Puzzeln
Doch es wurde nicht wie vorher. Es wurde auch kein bisschen besser, eher noch schlimmer. Das ganze war jetzt eine Woche her und mit jedem Tag verwirrte es ihn mehr.
Nein, es war nicht dasselbe, ob Kaoru schwul war, oder nicht. Die Vorstellung von ihm mit Frauen war okay. Das waren nur Frauen, die konnten sich doch nicht zwischen sie stellen, das war was ganz anderes. Aber Männer… Typen, wie er selbst… Allein bei der Vorstellung, dass irgendein anderer Junge Kaoru jemals wichtiger sein könnte als er, kochte ihm die Galle hoch.
Ob es Kaoru wohl auch so ging, wenn er an ihn und seine Freundin dachte?
Schnell schob er den Gedanken beiseite. Das würde ja bedeuten, dass – nein, das war einfach nicht so!
Seine Freundin… Seit einer Woche drückte er sämtliche Anrufe weg, hatte Mine gesagt, dass sie sie abwimmeln sollte, ging ihr in der Schule aus dem Weg. Irgendwie… wollte er sie nicht sehen.
Er wollte auch nicht mit Mine darüber reden. Mit niemandem. Er wollte nicht an diesen verdammten Kuss denken und er wollte nicht, dass Kaoru ihn liebte. Nicht so. Er wollte, dass das einfach aufhörte!! Es sollte einfach alles so bleiben wie immer!
Was würden bitteschön Mine und Yoshio sagen? Was sollten denn seine – ihre Freunde denken? Was sollte das überhaupt werden, er und Kaoru? Und außerdem stand Kyo doch gar nicht auf Kerle!
Natürlich vermisste er ihn…das hatte er schon immer, jedes Mal, wenn er ihn wieder alleine gelassen hatte, er hatte dieses Gefühl einfach nie wirklich weggekriegt.
Verzweifelt starrte er auf das Foto seiner Mutter. Mussten ihn denn alle Menschen, die er mochte, alleine lassen?
Wenn sie wirklich ein Engel war, da oben im Himmel und sehen konnte, wie es ihm ging, wieso half sie ihm dann nicht? So wie bei der Sache mit seinem Vater… Da hatte sie doch bestimmt auch ein bisschen was getrickst, aber waren Engel nicht auch für so was zuständig?
Offenbar nicht, denn auch in der nächsten Woche erschien kein Engel und keine Taube ließ irgendeinen Zettel fallen, er hatte keinen erleuchtenden Traum und kein komischer Mensch kam vorbei, der ihm noch komischere Ratschläge gab, kein Frosch holte ihm sein altes Leben zurück und es warf auch kein Haselstrauch ab.
Warum verdammt konnte das Leben nicht wie eines dieser scheiß Märchen sein?!
Jetzt lag er schon seit Stunden wach, war hundemüde und konnte trotzdem nicht einschlafen, starrte einfach nur seine schlafenden Fische an. Das Bett war einfach zu leer…selbst mit seinem alten, abgekuschelten Plüschdrachen…
Außerdem war er sich sicher, dass in irgendeiner der tausend SMS von Tomomi stand, dass sie Schluss machte. Aber das war ihm gerade ziemlich egal.
Seit genau zwei Wochen hatte er Kaoru nicht mehr gesehen, seit zwei Wochen nicht mit ihm gesprochen, nicht mit ihm gechattet, gar nichts. Zwei verdammte Wochen, in denen er einfach mit niemandem geredet hatte, schon gar nicht mit Mine, die es inzwischen aufgegeben hatte, nachzufragen. Aber wie hätte er ihr das bitteschön erzählen sollen?
Zwei richtige scheiß Wochen, die ihm wie eine Ewigkeit im leeren Raum vorkamen, weil er es einfach nicht schaffte, seine Welt wieder in Ordnung zu bringen.
Und so schwer konnte das doch wohl echt nicht sein! Das war doch wie ein Puzzle, oder? Eines, das immer schon ganz war und jetzt war es auseinander gefallen, weil die Teile so nicht mehr passten. Also musste er sie doch nur neu anordnen, oder?
