Shadows of the NewMoon von Darklover ================================================================================ Kapitel 42: 43. Kapitel ----------------------- Amanda hatte nachgegeben. Seit mehr als einer Woche taten sie das hier jede Nacht. Wie er sie letztendlich überredet hatte, wusste sie nicht mehr. Vielleicht war es tatsächlich nur überschäumende Neugier gewesen. Neugier auf jemanden, der sie verstand. Der wie sie war. Und selbst wenn es am Anfang schwierig gewesen war, den prüfenden Blicken der Anderen zu entgehen, selbst Eric seinen Triumph nicht zu gönnen, dass er es doch gleich gewusst hatte. Irgendwann hatten Amanda und Seth es einfach zu einer Regel gemacht, die erste Wache zu übernehmen. Sobald die Sonne untergegangen war, hatten sie draußen auf den Containern gesessen, auf das glitzernde Meer und die dahinter liegende Stadt gesehen. "Es sieht friedlich aus, findest du nicht?", hatte er sie irgendwann gefragt. Amanda hatte ihm Recht geben müssen. Auf diese Entfernung schien es fast lächerlich, dass die Menschen mit den Wandlern in der Metropole zusammen lebten, ohne es zu wissen. Dass sie das Anderssein ihrer Nachbarn, Kellner oder Versicherungsvertreter nicht sahen oder nicht sehen wollten. Jeden Abend gingen sie ohne Sorgen in ihre Betten. Und doch könnte die Organisation all das zerstören. Ebene 1 konnte den Frieden zerstören, wenn es die Gründer wollten. Amandas Fingerspitzen kribbelten leicht von der Anspannung, die schon seit ihrer Ankunft auf ihr lastete. Natürlich war allen klar, was ihre Rolle in dieser Situation war. Warum es so wichtig war, dass Amanda hier war, um sie zu unterstützen. Jedem hier war klar, dass sie das Chaos erst ins Rollen gebracht hatte. Und zu Amandas Verwunderung, bewunderten sie viele dafür, was sie getan hatte. Aber damit gab man ihr noch mehr Verantwortung in die Hände. Jeder hoffte darauf, dass Amanda eine Lösung finden würde. Sie hatte ein ganzes Rudel beschützt, ihre eigenen Daten unwiederbringlich aus den Computern der Moonleague gelöscht. Das konnte sie auch für Andere tun. Für alle. Als wäre der Druck nicht schon groß genug, fühlte sich Amanda den aufmunternden, bewundernden und vertrauensvollen Blicken der Anderen im Untergrund ausgesetzt. Vielleicht war das der Grund, warum sie Seth irgendwann nachgegeben hatte. Jetzt, da sie hier draußen saßen und in die Nacht hinausstarrten, um so viele zu beschützen, wurde ihr wieder einmal klar, dass sie glücklich sein konnte, dass er hier war. Zwar würde sie sich die Zunge abschneiden, bevor sie es zugab, aber sie brauchte Seth. Das wurde ihr mit jedem Tag, nein, mit jeder Nacht, die sie zusammen verbrachten, mehr klar. Neben ihr stand der Blonde unvermittelt auf. Er hatte die Schritte hinter ihnen früher gehört als Amanda. Die Frau mit den grünen Augen lächelte, als sie die beiden sah. "Na, jetzt aber ab ins Bett mit euch, ist schon dunkel und ihr wollt doch Morgen ausgeschlafen sein." Francy hatte schon oft die Ablöse übernommen. Sie war meistens allein unterwegs, da Unterstützung ihr wahrscheinlich nur im Wege gewesen wäre. Oder zumindest überflüssig. Der Mond schien Francys seidige Haut richtig gehend aufleuchten zu lassen. Selbst als sich die Frau in eine Eule verwandelte und lautlos auf das Wasser hinaussegelte, erhob sich Amanda nicht. Jedes Mal, wenn sich jemand neben ihr wandelte, musste sie an Nataniel denken. Nein, jedes Mal, wenn