einen kurzen Augenblick vergaß Ray, wo er sich eigentlich gerade befand. Für einen kurzen Moment schien die Welt die Luft anzuhalten.

„Kai?“

Der Graublauhaarige zuckte leicht zusammen und verharrte nun ebenfalls. Sein Begleiter, ein grobschlächtiger Wärter, sah irritiert zwischen ihnen hin und her. Nicht, dass Ray das jetzt interessiert hätte.

„Kai… du…“

Weiter kam der Chinese nicht.

Sein verloren oder sogar tot geglaubter Freund hob den Kopf, der Blick, der bisher auf den grauen Boden gerichtet war, bohrte sich nun direkt in Ray.

Unsicher trat der Schwarzhaarige einen Schritt zurück. Diesen Blick, so ausgebrannt und doch voller Hass, den kannte er von seinem Freund gar nicht.

Kais Körper, war er vorher noch locker, fast schlaff gewesen, versteifte sich, die Hände ballten sich zu Fäusten und zitterten vor unterdrückter Wut.

Ray hatte das Gefühl, Kai würde jeden Moment auf ihn losgehen, ihn jeden Moment angreifen, gleich einem wilden ausgehungerten Tier.

Doch der Russe rührte sich nicht.

Seine Lippen öffneten sich einen Spalt, seine Stimme war ruhig, wie das Meer kurz vor dem Sturm, doch so kalt wie Eis der Arktis.

„Mörder.“

Und Rays Welt schien um ihn herum in Scherben zu zerbrechen.
 

Bis zum nächsten Mal,

eure achat

Kapitel 23

23. Kapitel
 

Es war still.

Zu still.

Eisblaue Augen verengten sich misstrauisch.

Verfolgten jede Bewegung, jedes Zucken, jeden Atemzug.

Beobachtete ihn wie ein Seemann das unnatürlich ruhige Meer.

Wartete auf den Ausbruch.

Doch er kam nie.

Seufzend lehnte Tala sich in seinem Stuhl zurück.

Seine Aufmerksamkeit war immer noch auf Ray gerichtet.

„Was ist los, Kleiner?“

Der Chinese war plötzlich in seine Wohnung gestürmt, heftig atmend, zitternd, mit feuchten Augen. Hatte sich, ohne den Russen zu beachten, auf den Boden vor die Couch sinken lassen, die Knie an seinen Körper gezogen, seine Arme darum gelegt und sein Gesicht darin verborgen.

Und dann war er plötzlich unnatürlich still geworden. Hätte er nicht geatmet, hätte Tala gedacht, dass Ray ihm plötzlich weggestorben wäre. Kein schöner Gedanke.

Seit dem hatte der Schwarzhaarige nichts gesagt und sich kaum gerührt und es machte Tala nahezu wahnsinnig.

„Ich bin ein Mörder“, flüsterte Ray plötzlich.

Fast hätte der Rothaarige die Worte verpasst, weil er ehrlich gesagt nicht mehr damit gerechnet hatte. Doch als der Sinn Rays Worte von seinem Verstand verarbeitet worden war, zog er leicht die Luft ein.

„Wie kommst du darauf?“

Der Rothaarige war sich sicher, dass sein Freund heute keinen Auftrag von Biovolt gehabt hatte und somit das Gelände auch nicht verlassen konnte. Kein Auftrag bedeutete gleichzeitig keine Jagd und damit auch niemanden, den Ray hätte umbringen können heute.

„Hast du heute einen von Biovolts Leuten versehentlich erwischt?“, schon als Tala das fragte wusste er, dass auch das – leider – nicht der Fall sein konnte, denn dann hätte man sie beide längst eingesperrt oder getötet.

Gespannt wartete er auf Rays Antwort.

Der Chinese hob den Kopf, seine goldenen Opale waren glanzlos, wirkten merkwürdig gräulich. Sein nächster Satz erwischte Tala völlig unerwartet.

„Ich habe Kai getroffen.“

Stille breitete sich aus.

Tala blinzelte.

Einmal.

Zweimal.

„Was…?“

„Ich habe Kai getroffen. Heute. Hier. Er lebt noch…“

Ein breites Grinsen breitete sich, ohne das er es verhindern konnte, auf dem Gesicht des Rothaarigen aus. Freudig sprang er auf.

„Was?! Wirklich?! Das ist doch super!!!“

Plötzlich verstummte er, sah wieder auf Rays zusammengekauerte Gestalt hinunter.

„… oder nicht ..?“

Er war etwas unsicher mit dem Verhalten seines Freundes. Sollte dieser nicht eigentlich wie ein Honigkuchenpferd strahlend durch die Gegend laufen? Warum so depressiv?

Plötzlich weiteten sich Talas Augen geschockt, als ihm ein Gedanke kam. Ein Schrecklicher.

Ray hatte gesagt, er hätte jemanden umgebracht. Er hatte doch nicht….

Doch der Chinese schien seine Gedankengänge zu verfolgen, denn er schüttelte plötzlich heftig den Kopf.

„Nein! Nicht ihn! Niemals ihn!“

„Oh Gott“, erleichtert ließ sich Tala neben Ray auf dem Boden nieder.

„Wo liegt dann das Problem? Im Gegenteil, es läuft doch alles besser als erwartet, oder? Ich meine Kai lebt noch, er ist auch hier, das ist doch die Chance für uns!“

„Die Chance für euch. Nicht für mich. Ich … kann nicht.“

Verwirrt runzelte Tala die Stirn.

„Wen hast du denn umgebracht?“

Ray zuckte zusammen. Schließlich sagte er etwas. Na gut, es war eher eine Mischung aus Murmeln und Flüstern. Der Russe verstand es jedenfalls nicht.

„Wie bitte? Könntest du vielleicht lauter sprechen?“

„Bryan.“

„Hä? Bryan? Wer ist Bryan?“

Plötzlich schluchzte Ray laut auf.

Und bei Tala machte es hörbar Klick.

„Du meinst … wie in Kais Bruder???!!! Scheiße! Das ist nicht dein Ernst oder??!“

Fassungslos griff Tala Ray an den Schultern, schüttelte ihn unbewusst, doch das Schweigen war Antwort genug.

Plötzlich verschwand Talas fester Griff. Unsicher sah Ray auf, blickte in kühle blaue Augen.

„Wie?“, fragte der Rothaarige mit seltsam belegter Stimme.

„Ich.. ich weiß es nicht … ich …“

„Ich meine“, verbesserte Tala sich, „woher weißt du das? Du hast dich wohl kaum plötzlich an alles erinnert, oder?“

Kraftlos schüttelte Ray den Kopf.

„Ich war in Gebäude fünf. Zufällig. Du weißt schon, da wo die Laboratorien sind und so. Und … dann stand ich plötzlich Kai gegenüber … und … oh Gott! Ich hab mich so gefreut, ich war erleichtert, glücklich… ich konnte es gar nicht fassen …!“, wieder durchfuhr ein Zittern Rays Körper, als dieser sich an Talas Hemd klammerte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass der Andere ihn in den Arm genommen hatte, „und dann fing Kai plötzlich an, mich zu beschimpfen. Er schrie mich an … ich wusste erst gar nicht warum, bezeichnete mich als Mörder… Da war so viel Hass in seiner Stimme! So viel Wut! Seine Wache, die ihn begleitet hatte, war zu überrascht um zu reagieren, als er plötzlich zu mir ist. Er hat mich gegriffen … und … gegen die Wand gedrückt…. seine Augen…. sie haben förmlich geglüht vor Hass….“

Ray schniefte. Tala presste den kleineren Körper nur enger an sich, versuchte, Ray zwischen dem Schluchzen zu verstehen, einen Sinn aus den abgehackten Sätzen zu machen. Was der Chinese ihm da erzählte klang eher nach einem Ausschnitt aus einem schlechten Horrorfilm, statt nach Kai.