Aber im Grunde war es ja nur ein Teil, das nicht mehr passte. Dummerweise war das das größte, an dem sich alle anderen festgehalten hatten, dieses zentrale eine Puzzleteil, an dem sich alles orientierte…
Aber wie er das Kaorupuzzleteil in seinem Kopf auch drehte und wendete, es wollte einfach nicht mehr passen. Von Kaoru zu verlangen, so zu tun, als ob nichts gewesen wäre, und das Teil einfach mit Gewalt in seine Lücke zu quetschen, konnte er nicht bringen. Das würde er ja selbst nicht können und es wäre ja doch nicht das gleiche, irgendwann wäre es wieder rausgesprungen. Aber weglassen konnte er das Teil auch nicht, damit fehlte seinem Puzzle irgendwie der Sinn. Es war einfach dieses eine Teil, ohne das die Mona Lisa nicht lächelte, das mit der Perle auf dem „Mädchen mit dem Perlenohrring“, ja Yoshio puzzelte gerne und am liebsten puzzelte er Gemälde, bei dem letzten Puzzle, das Kyo selbst zusammengesetzt hatte, wäre es wohl eher das Auge von Bambi oder der Kopf eines Delfins gewesen. Kaoru war einfach wie das Wasserstoffperoxid in der Blondierung, der Fisch im Sushi, das Wasser im Meer…
Das Meer… am Meer war er schon lange nicht mehr gewesen. Früher waren sie oft am Wochenende an den Strand gefahren, hatten Picknick gemacht. Die ganze Familie. Kaorus Familie, seine Familie. Es war schön gewesen da, das wusste er noch. Aber in seinem Leben war so vieles schön gewesen. Nur mit dem Meer… irgendetwas war da… er erinnerte sich noch, dass er geheult hatte. Und geschrien… und es dunkel war… und… sie suchten etwas mit Taschenlampen und er hielt Kaorus Hand, oder vielleicht auch eher umgekehrt und sie mussten beim Auto warten. Und er weinte weil… weil er sein Märchenbuch wiederhaben wollte! Deswegen. Das Märchenbuch, das ihm seine Mutter geschenkt hatte, das einzige, was er noch von ihr gehabt hatte aber irgendwie… war das nicht der Grund. Es hatte nichts mit seiner Mutter zu tun gehabt, dass er das Märchenbuch so unbedingt brauchte, das spürte er heute noch, aber seine Erinnerung war so verwischt…
Das Buch musste aber hier irgendwo noch sein. Sie hatten es bestimmt nicht weggeworfen, da war er sich sicher! Er hatte es doch noch in der Hand gehabt, als sie das letzte Mal renoviert hatten und er hatte es auch wieder irgendwohin geräumt…nur wo?
Also auf dem Bücherregal stand es nicht, das sah er von hier aus. Auch sonst lag es nirgends offen rum, dann hätte er ja auch gewusst, wo es war.
Half wohl nichts, das musste er jetzt suchen. Schlafen konnte er ja sowieso nicht und das lenkte ihn vielleicht ein bisschen ab, also stand er auf, schaltete das Licht an – das Nachtlicht alleine wäre doch ein bisschen schwach gewesen – und suchte.
Zuerst in der Kommode, da war hauptsächlich das Zeug fürs Aquarium und aller Schrott drin, den er nicht aufräumen wollte, aber nicht sein Buch. Nachtschrank war sowieso Fehlanzeige, was da drin war, wusste er genau, Bücherregal hatte er auch schon abgehakt, im Fernsehschrank waren nur DVDs und Playstationspiele, selbst in den Kisten mit den alten Schulsachen war nichts. Ratlos sah er sich um. Hatte er das Buch vielleicht doch…also…eigentlich benutze er von seinem Nachtschrank sowieso nur die obere Schublade und die Deckplatte oben eben, aber… naja, probieren ging ja bekanntlich über studieren, also zog er erstmal die erste Schublade auf, aber wie erwartet fand er da nur Kondome, Hentaimangas und was man eben sonst so brauchte, was aber nicht unbedingt offen rumliegen sollte. Zweite Schublade: oh… da hatte er Kaorus Gundam Manga versteckt! Und seine Süßigkeiten auch. Lag wohl an dem Zucker, dass das noch nicht zu stinken angefangen hatte. Sollte er auch mal wieder ausmisten, aber nicht jetzt.
Dritte, größte und somit letzte Schublade: Papierkram. Super. Aber wenn er schon mal dabei war, hochheben schadete bestimmt auch nichts, vielleicht fand er ja noch was Interessantes.
