Wenn Schatten ins Licht treten von Nessi-chan ================================================================================ Kapitel 8: Der Schock --------------------- Die Stille des Schocks schrie einen geradezu an. Keiner konnte glauben, was sie da gerade gesehen und gehört hatten. Als Erster fand schließlich Yusuke seine Sprache wieder: „Sind Sie sicher, dass das wahr ist, Frau Kollegin?“ Dr. Sakurai nickte. „Er war in einer Verfassung, in der er mich nicht anlügen konnte – und mit sowas scherzt man sowieso nicht. Außerdem führt gerade sexueller Missbrauch an Jungen und Männern wegen des extremen Schamgefühls öfter zu Suiziden und Suizidversuchen als bei Mädchen und Frauen. In unserer Gesellschaft wird das Thema ‚Vergewaltigung von Männern‘ leider noch nicht mit dem nötigen Ernst behandelt.“ „Aber…“, schaltete sich nun Akito ein, „wenn dieser Mann wirklich ein Bekannter unseres Vaters war und sich deshalb problemlos im Privatbereich unseres Hauses aufhalten konnte, dann muss es schon ziemlich lange her sein – sonst würde sich doch auch einer von uns an ihn erinnern. Wieso jetzt?“ „Darüber kann ich nur spekulieren.“, versuchte Dr. Sakurai trotzdem zu antworten. „Was Kyouya mir dort gesagt hat, wird nur die Spitze des Eisberges gewesen sein, aber bei seiner momentanen Verfassung wollte ich ihn nicht stärker bedrängen als es nötig war. Warum das Ganze jetzt erst hochkommt, kann verschiedene Gründe haben: Der wahrscheinlichste ist, dass sein Unterbewusstsein nach dem Verschwinden des Peinigers alle Erinnerungen sozusagen weggeschlossen hat, um die Seele zu schützen. In diesen Fällen ist die Erinnerung zwar da und kann – wie hier – zu späterer Zeit wieder durchbrechen, aber in der Zwischenzeit wird der Zustand erzeugt, als gäbe es diese Erinnerung überhaupt nicht. Es ist ein psychischer Vorgang, um die Seele vor dem Schmerz und der Belastung eines Traumas zu bewahren.“ „Aber ich bitte Sie!“ Nun war offensichtlich auch Fuyumi aus ihrer Starre erwacht. „Wenn sich irgendein Mensch in der Kindheit an Kyouya vergangen hätte, dann hätten wir das doch merken müssen!“ „Nicht unbedingt.“, widersprach Dr. Sakurai. „Die meisten Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern kommen im engeren Umfeld des Kindes vor. Doch gerade dann ist es für das Kind schwer, Position zu beziehen. Bei einem Fremden ist es nicht schwer zu sagen: ‚Der hat mir wehgetan.‘ – aber bei dem netten Onkel, dem Freund von Papa? Da spielt bei vielen Kindern auch die Angst mit rein, dass man dem Erwachsenen dann mehr glaubt und am Ende dem Kind selbst noch unterstellt, es würde lügen. Deshalb kommen die meisten Fälle von derartigem Kindesmissbrauch auch erst ans Licht, wenn die Opfer älter sind und wissen, dass sie ein Recht haben, sich zu wehren.“ „Und vielleicht haben wir es sogar bemerkt,“ murmelte Akito nachdenklich, „und es nur nicht in einen solchen Zusammenhang gebracht.“ „Was bitte meinst du denn jetzt damit?“ Yusuke fuhr hoch, als hätte sein Bruder ihm einen persönlichen Vorwurf gemacht. „Na, erinnert euch doch zurück – als Kyouya 7 oder 8 Jahre alt war. Er war bis dahin eigentlich immer ein sehr aktives, fröhliches Kind gewesen. Aber dann hat er sich doch in kurzer Zeit extrem gewandelt: Er ist still geworden – heute würde ich sagen manchmal fast depressiv – und er hatte zeitweise echte Angstzustände. Fuyumi, erinnere dich doch! Er konnte nicht mehr schlafen – gar nicht mehr, wenn es dunkel war, und auch nur noch bei Licht ganz schlecht. Er fing an, über Bauchschmerzen zu klagen, wenn Vater Besuch empfing.“ „Ja, du hast Recht.“ Seine Schwester nickte. „Aber auf der anderen Seite war er dann auch – wenn wir ihn nach gutem Zureden zu dem Empfang gekriegt haben – fast schon zu offen im Umgang mit den Leuten.“ „Trauriger Weise ist fast alles, was hier aufgezählt wird, typisch als Folge von sexuellem Missbrauch in der Kindheit.“, erklärte Dr. Sakurai. „Angststörungen und Depressionen treten oft in direktem Zusammenhang mit dem Ereignis auf – gerade die Angst vor allein Sein und Dunkelheit. Diese Anfälle von Übelkeit waren wahrscheinlich ein Mechanismus des Körpers, um ein eventuelles Aufeinandertreffen mit dem Peiniger zu verhindern. Auch die ungewöhnliche Offenheit – wir nennen das ‚Distanzlosigkeit gegenüber Fremden‘ – ist auch eine Verhaltensauffälligkeit, die bei missbrauchten Kindern oft beobachtet wird.