Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil von Izaya-kun (Das Tagebuch eines Gesuchten) ================================================================================ Kapitel 27: Eine Sünderin und was sie zu einer Sünderin macht ------------------------------------------------------------- Irgendwann mitten in der Nacht, es war noch immer stockdunkel und von draußen drang kein Laut zu uns herein, ging die Tür auf. Ich bekam es nur halb mit, weit entfernt und öffnete schwach die Augen. Sogar meine Augenlider erschienen mir viel zu schwer. Eine Gestalt trat ein und die Silhouette zeigte mir, dass es der Zuchtmeister war. Er schlich sehr leise, wahrscheinlich dachte er, dass ich schlief oder er wollte die Tollen nicht wecken. Langsam kam er auf mich zu und ging dann dort noch langsamer in die Knie. „Sullivan?“, flüsterte er. Ich schloss die Augen und stellte mich schlafen. Ein Gespräch, mit ihm, jetzt? Meine Knochen schmerzten noch immer und die Betäubung war mehr als nur stark. Seit Stunden hatte ich nicht schlafen können. Vergeblich versuchte ich meine Hand zu bewegen oder wenigstens einen Finger, jedes Mal aufs Neue völlig umsonst. Wenn er mich jetzt umbringen wollte, dann war ich machtlos. Wieso ihn dabei ansehen? Ich bezweifelte sogar, dass ich antworten könnte, sollte er mit mir reden. „Sullivan?“, zischte er abermals, dann zog er mich an den Schultern hoch. „Was hat dir Mary-Ann erzählt?“ Nun begann es mich zu schwindeln, die ruckartige Bewegung tat mir nicht gut. Verwirrt sah ich ihn an. Er war verrückt, das wurde mir nur umso klarer. benebelt fragte ich mich wer Mary-Ann war. Der Name bewegte etwas in meinem Innern. Etwas sagte mir, dass ich ihn kannte. Aber woher? Wer war Mary-Ann? Der Meister ruckte erneut an mir, deutlich fester, in der Hoffnung mich so zu wecken. „Junge, sprich mit mir! Was hat dir Mary-Ann erzählt, was weißt du?! Was hat dir die Hexe verraten?!“, aber auch, dass er lauter wurde, half nicht. Es wurde nur wieder alles schwarz... Die Betäubung ließ nach. Zwar nur langsam, aber bemerkbar drang alles in mein Bewusstsein zurück. Ich verstand, dass ich eine Chance hatte. Dass der Arzt meine Herkunft überprüfen wollte war ein gutes Zeichen. Vielleicht hatte ich Gelegenheit mit ihm zu sprechen und ihm alles zu erklären? Die Gedanken überschlugen sich, kaum, dass meine Augen geöffnet waren. Es schien, als hätte die Zeit lediglich einen Sprung gemacht. Wenn ja, musste ich diese Chance nutzen, egal wie. Ich richtete mich langsam auf. Noch immer dröhnte mein Kopf und die dicke Luft des Raumes tat nicht wirklich etwas zu einer Besserung bei. Noch immer wirkte der Raum verschwommen auf mich und es fiel mir schwer, mich auf den Beinen zu halten. Die Tollen um mich herum hatten sich scheinbar an mich gewöhnt und ich verstand allmählich, wieso sie sich nicht gegen ihre missliche Lage wehrten: Sie waren ebenso betäubt, wie ich es war. Das erklärte, wieso der Zuchtmeister Pitt, Charles und mir immer wieder ausdrücklich untersagt hatte, von ihrem Brei zu essen. Langsam sah ich mich um und versuchte das Schwindelgefühl zu ignorieren. Es dämmerte. War es morgens, oder abends? Die Tatsache, dass es minütlich heller wurde, ließ mich auf Ersteres schließen. Der Zuchtmeister war verschwunden. Das, was er gesagt hatte, erschien mir wie ein dunkler Traum und ich war sogar nicht sicher, ob es vielleicht wirklich einer gewesen war. Wo war Mary-Ann? War sie tot? Ich