Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil von Izaya-kun (Das Tagebuch eines Gesuchten) ================================================================================ Kapitel 6: Das Wiedersehen -------------------------- Als ich zu mir kam, hatte ich das Gefühl, ich kehrte in eine völlig andere Welt zurück. Niemals werde ich es vergessen, wie ich meine Augen öffnete und noch immer das Gefühl hatte, ich würde schwanken. Das erste, was ich registrierte, war, dass meine Robe sich in ein altes Leinenhemd und eine kurze, braune Hose verwandelt hatte. Das zweite, was ich registrierte, war: Ich schwankte wirklich. Verwirrt setzte ich mich auf und merkte, dass man meine Hände auf den Rücken gebunden hatte und im Hinterkopf dämmerte es mir, dass diesmal nicht der Alkohol an meiner Bewusstlosigkeit schuld war. Ich sah mich um und erschrak: Wände, Decke und auch Boden waren aus dunklem, recht rauem Holz. Es roch nach Teer, eine rote Sturmlaterne schwankte an einem Deckenbalken und mir gegenüber war ein rundes Fenster mit dem Blick auf die unendliche Weite des Ozeans. Ich sah zu meinen bloßen Füßen, dann ließ ich meine Blicke kreisen. Mein Herz raste ungemein und in den ersten Sekunden sandte ich Stoßgebete zum Himmel, dass ich träumte. Aber ich träumte nicht. Diese Tatsache donnerte auf mich ein wie der harte Schlag eines Hammers auf dem Hinterkopf und fast panisch sprang ich hoch. Das Schiff auf dem ich war machte eine leichte Krängung und ich drohte das Gleichgewicht zu verlieren und gerade, als ich es wieder erlangte, krängte es erneut und laut krachend stürzte ich in die Kisten und Fässer. Selbst ein Tauber hätte mich gehört und es wunderte mich nicht sonderlich als, nachdem ich mich mühsam hochgerappelt hatte, die Tür aufging und ein großer, breit gebauter Seemann vor mir stand. Er starrte verwirrt zu jener Stelle, an der ich gelegen hatte, dann erblickte er mich und musste grinsen. Das Boot schwankte erneut und ehe ich fiel hielt er mich grob am Oberarm. „Aufgewacht, Landratte?“, seine Stimme war mehr ein Brummen und sein Atem roch nach verwesendem Fleisch. Angewidert schloss ich die Augen. Ich ekelte mich vor seinem Mundgeruch, aber auch vor seinen schwitzigen Händen, seiner Glatze und den kleinen Schweißperlen, die er überall hatte. Als er mich zum Stützbalken in der Mitte des Raumes zog starrte ich wie gebannt auf seine silberne Narbe, die quer an seiner Kopfseite entlang lief, sein halbes Ohr fehlte und ich sah, sie ging noch weiter bis in den Nacken. Schweigend ließ ich mich an den Pfahl stellen, ich war noch immer verwirrt und desto mehr wir hin und her schaukelten, desto stärker verspürte ich Übelkeit. Der Matrose baute sich vor mir auf, er war verdammt groß, und grinste abermals. „Hast ganz schön lange geschlafen. Wir dachten schon, du stirbst uns weg.“ „Wo bin ich? Was ist passiert, und wie komm ich hier her?“, ich starrte in seine hellgrünen Augen, sie wirkten fast unecht. Mein Hals begann zu kratzen und ehe ich meinen Schwall Fragen über ihn ergießen konnte begann ich stark zu husten. „Auf der Caroline.“, er klopfte mir auf den Rücken und hielt mich abermals, als ich drohte, zu fallen. „Caroline?“, verwirrt starrte ich ihn wieder an. „Aber, wie…?“ „Das ist jetzt unwichtig. Wichtig ist erst einmal, dass du eine Landratte bist. Das wird dem Käpt’n nicht gefallen.“ „Kapitän Clayton?