Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil von Izaya-kun (Das Tagebuch eines Gesuchten) ================================================================================ Kapitel 36: Freiheit? --------------------- Der Morgen kam für mich schleichend. Ich öffnete die Augen, es war dämmrig, ich schloss sie wieder. Und dann, als ich sie erneut öffnete, war es um einiges heller. Wenn Trägheit wirklich eine Sünde ist, so habe ich an diesem Tag meinen Vertrag mit dem Teufel unterschrieben. Es war mir egal, ob das Licht durch das Fenster fiel und es war mir auch egal, dass jemand im Hinterhof laut herum brüllte. Immer wieder zog ich die Decke über meinen Kopf oder drehte mich auf die andere Seite. Immer wieder schlief ich wieder ein, um aufzuwachen und weiter zu schlafen. Gegen Mittag dann klopfte Jack an die Tür und erkundigte sich freundlich nach meinem Befinden. Ich hatte so viel geschlafen, dass ich wieder müde und erschöpft war. Benommen setzte ich mich auf und sah mich verwirrt um. Erneut klopfte es. Ich hatte das Gefühl, mein Körper war betäubt vom langen Liegen. Er fühlte sich steif an, als wären alle Muskeln starr geworden. Langsam öffnete ich die Tür, mir ging alles viel zu schnell. Es schien, als wäre mein Geist noch tief im Schlaf versunken. Der blonde Junge begrüßte mich mit einem fröhlichen und gedehnten: „Guten Morgen, Sir!“, und trug ohne weiteres Warten ein Tablett an mir vorbei. Auf diesem erkannte ich Brot und Käse, so wie einen Krug mit Milch. Im Schankraum herrschte bereits wieder lautes Gemenge durch die Gäste, viel zu laut für meinen müden Kopf und so stammelte ich nur: „Morgen.“ und ließ verwirrt die Tür ins Schloss fallen. Ich drehte den Schüssel herum, dann folgte ich ihm. Jack stellte das Tablett auf das Bett, dann zog er den kaputten Stuhl heran und setzte sich. Ich tat es ihm gleich, jedoch auf den zerwühlten Decken. Nun, wo es Tag war, erkannte ich den Staub auf dem Boden. Meine Füße hatten Abdrücke in der weißen Schicht hinterlassen, ebenso wie Jacks Stiefel. Man musste mir ansehen, dass ich nicht mit einem Frühstück gerechnet hatte, denn er lachte. Verständnislos und langsam sah ich ihn an. „Was ist so lustig?“ „Esst ruhig, aber lasst Philipp nichts davon wissen.“ „Philipp?“, ich ließ mir diese Einladung nicht zweimal sagen und griff nach dem Brot. Die Kruste war hart, aber die Teigware scheinbar nicht alt. Es schmeckte fast so gut, wie jenes Brot aus unserem Kloster. Fragend und kauend sah ich ihn an. „Wer ist Philipp?“ „Mein Ziehvater. Der Wirt.“, Jack wollte anfangen zu kippeln, doch dann erinnerte er sich scheinbar daran, dass der Stuhl nur drei Beine hatte. Er grinste mir entgegen. „Schmeckt es?“ „Ausgezeichnet, ich danke dir. Es ist ewig her, dass ich Milch getrunken habe.“, doch dann hielt ich inne. Die Milch schmeckte gut, das Brot schmeckte frisch, das Bett war weich. Alles in Allem sehr gute und angenehme Gefühle. Aber sollte nicht gerade das mein Misstrauen erwecken? Jack begann nun auf dem Stuhl hin und her zu wackeln. Mal befand sich das eine der drei Beine ein wenig in der Luft, dann das andere. Es klapperte fast taktvoll, während er freundlich verkündete: „Nun, Ihr wolltet mit mir sprechen?“ Er hielt kurz, bis ich auf sah, dann kippte er weiter hin und her. Das Geklackere begann mir etwas auf die Nerven zu gehen und ich konzentrierte mich aufs Essen. Ich begann etwas langsamer am Käse herum zu kauen. Der Junge sollte nicht denken, ich sei auf ihn angewiesen. Zwar war ich es vorerst, aber das musste ich ja nicht unbedingt herum posaunen. Zudem wollte ich nicht gereizt werden und mir damit eventuelle Dienste von Jack vermiesen. Aber wie sollte ich anfangen? Hallo, ich will eine Verrückte aus dem Tollhaus holen, hilfst du mir? Wohl kaum. Mir fiel auf, dass die Rettungsaktion zwar die ganze Zeit in meinem Hinterkopf geschwirrt hatte, aber ein grundlegender Plan fehlte mir. Wie sollte ich anfangen? Was würde ihn vertreiben? Oder würde er mich so oder so für wahnsinnig erklären? Konnte Jack mir überhaupt helfen? „Ach, nichts besonders.