hatte noch immer Hoffnung und wollte sie auf keinen Fall aufgeben. Sie durfte nicht tot sein, das durfte sie einfach nicht! Schwach taumelte ich durch den riesigen Raum. Die meisten schliefen noch, oder starrten leer vor sich hin. Mit Sicherheit konnten sie Dinge sehen, so wie ich und die wenigsten waren wohl angenehm. Einige der Verrückten wimmerten, andere lachten, wieder andere weinten. Es war ein Anblick, der mich schaudern ließ. Mehr als zuvor, nun, wo ich wusste, wie es ihnen wirklich ging. Wahrscheinlich sahen sie ettliche Dinge vor sich und vergaßen, was davon echt war und was die Fantasie des Sirups. Ich versuchte sie mir nicht genau anzusehen und die Gesichter der Menschen zu ignorieren. Zu viel Leid konnte ich jetzt wohl nicht vertragen. Ich war labil, nervlich schwach und mir war nach Weinen zumute. Ohne Frage eine weitere Nebenwirkung der Medizin, ich wollte schlafen, noch ein wenig davon haben und dann davon treiben, fort von hier. Nach einigem Suchen erblickte ich Mary-Ann, zumindest glaubte ich das, denn erst war ich unsicher. Eine kleine, kauernde Gestalt lag auf der Seite vor dem Fenster, mit dem Rücken zu mir und mit kurzem, sehr kurzem Haar. Ich erkannte ihre zarten Schulterblätter, die Wirbel die an ihrem Rücken nach außen traten und ihren langen und schlanken Hals. Das konnte nur Mary-Ann sein. Ich taumelte vor, allmählich wieder mehr Herr meiner Beine und ging hinter ihr in die Knie. Immer wieder flüsterte ich ihren Namen. „Mary-Ann…! Mary-Ann…!“, doch sie antwortete nicht. Regungslos lag sie da und atmete flach. Ich wagte es nicht, meine Hand von ihrer sich hebenden und senkenden Schulter zu nehmen, aus Angst, sie würde dann aufhören. Einfach sterben. Ihr Körper war voller blauer Flecken und an ihrer Schläfe befand sich eine blutige Wunde. Sie war bereits verkrustet und voller Schmutz. Wie lange lag sie schon hier? Und wieso kümmerte sich niemand um sie? Hilflos sah ich mich im Raum um, aber keiner zeigte Interesse für sie. Jeder war versunken in seiner eigenen, kleinen Welt. Ich hob ihren Kopf an und legte ihn behutsam auf meinen Schoß. Wie leicht sie war, wie zerbrechlich. Abwesend unsere Melodie summend fuhr ich durch ihr kurz geschnittenes Haar und hoffte auf eine Reaktion, mehr als Warten konnte ich nicht. Lange Zeit tat sich nichts. Wir saßen nur da und ließen die Zeit weiter laufen. Ich lauschte summend dem Atem aller Anwesenden und beobachtete ihre Brust. Sie atmete sehr schwach und kaum merkbar, ich hörte nicht auf es zu beobachteten, aus Angst, ich könnte ihren letzten Atemzug verpassen. Es war schon lange hell, als die Frau vor mir endlich reagierte. Schwach öffnete sie die Augen und sah an mir vorbei zur Decke. Wieder flüsterte ich ihren Namen. „Mary-Ann…“, doch sie reagierte erst beim dritten Mal. Es dauerte, bis sie mich zu erkennen schien und als sie den Mund öffnete um etwas zu sagen, erkannte ich einen bestimmten Geruch. Der süßliche und zugleich bittere Duft, der stets im Raum lag. Das war das Beruhigungsmittel und nun wusste ich es endlich. Nun wusste ich, wieso sie so verwirrt und gleichzeitig klar war. Mary-Ann lächelte schwach. „Mein Prinz...“ „Mary-Ann, wie geht es dir?