“, er sah mich verblüfft an, dann lachte er. „Wer soll denn das sein?! Von dem habe ich ja noch nie gehört!“ Verzweiflung übermannte mich und noch immer verstand ich nichts. Er klopfte mir auf die Schulter und drückte mich sanft runter, damit ich mich setzte, dann ließ er mich allein. Verwirrt starrte ich ihm nach, glich das gleichmäßige Hin und Her mit meinem Oberkörper aus und begann zu zittern. Ich wurde entführt, ich war auf einem Schiff und scheinbar vertrug ich es nicht und zu allem Überfluss war es nicht die Constanca von Kapitän Clayton! Ich beschloss ruhig zu bleiben und abzuwarten, was geschah. Ein Sklavenschiff, versuchte ich mir einzureden, wäre voller, würde anders aussehen und die Behandlung wäre nicht so freundlich. Früher oder später würde Blackborn merken, dass ich verschwunden war und mich vielleicht suchen lassen. Vielleicht hatte ich etwas verbrochen und wusste es nicht? Ich hatte schon oft Geschichten gehört von Menschen, die dem Alkohol verfielen und daraufhin Dinge taten, von denen sie am nächsten Tag nichts mehr wussten. Und mit diesem Gedanken kam mit einem Mal die Erinnerung zu mir zurück und ich fuhr unwahrscheinlich in mich zusammen. Ich erinnerte mich an den Hund, an Blackborns Worte, an Marcs Gesicht und an den widerlichen und beißenden Gestank. Die zwei hatten damit zu tun und nicht der Alkohol hatte mich benebelt, irgendetwas in dem Weinglas war es gewesen. Deswegen hatte Marc so oft mit mir angestoßen! Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gedacht, sie haben mich verkauft - war etwa ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt worden, weil ich das Kloster verlassen hatte? Wohl kaum… …Oder doch? Ich wurde aus meinen hektischen Gedanken gerissen und als zwei Gestalten die kleine Holztreppe von - wie ich glaubte - Deck hinunter kamen, raste mein Herz, als wäre ich meilenweit gerannt. Ich erkannte den stark riechenden Matrosen wieder, außerdem einen etwas kleineren, aber breiteren Mann. Dieser trug einen großen, schwarzen Hut, darunter sichtbar ein rotes Kopftuch und einen großen, langen und blutroten Mantel. Seine Haare waren schwarz und zaus, mit einigen weißen Strähnen und endeten in einem wirren Zopf, ebenso kraus wie sein stoppeliger Bart. Als er mich sah stockte er. Gekonnt sprang er die Treppe hinab, dann hangelte er sich behände und flink wie ein Affe zu mir, mithilfe weniger Schlaufen an den Deckenbalken, die eigens für ihn angebracht worden waren. Als der Einbeinige dann vor mir stand starrte ich ihn an und konnte es kaum fassen. „Mathew Hullingtan Black…“, flüsterte ich. Verwirrt starrte der Matrose von einem zum anderen. „Sir, Ihr kennt den Kerl?“, doch Black beachtete ihn nicht und trat etwas näher. „Bei meinem Holzbein!“, brummte er dann und nachdem er mich genau gemustert hatte baute er sich auf und lachte donnernd. „Wenn das nicht der Mönch ist! Aye, Finn, mach ihn los.“ „Los machen? Aber-…“, doch dann schwieg der Matrose und gehorchte. Ich starrte Black nur an und als ich los war massierte ich mir die schmerzenden Handgelenke und stand unsicher auf. Mein Blick musste ein wenig düster oder misstrauisch gewesen sein, denn Black schwieg einige Sekunden, als müsste er sich seine Worte genau überlegen, ehe er sagte: „Aye, dann lege er mal los. Wie, bitteschön, ist der werte Herr an die gute, alte Caroline geraten?“ „Durch Euch.