„Und dann hat mich gewürgt, ganz ruhig, als wäre es das … normalste der ...Welt. Ich hatte solche Angst in dem Moment. Ich dachte, er würde mich umbringen. Und seine Stimme …. sie war plötzlich so ruhig, so … gelassen. Er hat mich gefragt … warum ich seinen Bruder umgebracht habe … ob es mir denn auch Spaß gemacht hat … ob ich denn … oh scheiße! Er hat gefragt ob ich Spaß daran hatte, ihn und dich zu verraten, so hinters Licht zu führen! Er hat mich in der Uniform gesehen ... er denkt, ich hätte ihn verraten! Und dann, dann fing er plötzlich an, auf mich einzuschlagen… es ging alles so schnell! Viel zu schnell…. Und ich hab noch mehr Panik bekommen, hab nicht mehr Kai gesehen… da war nur noch diese Angst … und dann … dann hab ich mich gewehrt. Oh Gott! Ich hab Drigger gegen ihn eingesetzt! Ich hab ihn weggeschleudert… Und dann, dann hab ich mich umgedreht und … bin gerannt. Einfach nur weg. Ich wollte nur weg.“

Hilflose, nasse Augen sahen zu Tala hinauf.

„Hab ich Kais Bruder wirklich umgebracht…?“

Ray wirkte eher wie ein kleines verängstigtes Kind in diesem Moment, das erwartete, jede Sekunde für sein Verhalten bestraft zu werden, als wie die starke, unbeugsame Persönlichkeit, die er eigentlich war.

Herrgott nochmal!

Tala fluchte innerlich.

Der Chinese hatte einen Gedächtnisverlust, die ‚Entdeckung‘ seiner Kräfte, die Flucht vor Biovolt und die Gefangennahme gemeistert, kaum Schwäche gezeigt, immer einen kühlen Kopf bewahrt, immer an dem Fluchtplan gearbeitet und vor allem, die Hoffnung trotz ihrer scheinbar ausweglosen Situation nie aufgegeben.

Tala mochte das Selbe durchgemacht haben, aber jetzt saß er hier, Tag ein Tag aus, und musste nicht wie Ray fast jeden Tag raus, mit dem Auftrag, andere Zeros zu töten, immer heimlich flehend, dass er niemanden töten musste. Immer am Rande des Nervenzusammenbruchs, immer diese psychische Belastung ertragen.

Tala durfte und wollte nicht zulassen, dass es ausgerechnet Kai war, der Ray den Rest gab, der ihn endgültig in die Hoffnungslosigkeit trieb, der ihm seinen Überlebenswillen nahm.

Dennoch war Tala auch klar, dass er Ray jetzt ehrlich antworten musste, denn eine offensichtliche Lüge würde seine im Moment ziemlich instabile Psyche wohl nicht verkraften.

„Ich … weiß es nicht“, zögerte Tala, „es könnte durch aus stimmen.“

Ray zuckte zusammen, sofort verfluchte der Rothaarige sich für seine Worte.

„Aber es könnte auch eine Lüge sein, die Biovolt Kai eingetrichtert hat, um uns zu trennen und gegeneinander aufzubringen. Das wäre genau ihr Stil. Ich fürchte, die Wahrheit werden wir wohl nie herausfinden… vielleicht steht in den Akten irgendetwas darüber, aber weder du noch ich haben Zugriff darauf…. von daher….“

Hilflos zuckte der Russe mit den Schultern.

„Mmh…“, Ray war wieder relativ ruhig, auch wenn er sich noch immer an Tala festklammerte.

Kurzentschlossen fällte dieser eine Entscheidung. Ohne große Kraftanstrengung hob er den Schwarzhaarigen auf seine Arme, was diesem einen kleinen Aufschrei entlockte, und trug ihn zu seinem Bett.

„Ich glaube, du solltest etwas schlafen. Das war ziemlich viel Aufregung und wir können jetzt eh nichts machen. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber.“

Sanft legte er Ray auf der weichen Matratze ab und wollte schon gehen, doch eine Hand umfasste sein Handgelenk.

„Geh nicht“, murmelte Ray.

Tala grinste müde.

„Was? Angst, alleine zu sein? Ich pass schon auf dich auf. Hier kommt kein böser schwarzer Mann rein.“

Ein kläglicher Versuch, die Situation aufzulockern.

Doch Ray schüttelte nur den Kopf. Er sah plötzlich wieder erstaunlich munter aus.

„Schlaf mit mir.“

Tala erstarrte.

„Was…?“, glaubte er, sich verhört zu haben.

Doch Ray lächelte bloß.

„Schlaf mit mir“, wiederholte er.

Tala schüttelte ungläubig den Kopf.

„Das… das kannst du doch nicht ernst meinen?“

Doch Ray stemmte sich wortlos hoch von der Matratze, ohne den Rothaarigen loszulassen, und zog diesen näher zu sich, hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen.

„Bitte…“, flüsterte er heiser, „lass mich vergessen. Einfach alles. Lass es mich spüren, nur einmal, dieses Gefühl, dass von allen immer so umschwärmt wird. Bitte..“

Rays Stimme jagte kleine Schauer über Talas Haut, ließ sein Herz schneller schlagen, er spürte die aufwallende Hitze in sich.

Er konnte es nicht verleugnen. Er wollte es auch nicht verleugnen. Schon seit einiger Zeit hatte Tala darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, den kleinen Chinesen derart nah an sich zu spüren. Hatte sich vorgestellt, wie dieser stöhnend und sich windend unter ihm liegen würde.

Tala wusste, dass diese Fantasien kaum echter Liebe, sondern eher Neugierde entsprangen – immerhin sah Ray verdammt gut aus -, daher hatte er sie in dem Moment aufgegeben, als ihm die sich bildende Beziehung zwischen Kai und Ray bewusst wurde.

Sollte seine Vorstellungen doch noch Realität werden? Hier? Jetzt?

„Das willst du nicht“, versuchte der Rothaarige, seinen Freund umzustimmen. „Du bist verwirrt und durcheinander, denk noch Mal darüber nach.“

„Nein!“, Ray schüttelte heftig den Kopf, zog Tala noch näher zu sich, bis dieser fast über ihm und halb auf dem Bett kniete. „Ich will dich und das jetzt! Bitte…“

Das Flehen in Rays Stimme versetzte einen Stich in Talas Herzen.

Ob er es auf Grund seiner eigenen Fantasien oder auf Grund von Mitleid tat, konnte er hinterher nicht mehr sagen, als Tala sich schließlich zu Ray hinunter beugte und seine Lippen auf dessen Mund presste, damit sein Einverständnis gab

Aber eines wusste er.

Sie würden es beide bereuen.

Nachher.

Hinterher.

Wenn ihnen ihre Tat bewusst wurde.

Wenn ihnen die Konsequenzen klar wurden.

Doch jetzt, jetzt war es für Beide eine wunderbare und einladende Möglichkeit der grausamen Realität hier mitten im Herzen des Feindes zu entfliehen.

Mit der Kleidung wurde nur ein kurzer Prozess gemacht, unordentlich landete sie irgendwo zerwühlt neben dem Bett.

Erneut fing Tala Rays Lippen ein, drang dieses Mal mit seiner Zunge in das fremde Gebiet vor, erforschte und animierte den Anderen zum Mitmachen.

Für den Bruchteil einer Sekunde glomm der Gedanke in ihm auf, dass Ray wahrscheinlich noch nie einen Zungenkuss vorher hatte, zumindest nicht soweit er sich erinnern konnte. Tala hatte keine Ahnung, wie weit Kai und der Kleine damals in der Scheune in diesem Dorf irgendwo im Ural gegangen waren, doch er bezweifelte, dass sie weit gekommen waren.

Schließlich trennten sie sich. Rays Atem hatte sich bereits erheblich beschleunigt. Tala löste das weiße Band, welches die langen schwarzen Haaren zusammen hielt.

„Du weißt, was passiert?“, fragte er, um sicherzugehen.

Der Chinese nickte.

„Ja. Ich… hab mich informiert.“

Kurz musste Tala grinsen. Er fragte sich, wie Ray sich über die Abläufe beim Geschlechtsverkehr homosexueller Paare informiert hatte. Am Computer in der Schule? Er konnte es kaum glauben. Aber jetzt war auch nicht der Moment, um danach zu fragen.

Seine Finger fuhren über Rays blasse Brust, spielte mit den Brustwarzen.

Dann beugte er sich wieder hinunter, begann, mit seinen Lippen über Rays Oberkörper zu fahren, widmete sich mit seinen Fingern eher den unteren Partien des Anderen. Ray keuchte überrascht auf, krallte sich in die Matratze.

Ab da an ging alles erstaunlich schnell.

Talas Finger krallten sich an Rays Hüfte, ihre Körper entfernten sich immer wieder kurz, nur um wieder aufeinander treffen zu können, Schweißperlen glänzten auf ihrer Haut, Keuchen und Stöhnen erfüllte den Raum, sie waren weg, weit weg mit ihrem Kopf, kaum noch zu klaren Gedanken fähig, allein von Lust und Verlangen erfüllt.