“, ich half ihr, sich aufzusetzen und an die Wand zu lehnen. Sie antwortete nicht. Schwach fuhr sie mir immer wieder über das Gesicht, als müsste sie sicher gehen, dass ich kein Traum war. Ihre knorrigen Finger strichen über meine Schläfen, meine Wangen und meine Lippen. Völlig unbeholfen ließ ich es geschehen. Bekam sie wirklich mit, dass ich es war? Erinnerte sie sich an die Geschehnisse der letzten Tage? Und was sollte ich tun, wenn sich die Tür öffnete? Wenn man uns erneut zusammen erwischte, würde selbst der Arzt mir nicht helfen können, aber unmöglich konnte ich sie einfach so hier liegen lassen! Einige Zeit lang sah ich sie an und untersuchte ihren Körper, so weit ich es eben konnte. Ich war kein Arzt, aber ohne Frage hatte sie Prellungen und vielleicht sogar eine gebrochene Rippe. Ihr Atem rasselte leise und es fiel ihr schwer, Luft zu holen. „Mary-Ann…“, flüsterte ich irgendwann und zwang sie, mich anzusehen. Es war beängstigend, wie ihr Blick ins Leere ging und sie verzweifelt versuchte, sich an mir zu halten. Selbst vor der Auseinandersetzung mit dem Zuchtmeister war es nicht so schlimm gewesen. Sowohl mit ihren kraftlosen Armen, als auch mit den Augen klammerte sie sich an mich und versuchte irgendwie hier im Raum zu bleiben. „Mary-Ann, hörst du mich?“ Es dauerte, aber sie nickte. „Ja. Ja, ich höre dich, mein Prinz.“ „Bitte. Weißt du, wieso der Zuchtmeister so zornig geworden ist? Wieso hat er uns geschlagen, wieso war er so wütend? Hat er etwas zu verbergen? Wenn ich dir helfen soll, dann musst du mit mir sprechen, Mary-Ann!“, ich erkannte an ihren Pupillen, dass sie versank und ich zwang sie, zu sich zu kommen. Ihre knochigen Schultern packend ruckte ich an ihr. Es würde wahrscheinlich Wochen dauern, bis ihr Körper gesund wurde, wenn er es überhaupt jemals schaffte. „Mary-Ann, konzentrier dich. Sag mir, was er verheimlicht. Was sollst du mir erzählt haben, sag es mir. Was ist es?“ „Verheimlicht…“; wiederholte sie abwesend und ihr Kopf sank nach vorne. Ich sah mich um, als würde ich so die Chance haben, etwas zu finden, was uns half, doch natürlich gab es dort nichts, als weitere, benommene Gestalten. Ihre Lippen waren spröde und gerissen, sie war völlig vertrocknet. Sie brauchte Wasser oder etwas zu essen und zwar dringend…! Aber woher nehmen? „Ja, Mary-Ann.“, wiederholte ich eindringlich, damit sie bei mir blieb. „Der Zuchtmeister, was sollst du mir erzählt haben?“, dann packte ich sie erneut und schüttelte sie sanft. „Ich bitte dich, bleib bei dir. Rede mit mir! Was weißt du, was ich nicht wissen darf?“ „Vater… Er hat…“, sie schüttelte den Kopf, um die wirren Stimmen darin zu vertreiben. Es war ein verzweifeltes Bild. „Dein Vater? Ist er dein Vater?“ „Nein... Nein, mein Prinz, nein...“ „Mary-Ann!“, ich sah mich erneut um. Gab es denn nichts und niemand, der ihr helfen konnte? Dann hatte ich eine Idee. Ich stand auf und mühsam zerrte ich sie nach oben. Ihren dünnen und knochigen Arm um meine Schulter legend begann ich damit, auf und ab zu laufen. Langsam, ganz langsam. „Komm, wach auf, du musst zu dir kommen!“ Sie hielt sich unbeholfen an mir fest: So schwach, dass sie sich nicht annähernd hätte halten können, würde ich sie los lassen. „Los, Mary-Ann, du kannst es! Beweg deine Füße! Du schaffst es!“ Wir liefen im Kreis. Die meisten Tollen sahen uns verwirrt zu und wie im Halbschlaf. Keiner schien zu verstehen, was hier vor sich ging. Ich lief mit ihr weiter und irgendwann schien sie zu reagieren. „Ja!“, feuerte ich sie an. „Ja, du kannst es! Mach weiter, Mary-Ann, gib nicht auf!