“, begann ich dann, als ich mit Essen fertig war. Ich stellte das Tablett neben mich und zog eines der Beine an, dann stützte ich mich rücklings auf meine Hände. „Das tat gut... Ich danke dir. Gutes Essen habe ich wahrlich vermisst!“ „Keine Ursache.“ Ich lächelte ihn fast freundschaftlich an, schien die Ruhe in Person, entspannt und ausgeglichen, aber das Chaos in meinem Hinterkopf strafte dieses Bild Lügen. „Nun... Jack... Nur mal angenommen, ich hätte eine gute Freundin und diese Freundin wäre in Schwierigkeiten. Würdest du mir helfen?“ Ich beobachtete jeden noch so kleinen Gesichtsmuskel des Jungen, um kein Anzeichen für eine falsche Aussage zu übersehen. Jack hielt inne und sah mich an. Fragend, forschend und leicht misstrauisch. Dann stand er auf und sank vor dem Bett in die Knie. Der Junge lehnte sich mit dem Oberkörper gegen das Holzgestell. Er flüsterte: „Ich weiß nicht genau, was Ihr meint, Sir, aber ich werde Euch nicht helfen, jemanden aus dem Gefängnis zu befreien.“, seltsamerweise war seine Stimme leicht aggressiv und ich fragte mich, ob er als Soldat bereits öfters nach Hilfe gefragt worden war. Er fuhr fort: „Ich bin verdammt froh, dass ich endlich in den Zellen arbeiten darf, und nicht nur als Stallbursche der Soldaten. Das werde ich mir nicht vermiesen.“ „Keine Sorge. Davon spreche ich nicht. Ich möchte niemanden aus dem Gefängnis befreien.“ „Sondern?“, seine Gesichtszüge beruhigten sich etwas. Ich legte mich auf den Bauch und stützte den Kopf auf die Hände. „Nehmen wir mal an, jemand, den ich sehr gut kenne, wird für etwas gehalten, was er gar nicht ist.“ „Und das wäre?“, fragte Jack interessiert. Ich wog kurz den Kopf. „Schau... Dein Buch. Du hast geschrieben, dass es vielleicht Land hinter der endlosen See gäbe. Dass die See also gar nicht endlos sei. Das ist schon etwas verrückt, findest du nicht?“ „Vielleicht ein wenig.“, gab er zu. Ich schmunzelte. „Nun und wenn jemand das erfahren würde, das du da schreibst-...“ Er fuhr sofort hoch. „Sir! Wollt Ihr mich erpressen?! Das klappt nicht, keiner würde Euch glauben!“ „Nein, nein, keine Sorge.“, Jack sank zurück gegen das Bett. Sein wütender und misstrauischer Blick verwandelte sich immer mehr in Neugierde. „Es ist rein theoretisch. Nehmen wir an, jemand würde das erfahren und das Buch lesen. Man würde dich für verrückt halten, nicht wahr? Und vielleicht würde man dich der Ketzerei anklagen, aber nur vielleicht. Auf jeden Fall wärst du wohl verrückt. Und denk nur, wenn du hohe Freunde hättest. Einen Lord vielleicht, oder einen Lehnsherren.“ „Was wäre dann?“, wollte er wissen. Ich tat nachdenklich. „Man würde dich vielleicht verbrennen wollen. Ich, als dein Freund oder Philipp vielleicht, wir würden zu diesen hohen Leuten gehen und sie bitten, dir zu helfen. Und vielleicht würdest du nicht verbrannt werden, sondern stattdessen nur für verrückt erklärt und ins Tollhaus kommen.“ „Ins Tollhaus?“, Jack sah mir aufmerksam in die Augen. „Ist das eurem Freund passiert?“ „Einer Freundin.“, gab ich leise zu. „Sie sollte verbrannt werden, wurde aber stattdessen nur eingesperrt.“ „Warum? Was hat sie getan?“ „Das weiß ich nicht.