„Kai…“, stöhnte Ray da.

Tala erstarrte.

Blickte für einen Moment auf den heftig atmenden und leise stöhnenden Chinesen unter sich, der die Augen geschlossen, die Finger in die Laken gekrallt hatte, sich nichts um sich herum bewusst war. Nicht einmal Talas Innehalten schien er wahrzunehmen.

Ein trauriges Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Rothaarigen und er strich seinem Freund eine schwarze, verklebte Strähne aus dem Gesicht.

Dann nahm er den Rhythmus wieder auf.

Beförderte sie Beide schließlich in den Himmel, als der Orgasmus sie fast gleichzeitig überrollte.

Erschöpft rollte der Rothaarige sich von dem Anderen herunter, seine kühlen Fingerspitzen glitten über Rays erhitzte Haut, die feinen Härchen stellten sich daraufhin auf.

Noch bevor sich ihr beider Atem beruhigt hatte, schliefen sie tief und fest.
 

Leere. Kai fühlte nur unendliche Leere in sich.

Noch vor ein paar Stunden war diese Leere von einem anderen Gefühl ausgefüllt worden. Von Hass.

Von tiefem, heißem, brodelndem Hass, der jeden Moment auszubrechen gedroht hatte. Es hatte nur noch ein kleiner Funken gefehlt.

Hass auf Biovolt, die ihm ein Teil seines Inneren genommen haben, Hass auf die Menschheit, die ihm die Chance auf ein normales Leben genommen hat und zuletzt Hass auf Ray, welcher ihm seinen Bruder, seinen letzten und wichtigsten Verwandten genommen hat.

Er war wie ein Vulkan gewesen, wie heiße Lava schien das Blut durch seine Adern zu fließen, wie eine riesige Lavakammer war das Herz, dass das Blut nur noch zu dem einen Zweck durch seinen Körper gepumpt hatte: Um auf den Ausbruch zu warten, ausbrechen zu können, sich befreien, sich rächen, alles hinter sich lassen.

Was ihm dabei in die Quere kam, war Kai egal gewesen. Alle anderen Gefühle, Emotionen, Wünsche und Hoffnungen waren von der heißen Glut in seinem Inneren zermalmt worden.

Und jetzt?

Was war ihm jetzt geblieben?

Es war ausgebrochen. Hatte seine Wut ausgelebt. Hatte seinen Hass Gestalt annehmen lassen und ihn gegen Ray gerichtet.

Und hatte verloren.

Ohne Schwierigkeiten hatte der Andere ihn vernichtet. Besiegt.

Ray war ein Jäger.

Und Kai?

Kai war ein Nichts.

Zu schwach, um sich zu wehren.

Zu schwach, um Dranzer zu schützen.

Zu schwach, um seinen Bruder zu rächen.

Und doch…

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schlug sein Herz noch.

Dieses Organ, dass ihn quälte und ihm am Leben erhielt… warum hatte es noch nicht aufgegeben?
 

Bis zum nächsten Mal,

achat

Kapitel 24

24. Kapitel

Als Ray erwachte, brauchte er ein paar Minuten, um sich zu orientieren.

Der Raum, in dem er war, kam ihm bekannt vor, da war er sich sicher.

Das Bett, auf dem er lag, der Schrank da in der Ecke, der Spiegel an der Wand. All das hatte einen Hauch von Heimat, was wohl der einzige Grund war, dass er nicht in Panik ausbrach.

Vorsichtig setzte er sich auf.

Die dünne weiße Decke rutschte ihm bis zu den Hüften, enthüllte den blassen Oberkörper. Stirnrunzelnd bemerkte er seine Nacktheit und war für den Moment froh, alleine zu sein.

Was war passiert?

Neben ihm auf dem Boden lag das lange weiße Band, welches er zum Zusammenhalten seiner Haare verwendete.

Und dann fiel es ihm wieder ein.

Tala!

Er hatte mit Tala geschlafen!

Er schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht sein, oder? Oder war es nur ein schlimmer Traum?

Aber es war schön gewesen…. Irgendwie.

Sicher wäre es besser gewesen, hätte er mit Kai geschlafen….

Kai….

Kai war der Grund, weshalb er mit Tala geschlafen hatte. Kai und Bryan. Und er selbst natürlich.

Etwas bitter lächelte Ray.

Sein Leben entwickelte sich nicht wirklich einfach. Warum musste es nur so kompliziert sein?

Seufzend erhob er sich, die Decke um seinen Körper geschlungen, und begab sich auf die Suche nach seiner Kleidung. Sicher lag sie hier irgendwo…?

Ein Geräusch im Bad ließ ihn aufhorchen. Tala schien zu duschen. Auch Ray hatte das Gefühl, eine Dusche gebrauchen zu können. Ein Blick nach draußen verriet ihm, dass der Abend gerade hereingebrochen war. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden gerade hinter dem Horizont.

Noch einmal wanderte Rays Blick zu der Badezimmertür.

Nein, er würde nicht warten bis Tala fertig war, sondern in sein eigenes Zimmer gehen und dort duschen. Ray wollte dem Rothaarigen jetzt nicht unbedingt begegnen. Nicht, weil er es bereute, mit ihm geschlafen zu haben. Nein, bereuen tat er es nicht, aber er wusste, dass er Tala benutzt hatte. Benutzt, um seinen Schmerz über den Verlust von Kai zu betäuben.

Und das war nicht in Ordnung.

Damit kam er nicht klar.

Er wollte andere nicht auf eine solche Art und Weise für seine eigenen Zwecke missbrauchen.

Ray seufzte und zog sich vollständig an.

Er sollte jetzt gehen, denn er war sich nicht sicher, ob er, sollte er Tala jetzt sehen, ihn nicht wieder benutzen würde, um seinen eigenen Schmerz, seinen Verlust, zu betäuben.

Obwohl… Ray dachte nach. Eigentlich fühlte er sich schon unnormal taub. In seinem Herzen war nichts, keine Trauer, kein Schmerz, nicht diese Qual, die er noch vor einigen Stunden gespürt hatte, die Verzweiflung, die ihn in den Wahnsinn treiben wollte.

Er fühlte nichts.

Oder er ignorierte seine Gefühle, betäubte und überspielte sie, vergrub sie tief in sich, um sich auf seine jetzigen Aufgaben konzentrieren zu können.

Denn Tala hatte Recht: Kai war hier und sie waren hier, eine bessere Möglichkeit zur Flucht würden sie kaum bekommen.

Schnell schlüpfte er aus Talas Wohnung und ging durch die Korridore zu seinem eigenen Zimmer.

Duschen und neu einkleiden war schnell erledigt. Erschöpft ließ er sich in sein Bett fallen.

Die Szenen des Tages schossen Ray wieder durch den Kopf.

Die Diskussion mit Boris über Talas Gefangenschaft.

Das Treffen auf Kai und die Anschuldigungen gepaart mit dem Angriff.

Und der Sex mit Tala.

War das alles wirklich an nur einem Tag geschehen?

Ray konnte es kaum fassen.

Er war erschöpft. So verdammt erschöpft. Der Schwarzhaarige rollte sich auf die Seite, zog die Decke bis dicht unters Kinn und versuchte zu schlafen.
 

Er rannte.

Schnell.

Immer schneller.

Da vorne war er.

Er musste ihn einholen, ihn schnappen!

Rays Atem ging schnell, seine Beine schmerzten, doch er durfte ihn nicht verlieren.

„Mariah und Kevin versuchen eine Abkürzung zu nehmen und ihm den Weg abzuschneiden! Wir müssen ihn weiter nach rechts in das alte Industrie-Viertel jagen Rei!“

Er drehte den Kopf, sah Lee.

Lee?

Verwirrt wandte Ray den Blick erneut nach vorne. Die Umgebung kam ihm vage bekannt vor.

Die Häuser, die Straßen… alles erinnerte ihn an Moskau. Moskau! Natürlich! Sie waren in Moskau!

Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen, nur um wenige Augenblicke später wieder klar zu werden

Sie standen alle.

Lee links von ihm, der andere große Junge – Gary - rechts von ihm, vor ihm ein junger Mann, dahinter Mariah und Kevin. Sie hatten den Fremden eingekreist, doch Ray konnte sein Gesicht nicht sehen, nur seinen breiten Rücken und die silbern glänzenden, kurzen Haare.