“ Ihr Fuß schien sich bewegen zu wollen. Unbeholfen tat er einen Schritt nach dem anderen, tastete ins Leere, erfasste den Boden und festigte sich. Immer wieder aufs Neue verlor er den Halt, aber von Mal zu Mal wurde es besser. Erleichterung überkam mich. Es wirkte, als würde sie zurück ins Leben treten, als würde sie aus einer Welt kommen, in der sie etliche Tage und Nächte gefangen gewesen war. Nach gut zwanzig Minuten schaffte Mary-Ann es, erste, feste Schritte zu tun. Noch immer musste ich sie halten, aber laufen tat sie alleine. „Hörst du mich?“, begann ich. Sie nickte. Es strengte sie ungemein an, bei Bewusstsein zu bleiben, aber durch die Bewegung konnte ihr Hirn sich nicht ausschalten. Wir keuchten beide und meine Schulter schmerzte, doch loslassen wollte ich nicht. Es war förmlich spürbar, wie der Saft seine Macht verlor, immer mehr erlangte ich die Kontrolle zurück. Mary-Ann musste es genauso gehen! Wir konnten der Mixtur entkommen, das wusste ich. Gemeinsam würden wir es schaffen! „Mary-Ann, spricht mit mir.“, forderte ich sie erneut sanft auf. „Was wollte der Zuchtmeister von mir? Was denkt er, hast du mir verraten, Mary-Ann? Wovor hat er Angst?“ „Ich… Ich kann nicht mehr.“ „Nein! Nein, lauf weiter!“, sie wollte sich hinsetzen und zu Boden sinken, aber ich hielt sie fest, mit aller Kraft. „Nein, du musst wach bleiben! Lauf weiter!“, sie gehorchte zitternd. Ich glaubte, in ihr Gesicht kehrte langsam die Farbe zurück. Zwar war meine Angst groß, sie würde das Bewusstsein einfach wieder verlieren, aber ihr Körper brauchte Kraft. Wie lange konnte ich sie zwingen, umher zu laufen? Nur der Teufel wusste, wie lange sie hier herum saß. Sicher hatten ihre Beine völlig verlernt zu gehen. „Mary-Ann, nun sag es mir bitte.“, allmählich schwand meine Geduld dahin, dennoch blieb ich sanft. Ich musste sie drängen, ich durfte das Thema auf keinen Fall aufgeben. „Ich bitte dich, es ist wichtig…! Wovor hat der Zuchtmeister solche Angst? Wenn ich dir helfen soll, musst du mit mir reden!“ „Ich… Mein Vater… Wegen meinem Vater. Er hat mich…“ Sie brach ab und schwankte, aber ich hielt sie fest. Ächzend unter ihrem Gewicht kamen wir kurz ins Stolpern, fingen uns aber gerade noch wieder auf. „Hat er dich hier her gebracht?“, keine Antwort. Erneut hakte ich nach: „Mary-Ann, war er es, der dich hier einsperren ließ?“ „Bitte, ich will mich setzen… Mein Prinz, ich bitte dich…“ Es brachte nichts mehr. Ich schleppte sie mehr, als dass sie selbst ging... Selbst diese wenigen Schritte hatten gereicht, um die Frau völlig zu erschöpfen. Vorsichtig ging ich mit ihr zu Boden und ließ sie mit dem Rücken gegen die Wand sinken. Mary-Ann keuchte und rang nach Luft. Ihre Rippe schien ihr Probleme zu bereiten und ich konnte nicht anders, als leise zu seufzen. Mir fiel keine Möglichkeit ein, wie ich ihr helfen konnte... Ich wusste mir ja nicht einmal wirklich selbst zu helfen. „Nun erzähl schon…“, bat ich sie und nahm ihre schmalen Hände. „Ich bitte dich. Wie bist du hier her gekommen? Und was hat der Zuchtmeister damit zu tun?“ „Ich… Meine Mutter hat geheiratet.“, ihre Augen irrten im Raum umher, als müssten sie sich neu orientieren. Ich suchte Blickkontakt und versuchte sie zu bändigen. So, wie der Doktor es bei mir getan hatte. Als sie mich erkannte, fuhr ein Lächeln über ihre unheimlich schmalen Lippen. „Sie hat mich mit in die Ehe gebracht.“ „Und?“, fragte ich verwirrt. „Wie kamst du hier her, Mary-Ann?“ „Ich konnte lesen. Und schreiben. Mutter lehrte es mich. Ich schrieb Bücher. Aber mein neuer Vater, er mochte das nicht.