“ „Oh mein Gott! Und wir haben einfach weggesehen!“ Fuyumi schlug die Hände vors Gesicht und begann aus Verzweiflung zu schluchzen. „Wenn wir das doch damals schon gesehen hätten…“ „Sie dürfen da nicht zu streng zu sich sein.“, versuchte Dr. Sakurai sie zu beruhigen. „Das Problem ist, dass diese Verhaltensauffälligkeiten zwar in Missbrauchsfällen auftreten, aber kein eindeutiges Indiz dafür sind. Nicht jedes Kind, das irgendwann unter so etwas leidet, muss zwangsläufig missbraucht worden sein.“ „Aber vielleicht haben wir wirklich zu sehr weggesehen.“ Akito sah aus, als würde sich gerade sein ganzes Leben als riesige Lüge entpuppen. „Gerade wenn ich so an diese Zeit zurückdenke… die Kinderfrau riet damals an, Kyouya in eine Therapie zu stecken, weil er kaum noch gegessen hat. Unter dieser Androhung hat sich das dann zwar wieder gegeben, aber… ach, wir haben immer alles auf Schule, neue Kinder und vielleicht eine gewisse Einsamkeit in dieser neuen Schulumgebung geschoben!“ „Wie sieht es symptomatisch mit unkontrollierbaren Wutausbrüchen aus?“, fragte Yusuke unvermittelt. „Nun, meist leiden die Kinder eher unter Unsicherheit. Aggression ist im Kindesalter selten. Wenn sie auftritt, dann meist später in Form von sexueller Aggression.“, erklärte Dr. Sakurai. „Was genau meinen Sie?“ „Naja, ich erinnere mich, dass einige Leute aus unserem Hauspersonal damals Ärger mit Kyouya hatten, weil er immer wieder gegen irgendwelche Schränke, Kommoden oder Tische geschlagen oder getreten hat und dabei zum Teil auch Schäden verursacht hat.“ Dr. Sakurai überlegte kurz. Dann fragte sie: „Hatte Ihr Bruder in dieser Zeit auch öfter mal Bissverletzungen? Oder Beulen am Kopf?“ „Schon.“, bestätigte Fuyumi nun nickend. „Aber er sagte immer, das käme von Raufereien in der Schule…“ „Dachte ich mir.“, seufzte die Psychologin. „Was Sie beobachtet haben, Herr Kollege, waren keine Aggressionen gegen das Mobiliar, es war eher das Resultat autoaggressiven Verhaltens.“ „Autoaggressives Verhalten?“, wiederholte Fuyumi. „Was genau ist das?“ „Autoaggressives Verhalten…“, erklärte Akito ihr, „bedeutet, dass ein Mensch Aggressionen gegen sich selbst richtet. Am Prägnantesten kennt man es wohl vom sogenannten ‚Ritzen‘, beim dem sich Leute mit scharfen Gegenständen selbst schneiden.“ „Das stimmt, es ist die Assoziation in der Bevölkerung, weil es am ehesten auffällig ist.“, bestätigte Dr. Sakurai. „Aber autoaggressives Verhalten kann viele Formen haben: das Ausreißen von Haaren, das Stechen mit Nadeln, Verbrennungen, Verätzungen oder eben auch das Schlagen des Körpers und gerade des Kopfes oder das Beißen an selbst erreichbaren Körperstellen – meist sind es eben die Arme. Gründe dafür sind meist Abbau von Spannung, Wut oder Selbsthass, aber es gibt auch Theorien in die Richtung, dass Schmerzen, die eigentlich aus der Psyche kommen, in körperlichen Schmerz umgewandelt oder von diesem überlagert werden sollen.“ „Und was passiert jetzt weiter?“ Haruhis Stimme ließ die Erwachsenen überrascht herumfahren. Anscheinend hatten sie die bislang stillen Jugendlichen im Raum fast vergessen. „Jetzt?“, fragte Tamaki mit erregter Stimme. „Jetzt werden wir diesen Unmensch anzeigen! Einen Prozess, der sich gewaschen hat, wird er kriegen! Bestraft werden soll er – und zwar hart – für das, was er Kyouya angetan hat!“ „Ist das denn noch möglich?“, fragte Fuyumi. „Ich meine, es ist doch jetzt bestimmt schon 10 Jahre her.“ „Das macht nichts.“, antwortete überraschender Weise Haruhi. „Allein die Verjährung von Verbrechen mit einem solchen Strafrahmen beträgt schon 10 Jahre, aber die Frist beginnt erst ab dem 18. Lebensjahr des Opfers zu laufen. Daher macht das keine Schwierigkeiten. Aber…“ Unsicher sah sie zu Dr. Sakurai. „Glauben Sie, dass Kyouya einem Prozess gewachsen ist?“ „Im Moment auf keinen Fall.