Doch er sah die zu Fäusten geballten Hände.

„Ihr bekommt mich nicht!“, hörte er die tiefe Stimme des Fremden. Aufgebracht. Wütend. Voller Hass.

Ray schauderte.

„Mariah, pass auf!“, rief da Lee neben ihm und hob seine Hände.

Gerade noch rechtzeitig blickte der Schwarzhaarige wieder nach vorne um zu sehen, wie die Pinkhaarige einem heftigen Windstoß auswich und dabei ins Stolpern kam. Der Silberhaarige dagegen fiel seinerseits nach vorne, was er eindeutig Lee zu verdanken hatte.

Was tue ich hier, fragte Ray sich.

Fassungslos starrte er auf den großen braunen Falken – oder war es ein Adler? -, welcher plötzlich über dem jungen Mann in ihrer Mitte erschien und beschützend seine Flügel über ihn hielt.

Er ist ein Zero, schoss es Ray durch den Kopf, und das ist sein BitBeast!

Plötzlich kam Bewegung in die vier Jäger Mariah, Lee, Gary und Kevin. Lee attackierte wieder mit seinen Esper-Fähigkeiten, genauso wie Kevin. Mariah dagegen zog eine Pistole und richtete sie auf den Fremden und Gary zückte einen ziemlich großen Dolch.

Unbewusst fuhr Rays Hand zu seinem Gürtel. Seine Finger schlossen sich um kühles Metall.

Der Griff eines Messers, realisierte er. Oder war es ein Dolch? Warum trug er ihn bei sich? Sich war Drigger doch Schutz genug, oder?

Wieder schien alles zu verschwimmen.

Er wollte nicht hier sein.

Er wollte weg.

Unwillig schüttelte er den Kopf, machte einen Schritt zurück.

Unsicherheit und Angst krochen in ihm hoch.

Die Gefühle kamen so unerwartet und wuchsen so schnell, dass er am liebsten wegrennen wollte.

Weit wegrennen.

Doch er konnte Lee und die Anderen nicht im Stich lassen, oder?

Verwirrt runzelte Ray die Stirn. Warum sollte er ihnen überhaupt helfen? Waren sie Freunde? Kollegen? Und der Fremde? Warum sollte er ihn angreifen? Kannten sie sich?

Es war alles verwirrend!

Ray wusste weder ein noch aus, seine Gedanken drehten sich im Kreis, wirbelten umher, heftige Kopfschmerzen setzten ein.

Er fasste sich mit der linken Hand an die Stirn, blinzelte leicht. Seine Augen tränten.

„REI!!! PASS AUF!!!“

Der plötzliche Schrei riss ihn so unterwartet in die Realität – war das hier die Realität? - zurück, dass er erschrocken einen weiteren Schritt zurück stolperte und wieder zum Geschehen blickte.

Haarscharf zischte etwas an ihm vorbei, schlug vor ihm auf dem Boden auf. Doch man konnte nichts außer der zentimetertiefen Spalte im Beton erkennen.

Wieder zischte etwas an ihm vorbei, dieses Mal traf es ihn, riss seinen Ärmel auf und schnitt in seinen Arm. Erschrocken schnappte Ray nach Luft, starrte auf den großen Falken.

Das BitBeast griff mit Luft an! Druckwellen oder etwas Derartiges schien es zu verwenden; praktisch kleine, rasiermesserscharfe und nahezu unsichtbare Luftdruckwellen zu erzeugen.

„Du bist der Anführer? Dann wirst du zuerst sterben, Bluthund!“, rief der Fremde, halb verdeckt von seinem BitBeast, „Los, Falborg!“

Wieder griff der Falke an, Ray wich aus, so gut es ging, dennoch hing ihm seine weiße Kleidung bald nur noch in Fetzen vom Körper, Schnittwunden zierten seine gesamte Haut, selbst sein Haarband hatte sich inzwischen gelöst und ließ die schwarze Pracht wild durcheinander wirbeln, verschlechterte Rays Sicht enorm.

Er musste sich wehren!

Dieser Gedanke jagte durch seinen Kopf.

Drigger…

Nein, er durfte Drigger nicht einsetzen. Nicht jetzt und nicht hier. Nicht, wenn alle zusahen!

Wieder wusste er nicht, woher dieser Gedanke kam, doch sein Körper reagierte darauf, auch wenn sein Verstand etwas anderes schrie. Sein Verstand schrie, diesen Zero in Ruhe zu lassen und abzuhauen. Aber sein Körper schien das anders zu sehen.

Die andren Jäger griffen nicht ein, wahrscheinlich aus Angst, sein Leben dadurch zu gefährden. Dabei könnte Ray wirklich Hilfe gebrauchen, denn sein Leben schien gerade nicht mehr lange zu sein. Dieser Zero legte es wirklich darauf an, ihn zu töten!

Wieder eine Druckwelle, dieses Mal traf es seine linke Schulter, Ray duckte sich weitestgehend darunter weg, schoss unerwartet nach vorne, nur von einem einzigen Gedanken beherrscht: Er musste das hier schnellst möglich beenden!

In drei großen Schritten war er an dem BitBeast – Falborg – vorbei und zog, ohne dass er es wirklich registrierte, seine Waffe. Es war wie ein jahrelang eingeübtes Kunststück. Etwas, das man tut, ohne dabei noch denken zu müssen, etwas, das nicht mehr als ein simpler Reflex geworden ist, etwas, das man immer unbewusst tut, wenn man es braucht – oder auch nicht braucht.

In dem Moment, in dem Ray zum ersten Mal richtig klar das Gesicht seines Gegners erkannte, in diesem Moment war es bereits zu spät.

Er hatte die kalte Klinge des Dolches tief in die Eingeweide des Anderen gerammt, bis nur noch der Griff aus dem Körper hervorstach. Mitten ins Herz.

Und Ray blieb nicht mehr zu tun, als in die überrascht weit aufgerissenen Augen Bryan Hiwataris zu sehen, aus denen langsam jegliches Leben wich.

Eiskalte Furcht erfasste ihn, bittere Erkenntnis, Selbsthass.

Ein einziges Wort kam noch über die blassen Lippen des Sterbenden.

„Verräter.“
 

Panisch schoss er hoch, klammerte sich an die Bettdecke, rang verzweifelt nach Atem.

Sekunden, Minuten, Stunden schienen zu vergehen, in denen Ray sich einzig und allein darauf konzentrierte, ein- und auszuatmen.

Schweiß lief über seine Stirn, vermischte sich mit den Tränen, die unbeachtet, langsam aber stetig, aus seinen Augen rannen, und hinterließ feuchte Flecken auf der Bettwäsche.

Kurz darauf begann Ray zu zittern. Erst schwach, dann immer heftiger, bis er schließlich seine Arme um seinen Oberkörper schlag in dem hoffnungslosen Versuch, die Zuckungen unter Kontrolle zu bringen.

Und während sein Körper verrückt zu spielen schien, versuchte sein Verstand zu verarbeiten, was er soeben erlebt hatte.

Nein, nicht erlebt, korrigierte Ray sich, sondern geträumt.

Aber hatte er das, was er geträumt hatte, nicht vielleicht auch an irgendeinem Punkt seines jämmerlichen Lebens einmal erlebt?

Verarbeitete man in Träumen nicht sein Leben?

Er schauderte.

Wenn das wirklich wahr war, was er geträumt hatte, wenn es wirklich so passiert war – und daran gab es nur wenig Zweifel, bedachte man die Eindeutigkeit und Genauigkeit seines detailgetreuen Traumes –, dann hatte Kai Recht gehabt.

Dann war er, Ray, nichts weiter, als ein kleiner, mieser, hinterhältiger Mörder.

Der Gedanke zerriss ihn innerlich, bohrte sich wie ein giftdurchtränkter Widerhaken in sein bereits blutendes Herz und schlug seinen Verstand nur noch weiter in Stücke.

Wütend und frustriert über seine eigene Schwäche schlug er die Bettdecke zurück und kletterte aus dem Bett, kippte fast um, als ihm kurz schwarz vor Augen wurde und stolperte in die Dusche. Ohne einen zweiten Gedanken drehte er den kalten Wasserhahn auf. Sofort sog sich sein Nachtzeug voll mit dem eisigen Nass, das Zittern seines Körpers verstärkte sich, doch dieses Mal wusste Ray, woher es kam, seine Zähne klapperten und sein Verstand klärte sich etwas.

Erleichtert atmete er auf.
 