“, die Sätze kamen nur stückweise aus ihr heraus, als müsste sie sich für jeden Satz erneut sammeln. „Als sie starb, wollte er mich anklagen. Der Hexerei. Weil ich Schande über seinen Namen brachte. Ich…“, die Tolle schluckte schwer und fuhr sich über das kurze Haar, ein wenig erschrocken. Als würde sie erst jetzt merken, dass sie abgeschnitten worden waren. Dann fasste sie sich wieder etwas und murmelte verwirrt: „Ich habe geschrieben, Bücher und Gedichte… Er fühlte sich so dumm und gedemütigt…“ „Und weiter?“, leer sah sie mich an. Mary-Anns grüne Augen wirkten fast wie tot, als sie sich vorbeugte und geheimnistuerisch zischte: „Er wollte mich verbrennen lassen. Er hatte mich eh nie gemocht. Mich, sein Stiefkind. Aber meine Schwestern flehten ihn an, mich am leben zu lassen. Und so kam ich hier her.“ „Er wollte dich aus dem Weg haben.“, nachdenklich sah ich zur Tür. Noch immer nagte in meinem Hinterkopf, dass niemand uns gemeinsam sehen durfte. Als ich mich wieder ihr zuwandte, war Mary-Ann wieder dabei zu versinken. Ich zwang sie aufzustehen und lehnte sie an die Wand, ihre dünnen Arme mit aller Kraft festhaltend. „Nicht einschlafen!“, bat ich dabei eindringlich. „Mary-Ann, sei stark! Lass nicht zu, dass die Betäubung wirkt!“, aber sie sah sich nur hilflos um und schüttelte schwach den Kopf. Die Tolle wollte wieder zu Boden sinken und sich lösen. Es kostete mich viel Kraft, sie aufrecht zu erhalten und noch mehr, zu ihr vorzudringen. Mehrmals musste ich fragen „Was hast du geschrieben?“, bis es zu ihr durch kam. Irgendwann säuselte sie dann sinnlose Worte vor sich hin. „Die Kirche… Und der Priester… Seine Hilfe…“, bis sie mich ansah. In ihren Augen standen Tränen und sie packte mich kraftlos an den Schultern. „Mein Kind…! Er hat noch mein Kind…!“ Vollends verwirrt starrte ich sie an. „Wer hat dein Kind? Der Priester?“ Mary-Ann nickte und flüsterte in mein Ohr: „Der Teufel… Ich sage es dir, der Teufel hat es... Und er wird kommen...“ Schon war sie wieder verloren. Mary-Ann war wieder in ihrer Welt und ich gab auf. Ich ließ sie zurück sinken und traurig betrachtete ich den zarten, dreckigen Körper vor mir. Sie summte ihre Melodie und wippte hin und her, nuschelte ab und zu ‚Der Teufel, der Teufel’ und wippte dann weiter, leise schluchzend. Es brachte nichts, es machte keinen Sinn. Ich musste woanders nach der Antwort suchen, denn hier würde ich nur noch mehr Fragen erhalten... Das, was ich verstand, ergab nur wirre Vermutungen, womöglich falsche. Es schmerzte mich, sie so zu sehen und zu wissen, ich konnte sie wohl niemals wirklich aus diesem Abgrund hinauf holen. Niedergeschlagen sah ich weg und wandte mich ab. Langsam ging ich zu meinem Stützbalken zurück, ließ mich auf den Boden sinken und lehnte mich mit dem Rücken daran, sie gedankenverloren anstarrend, wie sie sich ihrem Lied widmete und mit dem Finger Kreise auf ihren Handrücken malte. Es war vorbei. Ich könnte versuchen zu fliehen und sie mitnehmen. Aber was dann? Ihr Körper war schwach, ihr Geist verwirrt. Wir würden keine ganze Woche versteckt bleiben können. Wo überhaupt? Ich könnte versuchen die Tollen auf Entzug zu setzen, damit ihre Geister klar wurden. Sie würden vielleicht zu sich kommen und wir alle gemeinsam könnten ausbrechen. Und dann-... Es war völlig absurd… Ich seufzte schwer. Keiner der hier eingesperrten Menschen konnte aufrecht gehen und wenn, dann nicht weit genug, als dass es hilfreich wäre. Wahrscheinlich standen fast alle kurz vor dem