“, stellte ich daraufhin fest und Finn musste die Spannungen zwischen uns spüren, denn er wich nicht von Blacks Seite. „Ihr habt mich an Blackborn verwiesen und er hat mich anscheinend verkauft. Aber wieso er das tat und warum ich nun hier bin verstehe ich nicht.“ Da musste Black lachen, wie es eben seine Art war und brüderlich zog er mich zu sich und legte grob den Arm um meine Schulter. „Eines soll ihm gesagt sein: Hätte der alte Black gewusst, dass Blackborn Leute für Kapitäne schanghait, hätte er ihn nicht an den Gauner verwiesen, da hat er mein Wort drauf!“ „Schang…hait?“, er zog mich mit sich und gemeinsam gingen wir die Treppe hinauf. „Aye, so nennt man das, wenn man Matrosen entführt für die Arbeit auf See, aber das wird er schon noch lernen.“ Das Schwanken des Schiffes erschwerte mir den Gang und sein Gewicht verstärkte dieses Problem nur noch mehr. Gemeinsam und dicht gefolgt von Finn erklommen wir das Deck und als wir mitten im Sonnenlicht standen, wurde ich fast ohnmächtig. Wir waren mitten auf See und egal wohin ich mich drehte, ich sah Blau, nichts als Blau. Vorne, hinten, überall die weite, klare See, ansonsten nichts. Die Sonne brannte heiß auf uns herunter, die meisten Seemänner liefen oberkörperfrei aufgrund der Hitze und auf ihren Rücken und Schultern pellte sich bereits die Haut vom Sonnenbrand. Es roch nach Salz, ein angenehmer Geruch, aber der Gestank vom heißen Teer überdeckte ihn fast vollkommen. Unbeholfen folgte ich Black an die Reling und starrte hinunter. Es schwindelte mich, als ich sah, wie hoch das Schiff lag und wie stark die Wellen gegen das Holz krachten und eine unsichere Angst überkam mich. Ich musste blass gewesen sein, wie ich da so stand, mit aufgerissenen Augen und an das Holzgeländer gekrallt, denn Black und Finn lachten laut los. „Was ein Küstenschwimmer, da hol mich doch der Klabautermann!“, rief Black dabei aus und auch einige andere Seeleute stimmten mit in das Gelächter ein. „Black, erklärt mir, was hier vor sich geht!“, verlangte ich. Einerseits, um das Lachen auf meine Kosten zu beenden, andererseits, um mich von meiner näher rückenden Panik abzulenken. „Wieso bin ich hier? Entführt worden, wozu? Und wo fahren wir hin? Wo ist meine Robe? Wer-…“ „Nun mal langsam“, der alte Seebär grinste breit und entblößte seinen Goldzahn. „Er ist ja schneller als die Flut beim Ordon-Kapp, und die ist verdammt schnell, das kann er mir glauben!“, dann lehnte er seine Krücke an die Reling und stützte sich leicht an ihr ab. Wie er da so stand, völlig ruhig und bewegungslos, wirkte es fast, als wäre er fest gewachsen am Schiff und ich kam mir noch unbeholfener vor. „Schanghait wurde er. Verschleppt, auf See gezerrt und nun ist er Matrose der Caroline, ob er denn will oder nicht. Ist billiger zu verschleppen, als anzuheuern. Aye, so sieht’s aus, Kamerad. Und das sind wir jetzt: Kameraden.“ „Verschleppt aufs Schiff? Kameraden?“, verwirrt starrte ich ihn an, dann verstand ich und wurde mit Sicherheit noch blasser. Ich merkte gar nicht, dass Finn uns allein stehen ließ. „Oh nein…“ „Oh doch, dem ist wohl so.“, grinste er und stieß mir gegen die Brust. Es sollte wohl freundschaftlich sein, doch ich geriet ins Taumeln und konnte mich nur knapp halten. „A-Aber ich habe doch gar keine Ahnung von der Seefahrt!“, stotterte ich, als ich meine Fassung wieder erlangt hatte. „Ich wollte zwar auf ein Schiff, aber doch mit Heuervertrag und Ausbildung und-…“ „Er wollte aufs Meer?