sie einen Atemzug tat, musste sie an Nataniel denken. Immer spürte sie schmerzhaft, dass er ihr fehlte, wie etwas, das sie dringend zum Leben brauchte. Und doch versuchte sie sich einzureden, dass es besser war, ihn nicht hier zu haben. So musste sie sich keine Sorgen um ihn machen. Erst Seths Hand auf ihrer Schulter holte sie aus der Stimmung, die sie zu übermannen drohte. "Komm. In gewisser Weise hat es doch auch eine beruhigende Wirkung." Seine Stimme war warm und doch konnte man den schelmischen Unterton nicht im Geringsten überhören. Manchmal kotzte es Amanda wirklich an, dass sie ihn brauchte. Keuchend lehnte Amanda mit dem Rücken am Metall. Die Nachtluft kühlte ihre schweißbedeckte Haut nur mäßig. Ihr Puls raste und am liebsten wäre sie kurz in die Knie gegangen, um sich ein wenig auszuruhen. Doch Seths Blick hielt sie fest. Seine Augen bohrten sich in ihre, während sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Er hatte die Hände an den Container gelehnt. Stützte sich neben Amandas Schultern ab, um ebenfalls wieder zu Atem zu kommen. Blonde Haarsträhnen klebten ihm in der Stirn und doch ließ er sich zwischen schweren Atemzügen zu einem Grinsen hinreißen. "Nicht schlecht, Kleine. Du wirst besser." Amanda schob ihn halbherzig von sich weg und stützte sich mit den Händen auf die Knie, während sie versuchte endlich wieder zu Atem zu kommen. "Du magst besser sein, aber hast du auch Durchhaltevermögen? Komm' schon, alter Mann, noch mal von vorn." Mit dieser Beleidigung erwischte sie ihn immer. Natürlich waren die fünf Jahre Altersunterschied ein Witz, aber wer sie als 'Kleine' bezeichnete, hatte mit Gegenwehr zu rechnen. Und bei Seth teilte Amanda sehr gern aus. Sie stand im Schatten eines Schiffes, nah an der Kante, unter der sie das kalte Wasser gegen die Mauer schwappen hörte. Seths Stiefel knirschten auf dem Boden, sodass Amanda ihn hören konnte, bevor sie seine Anwesenheit hinter sich spürte. Nicht mehr als ein Hauchen kam über seine Lippen, als er dicht hinter ihr stand. Sie schluckte hart, mit vor Konzentration zu Schlitzen verengte Augen. "Los." Sie verschwanden gleichzeitig und tauchten nur Sekundenbruchteile später auf dem Deck des großen Lastschiffes wieder auf. Seths Hand flirrte aufgelöst durch die Luft auf Amanda zu. Beinahe erwischte er ihre Hüfte, doch sie zog sich rechtzeitig in den Schatten einer Kabeltrommel zurück, um hinter ihm wieder im Mondlicht aufzutauchen. Sie riss ihn von den Füßen, um mit ihrem Arm zumindest die klebenden Schatten auf ihm zu verteilen. "Du ... bist immer noch ... zu vorsichtig!" Blut perlte Amandas Schulter hinab und wurde von ihrem T-Shirt aufgesogen, als Seths Finger durch ihre Haut schnitten. Er hatte sie wieder erwischt. Und das, obwohl Amanda auf seinem Brustkorb saß und ihm mit ihren Händen die Luft ein wenig abdrückte. Na gut, was er konnte, konnte Amanda auch. Sie ließ sich absichtlich von ihm abschütteln, rollte in den Schatten zurück und trat mit einem aufgelösten Bein nach ihm, als sie wieder auftauchte. Seth hatte Recht. Sie wurde besser. Aber noch war sie lange nicht so gut wie er. Amanda konnte nicht so gut vom Licht in den Schatten zurückgehen. Sie war in ihrer Auflösung einzelner Glieder nicht so schnell und gewandt wie er. Aber deswegen übten sie ja auch. Und Seth konnte wiederum von Amanda etwas lernen. Denn im Gegensatz zu ihm, brachte Amanda es immer aufs Neue fertig die Schatten aus ihrem Inneren zu vertreiben und ihrer Iris die Natürliche Farbe zurück zu geben. *** „Okay, fünfzehn Minuten Pause.