Hungertod und viele waren von Folter und Schmerzen zu geschwächt, um auch nur den Arm zu heben. Als irgendwann die Tür aufging, hob ich nur langsam den Kopf, fast desinteressiert. Es war Pitt, der eintrat und noch langsamer und leise die Tür hinter sich schloss. Als ich die Schüssel in seiner Hand sah, verstand ich, dass er Essen brachte. Mürrisch sah ich weg. Er war schuld, dass ich in diesem Tollzimmer steckte. Pitt beachtete meine Wut nicht und schlich zu mir. Er stellte sich unwahrscheinlich dumm dabei an und knarrte mehr beim Laufen, als fünf Betrunkene. Davon abgesehen schlurfte er, weswegen seine Stiefel hörbar über das Holz schabten. „Sullivan!“, flüsterte der Trottel. „Sullivan!“ Entnervt sah ich ihn an. „Was ist?!“ Pitt hatte sich vor mich gehockt. Aus der Schüssel stieg beißender Geruch auf und sofort erkannte ich den Brei, den man den Irren zu Essen gab und auch den Geruch des Rauschmittels darin. Als er sie mir hinhielt, wurde mein Blick finster. Die Versuchung war groß, ihn zu essen und das alles hier leichter für mich zu machen, doch ich widerstand. Pitt ließ die Schüssel entschuldigend sinken. „Es tut mir Leid. Bitte, iss. Ich bekomme Probleme, wenn nicht.“ „Das interessiert mich nicht.“, und leise zischte ich: „Verräter!“ Pitt schien wirklich getroffen zu sein. Er ließ den Kopf sinken und stellte die Schüssel neben sich auf den Boden, ehe er unbeholfen aufstand und nervös an seinen Fingern herum spielte. „Es tut mir leid. Ehrlich.“ Kühl erwiderte ich: „Das bringt mir nicht viel.“, und verschränkte die Arme. „Deinen Fraß kannst du selbst essen. Und dem Zuchtmeister kannst du sagen, dass er zur Hölle fahren kann. Am besten sofort!“ Geschockt starrte er mich an. „Sullivan! Sag das nicht, er wirft dich ins Gefängnis!“ „Soll er doch.“, ich sah Pitt in die Augen. Er zuckte zusammen und in seinen Pupillen lag Angst. Ich war unsicher, weswegen. Hatte er Angst vor mir? Angst um mich? Oder einfach vor der Vorstellung, dem Meister das sagen zu müssen? „Alles ist besser, als dieses Zimmer hier. Als dieser Fraß. Denkt ihr, ich esse ihn? Dann täuscht ihr euch. Ich habe endlich kapiert, wie das hier funktioniert und ich werde gewiss nicht mitspielen!“ „Du wirst angehört. In zwei Tagen.“, lenkte er ein. „Ich habe die Hausmutter und den Meister belauscht. Sie wollen dich loswerden, dringend. Du kannst doch nicht so lange hungern!“ Was? Das erweckte mein Interesse. Ich setzte mich etwas auf, starrte hoch in Pitts Augen und versuchte, ein wenig netter zu klingen. „Erzähl mir mehr.“ Pitt reagierte auf meine plötzliche Freundlichkeit. Er lächelte leicht und wurde stolz. Das kam mir zugute, er dachte nicht nach. „Nun… Ich war in der Küche, also, davor. Und er hat gesagt, dass du weg musst, dringend. Weil du zu viel weißt.“ „Was weiß ich denn?“ Ein Schulternzucken war die Antwort. „Keine Ahnung, wirklich. Aber es ist halt so. Und deswegen wurde deine Anhörung vorgezogen. Eigentlich wären wohl erst sechs andere dran.“ „Weiß der Meister, dass du gelauscht hast?“, Pitt schüttelte seinen blonden Kopf. Nachdenklich fasste ich mir ans Kinn und sah vor mich. Ich schwieg eine Zeit. Es war natürlich gut, dass ich endlich vor den Richter durfte. Aber irgendetwas stimmte nicht. Was, wenn ich frei gesprochen wurde? Scheinbar meinte der Zuchtmeister, ich könnte eine Gefahr für ihn werden. Er konnte dann unmöglich riskieren, dass ich frei herum lief. Und wenn er mich umbringen wollen würde, dann hatte er bereits mehrere Chancen verstreichen lassen. Als ich wieder aufsah, merkte ich, dass Pitt mich noch immer anstarrte. Er sah unentwegt in meine Augen, wie ein Tier, das auf Anweisungen wartete. Ein treu ergebener Hund. Dennoch vertraute ich ihm nicht ganz und gar. Sollte ich ihn in meine Gedankengänge einweihen? Er könnte eine Gefahr für mich werden. „Was weiß du noch?