“, jemand verließ sein Zimmer und ging durch den Flur. Jack und ich lauschten angespannt, als würden wir ein unheimliches Verbrechen begehen und keiner sagte ein Wort. Wir hörten, wie die Person die Treppe herunter ging und dann das Schaben eines Stuhls in der Schenke. Die Stille legte sich über uns, wie ein Teppich aus Angespanntheit und Paranoia. Wir warteten lange, ehe der Junge sich neben mich auf das Bett setzte. Leise fragte er: „Woher kennt Ihr sie, Sir? Und wer ist sie?“, die Antwort fiel mir schwer. Der Junge schien interessiert und vielleicht auch dazu bereit, mir zu helfen, aber wenn er erfahren würde, dass ich sie nie außerhalb des Tollhauses kennen gelernt hatte, könnte er vielleicht zweifeln. Vielleicht würde ihm auffallen, dass ich gar nicht wissen konnte, ob Mary-Ann nicht doch verrückt war. Mit jedem Gedankengang kam mir die Sache nur umso absurder vor. Ich zweifelte selbst so an meinem nicht ansatzweise geplanten Vorhaben, wie sollte ich dann einen Jungen wie Jack davon überzeugen? Er war nicht dumm. Eine Tatsache, die mir alles noch komplizierter erscheinen ließ. Ich seufzte schwer. Mit einem Mal war ich wieder unendlich müde und so ließ ich mich auf die Laken fallen und starrte zur Decke. Mein Fall in den Stoff wirbelte Staub auf und ich bekam etwas ins linke Auge. Gequält begann ich daran zu reiben. Jack deutete mein Schweigen scheinbar als Betrübtheit. Er flüsterte entschuldigend: „Verzeiht, ich wollte Euch nicht zu nahe treten.“ Verwirrt sah ich ihn an, dann verstand ich und sah wieder nach oben. Gespielt traurig und leicht heiser flüsterte ich, wie zu mir selbst: „Es ist in Ordnung. Ich bin nur... sehr durcheinander, verstehst du?“ Mein Auge tränte nun. „Liebt Ihr sie?“ Stille. Ich war mir nicht sicher, was die Antwort war und hatte darüber niemals nachgedacht. Dann schluckte ich schwer und nickte knapp. Als ich meine Hand wieder aufs Laken sinken ließ, lief mir eine Träne über die Wange. Der Junge war leicht erschrocken über meine starken Emotionen. „Verzeiht... Ich wollte wirklich nicht-... Ich wusste ja nicht-...“ „Es ist in Ordnung.“, flüsterte ich abermals. Dann sah ich Jack an und setzte mich langsam auf. Ernst nahm ich seine Hand und drückte sie, dem Jungen direkt in die Augen sehend. „Jack.“, flüsterte ich eindringlich dabei. „Hilfst du mir? Ich bitte dich von ganzem Herzen.“ „Sie aus dem Tollhaus zu holen?“, ich nickte abermals. Der Wirtssohn löste sich unsicher aus meinem Griff. „Ich bin mir nicht sicher.“ Eine Weile schaute ich weiter in seine Augen, dann nickte ich schweigend und senkte den Blick. Betrübt betrachtete ich die Laken vor mir, dann drehte ich mich ganz weg und murmelte fast tonlos: „Ich verstehe.“, ich spürte, dass es Jack unangenehm war. Er tat sich ohnehin schwer, Bitten abzulehnen und nun plagte ihn das schlechte Gewissen. Natürlich wollte ich diese Tatsache nicht für mich nutzen. Es wäre nicht rechtens ein naives Kind von solch einer gefährlichen Sache zu überzeugen und würde mich wahrscheinlich bis zum Ende meines Lebens verfolgen, wenn ich es dennoch täte. Er war nett und zuvorkommend gewesen, allein das sollte mir reichen. Und während ich darüber nachdachte flüsterte ich, meine verbrannten Fingerkuppen betrachtend: „Ich habe auch nicht erwartet, dass du mir hilfst. Ich meine, so lange kennen wir uns noch nicht. Und wer hilft schon gern einem Angeklagten wie mir, der eine Feuerprobe hinter sich hat? Niemand. Keiner hilft so jemandem. Das ist wohl normal.“, dann schwiegen wir. Jack sagte sehr lange nichts und mit jeder Sekunde lastete das Gewissen mehr auf seinen Schultern. Dann fragte er fast ein wenig gequält: „Kann ich denn irgendwie helfen?“ „Nun ja, du bist Soldat.