“, verkündete Palia zu Nataniels Überraschung. Na gut. Vielleicht war das auch besser so. Sie knabberten immerhin schon seit dem Frühstück an einem ausgeklügelten Sicherheitsnetz für die ganze Wohngegend der Gestaltwandler, das dafür sorgen sollte, dass jeder sofort Bescheid wusste, wenn Ärger im Haus stand. Es wurden überall in den Häusern Alarmanlagen angebracht, die Sven persönlich installierte und somit so ziemlich die sicherste Ausrüstung zum Eigenschutz war, die man auf dem freien Markt finden konnte. Das Equipment kostete zwar eine Menge, doch hierbei galt die gleiche Regel wie bei Kondomen: Besser eines haben und keins brauchen, als eines brauchen und keins haben. Der Schutz von Leben war wichtiger, als eine mögliche finanzielle Pleite. Zum Glück fügten sich die bereits einheimischen Gestaltwandler in die Gesellschaft ihres Rudels ein und halfen wo sie konnten. Alle wurden davon angespornt, sozusagen die erste sichere Gemeinde für ihre Art zu werden, die es ihrem Wissen nach in diesem Bundesstaat gab. Es hätte Nataniel mit Stolz erfüllen sollen, dass er der Führer dieser Gruppe war und somit an vorderster Front mitmischte, aber so war es nicht und das konnte nicht nur er spüren. So viel war klar, als nur noch er und Palia sich in dem kleinen Raum befanden, den sie als Büro umfunktioniert hatten, obwohl es eigentlich eines der Hotelzimmer war. „Du siehst beschissen aus.“, klärte sie ihn über sein Äußeres auf, nachdem sich die Tür hinter den anderen geschlossen hatte, obwohl er von der Kleidung her makellos angezogen war. Über den Rest musste man einfach hinwegsehen. Mit abgekämpften Gliedern stand er von seinem Stuhl auf und ging zu dem Fenster hinüber, das einen Blick auf den weitläufigen Wald auf der Rückseite des Hotels bot. „Und du bist charmant wie immer.“, antwortete er leblos. Auch das war nichts Neues. „Verdammt noch mal, Nataniel! So kann das nicht weiter gehen. Ich weiß ja, dass du Amanda vermisst, aber das ist kein Grund, sich zu Tode zu schufften. Mal ehrlich, wann hast du das letzte Mal geschlafen?“, fauchte sie ihn an. Er zuckte gelassen mit den Schultern. Nataniel schätzte, dass es am Dienstag gewesen war, also vor mehr als einer Woche. Und dann auch nur, weil er sich gezwungenermaßen einfach eine halbe Schachtel Schlaftabletten eingeworfen hatte. Nicht etwa, weil er sich der Gefahr einer Überdosis aussetzen wollte, sondern weil alles andere viel zu gering dosiert gewesen wäre. Bei seiner Größe und seiner Natur wirkten Betäubungen grundsätzlich nur sehr schlecht. Weshalb er auch nie zu Alkohol greifen würde, um sich restlos zu besaufen. Das Preisleistungsverhältnis würde nicht lohnen. „Ist im Grunde doch völlig unwichtig. In ein, spätestens zwei Tagen ist alles so weit geregelt, dass ihr mich nicht mehr braucht. Zumindest für eine Zeit lang.“ Ja und dann könnte er endlich los fahren, um zu seiner geliebten Gefährtin zu gelangen. Dann wäre auch wieder Schlaf eine Möglichkeit, die er versuchen konnte, um sich etwas zu erholen. Vielleicht würde er dann die paar Kilos, die er seit ihrer Abreise verloren hatte, auch wieder aufholen können. Zumindest hoffte er, dass das Essen dann nicht mehr wie durchweichte Tageszeitungen schmeckte und ebenso fade roch. „Dir liegt nicht viel an dem Rudel, nicht wahr?