Etwas ziellos streunte er durch die Gänge des Biovolt-Gebäudes. Die Menschen, die ihm begegneten beachteten ihn ebenso wenig, wie er sie beachtete.

Seine Gedanken hingen noch immer bei seinem Traum – oder war es eine Erinnerung? -, als zwei Wissenschaftler an ihm vorbeieilten.

„…wirklich schade um ihn. Er hält sich großartig, aber er ist noch immer zu gefährlich…“

Warum Ray gerade bei dem Gespräch dieser Beiden, der vielen an ihm vorbeieilenden Personen, aufhorchte, konnte er im Nachhinein nicht sagen. Das gehörte wohl zu den wenigen wundersamen, kleinen Zufällen, die immer wieder im Laufe der Erdgeschichte passiert sind und nichts besseres zu tun hatten, als das Leben hunderter zu verändern.

Doch Ray wusste das in diesem Moment noch nicht. Er blieb nur kurz stehen, unentschlossen, und folgte dann den zwei, in weiß gekleideten, Männern. Da der Schwarzhaarige im Moment eh nur in seinen düsteren Gedanken schwelgte, könnte er sich ja auch etwas Klatsch und Tratsch des Biovoltquartiers erlauschen, beschloss er. Man wusste nie, ob es nicht einmal nützlich sein würde.

Neugierig musterte der Chinese seine Opfer. Der schweigsame Zuhörer hatte kurze braune Haare, war untersetzt und wohl bereits mittleren Alters. Er nickte zu jedem Satz, den sein Begleiter sagte und es sah fast so aus, als ob er zu einer ihm unbekannten Melodie den Kopf wiegen, oder dauernd in einen Sekundenschlaf fallen würde.

Der andere Mann war vielleicht so in den Dreißigern, hatte aber bereits erstaunlich lichtes, schwarzes Haar, dessen wilde Locken in alle Richtungen abstanden und trug, wie Ray kurz beim Vorbeigehen erhascht hatte, eine dicke, runde Brille. Sicher so eine dämliche Hornbrille, denn diese Modelle schienen gerade ziemlich in Mode zu sein. Mit den Händen in den Taschen seines weißen Kittels redete er unaufhörlich auf den Anderen ein.

„Aber wenn der Chef es will, kann man ja nix machen, ne? Ich meine, wirklich, als ob unsere Testobjekte auf Bäumen wachsen würden!“, aufgebracht warf er die Hände in die Höhe, „Gut, angeblich bekomm ich ein neues, trotzdem, der Junge hat echt gut durchgehalten, ist irgendwie schade um ihn. Hoffe nur, der Neue taugt genauso viel. Ich bin schon so aufgeregt! Was es wohl dieses Mal sein wird? Aber gut, zuerst muss der Alte eliminiert werden. Die Hinrichtung ist wohl auf nächsten Samstag angesetzt, also übermorgen. Ich hoffe nur, ich muss da nicht hin, war noch nie Fan solcher Veranstaltungen…“

Fast hätte Ray erschrocken aufgekeucht, doch er konnte sich gerade noch beherrschen. Sich jetzt zu verraten wäre sehr ungeschickt. Hinrichtung? Wen wollten sie hinrichten? Einen Zero?

Er stopfte seine geballten Fäuste in seine Jackentaschen, damit man sie nicht sah und spitze die Ohren, um auch ja kein Wort des Gespräches zu verpassen.

„Außerdem kriege ich den Neuen heute Nachmittag, da hab ich besseres zu tun. Trotzdem, der Andere war echt gut, schön starkes BitBeast. Nur war der Junge so unkooperativ! Warum verstehen diese dummen Zeros nicht, dass wir ihnen nur helfen wollen? Vielleicht ist es wirklich am Besten, wenn er stirbt, ich meine, selbst ohne sein BitBeast war er mir unheimlich. Wie er mich immer mit diesen blutroten Augen angesehen hat! Brrr… Gruselig! Aber gut, Familie hat er wohl auch nicht mehr, die ihn vermissen würde, aber vielleicht kriegt er noch nen Grabstein, auf dem …. äh… wie war noch mal sein Name? Ah, ja, auf dem Kai Hiwatari steht. Aber ich glaub‘s nicht…. Ich meine….“

Weiter hörte Ray nicht zu.

Weiter konnte er nicht zuhören.

Sein Herz pochte laut in seiner Brust, Blut rauschte in seinen Ohren. Stocksteif stand er da im Gang. Für einige Sekunden schien die Welt still zu stehen…

…nur um sich danach mit der zehnfachen Geschwindigkeit weiterzudrehen.

Erst, als der Schwarzhaarige, nach Luft schnappend, vor Talas Wohnung zum Stehen kam, realisierte er, dass er durch das gesamte Gebäude hier hin gerannt war. Nur ein einziger Gedanke kreiste in seinem Kopf:

Kai wird übermorgen hingerichtet. Kai wird übermorgen hingerichtet. Kai wird übermorgen hingerichtet. Kai wird übermorgen hingerichtet. Kai wird übermorgen hingerichtet. Kai wird übermorgen …

Wie betäubt öffnete er die Tür, trat in die Wohnung des Rothaarigen, denn er musste dringend mit Tala reden.

Vergessen war ihr kleines spontanes Intermezzo, vergessen die Schuldgefühle.

Jetzt zählte nur Kai.

Doch Tala war nicht da.

Verwirrt durchsuchte Ray die gesamte Wohnung, schaute sogar unter dem Bett nach, doch nirgends war eine Spur von dem Russen zu finden.

Aber er durfte diese Räume doch nicht verlassen, oder?

Verzweifelt kniete Ray neben dem Bett, schlug mit der Faust auf den Boden, doch das dumpfe Geräusch machte ihn nur noch wütender, ließ ihn sich nur noch einsamer und verlassener fühlen.

Verzweifelt unterdrückte er die Tränen.

Kai sollte in zwei Tagen sterben.

Tala war spurlos verschwunden.

Das alles wuchs langsam aber sicher über Rays Kopf.

Der Druck, die ständige Anspannung und emotionale Belastung forderten ihren Tribut. Heulend brach er zusammen, rollte sich ein und blieb dann regungslos auf dem kalten Boden liegen.

Nur die unregelmäßigen Schluchzer schüttelten seinen zierlichen Körper, brachten die Schultern zum Beben und die Hände zum Zucken.

Erst das Geräusch der zufallenden Wohnungstür brachte Ray wieder in die Realität zurück.

Hastig wischte er sich die feuchten Wangen ab und brachte sich in eine aufrechte Position, blieb jedoch an das Bett gelehnt sitzen.

Im Moment kam er eh nicht hoch und da er mit seinem verheulten, roten Gesicht wahrscheinlich schon jämmerlich genug aussah, kam es auf solche Details auch nicht mehr an.

Schwere Schritte näherten sich; anscheinend kam Tala ins Schlafzimmer. Gut, dann konnte Ray gleich mit ihm reden.

Erwartungsvoll blickte er zur Tür. Doch es war nicht der Rothaarige, der eintrat, sondern einer der vielen namenlosen Soldaten Biovolts.

Überrascht sprang Ray auf. Der Soldat schien nicht weniger verblüfft.

„Wo ist Tala“, schoss es sofort aus dem Chinesen.

Der Soldat zögerte, wusste anscheinend nicht, was er mit dem Langhaarigen anfangen sollte.

„Ich bin Jäger, ich habe das Recht, es zu erfahren“, spielte Ray den Triumph seiner weißen Uniform aus, da der Andere nicht zu wissen schien, wen er vor sich hatte.

„Der Zero wurde heute früh in das Labor gebracht“, stotterte der Soldat.

„Warum?“ Rays Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Weil… weil sein BitBeast entfernt werden soll. So, wie es bereits bei einigen Anderen getestet wurde, um ihn endgültig unschädlich zu machen, Sir. Ich soll nur noch ein paar Kleidungsstücke von ihm holen…“

„Sein BitBeast entfernen…“, hauchte Ray geschockt.

Es würde Sinn ergeben, bedachte er das Gespräch, dass er vor einiger Zeit belauscht hatte.

„Wo genau ist Ta … der Zero?“

„Das ist geheim, Sir, darf ich leider nicht sagen.“

Hastig griff der Soldat ein paar Klamotten und verschwand wieder.

Noch immer von der plötzlichen Wende der Ereignisse benommen konnte Ray nicht mehr tun, als ihm nur regungslos hinterher zu starren.
 

