Wenn Schatten ins Licht treten von Nessi-chan ================================================================================ Kapitel 2: Familientreffen in der Notaufnahme --------------------------------------------- „Wo ist Kyo?“, quietschte Honey. „Wie geht es ihm?“ „Er wird gerade behandelt.“, antwortet Akito. „Sie werden ihm den Magen auspumpen, um den Hauptteil der Schlaftabletten aus seinem Körper zu bekommen. Eventuell werden sie ihn dann noch an die Dialyse legen, um die restlichen Giftstoffe aus seinem Blut zu filtern. Aber um auf deine erste Frage zurückzukommen…“ Er wandte sich wieder Haruhi zu. „…ob ich mir Sorgen mache: Das muss man differenzieren. Um seinen körperlichen Zustand mache ich mir eigentlich keine Sorgen. Offenbar habt ihr ihn noch rechtzeitig gefunden. Er ist unterkühlt und muss entgiftet werden, aber weder Atmung noch Herzschlag hatten schon ausgesetzt, sodass die Ärzte das folgenlos wieder hinkriegen werden. Worum ich mir Sorgen mache, ist Kyouyas psychische Verfassung. Er war offenbar so verzweifelt, dass er versucht hat, sich umzubringen. Und ich befürchte, wenn man ihm da nicht hilft, wird er es wieder versuchen. Das ist das, was mir Sorgen bereitet.“ „Sollten Sie nicht Ihre Familie anrufen?“, fragte Hikaru vorsichtig. „Und melden, was passiert ist?“, fügte Kaoru an. Akito schüttelte den Kopf. „Nein. Momentan können weder Vater, noch Yusuke, noch Fuyumi etwas tun. Hier würden Sie nur unnötig die Leute scheu machen. Dass sie später da sind, das ist wichtig.“ Haruhi war skeptisch. Aus Kyouyas Familie kannte sie bislang nur dessen Vater Yoshio – einen eher weniger sympathischen Zeitgenossen. Sie wusste, dass das Unternehmen Ootori medizinische Ausrüstung sowie auch ein gewisses Kontingent an Medikamenten herstellte und dass Kyouyas ältester Bruder – der offensichtlich Yusuke hieß – bereits als Arzt arbeitete. Von Akito hatte sie bis heute nur gewusst, dass er Medizin studierte und offenbar für ein Jahr in Kenia gewesen war. Von Fuyumi, der einzigen Tochter der Familie, wusste sie gar nichts. Natürlich konnte Haruhi sich vorstellen, dass eine solche Familie, die führend in der Medizintechnik war, in einem Krankenhaus für einigen Wirbel sorgen würde, aber dennoch hielt sie es für nicht richtig, niemandem bzgl. Kyouyas Suizidversuch Bescheid zu sagen. Er war schließlich der Sohn bzw. der Bruder der Betroffenen. Plötzlich wurden sie und die anderen auf einen Tumult aufmerksam. Eine Gruppe von Krankenschwestern stand auf dem Gang und sah mit einer Mischung aus Entzücken und Erschrecken in die Richtung, die von der Notaufnahme zu den anderen Stationen führte. „Jetzt stehen Sie hier doch nicht so rum und bieten Maulaffen feil!“, hörten sie eine energische Männerstimme. „Haben Sie nichts zu tun?“ Erschrocken nickten die Frauen und verstreuten sich in alle Richtungen, sodass der Blick auf den Besitzer der Stimme frei war: Schnellen Schrittes trat ein schwarzhaariger Mann mit Arztkittel auf sie zu. Streng, beinahe wütend sah er Akito an. „Ich bin angepiept worden.“, erklärte er, als er vor ihnen stand. „Nicht von mir.“, antwortete Akito gelassen. „Allerdings!“, fuhr ihn der andere rüde an. „Obwohl das ja wohl mehr als deine Pflicht gewesen wäre. So muss ich von einem Kollegen der Toxikologie erfahren, dass mein jüngster Bruder mit einer Barbiturat-Vergiftung eingeliefert wurde. Warum hast du dich nicht sofort gemeldet?“ „Ganz im Ernst, Yusuke, wozu?“ „Er ist mein Bruder!“, antwortete der andere wütend, bei dem es sich anscheinend um den erstgeborenen Bruder handelte. „Eben.