“, drang Palias Stimme leise zu ihm durch und klang gleichzeitig ebenso müde, wie er sich fühlte. „Wenn das wirklich die Wahrheit wäre, wäre ich nicht hier.“, antwortete er in etwas zu scharfem Tonfall, ehe er sich vom Fenster los riss und die Pumalady ansah. Sie wich seinem Blick nicht aus, der zumal ganz schön stechend sein konnte. „Du bist hier, weil du dich der Verantwortung nicht entziehen kannst. Gerade deshalb bewundern dich alle. Sie wissen, dass du eigentlich bei deiner Gefährtin sein möchtest. Das ist immerhin nicht zu übersehen und dennoch bist du hier, um das Rudel zu beschützen und vorzusorgen für den schlimmsten aller Fälle.“ Sie kam einen Schritt auf ihn zu, wodurch sie noch kleiner wirkte, obwohl sie so viel Größe ausstrahlte. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie du dich im Moment fühlst. Aber ich kann dir nur sagen, dass wir dir alle sehr dankbar sind für das Opfer, das du für uns bringst. Dein Vater wäre stolz auf dich.“ Als Palia seinen Vater erwähnte, war das wie ein Hieb in die Nieren. Wäre er das etwa wirklich? Nataniel konnte es sich nicht vorstellen. Nicht wenn sein Vater wüsste, welche Gedanken ihn Tag für Tag plagten. Dass er am liebsten alles hinschmeißen würde. Dass er sofort auf der Stelle seinen Posten als Rudelführer abgeben würde, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte. Aber vor allem würde er sie alle ohne zu zögern verlassen, wenn Amanda ihn bräuchte. Für immer, sollte es nötig sein. Er drehte sich wieder weg, um Palia nicht länger in die Augen sehen zu müssen. „Das bezweifle ich. Er hat sich immer stark für das Rudel eingesetzt, ist sogar dafür gestorben. Ich weiß nicht, ob ich das könnte.“, gestand er sehr leise und viel zu ehrlich für seinen Geschmack. Eine warme, zarte Hand legte sich auf seinen kalten Oberarm. Auch wenn sie kurz vor Überraschung zusammen zuckte, ließ sie nicht von ihm ab. „Es hat dir wohl nie jemand erzählt, oder?“, begann sie sanft zu sprechen. „Was?“ „Das dein Vater sich nach dem Tod deiner Mutter umbringen wollte. Dich zu verlieren war bereits schlimm gewesen, auch wenn er dich sicher an einen anderen Ort wissen konnte. Aber seine Gefährtin…“ Einen Moment lang fuhr es Nataniel glühend heiß durch den Körper, ehe eine noch eisigere Kälte ihn einnahm, so dass fast seine Zähne aufeinander klapperten. Sein Vater hatte sich umbringen wollen? Wie gut er das doch nachvollziehen könnte. „Warum hat er es nicht getan?“, fragte er leise wispernd, in einem Tonfall, als würden Palias nächste Worte sein Schicksal besiegeln. „Weil er dich geliebt hat und solange es auch nur einen Menschen in seinem Leben gab, der jeden weiteren Atemzug rechtfertigen konnte, hatte er auch weitermachen können. Seine Arbeit, eine Gemeinschaft von Wandlern ohne Registrierung zu gründen, tat er alleine für dich. Damit die Welt für uns alle sicherer sein würde. Zumindest versuchte er den Grundstein dafür zu legen und soweit mich das betrifft, sind wir alle dabei, darauf etwas Großes zu errichten.“ Sie schwieg einen Moment, ehe sie mit entschlossenem Tonfall fortfuhr. „Ich bewundere Amanda für alles, was sie für uns getan hat und noch tun wird, obwohl sie nicht zu unserer Art gehört. Und du besitzt meinen größten Respekt für deine aufopfernde Hingabe, das Rudel zu beschützen, während dich die Abwesenheit deiner Gefährtin quält. Aber über eines solltest du dir klar sein: Wie würde Amanda wohl reagieren, wenn sie wüsste, dass du kurz vor dem vollkommenen Zusammenbruch stehst, jetzt wo wir alle unsere Kräfte dringend brauchen werden?