“, unterbrach er mich. „Ja, schon…“ „Aye, nun ist er auf dem Meer.“, wieder grinste er. Blacks Worte kamen mir im ersten Moment wie pure Provokation vor, aber dann, nach einigen Sekunden, wurde mir klar, dass er Recht hatte: Ich war auf See. Ich war auf einem Schiff und noch besser: Keiner wusste Bescheid. Keiner konnte ahnen, dass ich entführt worden war, niemand wusste, wohin ich segelte - nicht mal ich selbst. Hätte meine Flucht vor der Inquisition besser verlaufen können? Ich trug keine Mönchskleidung mehr, mein Rosenkranz war weg, niemand wusste meinen Namen. Nur mein Haarschnitt ließ noch vermuten, dass ich in einem Kloster war und selbst dieses Problem konnte man problemlos beseitigen. Und binnen dreißig Sekunden beschloss ich Matrose zu werden, meine neue Chance zu nutzen und im nächsten Hafen als reicher Mann an Land zu gehen. Gewiss stellte ich es mir einfacher vor, als es war, dessen war ich mir jedoch zu vollem Ausmaß bewusst. Ich sandte in Gedanken ein Dankensgebet zum Himmel. Gott hatte mich - abermals - erhört und mir ein neues Leben geschenkt. Wenn ich an Land ging, beschloss ich, würde ich ihm vor einem Altar dafür danken. Aber vorerst galt es, mich in dieser für mich völlig neuen Welt zu behaupten. Mit einer Entschlossenheit, welche meine Augen aufflammen ließen, ballte ich die Fäuste und nickte. „Ja, Ihr habt Recht. Ich wollte zur See, nun bin ich da! Was kann ich tun?“ Black lachte wieder, jedoch leiser, freundschaftlicher und dann schüttelte er den Kopf. „Er sollte erst einmal mit dem Kapitän sprechen, denn der mag keine Landratten und hol mich doch der Teufel, wenn der Sir ihn nicht im hohen Bogen über die Planke springen lässt.“ Die Unsicherheit holte mich wieder ein. „Ihr seid also nicht der Käpt’n?“ „Ich? Der Alte Hullingtan Black? Nicht einmal im Traum würde er sich zum Käpt’n ernennen lassen! Unser Sir heißt Sir Oldfield McWilkinson, Käpt’n Wilkinson genannt.“ „Wilkinson?“, wiederholte ich. Er brummte. „Aye. Ein strenger Mann, aber guter Käpt’n, dafür lege ich die Hand ins Feuer. Aber was rede ich? Er wird ihn ohnehin selbst kennen lernen müssen!“ Und genau in diesem Moment donnerte eine Stimme so laut und so stark über Deck, dass sowohl ich, als auch Black in uns zusammen fuhren und die Köpfe drehten. „Mathew Hullingtan Black, verdammter Saufkopf, verflucht soll er sein und alle seinesgleichen! Wer hat ihm erlaubt den Gefangenen los zu machen und an Deck zu holen?!“ Ich kannte den Kapitän - Oldfield McWilkinson - drei Sekunden und sofort hatte ich Respekt vor ihm. Wilkinson war ein hoch gewachsener, schlanker Mann in blauem Seemannsmantel mit blauweißem Hut, schwarzem, edel wirkenden Bart und tiefen, blauen Augen. Er wirkte wie ein alter Marineoffizier, aber nur im ersten Moment und von weitem wie ein hoch aufragender Felsen, kühl, hart und unnahbar. Beim näheren Hinsehen erkannte man, dass sein Gesicht voller Narben war. Er trug keine Abzeichen und der Degen an seinem Gürtel sah zwar vornehm, aber dennoch stark benutzt aus. Als er näher an uns heran trat - direkt hinter ihm lief der Matrose Finn - machte Black eine tiefe Verbeugung und zog dabei den Hut. „Käpt’n Wilkinson, Sir, welche eine Ehre, dass Ihr zu uns bescheidenem Haufen aufs Unterdeck-…“ „Ruhe!“, ich zuckte zusammen, als Wilkinsons Blick von Black auf mich hernieder raste und unbewusst nahm ich die demütige Haltung eines Mönches an. Wilkinsons Augen starrten kalt auf mich hinunter und kurz überlegte ich, ob ich über Bord springen sollte, ehe dieser Mann mich in Stücken riss. „Wie ich sehe, ist er aufgewacht?