“, erklärte Akito. „Er ist ein direkter Angehöriger, weshalb du bei den Maßnahmen – genau wie bei Operationen – nicht dabei sein darfst. Und solange du nichts von dem ganzen Vorfall wusstest, hättest du wenigstens auch weiter das machen können, was als Arzt dein Job ist: anderen Menschen helfen.“ „Ach, jetzt komm mir bitte nicht mit deiner Sozialschiene!“, wehrte Yusuke ab. „Also, was ist passiert?“ „Hat dir das dein Kollege noch nicht erzählt?“, fragte Akito mit gewissem Spott in der Stimme, erklärte anschließend aber trotzdem: „Er hat Barbiturat-Tabletten genommen – zu viele – seine Freunde haben ihn unterkühlt und mit flachem Puls und flacher Atmung in seiner halbvollen Badewanne gefunden. Nachdem ich festgestellt hatte, dass ich vor Ort soweit nichts Lebensrettendes machen musste und weiteres nur in der Klinik gemacht werden konnte, haben wir ihn hierher gebracht.“ „Und warum hat man ausgerechnet dich angerufen?“ „Man hat mich nicht angerufen,“ korrigierte Akito, „ich war vor Ort, weil ich noch einmal mit Kyouya sprechen wollte, da er mich ja am Vortag nicht sehen wollte. Und immerhin bin ich als Arzt im Praktikum durchaus in der Lage, zuverlässig erste Hilfe zu leisten.“ Yusuke schnaubte etwas abwertend, doch da stürmte schon eine junge Frau mit langen schwarzen Locken auf die Gruppe zu. „Yusuke, Akito! Das Hausmädchen hat mich gerade angerufen. Was ist mit Kyouya?“ „Beruhige dich, Fuyumi!“, versuchte Yusuke auf seine Schwester einzuwirken. „Kyouya wird behandelt. Sie pumpen ihm den Magen aus und werden ihn wohl dann noch an die Dialyse legen, um sein Blut von den Giftstoffen der Barbiturat-Tabletten, die er genommen hat, zu reinigen. Aber warum hat man denn dich angerufen? Warum nicht Vater?“ „Das wollten sie ja eigentlich!“, antwortete Fuyumi, stand jedoch immer noch ziemlich neben sich. „Aber im Telefonspeicher stehe ich direkt über Vater und das neue Hausmädchen war so durcheinander, dass sie aus Versehen mich angerufen hat. Aber was meinst du mit diesen Barbi…“ „Barbiturat-Tabletten.“, half ihr Akito. „Vom Nicht-Mediziner auch Schlaftabletten genannt.“ „Barbiturate sind keine einfachen Schlaftabletten.“, korrigierte Yusuke seinen Bruder. „Sie werden zu den gefährlichsten Schlafmitteln gezählt und wegen ihrer Nebenwirkungen auch heute so gut wie nicht mehr verwendet.“ „Und warum hat Kyouya sowas genommen?“, fragte Fuyumi, wobei Haruhi diese Frage ihrem Schock zurechnete – denn was man mit einer hohen Anzahl gefährlicher Schlaftabletten wollte, war eigentlich relativ klar. „Er hat versucht, sich umzubringen.“, sagte dann Akito gerade heraus und Fuyumi schlug die Hände vor den Mund. „Das ist noch nicht sicher.“, widersprach Yusuke, woraufhin Akito jedoch nur spöttisch auflachte. „Ich bitte dich, Yusuke! Nimm den Namen ‚Kyouya Ootori‘ mal weg: 17-jähriger Junge wird bekleidet in einer halbvollen Badewanne gefunden. Er hat Schnittverletzungen an einem Handgelenk, die von einem halbherzigen Versuch des Aufschneidens der Pulsadern zeugen, und ist nahezu vollgepumpt mit – wie du gerade selber sagtest – einer der gefährlichsten Arten von Schlafmitteln, die es noch gibt. Nichts lässt auf Fremdeinwirkung schließen. Was würdest du bei einem völlig unbekannten Patienten diagnostizieren?“ Yusuke Ootori schwieg und Akito nickte. „Ganz genau.“ „Aber sowas würde Kyouya doch nicht tun…“, wandte Fuyumi fast flehend ein. „Fakt, liebe Schwester, ist: Er hat es getan.“, erklärte Akito streng. „Die viel wichtigere Frage ist jetzt: Warum hat er das getan? Was ist so schlimm, dass er glaubt, mit niemandem darüber reden zu können – nicht mal mit seinen Freunden.