Bis zum nächsten Mal,

eure achat

Kapitel 25

25. Kapitel
 

Wassertropfen perlten langsam von seinem Gesicht ab, fielen auf das weiße Porzellan des Waschbeckens, über das er sich beugte.

Langsam ließ er die Hände sinken, blickte still sein Spiegelbild an. Es sah nicht gut aus. Genau genommen sah es sogar verdammt mies aus.

Er seufzte, trocknete sich erst die Hände an einem der weißen Papiertücher und dann das Gesicht.

Irgendwie erschien es ihm falsch, dass, obwohl seine Welt gerade um ihn herum zerbrach und sein Leben total und völlig zerstört wurde, sein Körper noch immer auf so simple Dinge bestand, wie zum Beispiel Essen, Trinken, und halt auf die Toilette zu gehen.

Sein Körper schien ihn damit geradezu zu verhöhnen und doch konnte Ray sich gegen diese natürlichen Bedürfnisse nicht wehren.

Mental total erschöpft und ausgelaugt setzte er sich auf den heruntergeklappten Toilettendeckel. Die Motivation, sich einen schöneren Platz zu suchen, fehlte ihm.

Der Wasserhahn tropfte.

Hatte er ihn nicht richtig zugedreht?

Tropf.

Tropf.

Tropf.

Es war ein stetiges Geräusch, ein Rhythmus, der an Rays Nerven zehrte.

Doch er konnte sich nicht dazu bringen aufzustehen. Sein unruhiger Blick landete auf der kleinen runden Uhr, die neben seiner Zahnbürste stand.

Es war gerade Mal 13 Uhr. Noch drei Stunden.

Noch drei Stunden blieben ihm, bis Tala wieder in seine Zimmer zurückgebracht werden würde, da die ‚Behandlung‘ für den Tag abgeschlossen wäre. So zumindest hatte Boris es vorhin behauptet.

Ray seufzte.

Das Gespräch mit Boris war nicht angenehm gewesen. Er hatte sich kaum davon abhalten können dem Lilahaarigen eine rein zu schlagen, aber das wäre seinem Ziel nur abträglich gewesen.

16 Uhr würde Ray Tala wieder sehen können. Bis dahin musste er sich noch die Zeit vertreiben.

Wieder landete sein Blick auf der Uhr.

Zwei Minuten nach 13 Uhr.

Die Zeit verging schleppend.

Das Ticken des Sekundenzeigers war mindestens genauso nervig, wie das Tropfen des Wasserhahns.

Apropos Wasserhahn.

Ray erinnerte sich daran, Mal irgendwo gelesen zu haben, dass tropfendes Wasser früher als Foltermethode benutzt wurde.

Das Opfer lag wohl mit dem Kopf unter dem Wasser, die Tropfen würden immer auf die selbe Stelle an der Stirn fallen und mit vergehender Zeit würde das nervtötende Platschen erst in ein lautes Pochen und schließlich in ein ohrenbetäubendes Dröhnen übergehen.

Innere Gehirnblutungen würden entstehen und das Opfer würde früher oder später sterben.

Hieß das, wenn Ray sich jetzt unter den Wasserhahn legte, dass er damit praktisch Selbstmord begehen könnte? Das alles hier beenden könnte? Keine Sorgen mehr, keine Probleme, kein Stress, einfach … Nichts?

Klang verlockend.

Etwas verwirrt schüttelte Ray den Kopf. Schwarze Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Er musste niesen, als sie ihn in der Nase kitzelten.

Gott, er musste wirklich ein erbärmliches Bild abgeben, wie er hier saß und darüber nachdachte, sich umzubringen. Unter einem tropfenden Wasserhahn noch dazu.

Hatte er denn wirklich keine Hoffnung mehr?

Hoffnung…

Er verzog das Gesicht.

Das war sowieso so eine merkwürdige Sache.

Hoffnung… du klammerst dich an sie, wie ein Bergsteiger an einen losen Stein, wenn seine Sicherung gerissen ist und er am Abgrund hängt.

Du klammerst dich an sie, obwohl du ganz genau weißt, dass sie dich niemals halten wird, dass sie früher oder später zwischen deinen Fingern zerbröseln wird, dass sie es am Ende sein wird, die dich in den Tod reißt.

Und dennoch hältst du dich an ihr fest, verzweifelt, hoffend, betend, denn sie ist das Einzige, was dir noch geblieben ist.

Hoffnung… so trügerisch, verführerisch und eigentlich der größte Verräter von allen.

Rays Blick wanderte erneut zu dem Wasserhahn. Sicherlich wäre es keine angenehme Art zu sterben… wenn es als Foltermethode verwendet wurde…. Außerdem sah das Waschbecken nicht sonderlich bequem aus, um sich rein zu legen….

Frustriert stöhnte Ray auf und erhob sich von dem Toilettendeckel, der protestierend knirschte. Diese finsteren Gedanken brachten ihn noch um, er musste sich dringend ablenken.

Die Uhr zeigte sieben Minuten nach 13 Uhr an. Es waren also noch immer zwei Stunden und 53 Minuten, bis er Tala wieder sehen konnte.

2 Stunden und 53 Minuten.

Definitiv viel zu viel Zeit.

Kurz haderte Ray mit sich, doch dann entschloss er sich zu einem ‚Spaziergang‘. Vielleicht sollte er Mal das Außengelände des Stützpunktes erkunden?

Bisher war er hier immer nur kurz draußen gewesen, um von einem Haus ins andere zu kommen. Es gab kein Grün, kein Gras und keine Bäume dort draußen, von daher also nicht sehr einladend für den Chinesen. Er konnte diese ewigen toten Betonwüsten nicht leiden.

Aber alles war im Moment besser, als hier zu sitzen und den Sekundenzeiger beim Vorwärtskriechen zu beobachten.

Schnell schlüpfte er in die weiß-grauen Stiefel seiner Uniform und verließ sein Zimmer, suchte sich den kürzesten Weg zur frischen Luft. Vielleicht würde der kühle Wind ihm helfen seinen Kopf klar zu bekommen und eine Idee zur Rettung Kais zu entwickeln.

Kai…

Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Der Gedanke, dass der Graublauhaarige bald sterben würde, war die reinste Folter für Ray. Seine Brust schnürte sich schmerzhaft zu.

Kurz schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Atmen.

Das Schlimmste war, dass er Kai vielleicht sogar retten konnte, aber dann müsste er Tala zurücklassen. Und das klang auch nicht sonderlich ansprechend.

Sicher, überlegte Ray, seine Gefühle für Kai waren stärker als die für Tala … ob er den Graublauhaarigen liebte, konnte er nicht genau sagen, dazu fehlte ihm die Zeit sich seiner Gefühle bewusst zu werden. Aber selbst wenn er ihn nicht liebte, so war er doch verdammt dicht dran.

Und Tala…? Ray mochte den Rothaarigen nicht so lieben wie Kai, aber er war viel zu wichtig für Ray geworden, um ihn hier zurücklassen zu können.

Ray schüttelte den Kopf. Nein, ohne Tala hätte er das alles hier nie heil überstanden. Irgendwann wäre er zusammengebrochen. Irgendwann hätte er aufgegeben.

Wenn er die Wahl hätte, Kai oder Tala aus dieser Hölle hier herauszuholen so wusste er, er würde sich nie entscheiden können.

Nie.

Aber im Augenblick sah es aus, als ob sie alle untergehen würden.

Desinteressiert schaute Ray sich um. Die kleinen Kieselsteine auf dem grauen Beton knirschten unter den Sohlen seiner Stiefel. Ein paar Strohbüschel wurden von der lauen Brise über den Asphalt geweht. Ansonsten war da nichts.

Gut, bis auf die Wachen, die brav ihre Runden liefen und ihn misstrauisch beobachteten.

Ray schnaubte.

Dachten die etwa, er würde sie gleich angreifen und töten?

So verlockend es auch klang, aber damit würde er sich selbst nur in Schwierigkeiten bringen, mal abgesehen davon, dass er nicht daran glaubte, wirklich zu einem Mord in der Lage zu sein.

Das Bild von Bryan tauchte vor seinem inneren Auge auf. Wie das Licht langsam aus seinen Augen erlosch und das Blut aus seiner Brust lief, am Griff von Rays Dolch entlang und schließlich auf den Boden tropfte.

Der Chinese zuckte heftig zusammen.