“, ich zuckte mit den Schultern. „Das eine oder andere könntest du gewiss herausfinden.“, der Junge sah vor sich. Er war hin und her gerissen. Aufmerksam musterte ich sein Gesicht. „Ohne Risiko, versteht sich.“, der Wirtssohn sah mich unsicher an. Er wagte es nicht, weiter zu fragen und ich erkannte an seinen Augen, am liebsten würde er einfach gehen. Doch ich beachtete es nicht, diesen Gefallen konnte ich Jack nicht tun. „Ich muss wissen, ob sie, Mary-Ann, noch lebt, ehe ich hingehe. Wenn ich sie befreien will und sie längst weg ist, habe ich ein Problem.“, und etwas leiser und eindringlicher fügte ich hinzu: „Wenn sie nicht längst tot ist, Jack.“ „Tot?“, er seufzte und sah vor sich. „Wieso tot?“ „Man möchte sie foltern und anschließend verbrennen.“, entgegnete ich knapp. „Na ja oder hängen. So oder so, man will sie umbringen und zwar langsam und schmerzvoll. Und das muss ich verhindern.“ „Und wie? Wo soll sie danach hin? Hier her etwa?!“, er zuckte zusammen, als die Türglocke im Schankraum schellte, als hätte er dieses abscheuliche Geräusch nie zuvor gehört. Ich musste schmunzeln über die Nervosität des sonst so wagemutigen und abenteuerlichen Jungen, überspielte es aber und schüttelte ernst den Kopf. „Nein, nein, keine Bange. Ich werde dir nicht weiter zur Last fallen. Ich möchte nur, dass du für mich herausfindest, ob sie noch lebt. Du hast mein Wort, Jack.“ Ein erneuter Seufzer. Dann stand Jack auf, mit hängenden Schultern und niedergeschlagenen Gesicht. „Ihr verlangt viel, Sir.“, murmelte er dabei bedrückt und mit belegter Stimme. „Und das, wo ich Euch nichts schulde. Eher andersherum.“ „Das ist wahr. Aber du rettest damit vielleicht einen unschuldigen Menschen. Ich würde dir ewig dankbar dafür sein und sicher werde ich es irgendwie zurückzahlen können. Irgendwann.“ Doch er schlurfte bereits hinaus und nickte nur nachdenklich. „Ich sehe, was sich machen lässt, jetzt muss ich zum Dienst. Aber versprechen tue ich nichts, Sir. Bis heute Abend dann.“ Lächelnd nickte ich und sah ihm zu. „Bis heute Abend.“, dann fiel die Tür leise ins Schloss. Ich lauschte aufmerksam, wie er in das Zimmer gegenüber ging und leise mit jemandem sprach. Eine Frauenstimme fragte ihn, wieso er so betrübt aussähe, doch er antwortete so leise, dass ich Jacks Worte nicht verstand. Ihre Stimme ließ auf eine Frau um die vierzig Jahre schließen und sie hatte einen starken, westlichen Akzent. Sie sprach seinen Namen Dschagg, statt Jack aus und ich mochte es, wie stark sie das i beim Sprechen betonte. Ohne Frage handelte es sich bei der Frau um seine Mutter. Das Gespräch zwischen den beiden war kurz und knapp, ein Frage- und Antwort-Spiel, mehr nicht. Dann ging er hinunter. Ich ließ mich zurück auf das Bett fallen und beschloss, mich noch ein paar Stunden auszuruhen. Alles in allem war ich zufrieden. Die Tatsache, dass Jack mir mit großer Wahrscheinlichkeit versuchte Informationen zu besorgen reichte mir und erfüllte mich mit neuer Hoffnung. Wenn wirklich alles gut lief und es keinerlei Probleme für den Jungen gab, dann würde sein Vertrauen mir gegenüber ohne Frage wachsen und vielleicht könnte ich noch mehrmals etwas für mich herausschlagen. Zudem machte sein Mut ihn mir sympathisch. Aus ihm konnte vielleicht irgendwann etwas werden – und zwar mehr als nur ein einfacher Soldat oder Wirt und vielleicht dürfte ich die Ehre habe, dabei zu sein. Man könnte sagen, das Wort Zukunft bekam vor meinen Augen eine völlig neue Bedeutung. Ich war nicht mehr gefangen, ich war nicht mehr allein, ich war auf dem besten Weg zur Genesung und vor allem: Ich hatte das Leben nun vollends in eigener Hand. Mein Leben. Und meine Zukunft. Ich blieb mehrere Stunden allein