“ Dr. Sakurai schüttelte traurig den Kopf. „Außerdem können wir darüber jetzt gar keine Entscheidung treffen, da diese Entscheidung einzig und allein bei Kyouya liegt. Er muss sich darüber klar werden, ob ihm ein Prozess und eine mögliche Bestrafung des Täters bei der Verarbeitung hilft oder nicht.“ „Was heißt denn ‚mögliche Bestrafung‘?“, fragten die Zwillinge empört. „Dass die Chancen noch nicht einmal schlecht für einen Freispruch auf Grund von Zweifeln stünden.“, antwortete Haruhi und schnitt den Atem holenden Zwillingen das Wort ab. „Das Gericht muss im Zweifel für den Angeklagten entscheiden. Das Einzige, was wir gegen ihn in der Hand haben, ist Kyouyas Aussage. Wir glauben ihm, aber das Gericht ist neutral und muss 100% überzeugt sein. Es ist lange her, deshalb gibt es keine Beweise in Form von Verletzungen oder auch nur ärztliche Gutachten darüber. Und Kyouyas Erinnerung ist vielleicht auch etwas lückenhaft. Schließlich kann man nicht erwarten, dass er sich heute noch an Tag, Stunde und Minute erinnert. Aber genau das wird ein Strafverteidiger von ihm verlangen und damit vielleicht das Gericht ins Wanken bringen.“ „Stimmt.“, pflichtete Dr. Sakurai ihr bei. „Und die Enttäuschung über einen Freispruch des Täters kann ein zusätzlicher Schlag ins Gesicht des Opfers sein. Wie gesagt, es ist Kyouyas Entscheidung – aber wir sollten ihm damit etwas Zeit lassen. Er muss erst einmal zur Ruhe kommen, bevor er sich damit beschäftigt. Ich würde gerne Sie als seine Geschwister bitten, bei ihm zu bleiben, vielleicht mit ihm zu reden, wenn er das will, aber ansonsten einfach präsent zu sein. Er hat sich damals in einer doch überdurchschnittlich großen Familie offenbar allein gefühlt – er sollte jetzt verstärkt das Gefühl bekommen, dass er das nicht ist.“ „Und was machen wir?“, fragte Tamaki, während die Geschwister nickten. „Wir könnten versuchen, den Einstieg dieses Kodama in die Ouran High School zu stoppen.“, schlug Haruhi vor. „Bei deinem Vater könnten wir da bestimmt etwas erreichen.“ „Und was willst du ihm sagen?“, fragte Tamaki ungewöhnlich ernst. „Willst du ihm all das, was uns Kyouya hier über diese Aufnahme anvertraut hat, brühwarm erzählen?“ Haruhi schüttelte den Kopf und sah beschämt zu Boden. Natürlich konnten sie Kyouyas Vertrauen nicht derartig missbrauchen. Aber womit sollten sie Herrn Suo dann überzeugen, nicht mit diesem Herrn Kodama ins Geschäft zu kommen? „Naja, wir könnten von Gerüchten mit diesem Inhalt erzählen.“, schlug Hikaru vor. „Genau! Wir sagen die Wahrheit ohne Kyouyas Namen zu nennen.“, pflichtete Kaoru bei. „Ja, aber…“ Irgendwie kam Haruhi das falsch vor. „Kein aber!“, entschied Tamaki. „Nur so können wir das erst mal stoppen – und das machen wir auch!“ Haruhi seufzte. Irgendwie erschien es ihr zwar nicht richtig, einfach Gerüchte über jemanden in die Welt zu setzen… ‚Andererseits muss er aber gestoppt und bestraft werden für das, was er getan hat.‘, dachte sie. ‚Und vielleicht fällt mir ja auch noch ein anderer Weg ein.‘ „Vater kann sicher auch mit seinem Einfluss intervenieren, wenn er erst mal alles weiß.“, hoffte Fuyumi, doch bei Erwähnung des Vaters schnaubte Akito erneut abfällig. „Das müssen Sie sehen,“ versuchte Dr. Sakurai diese Debatte zu beenden, „mir geht es hier erst mal um Kyouya. Ich werde ihn jetzt zunächst für 3 Wochen krank schreiben. Während dieser Zeit sollten wir regelmäßige Gesprächstermine vereinbaren, zu denen ich gerne die ganze Familie sehen möchte, und nach Ablauf der 3 Wochen sehen wir weiter.“ Sie füllte die Krankschreibung aus und reichte sie Akito. „Ich denke, die Wirkung des Schlafmittels dürfte jetzt zum großen Teil abgeklungen sein, sodass Sie ihn mit nach Hause nehmen können. Aber bleiben Sie bei ihm.“ „Darauf kannst du dich verlassen, Miyuki.“ Akito nickte energisch. Mit leichter Verbeugung verabschiedeten sie sich von Dr. Sakurai und traten auf den Flur. „So, wir fahren jetzt sofort zu meinem Vater!“, verkündete Tamaki und unter seiner Führung zog der Host Club zum Ausgang. „Und wir bringen Kyouya nach Hause.“, sagte Akito. „Kommst du mit?“, fragte Fuyumi an Yusuke gewandt. „Noch nicht, ich muss meine Schicht noch beenden.“, antwortete Yusuke. Seine beiden Geschwister nickten und machten sich auf zu Kyouyas Zimmer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)