Warum konnte er diesen dummen Traum nicht einfach vergessen? Er wollte einfach nicht glauben, dass es sich dabei wirklich um eine Erinnerung handeln könnte. Sicher war es nur ein Alptraum gewesen, ausgelöst durch die Erlebnisse am Tag davor.

Oder?

Das Geräusch eines Motors ließ ihn aufhorchen.

Ein LKW fuhr etwa 50 Meter neben ihm an einen großen Container.

Neugierig legte Ray den Kopf schief. Was das wohl war? Seine Füße trugen ihn schnell zu dem großen Fahrzeug, Enttäuschung glomm in seinen Augen auf, als er sah, dass es sich nur um einen Abfalltransport handelte.

Sperrmüll. Super.

Zwei Männer hievten große Spanplatten, Teile von Stühlen und Tischen, Koffer, eine Bank und etliches mehr von dem Container in den LKW. Sie schenkte Ray keine Beachtung.

Zumindest bis dieser plötzlich „Halt! Stopp!“ rief.

Der dunkelhaarige und deutlich kräftiger gebaute der zwei Männer sah auf.

„Was?“, brummte er, unzufrieden über die Störung.

„Die Tasche da! Das ist… das ist meine!“, rief Ray, verwirrt, etwas unsicher, aber irgendwie auch begeistert.

Grunzend starrte der Mann auf die demolierte Umhängetasche in seiner Hand, die er gerade in den LKW hatte werfen wollen.

„Deine Knirps? Wie kommt sie dann hier her?“

Gute Frage, stimmte Ray im Stillen zu, zuckte aber lediglich mit den Schultern.

„Ich hab sie aus den Augen verloren und … na ja….“

„Fang!“

Gerade noch rechtzeitig hob Ray seine Hände, als der Mann ihm die Tasche zuwarf.

„Passen Sie besser auf ihre Sachen auf, Sir, wenn sie wichtig sind!“

„Huh?“ War der Mann gerade höflicher geworden?

Dann bemerkte Ray, dass der Braunhaarige etwas respektvoller aber auch leicht ängstlich auf seine weiße Uniform starrte.

Oha, dachte sich Ray, der Mann hatte wohl Angst vor Jägern.

„Danke, Sir, das werde ich machen. Vielen Dank!“

Dann drehte er sich um und rannte zurück zu seinem Zimmer, die Arme fest um die Tasche geschlungen.

Er konnte nicht fassen, dass diese den langen weiten Weg bis hier her tatsächlich überstanden hatte.

Kai musste sie mitgenommen haben, nachdem Ray sie in dem Dorf hatte zurücklassen müssen.

Und da der Russe morgen sterben würde, schien Biovolt beschlossen zu haben, seine Sachen einfach zu entsorgen. Anders konnte Ray es nicht erklären.

Nun, die Tasche versprach etwas Ablenkung. Mal sehen, was noch alles drin war.

Etwas kribbelte in seinem Inneren.

Es fühlte sich merkwürdig an. Ungewohnt. Wie lauter Ameisen die seine Magenwand erklommen und zusammen mit Heuschrecken Salsa tanzten.

Ein leichtes Übelkeitsgefühl mischte sich mit unter.

Ray schüttelte den Kopf.

War er aufgeregt? War es, weil er seit Stunden zum ersten Mal an etwas Anderes, als das Schicksal seiner Freunde dachte? Sollte er ein schlechtes Gewissen deswegen haben?

Kurz warf er einen Blick auf seine Armbanduhr.

13.47 Uhr.

Ja… sicher konnte er sich jetzt bis 16.00 Uhr beschäftigen. Zwei Stunden sollten doch machbar sein, oder?

In seinem Zimmer angekommen warf Ray die Umhängetasche auf das Bett.

Der Raum war weder sonderlich groß, noch übermäßig gemütlich. Ein braunes breites Bett stand in der einen Ecke des Zimmers, daneben lag das Fenster mit dem Schreibtisch und dem Computer drunter. Auf der anderen Seite stand der große Schrank, in den alle von Rays Sachen hinein passen mussten. Dann gab es zusätzlich einen kleinen Nachttisch mit einer Leselampe und ein offenes Regal mit Fernseher.

Irgendwie erinnerte all das an ein typisches Hotelzimmer.

Oh, natürlich gab es noch die Tür, die zum eigenen Badezimmer führte. Und zwar zu eben jenem Badezimmer, in dem Ray vorhin gesessen hatte.

Etwas erschöpft ließ sich der Schwarzhaarige auf das Bett plumpsen und griff nach der Tasche, öffnete sie vorsichtig.

Der Reißverschluss klemmte leicht, aber mit ein wenig Ruckeln hatte er das Problem gelöst.

Zuerst fielen ihm die Bilder entgegen.

Wortwörtlich.

Sie purzelten aus der Tasche heraus und verstreuten sich über die Bettdecke.

Leicht seufzend bemerkte Ray die zahlreichen Knicke und Schrammen auf den Bildern, als er vorsichtig eines ergriff.

Es zeigte Tala und Kai.

Während der Rothaarige einen Arm um den Graublauhaarigen gelegt hatte und der Kamera die Zunge heraus streckte, schien Kai eher reserviert, die Arme vor der Brust verschränkt. Doch auch in seinen Augen konnte man ein amüsiertes Glitzern erkennen.

Vorsichtig fuhr Ray mit den Fingern über das Bild, streichelte Kais Abbild geradezu sanft.

Kai.
 

Sein Kopf schmerzte.

Es war nicht schlimm, ein schwaches Pochen. Doch es war da. Beständig, fortwährend und nervtötend.

Zusammengesunken hockte Kai auf der billigen Ausrede eines Bettes in seiner Zelle.

Sie war nicht groß, zwei Mal dreieinhalb Schritte, mehr maß sie nicht. Ein kleines Waschbecken und eine Toilette waren ihm gegenüber angebracht. Missmutig starrte er ins Nichts.

Zu behaupten, er wüsste nicht, was auf ihn zukommt, wäre eine Lüge gewesen, dennoch zog er es vor, nicht daran zu denken.

Hinrichtung.

Exekution.

Sterben.

Kein angenehmer Gedanke. Aber die Realität. Dieser irre Wissenschaftler hatte es ihm vor ein paar Tagen bestätigt. Seitdem hatte Kai die Zelle nicht mehr verlassen. Anscheinend waren die Experimente an ihm beendet.

Seufzend lehnte er sich zurück.

Die kühle Mauer drückte gegen seinen Rücken ließ ihn leicht erschaudern.

Die Nachricht von seinem baldigen Tod hatte er erstaunlich gut aufgefasst, meinte einer der Wachen. Kai hatte nicht darauf reagiert. Irgendwie … berührte es ihn kaum noch.

Dann starb er halt. Und?

War das nicht eh besser als zu leben?

Leise fluchend sprang er auf.

Verdammt!

Wann?! Wann hatte er aufgegeben?

Er konnte sich nicht an den genauen Zeitpunkt erinnern.

Vielleicht als Biovolt ihn gefangen genommen hatte?

Oder als er zu ersten Mal diesem Wissenschaftler gegenüber stand?

Oder als er erfahren hatte, dass Ray der Mörder seines Bruders war?

Oder als Dranzers Stimme auf ewig zu verschwinden schien?

Oder als er Ray – diesen Verräter – hier getroffen hatte?

Oder als ihm klar wurde, dass, wenn Ray hier war, sich sicher auch Tala in Biovolts Fängen befand?

Oder als er seinen Exekutionstermin bekommen hatte?

Irgendwo dazwischen, irgendwo zwischen diesen Ereignissen, hatte er wohl seinen Kampfgeist verloren und seinen Überlebenswillen begraben.

Jämmerlich.

Entkräftet sank er zu Boden.

Dranzer? Dranzer, hörst du mich?

Keine Antwort, wie immer.