und gönnte mir meine, wie ich fand, verdiente Ruhe. Wenn ich eines liebte, dann auf dem Bett zu liegen, ein paar Stunden so, ein paar Stunden anders. Gegen Abend dann verließ ich mein Zimmer. Wenn es tagsüber schon ruhig in der Schenke gewesen war, so herrschte nun Totenstille. Meinem Gehör nach befanden sich 5 Menschen im Haus: Philipp, der Wirt; zwei Gäste, männlich, im Zimmer neben mir; eine Frau im Zimmer direkt gegenüber - vermutlich Jacks Mutter - und ein weiterer Mann im Zimmer links daneben. Mit Jack und mir gezählt waren es sieben. Eine recht übersichtliche Zahl und mir fiel auf, dass die drei Männer ihre Zimmer nie verließen. Nur, um gelegentlich etwas zu Essen oder zu Trinken hinauf zu holen und dann wieder zu verschwinden. Auch mir knurrte der Magen und ich wollte nun das Gleiche versuchen. Wieder knarrte die Treppe ächzend unter meinen bloßen Füßen, als würde sie sich über mein Gewicht beschweren und beinahe wäre ich der gebrochenen Stufe nicht ausgewichen. In gut einer Stunde würde die Ausgangssperre beginnen und so drang auch von den Straßen kein Laut herein, zudem herrschte vollends Dunkelheit. Heute hatte Philipp sich nicht die Mühe gemacht, die Lampen anzuzünden. Nur aus der Küche kam ein wenig flackerndes Licht durch wenige Kerzen. Ich schob mich am Tresen entlang, um keinen ungesehenen Tisch oder Stuhl anzurempeln. Das Tablett von Jack stellte ich dort ab, dann betrat ich die Küche. Philipp brummte noch ehe ich wirklich eingetreten war ein tiefes: „Ah, also doch ein Zimmer.“ Ich lächelte verlegen und ließ mich wieder auf meinen Schemel vor dem Ofen sinken. Die Metalltür war verschlossen, dennoch war es dort wesentlich wärmer. „Ja. Jack war so freundlich.“, er brummte nur. Der Wirt hatte kein Interesse daran, mich anzusehen. Er stand mit dem Rücken zu mir am Tisch und knetete eine große, weiße Masse Teigwaren. Einige Minuten sah ich schweigend zu. Immer wieder donnerte er es auf den Tisch, rollte es zusammen und warf es wieder zurück. Dann sah ich ihn an. Von hinten wirkte sein Kreuz noch breiter und ich erkannte eine kahle Stelle auf seinem Hinterkopf. Nach kurzem Räuspern, da er mich zu ignorieren schien, fragte ich: „Kann ich helfen?“ „Mhm.“, bejahte er. Philipp donnerte den Teig nun etwas härter auf die Tischplatte. „Mir fehlen ein Krug und ein Teller.“ Sofort stand ich auf. „Ich hole sie. Jack hatte mir etwas zu Essen gebracht.“ „Ich weiß.“, knurrte er nur. „'N Tablett fehlt mir auch.“, dann sah er mich düster an. „Ach... Und Brot und Käse auch. Ziemlich teurer Käse sogar.“ „Hier ist alles teuer.“, scherzte ich. Er brummte nur und fuhr mit seiner Arbeit fort. Seufzend ging ich die wenigen Schritte hinaus, holte das Tablett hinein und stellte es neben ihn auf den Tisch. „Es tut mir leid.“, sagte ich dabei ernst und leise. „Ich habe nichts, weder Hab und Gut, noch Freunde oder Obdach. Ich werde Euch alles zurückzahlen, sobald es geht, Ihr habt mein Wort.“ „Sobald es geht, hm? Wer nichts hat...“, stellte Philipp kühl und desinteressiert fest. „...der sollte auch nichts vergeben. Auch kein Wort an Jemand.“, er drehte ab und brachte den Teig weg. Kurz wurde es heller im Raum und ein rot-orangener Schleier legte sich über ihn und mich, als er die Ofentür öffnete. Nachdem das Brot versorgt war, ließ er sie scheppernd wieder zu fallen und säuberte seine Hände am Handtuch. Geduldig sah er mich an. „Nun? Was könnt Ihr noch, außer zu schälen, wie ein Küchenmeister?“ Mein Gesicht hellte sich etwas auf. „Schreiben, Herr und Lesen. Putzen schaffe ich auch ganz gut.“ „Was habt Ihr denn gearbeitet, bevor Ihr ins Gefängnis kamt?