“ Haruhi sah etwas überrascht auf. Sie hatte jetzt mit einem Nachsatz wie „nicht einmal mit seiner Familie“ gerechnet, doch seinem Blick zufolge schien Akito das kategorisch auszuschließen. Und die Spitze hatte offenbar ihr Ziel nicht verfehlt, denn Fuyumi sank neben Haruhi auf die Wartebank und Yusuke presste fest die Lippen aufeinander. Diese kalte Stimmung wurde erst gelöst, als der Haruhi zunächst so unsympathische Notarzt aus dem Behandlungsraum trat. „Wie sieht es aus?“, fragte Akito und trat auf den Arzt zu. „Den Umständen entsprechend gut, könnte man sagen.“, antwortete dieser. „Zumindest körperlich. Wir haben ihm den Magen ausgepumpt und im Moment liegt er zur Sicherheit an der Dialyse und wird auf die Intensivstation verbracht.“ „Aber wieso denn Intensivstation?“, fragte Fuyumi. „Sie sagten doch, es ginge ihm körperlich gut.“ „Standardvorgehen.“, antwortete ihr stattdessen Akito. „Patienten mit Suizidgefährdung werden unter strenger Beobachtung gehalten, bis ein Psychologe Entwarnung gibt.“ „Sie gehen also eindeutig von einem Suizidversuch aus, Herr Kollege?“, fragte Yusuke. „Ja, das tun wir.“, bestätigte der Arzt. „Es befinden sich keinerlei Spuren für Fremdeinwirkung am Körper – weder bzgl. der Schnittverletzungen am Handgelenk, noch Hämatome, die darauf hinweisen könnten, dass ihm die Barbiturat-Tabletten gewaltsam verabreicht wurden. Das Muster entspricht einem typischen Suizidvorgehen: Der Suizident will sich die Pulsadern aufschneiden, um zu verbluten. In eine Wanne mit warmem oder sogar heißem Wasser legt er sich, damit der Wundverschluss nicht schnell genug eintreten kann. In diesem Fall war er offenbar entweder nicht geschickt oder nicht mutig genug oder hat die mutmaßliche Leichtigkeit des Öffnens der Pulsadern überschätzt, sodass es nur zu diesen oberflächlichen Verletzungen kam. Um den Suizid dennoch durchzuführen, wird er sich dann entschlossen haben, einfach eine Überdosis Schlaftabletten zu nehmen. Die Konzentration im Blut spricht bei dem angegebenen Fabrikat für etwa 7-8 Tabletten.“ „Aber wenn das mit den Tabletten eigentlich nur ein Ausweichen war, wieso sollte er die dann schon dagehabt haben?“, fragte Yusuke und wollte offenbar immer noch einen Weg finden, das Geschehen nicht als Suizidversuch sehen zu müssen. „Er könnte schon vor dem Aufschneideversuch eine oder zwei genommen haben.“, mischte sich nun wieder Akito ein. „Auch kein ungewöhnliches Vorgehen für Suizidenten: Sie betäuben sich erst ein wenig, um die Hemmschwelle zu senken und eventuell die Schmerzempfindlichkeit zu blockieren.“ „Das vermuten wir auch.“, stimmte der Notarzt nickend zu. „Wie gesagt, es ist eher die Regel als die Ausnahme bei Suizidversuchen.“ „Und wo ist Kyouya jetzt?“, fragte Fuyumi. „Können wir zu ihm?“ „Wie gesagt,“ erklärte der Notarzt diesmal sehr höflich und geduldig, „er wird gerade auf die Intensivstation verbracht. Dort haben Sie als Familie unter entsprechenden Hygienevorkehrungen Zutritt. Aber er ist noch immer ohne Bewusstsein, da die Wirkung des Barbiturats so schnell nicht abklingt.“ „Dann lasst uns gehen.“, schlug Fuyumi vor. „Geht ihr allein. Ich werde Vater genauestens über alles informieren.“, erklärte Yusuke und ging in Richtung der anderen Abteilungen davon. „Und ich werde mich noch mal in Kyouyas Zimmer umsehen.“, kam es von Akito. „Es wäre möglich, dass er irgendwo einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, der uns weiterhelfen könnte. Ich komme wieder, wenn ich was gefunden habe oder ganz sicher bin, dass nichts da ist, und ansonsten ruf mich einfach an, wenn er wach wird.“ Er wollte schon zum Ausgang gehen, drehte sich dann aber noch mal zu Fuyumi um. „Aber nimm doch die Herrschaften hier mit hoch. Schließlich haben sie Kyouya noch rechtzeitig gefunden und ihm damit das Leben gerettet.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)