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Von: abgemeldet
2011-04-23T13:40:13+00:00 23.04.2011 15:40
101 Kommis für achat :)
...
Schreib bidde schnell weiter Q_Q
(hab deine Storys schon auf meinem E-book und möchte MEHR *Q*)
Von:  kurai_hana
2011-02-03T19:15:58+00:00 03.02.2011 20:15
hihi^^
man die story is immer noch kaum zum aushalten vor spannung!
ich hoffe, dass du das schreiben bald wieder aufnimmst!!!
sonst komm ich noch um *scherz*

Von:  Jackie20
2011-01-15T14:10:07+00:00 15.01.2011 15:10
tolle story
es ist echt spannend
hoffentlich kommen die da heil raus
kai wird doch nicht wirklich rei etwas antun wenn er ihn
begegnet
und was ist mit tala
schreib schnell weiter
bye
Von:  Lindoen
2010-11-15T20:43:42+00:00 15.11.2010 21:43
super schöne ff!
schreib bitte schnell weiter ^^ *keks geb*
*knuddel*

lg Lin
Von:  Meekamii
2010-09-01T16:43:08+00:00 01.09.2010 18:43
Uuuuh >.< Ich muss unbedingt wissen wie´s weitergeht! Wann schreibst du weiter? ^^ Hmm wird die Story eig. ein drama? Ôo Oder werden die da noch irgendwie rauskommen. Wenn wo wollen sie hin? Und was wird aus Kai und Rei? Kai hasst Rei jetzt! Wie wird Tala sich benehmen wenn er wieder zurückkommt? Bestimmt irgendwie verändert oder so. Neeein bitte schreib weiter, das ist so spannend!
Von:  Jeschi
2010-08-24T14:35:51+00:00 24.08.2010 16:35
OMG! Ich mag den Traum. Der ist toll beschrieben. vor allem, wie Ray sich nicht bewegen kann, obwohl er es will. Als hätte wirklich wer diesen Traum gehabt und beschrieben. ^^
Und ich bin froh, dass es nun wirklich wieder spannend her geht!

Du bringst mich dazu, an den Nägeln zu kauen.
Was machen die Jäger dort?
wuhuuu, das wird spannend. +__+

Ich wusste schon, warum ich Alexey nicht mochte! >.<
Wobei es ja zu einem gewissen Grade sehr freundlich ist, Ray gehen zu lassen. Was ihn trotzdem keinen positiven Punkt mehr einbringt.

Ich mag den Schlussatz. Diese Erkenntnis, wie andere ihn sehen. sehr dramatisch! XD

lg
Jeschi :3
Von:  Jeschi
2010-08-24T14:35:39+00:00 24.08.2010 16:35
Hallo!

Ich finde die Geschichte von Tala und Azat interessant. Endlich erfährt man mal ein wenig über ihre Beziehung.
Und man weiß, was genau Azat zu seinem Hass getrieben hat. x3

Danach folgt ein Stück, dass meiner Meinung nach schnell herunterzählt worden ist, obwohl man dazu mehr sagen kann.
Zum Beispiel wüsste ich gerne mehr über das Training.
Aber vllt. kommt das ja noch mal. *hoff*

Das Tyson und Max den Kontakt zu Ray abgebrochen haben, ist schade. Aber na ja...man kann halt nicht alles haben. *Zitier*

Oh weh, der arme Ray! XD

Weißt du, was ich an dem Kapitel mag? Das es mal nicht drunter und drüber geht, sondern nur ein wenig Alltag der Demos vor Augen führt.
Das hat es gebraucht. Jetzt hoffe ich aber wieder auf Action!
Von: abgemeldet
2010-07-31T23:51:40+00:00 01.08.2010 01:51
Oh, wie gemein, schon wieder kein Kommis (ich hasse das, wenn Leute zusammenfassend Kappis kommentieren - ich mach das zwar auch aaab und zu, vor allem, wenn ich zu faul zum Kommentieren bin, aber ich finds trotzdem iwie doof xD)
Ich finds btw. schön, dass du den FF-Titel jetzt groß schreibst :).

Tja, so schön es auch sein mag, dass die Dorfbewohner als erste Menschen wohl mal Anerkennung und Dankbarkeit übrig haben, so blöd muss es sein, dass diese Idylle schon wieder zunichte gemacht wird, aber das müsste ihnen ja eigentlich klar gewesen sein, nachdem sie ihre Fähigkeiten eingesetzt haben... Ich hab ehrlich gesagt schon mit sowas gerechnet.

Höh, hatte Lai, wenn mich nicht alles täuscht, nicht auch so nen langen Zopf, oder bring ich da grad was durcheinander? Naja, egal, mal sehen...

Das ist aber auch gemein, Rei für etwas bestrafen zu wollen, an das er sich gar nicht mehr erinnern kann >.<
Ich hab auch irgendwie das Gefühl, dass die keine Jäger sind, sondern eher... irgendwas anderes xD Keine Ahnung...
Was ich hier gut finde ist, wie du das Sprachenproblem löst, immerhin wird das in den meisten FFs schlichtweg ignoriert.
Aber mal was anderes so nebenbei in den Raum geworfen, haben Yuriy und Rei sich eigentlich nicht gefragt, ob mit Kai alles in Ordnung ist, oder wo er steckt?
Handschellen... sie sind doch Jäger? Hach, das ist alles so herrlich verwirrend... wirklich eine gute Storyline, das muss mal gesagt sein oov

So und das war wieder ein toller Cliffi... fast schade, dass man pro Monat nur fünf schreiben muss... Naja, mal sehen, wenn ich lustig bin, schreib ich vll nochn paar extra Kommis....

LG, Katze
Von: abgemeldet
2010-07-31T23:37:35+00:00 01.08.2010 01:37
*lol* Die Kühe, die Rays Haare fressen xDD. Die Vorstellung ist wirklich sehr komisch :D
Ok, doch keine Kühe, aber trotzdem lustig xD

Und er wird schon wieder rot -.- Ne, ehrlich, ich find das sau übertrieben und langsam gehts mir wirklich auf den Keks ^^

Ich stell mir die Umgebung wirklich wunderschön vor, auch, wenn du es mit wenigen Worten beschrieben hast, seh ich es total klar und deutlich vor mir *.*
Die Schneeballschlacht... wie süß... aber das ist etwas Aufmunterung und Auflockerung, die sie wohl mal nötig haben... Man merkt ja, wie ausgelassen Ray ist...
Mir ist nur aufgefallen, dass du Brooklyns Namen von Zeit zu Zeit falsch schreibst, nämlich mit i, statt mit y, vielleicht schaust du da bei Gelegenheit mal drüber :3?
Uh, eine Lawine, das ist böse >.<
ich sehe, worauf das hinausläuft - sie müssen ihre Zerofähigkeiten einsetzen um die Leute zu retten, oder? Wobei das ganz schöne Kräfte sein müssten, da das ja eine heftige Naturgewalt ist...
Spannend, spannend oo...

Ohh, das war jetzt aber ein gemeiner Cliffhanger >___<. Zu gut, dass ich die FF lesen kann, wo sie schon weiter fortgeschritten ist ^3^ *pfeif*
Ich werd mich gleich mal auf das nächste Kappi stürzen <3
Von: abgemeldet
2010-07-31T23:21:15+00:00 01.08.2010 01:21
Oh, hier ist ja auch noch kein Kommi >.<

Ich finde die Beschreibung des Kusses und die Gefühle sehr gut beschrieben in dem ersten Absatz.
Allerdings macht mir die sofortige penetrante Frage 'Bin ich schwul?' irgendwie alles kaputt.
Warum kann man nicht einfach sich Gedanken über den Kuss an sich und die andere Person machen, warum ist es wichtiger, herauszufinden, ob man schwul ist besonders in so einer Situation, wie sie sich gerade befinden, auf der Flucht und in irgendeinem Kaff in den Bergen?
Warum kann man nicht einfach den Kuss genießen und ausklingen lassen, glaub mir, wenn man das erste mal eine Person des gleichen Geschlechtes küsst, dann ist nicht der erste Gedanke 'Bin ich schwul?/lesbisch?'
Und btw. hat eine sexuelle Ausrichtung nichts mit dem Verstand zu tun, deshalb kann man es nicht einfach vergessen, das ist ein Gefühl, das da ist oder eben nicht. Und das kann ich mit Gewissheit sagen, weil ich selbst lesbisch bin und genug Leute kenne, die es auch sind und ähnlich darüber denken ;)
Oh, bitte, so romantisch ich diese Szene gerade finde, es ist langsam extrem nervig, dass Ray permanent errötet -.-
Insgesamt hat mir die Szene aber sehr gut gefallen, du hast es echt drauf Erotik gut rüberzubringen <3.
Ich war fast ein wenig enttäuscht, dass es nicht zu einem Lemon gekommen ist, ich finde, das hätte wirklich super gepasst xD.
Bin mal gespannt, wie das mit den beiden weitergeht und joar...
Ich weiß, ich hab mal wieder viel gemeckert, aber im Großen und Ganzen hat mir das Kapitel wirklich sehr gut gefallen :)


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