“ Sie ließ ihn los und wandte sich zum Gehen. „Denk einmal darüber nach, ob du ihr so gegenübertreten kannst.“ Die Tür schloss sich lautlos hinter ihr und er war alleine. „Scheiße.“, fluchte er schließlich mit bebendem Körper, nachdem die Stille unerträglich geworden war. Palia hatte wieder einmal Recht. *** "Hier seht ihr den inneren Aufbau des Gebäudes. Mit allen Zugängen, Aufzügen, Treppen." "Die Fenster hast du aber rausgelassen." Clea rollte die Augen, als Eric gespielt lehrerhaft auf das Hologramm vor ihnen zeigte und die Augenbrauen zusammenzog. So erinnerte er Amanda immer an ihren Vater, der das gern getan hatte, wenn es etwas zum Abendessen gab, das nur entfernt danach aussah, als könnte es Paprika enthalten. "Das Haus ist mit Glas verkleidet, Eric. Außerdem sind Fenster... Oh Mann." Eric grinste inzwischen über Cleas Versuche sich zu rechtfertigen. Kurz huschte Amandas Blick zu Seth hinüber, der in einer dunklen Ecke an der Wand lehnte und die Szene wohl als Einziger mit dem nötigen Ernst betrachtete. Amandas Wangen wurden rosa, als sie bemerkte, was hier los war. "Können wir weitermachen?", fragte sie ihn strengem Ton, der Clea und Eric – wenn auch weiterhin verstohlen lächelnd – aufsehen ließ. "Na klar. Also alle Zugänge. Wärmebild haben wir leider nicht. Amanda, ich weiß, dass du gewohnt bist genau zu wissen, wo sich die Leute befinden, aber das ist mit unserem Equipment nicht möglich." Cleas Blick ignorierend, beugte sich Amanda vor und unterzog das Hologramm einer sehr genauen Betrachtung. "Wir wissen, wie viele Sammler in dem Gebäude arbeiten. Außerdem ist uns das Schichtsystem bekannt. Das werden sie in der kurzen Zeit trotz allem nicht über den Haufen geworfen haben." Erics Augen trafen ihre und Amanda konnte sehen, dass er sich dabei nicht so sicher war wie seine Schwester. Immerhin waren Monate vergangen. So gut wie alles konnte sich in der Organisation verändert haben. Wieder erklang Cleas Stimme aufgeräumt und ruhig, während sie erklärte, welche Zugänge von wo am besten zu erreichen waren und wie man an den Rechner im unterirdischen Bereich des Hauses herankommen konnte. Letztendlich mussten nur ein paar Stecker gezogen und eine unauffällige Explosion ausgelöst werden. Babykram, so zu sagen. Wenn man denn erstmal die Sicherheitsvorkehrungen überwunden hatte. Und wusste, welche Stecker man ziehen musste. Dann war da noch das Problem mit der Explosion. Und dass man rechtzeitig aus dem Gebäude kam, bevor sie losging oder die Sammler Unterstützung gerufen hatten. Da verwandelte sich aus der babyleichten Theorie die Praxis in der Durchführung zur echten Gefahr. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Sie mussten an die Daten des Zweitrechners herankommen, um in die Zentrale zu gelangen und dort endgültig für den Totalabsturz zu sorgen. Zum Glück gab es zumindest Freiwillige. Zwei Wandler, denen sehr kleine Tiere inne wohnten, die leicht ins Gebäude eindringen konnten. Seth und Amanda. Sie würden die Hauptsache übernehmen. Vor allem die Sache mit der Bombe und das sichere Rausbringen der Zugangsdaten. War es jetzt an der Zeit, dass Amanda das Herz in die Hose rutschte oder war es verfrüht, weil sie dann vor dem Anblick des Rechners keine Wahl mehr hatte, als