“, fragte ich stattdessen nur leicht kühl. Pitt wischte sich über die Nase und während er erklärte, fuhr er sich über den Bauch, um den Rotz an seiner Hand wieder los zu werden. „Nun, nicht viel. Aber Mary-Ann: Der Meister meinte, sie wäre krank und würde alle anstecken. Außerdem meinte er, sie wäre eine Ketzerin.“ „Was?“, ich erschrak etwas und meine Kälte ließ sofort nach. Stattdessen wich sie Besorgnis. Pitt sah unsicher zu Mary-Ann hinüber, als könnte sie ihn anspringen oder verhexen. „Ja.“, flüsterte er dabei. „Er meint, sie ist gefährlich. Er hat den Priester geholt und mit ihm gesprochen. Ich war dabei, ich habe Kartoffeln geschält. Ich…konnte nicht richtig zuhören.“, gab er zu. „Er spricht komisch, so wie du, nur noch schlimmer. Lange Sätze und so… Richtig übel halt und so.“ „Was hat er gesagt?“, drängte ich ihn. „Wer?“ „Der Priester! Der Zuchtmeister! Wer auch immer geredet hat! Pitt, denk nach!“ Er sah mich unsicher an. Ich setzte ihn unter Druck, das erschwerte ihm das Denken, aber er gab sich Mühe und klopfte sich mehrmals gegen den Kopf, während er auf seiner Unterlippe herum kaute. Das tat er öfters, denn er meinte, dass sein Gehirn manchmal feststeckte. Wenn man dagegen schlug, dann funktionierte es wieder – so seine Ansicht. „Also, ähm, also.“, begann er dann zögernd. „Also, der Meister hat gesagt, sie steckt alle an und ist total verrückt und redet vom Teufel und so. Und dass er alles versucht hat sie zu heilen. Und der Priester hat immer genickt und genickt und dann… Habe ich neue Kartoffeln geholt, aus dem Lager. Und dann… Kam ich wieder und da hat er immer noch geredet und der Priester genickt und dann-…“ „Mein Gott, Pitt!“, ich sah ihn eindringlich an. „Zu welchem Ergebnis kamen sie?!“ „Sie soll geläutert werden.“, Pitt starrte mich an und dann Mary-Ann. „Er meinte halt, sie sei besessen. Also, der Priester meinte das.“ Mein Herz blieb stehen, dann sah auch ich zu Mary-Ann. Sie schien zu schlafen, denn sie regte sich nicht und gab keinen Laut mehr von sich. In meinem Hinterkopf spukte Markus herum. Jener Mönch, der damals verbrannt worden war, mein damals bester Freund. Mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen und ich musste schwer schlucken, um ruhig zu bleiben. „Sie wollen sie verbrennen, diese Schweine!“, flüsterte ich leise. Pitt sah mich an. Ich spürte Unsicherheit. „Aber…das ist doch richtig so. Ich meine, sie ist besessen. Willst du auch besessen sein? Wenn sie ansteckend ist und so, dann ist das doch total gefährlich!“ Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, dann schüttelte ich den Kopf. „Nein, natürlich will ich das nicht.“, war das einzige, was ich sagte. Er würde es ohnehin nicht verstehen, was hier vor sich ging und wahrscheinlich war ich der einzige Mensch auf Erden, der registrierte, dass diese Hexenverbrennungen nichts weiter als Mord waren. Ja, vielleicht war ich auch einfach nur angesteckt, verrückt, aber ich musste Mary-Ann hier raus holen, irgendwie. Ganz gleich wie. Ich musste es einfach... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)