“, er ließ sich schwerfällig auf den Schemel sinken. Verlegen betrachtete ich meine Finger. „Ach... Mal hier, mal da. Eine Zeit war ich in einem Bücherladen, dann auf See in der Küche. Ach und im Armenhaus habe ich ausgeholfen.“, ich sah auf. „Freiwillig.“ „Katholik, hm?“, ich nickte. Philipp wog den Kopf. „Nun, zumindest scheinbar kein Verbrecher. Gut, dann macht Euch nützlich. Ihr seid ein erwachsener Mann. Ihr seht selbst, was zu tun ist. Wenn Ihr ein Zimmer und zwei Mahlzeiten wollt, müsst Ihr schon mindestens zwanzig Stunden arbeiten.“ „Zwanzig Stunden!“, entfuhr es mir. „Für lausiges Brot und verstaubte Betten?!“ Er machte eine einladende Geste. „Wenn es dem Herrn zu viel ist, so kann er gern gehen. Aber er sollte nicht vergessen, dass Diebstahl ab 5 Heller mit dem Galgen bestraft wird.“ Ich sah ihn finster an, schwieg jedoch. Philipp erhob sich wieder und warf mir das Tuch entgegen. „Wenn Ihr auf das Zimmer verzichtet, sind zehn Stunden genug. Ab jetzt schlaft Ihr in der Küche, der Ofen ist warm genug und der Staub auf dem Boden weich. Und wenn es dem feinen Mann immer noch zu viel ist, so soll ihn doch der Teufel holen! Faule Leute sind hier nicht erwünscht. Ihr solltet froh sein, dass ich Euch nicht längst raus geworfen habe.“ Ich fing das Tuch etwas angewidert. Es war feucht und stank. Dann sah ich den Wirt an. Nach einigem Schweigen seufzte ich, brummte gewohnheitsmäßig ein leises: „Aye.“, und verließ die Küche. Philipp ließ noch eine Bemerkung fallen, die so ähnlich klang wie: „Aber anständig, ich kontrolliere!“, dann begann ich Staub zu wischen. Die Kerzen ließ ich aus, trotzdem merkte ich, wie viel auf Tischen und Fensterbrettern lag. Schüttelte ich das Tuch, fielen dicke Flusen zu Boden, wie kleine Wolken und wenn ich zur Küchentür sah, tanzten sie im Licht. Es stellte sich heraus, dass Wir sehen uns heute Abend. für Jack so viel hieß, wie Wir sehen uns gegen drei Uhr nachts. Er tauchte einfach nicht auf. Ich hatte bereits alle fünfzehn Tische und sechzig Stühle abgestaubt, sämtliche Fensterbretter, den Boden gewischt und sogar die Treppe. Immer wieder trug ich einen Eimer mit fast schwarzem Wasser zur Tür - Philipp hatte sie extra für mich aufgeschlossen - und goss ihn über der Straße aus. Erst als ich begann, die herunter gebrannten Kerzen zu erneuern, regte sich endlich etwas vor dem Eingang. Die Tür ging auf und das schrille Geräusch der Katze erfüllte den Raum. Die Kühle des Abends wirbelte den Geruch von frischem Brot auf und die Tatsache, dass Ausgangssperre herrschte, legte sich über den Gast, wie ein dunkler Schleier und ließ ihn wie einen finsteren Verbrecher wirken. Der Gast kam hinein und betrat knarrend die kleine Anhöhe. Dort blieb er stehen und wartete, bis seine Augen sich an das wenige Licht gewöhnten. Drei weitere Männer folgten. Die Lampe, die außen neben der Haustür angebracht war, warf riesige Schatten auf den hölzernen Boden. Dann fiel die Tür laut zurück ins Schloss. Ich wich einen Schritt zurück, in den dunkelsten Teil der Schenke und Philipp kam entnervt nach vorn. Vier Rotröcke standen vor ihm und bauten sich mies gelaunt auf. Aber Jack war nicht unter ihnen. Der Größte von ihnen räusperte sich, dann knurrte er: „Wir sind auf der Suche nach einem Mann, Wirt. Er hat gestern Abend eine Frau mitsamt ihrer zwei Mädchen erstochen und in den Fluss geworfen.“, er nickte zwei Männern zu, diese eilten die Treppe hinauf. Dann wandte er sich wieder an Philipp und verkündete voller Hass: „Für jeden nützlichen Hinweis gibt es zwanzig Silberlinge, wer ihn schützt, macht sich zum Mittäter. Sein Name ist Oliver. Oliver Sullivan O'Neil.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)