in Panik auszubrechen? Wenn sie denn so weit kamen. "Hey, Nataniel. Tut mir leid, dass ich so spät anrufe. Zumindest wecke ich dich nicht, da deine Mailbox rangegangen ist... Ich hoffe du schläfst. Und isst. ... Scheiße, ich hör mich an wie deine Mutter. Trotzdem. Iss' was. ... Hör' zu, eigentlich wollte ich nur Bescheid geben, dass ich dich Morgen nicht anrufen kann. Wir sind so weit, dass wir anfangen können. Mach dir also bitte keine Sorgen, wenn ich mich erst in zwei Tagen melden sollte. Grüße von Eric an Palia ... Du fehlst mir. Gute Nacht." Als das schwache Licht des Handys erlosch, war es stockdunkel in dem kleinen Raum. Amanda rollte sich auf ihrem Bett zusammen und zog sich die Decke bis zur Nasenspitze hoch. Das weiße Mobiltelefon behielt sie in der Hand. Es war lächerlich, aber damit fühlte sie sich zumindest teilweise mit Nataniel verbunden. Ein Gefühl, das sie für ein paar wenige Stunden schlafen ließ. *** Das erste, was ihr auffiel war, dass es vollkommen still war. Über ihr blinkten Sterne am Himmel, die Amanda aber nicht richtig erkennen konnte, weil sich irgendein penetrantes Licht in ihr Sichtfeld drängte. Ihre Pupillen zogen sich auf Stecknadelkopfgröße zusammen, was in ihren pechschwarzen Augen aber nicht auffiel. Der Boden unter ihrem Rücken war hart und kalt. Irgendetwas drückte ihr in den linken Oberschenkel. Aber sie konnte atmen, sich bewegen. Trotzdem sollte es sie beunruhigen. Immer noch war alles still. Unnatürlich still. Aber erst als Seth sie unsanft an den Armen hochzog und sie sehen konnte, wie sich seine Lippen bewegten, während seine schwarzen Augen aufgeregte Funken sprühten, setzte die Panik ein. Amanda sagte seinen Namen. Sie hörte es nicht. Immer wieder versuchte sie zumindest seine Sinne zu erreichen, wenn sie es schon bei ihren eigenen nicht konnte. "Seth!" Wie angewurzelt blieb er stehen, ließ aber ihre Hand nicht los, an der er sie vorwärts gezerrt hatte. Ein Riss zog sich quer über seine Nase und ein Stück unter seinem Auge entlang. Das Blut lief ihm auf die Lippen, von wo er es immer wieder wegschleckte oder sich einfach mit dem Ärmel übers Gesicht wischte. Amanda war nicht sicher, wie es klang, aber auf ihren Stimmbändern hörte sich das Geständnis wie ein Wimmern an. Sie konnte nicht fahren. Nicht ohne Gehör und nicht mit angeschlagenem Gleichgewichtssinn. Bloß an seinem erschrockenen Blick und den geweiteten Augen konnte Amanda erkennen, dass hinter ihr etwas vorging. Seth stieß sie so schnell in die Schatten und wieder heraus, dass Amanda keine Luft holen konnte, um unter Schmerzen aufzuschreien. Unter anderen Umständen wäre sie stolz auf sich gewesen, dass sie Schatten sie nicht in die Knie zwangen, als sie mit zitternden Fingern ihren Gurt anlegte, während Seth schon mit quietschenden Reifen den Wagen auf die Stadtautobahn lenkte. Das nervtötende Pfeifen auf ihrer rechten Seite musste ein gutes Zeichen sein. Aber ob es auch das Blut war, das ihr aus der linken Ohrmuschel lief? Amanda besah die rote Flüssigkeit an ihren Fingern und verdrängte den Gedanken. Sie hatten die Codes. Das war alles, was im Moment wichtig war. *** Nataniel schlief zum ersten Mal tief und fest, als ein nervtötendes Hämmern an seiner Tür ihn weckte und auch ständig sein Handy auf dem Nachttisch vibrierte, als wäre es einer dieser Uraltwecker, die so laut schepperten, dass sie schon mal von selbst zu Boden gingen. Es