“, fragte er mich dann mit unheimlich kühler Stimme, dass einen die Gänsehaut befiel. „Ja, Sir. Ich meine Käpt’n…“ „Hat er gut geschlafen?“ Unbeholfen verneigte ich mich leicht. „Ja, Sir, danke, Sir.“ „Sein Name?“ Ich zögerte. Mein Mönchsname lautete Oliver, Bruder Oliver, aber dies war hier gewiss Fehl am Platz. Und das erste Mal, nach etlichen Jahren, nahm ich meinen alten, wirklichen Geburtsnamen wieder in den Mund: „Sullivan, Sir, Sullivan O’Neil.“ „Eine Landratte.“, stellte er fest und sah Finn über die Schulter an, als wäre ich nicht weiter von Interesse. „Über Bord mit ihm.“ „Aye, Sir.“ Geschockt starrte ich ihm entgegen und Finn wollte mich schon packen, da mischte Black sich ein. „Aber Sir, mit Verlaub.“, ich registrierte, dass Black leicht gebeugt stand und fasste es ebenfalls als Demut auf, was er jedoch - wie ich später merkte - öfters mal bei diesem oder jenem tat, je nachdem, wann es ihn voran brachte und wann nicht. Ich lernte Black als jemanden kennen, welcher in der Lage war, mit Worten und Gesten zu spielen und sein Gegenüber so zu jenem zu bewegen, was ihm zu seinem Glück verhalf. Nun hatte er, alt wie er war, seine Krücke unter den Arm geklemmt, verbeugte sich tief, zog mit der freien Hand seinen Hut und grinste seinen Kapitän unterwürfig an. „Käptn, Wilkinson, Sir, wenn ich frei sprechen darf?“ Eher desinteressiert wendete sich Wilkinson wieder an ihn zurück. „Er darf, wenn er es denn nicht lassen kann.“ „Ich danke, Sir, ich danke.“, dann setzte er sich den Hut auf und schlang den Arm um mich. „Eine Landratte, Sir, das habt Ihr gut erkannt, dem will ich gar nicht im Wege stehen, aber Käpt’n, bei allem Respekt, dieser Mann hat Pfiff, so wahr ich hier stehe.“, und dabei rüttelte er so fest an mir, dass ich fast vornüber kippte. Zögernd starrte ich Wilkinson an, ich bekam keinen Ton heraus. „So?“, fragte dieser nur. Seine Ungläubigkeit war fast spürbar. Black fuhr fort: „Aber ja, Sir, aber ja! Der beste Schiffsjunge, den Ihr kriegen könnt, mein Wort darauf, Käpt’n.“ „Auf ihn, Black, ist Verlass, aber er sollte, könnte man meinen, wissen, dass ich keine Landratten an Bord dulde.“ „Aber Käpt’n, Sir, sicher habt Ihr Geld bezahlt für ihn, oder nicht? Und, wenn erlaubt, Sir, wäre es nicht klug, ihn zumindest so lange als Schiffsjungen zu nehmen, bis er wenigstens das Bezahlte wieder eingeholt hat?“ Wilkinson schwieg und starrte mich an. Ich hatte das Gefühl unter seinen Blicken zu schrumpfen. Sämtliche Vorsätze bezüglich meines neuen Lebens als reicher Mann waren von mir gewichen. Untergegangen, wenn man so wollte. Nach etwa drei Minuten dann regte er sich endlich wieder, straffte seine Haltung, erhob das Kinn und streckte seinen Rücken durch. Ohne seine Augen von mir abzuwenden sprach er: „Er, Black, hat die vollste Verantwortung für unser neues Mitglied und sollte er auch nur den kleinsten Fehler machen, wird dies harte Konsequenzen für alle Beteiligten nach sich ziehen.“ Black verbeugte sich tief und zog abermals seine Kopfbedeckung. „Eine weise Entscheidung, Sir, einem Käpt’n mehr als nur würdig…“, schmeichelte er. „Nun, dann an die Arbeit meine Herren, es ist noch viel zu tun bis zum Mittag.