Alte Tests, alte Bilder, alte, wertlose Urkunden, alte Fototaschen – er wollte die Fotos dadrin gar nicht ansehen, er kannte sie und er hatte das dumpfe Gefühl, nur sentimental zu werden und am Ende noch in Tränen auszubrechen, wenn er die jetzt sehen würde – altes Zeug, das er irgendwann mal ausgedruckt hatte und – oh, richtig, er hatte sich das da reingelegt, weil er’s mal wieder ansehen wollte und es nicht in die anderen Schubladen gepasst hatte: sein altes Märchenbuch!!
Na wenn er es jetzt endlich hatte, konnte er das auch gleich mal nachholen. Vielleicht würde er ja dabei einschlafen. Also großes Licht aus, Nachtlicht an – ja die Reihenfolge war blöd, aber den Weg ins Bett fand er auch im Dunklen.
Seite für Seite blätterte er durch, aber wirklich Lust, eines der Märchen zu lesen, hatte er doch nicht. Warum waren die auch alle so scheiße glücklich??
Die wussten alle, wer ihr Prinz und ihre Prinzessin waren und hatten nicht das Problem, dass ihr bester, allerbester, überhaupt tollster Freund sich in sie verliebte und sie selbst nicht mehr weiter wussten… So viel zur Ablenkung.
Wobei… der Prinz in Aschenputtel wusste auch nicht, wer seine Prinzessin war, aber das war ja wohl was ganz anderes. Trotzdem wollte er das jetzt noch mal lesen, es war immerhin sein Lieblingsmärchen gewesen und so blätterte er das Buch durch, auf der Suche danach…
Urplötzlich war da das Bild. Das knittrige alte Blatt Papier, mit dem violetten Auto und den krakeligen Schriftzeichen.
Kaoru und Kyo.
Er wusste nicht warum, aber sofort stiegen ihm die Tränen in die Augen. ‚Scheiße, jemand, dessen Lieblingsfarbe sein ganzes Leben lang Violett war und der Herzchen auf eine Autotür malte, konnte nur schwul werden, oder?’
Kyo versuchte die Tränen trotzig wegzuwischen, aber es hatte keinen Zweck, sie wollten einfach nicht aufhören zu fließen.
Jetzt erinnerte er sich auch wieder. Deswegen war das Buch so wichtig! Es ging nicht um das Buch und nicht um seine Mum, es war ihm einzig und allein um das Bild von Kaoru gegangen!
Und auf einmal war es so klar: es musste sich gar nichts ändern! Es hatte sich überhaupt nichts verändert, es war schon immer so gewesen.
Das war einfach… es war wie mit der Sache mit seinem Vater… etwas, was man erst viel später verstand und was einem dann Angst machte. Okay, der Vergleich war bescheuert, vielleicht doch eher wie mit dem Fisch im Meer, der nicht checkte, dass das um ihn rum das Meer war, oder? Das verdammte letzte Puzzleteil, das man einfach nur nicht in die Lücke kriegte, weil man es selbst falschrum gehalten hatte.
War im Grunde auch egal, er musste zu Kaoru! Und zwar jetzt sofort.
Eine halbe Stunde später stand er komplett abgehetzt vor Kaorus Wohnheim und klingelte sich die Finger wund. Mit der Bahn wäre er wahrscheinlich mindestens doppelt so schnell gewesen, als mit dem Rad, und die fuhren ja glücklicherweise auch nachts, aber still sitzen hätte er sowieso nicht gekonnt.
Mann, warum machte der nicht auf?! Halb drei war doch echt keine Zeit!
Erst nach einer dreiviertel Ewigkeit hörte er endlich Kaorus tiefes, verschlafenes Gebrummel aus der Gegensprechanlage. „Mach endlich auf, verdammt!!“, schrie er einfach heißer und achtete gar nicht mehr auf das leise Summen sondern drückte so lange an der Tür rum, bis sie sich öffnete, rannte dann einfach weiter in den verdammten vierten Stock und fiel – sprang fast schon – dem ziemlich verwirrten Kaoru, der aus seinem Zimmer schaute, einfach, schon wieder schluchzend, um den Hals, klammerte Arme und Beine um ihn und wahrscheinlich grenzte es an ein Wunder, dass der nicht einfach umgefallen war.
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endliiich *____________*~
xD
hach jetzt bin ich glücklich, dass die beiden sich haben^^''
und damit wären wir auch so ziemlich am Ende, fehlt nurnoch der [Mini-]Epilog, auf den ihr euch freuen dürft <3
wobei~ vielleicht~~~~ gibts, falls Interesse besteht, noch ein kleines Extra, aber dazu mehr nach dem Epilog^^''