musste an dem vielen schweren Essen liegen, weshalb er kaum die Augen aufbrachte, weil er so tief wie schon lange nicht mehr geschlafen hatte. Natürlich hatte er sich Amandas Befehl nicht entziehen können. Ob nun von der Mailbox aus oder direkt gegenüber, jedes Wort seiner Gefährtin war so machtvoll, dass er gar nicht anders konnte, als ihr zu gehorchen. Zumindest nicht, wenn es so etwas Einfaches war wie Essen. Sie hatte ihm befohlen, zu essen und er hatte es getan. So viel und so gründlich, dass er sich danach kaum noch rühren konnte. Aber nun sprang er mit einem Satz aus dem Bett, weil ihm endlich klar war, dass diese Lärmbelästigung mitten in der Nacht auch seine Gründe haben könnte. Da er es nicht einmal geschafft hatte, sich zu entkleiden, bevor er wie ein Toter ins Bett gefallen war, musste er sich jetzt wenigstens nicht in rasender Schnelle anziehen. Zuerst prüfte er, wer ihn da auf dem Handy terrorisierte. Sollte es Amanda sein, würde er die Leute vor seiner Tür beinhart ignorieren. Denn obwohl sie wohl erst in zwei Tagen oder so wieder erreichbar sein würde, könnte doch ein Notfall eingetreten sein, der sie dazu brachte, sich doch früher zu melden. Etwas, vor dass er sich so sehr fürchtete, dass er das Handy nur mit absolutem Widerwillen an sich nahm. Aber es war ‚nur‘ Palia, die er übrigens auch vor der Tür seinen Namen rufen hörte. „Was liegt an?“, fragte er in ernstem Tonfall, als er die Tür öffnete. Die Pumalady konnte gerade noch ihre Faust abfangen, bevor sie ihm damit gegen den Brustkorb hämmerte. Sie hielt auch noch ein paar Sekunden lang ihr Handy an ihrem Ohr, ehe sie es wieder einsteckte und somit das Vibrieren seines eigenen verstummte. „Es geht um Niela. Man hat sie gefunden.“ Ihr Ton war sachlich, aber er konnte sehr deutlich auch den Hauch von Entsetzen darin spüren. Ihm selbst schnürte es sofort den Magen ab. Das Jaguarmädchen mochte sein Rudel vielleicht aus freiem Willen verlassen haben, aber wie jeder seines Clans würde auch sie auf gewisse Weise immer ein Teil von ihnen sein. Etwas, das man nie trennen konnte. Selbst durch den Tod nicht. „Wo ist sie? Ich will sie sehen!“, befahl er barsch, obwohl Palia diesen Tonfall nicht verdiente, aber es schien ihr nichts auszumachen. Sie konnte genauso gut nachvollziehen, wie es einem Rudelführer gehen musste, der ein verlorenes Mitglied wieder bei sich wusste. Nur nicht in welchem Zustand. „Sie ist im Krankenzimmer, aber…“ Sichtlich nervös fuhr sich Palia durch das seidige Haar und nestelte an ihrem Kragen herum. Mehr brauchte Nataniel nicht zu wissen, um seine Schritte in Bewegung zu setzen, woraufhin die Pumalady ihm rasch folgte. „Was wissen wir?“, fragte er nun deutlich ruhiger, obwohl er sich nicht so fühlte. Gerade wenn es um Niela ging, war er nicht ganz unbelastet. Immerhin gehörte sie zu den wenigen Jaguaren, die es hier gab und zugleich war sie einmal deutlich an ihm interessiert gewesen. Danach war sie einfach verschwunden, ohne etwas zu sagen und nun genauso aus heiterem Himmel wieder aufgetaucht. Das alles gab ihm schon jetzt ganz schön zu denken. Sofort ratterte seine Assistentin alles herunter, was sie wusste, als hätte sie es auswendig gelernt, oder als hätte man es ihr ebenfalls in dieser sachlichen Tonlage berichtet. „Einer unser Späher hat sie am Rande des Naturschutzgebietes gefunden.