“, und damit drehte er ab und verschwand. Finn folgte ihm, ohne sich umzusehen. Unsicher starrte ich ihnen nach. „Ein Hoch auf Kapitän Wilkinson!“, rief Black noch, wurde jedoch nicht gehört oder ignoriert, dann grinste er mir entgegen. „Aye, ab nun ist er Schiffsjunge, so scheint’s mir?“ „Ja, scheint so…“, Hilfe suchend sah ich ihn an, aber mir blieb keine Zeit zum Fragen stellen. Er deutete mir zu folgen und ohne weiteres hang er sich die Krücke um die Schulter und hangelte sich schneller als die meisten anderen Matrosen an Bord waren quer über das Deck. Erstaunt starrte ich ihn an, wie er vorwärts kam und entdeckte auch hier etliche Schlaufen und Seile, die scheinbar nur für ihn am Schiff waren. Die Matrosen musterten mich fast schon aufdringlich, aber grüßen tat keiner und mein Unbehagen wuchs mit jeder weiteren Minute mehr. Desto weiter ich Black folgte, desto mehr sah ich vom Schiff. Es handelte sich um einen Dreimaster, eine Bark, von außen schwarz lackiert und mit blutroten Rah- und Gaffelsegeln. Sie hatte einen schmalen Bauch, an dessen Spitze ein graziöser Bug mit wunderschöner, rothaariger Galionsfigur. Nie werde ich vergessen, wie ihre Segel bei Sonnenauf- und Untergang in der Sonne glühten, als würde sie selbst die Sonne sein, oder ihre Segeltücher in warmen Flammen stehen. Dann war alles leicht rot getüncht auf dem Schiff und ein Hauch von Mystik lag über Allem und Jedem. In Stürmen und Kämpfen wirkte die rote Farbe über uns aggressiv und spornte uns an, an kalten Abenden wärmte sie uns, fast wie ein Kaminfeuer. Es fiel mir schwer die Augen von den ungewöhnlichen Segeln zu nehmen. Wir gingen von achtern aus Richtung Bug vom Besan- zum Fockmast und passierten mittig den Großmast. Überall hingen Männer in den Wanden, hantierten hier herum, dort herum und ich schätzte die Zahl der Matrosen auf etwa sechzig. Dann erreichten wir den Zugang zur Kombüse und Black verschwand darin. Ich folgte ihm, eine dreistufige Holztreppe hinab und sah mich unsicher um. Es herrschte Dämmerlicht und ich musste einige Sekunden lang blinzeln, um etwas zu erkennen. Vor mir war eine Art Ofen aufgebaut, mittig, drum herum gab es etliche Ablagen und Schränke, behangen mit Pfannen, Töpfen, Kellen und anderen, wichtigen Dingen. Außerdem gab es Fässer, Säcke und Flaschen aller Art. In der Ecke stand ein winziger Tisch mit einem Schemel, extra klein, damit die Regale darüber passten. Black hatte sich auf die Ablage gestützt und seine Krücke in die Ecke gelehnt. Er hielt sich an einer Seilschlaufe, welche von der Decke hing und grinste mir entgegen, nicht ohne Stolz. „Aye, das ist das Reich vom alten Mathew Hullingtan, die Kombüse. Ich bin der Smutje.“ Im Kopf machte ich mir klar, dass ‚Smutje’ wohl so etwas wie ‚Schiffskoch’ heißen musste und trat ein wenig näher. Ich ließ meine Blicke schweifen. „Hier wird er - Sullivan, aye? – mit seiner Arbeit als Schiffsjunge beginnen.“ Ich sah auf und erwartungsvoll in seine Augen, doch meine Erwartungen wurden sofort enttäuscht, als er mir deutete, mich an den Tisch zu setzen und mir einen Sack Kartoffeln brachte. Grinsend drückte er mir fast väterlich das Schälmesser in die Hand und mit den Worten: „Dann soll er dem alten Wilkinson mal zeigen, was er kann, aye?“, ließ er mich allein. Mürrisch nahm ich die erste Kartoffel und begann mit dem viel zu stumpfen Messer zu schälen. Wahrlich, so hatte ich mir das nicht vorgestellt… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)