“ Eigentlich waren sie schon dabei gewesen, die Männer endgültig von dort abzuziehen, da alles ruhig geblieben war. So hatte es Nataniel vor kurzem entschieden, um nicht unnötig seine Leute in Gefahr zu bringen. Offenbar zu Recht. „Ihre Verletzungen sind schwer. Vermutlich stammen sie von einer ganzen Palette von menschlichen Waffen. Knüppel, Messer, Schlagringe, Elektroschocker. Was ihr wirklich zugestoßen ist, können wir nur raten. Sie ist bisher nicht aufgewacht, aber…“ Palia öffnete die Tür, vor der ein großgewachsener Mann stand und unruhig den Blick auf sie gerichtet hielt. Es war der Späher, der Niela gefunden hatte. Nataniel nickte ihm knapp zu und entließ ihn dann. Der Bursche sah so aus, als könne er noch dringender Schlaf gebrauchen, als er selbst. Wenn es stimmte, hatte er das Jaguarmädchen ganz schön weit tragen müssen, bis er zu seinem Fahrzeug gelangt war und dann auch noch die Fahrt hierher. Sicherlich kein Zuckerschlecken. Warum der Mann so blass war, wurde Nataniel einen Moment später auch klar. Nielas Körper sah aus, als hätte eine ganze Truppe von Profischlägern sie als Sandsack verwendet. Selbst unter den Verbänden und der dünnen Decke über ihrem nackten Körper war das deutlich zu erkennen. Die Luchsärztin hatte getan was sie konnte, aber ein Blick in ihren Augen und alle Hoffnung verpuffte. Niela würde es nicht schaffen und so wie sie aussah, hätte es Nataniel auch gewundert. „Ich lasse euch alleine.“, meinte die Ärztin, ehe sie die Tür zu dem kleinen Behandlungszimmer hinter sich schloss. Palia trat als Erstes an das Krankenbett und zog die Decke etwas zurück. „Das solltest du dir ansehen. Sag mir, was du davon hältst.“ Nataniel trat näher und versuchte an den verfilzten Haaren, dem zerschlagenen und geschwollenen Gesicht vorbei zu sehen und das zu erkennen, was Palia meinte. Seine Zähne knirschten aufeinander, als er dieselben Ziffern erkannte, die auch in seiner Haut prangten. Die Moonleague hatte ihr das Zeichen für Gestaltwandler direkt über der linken Brust tätowiert. Wie es Niela gelungen war, zu entkommen, war ihm ein Rätsel, aber zumindest wussten sie nun, wessen Handschrift das gewesen war. Vorsichtig, als könne er ihr damit noch mehr wehtun, zog er die Decke wieder bis zu Nielas Hals hoch und schob sich einen Stuhl ans Bett. „Ist gut, du kannst wieder schlafen gehen, Palia. Ich bleibe hier.“ Bis das Mädchen endgültig starb, oder aufwachte. Was er eigentlich nicht für sie hoffte. *** Immer wieder war Amanda kurz aufgewacht und hatte sich in dem niedrigen, kleinen Raum umgesehen. Erst beim dritten oder vierten Mal hatte sie erkannt, dass sie sich in der behelfsmäßigen Krankenstation des Container-Hauptquartiers befand. Dann hatte sie den Kopf bewegt und musste sofort wieder die Augen schließen, weil ihr ein schreckliches Schwindelgefühl fast den Atem nahm. Ihr war schlecht, sie hatte Kopfschmerzen und zu allem Übel konnte sie immer noch nicht hören. Vielleicht lag das auch an dem dicken Verband, den sie um ihren Kopf spüren konnte. Amanda hoffte es sehr und schloss nur unter starkem inneren Protest wieder die Augen. Beim nächsten Mal war Seth da. Amanda schlug die Augen auf und hatte keine Probleme sich zu orientieren. Sie wusste, wo sie war und dass sie sich vorsichtig bewegen musste, um nicht sofort wieder irgendeinen Mageninhalt von sich geben zu müssen. Und das, obwohl sie ihres Wissens gar nichts zu sich genommen hatte. Mit geschlossenen Augen saß Seth auf einem Klappstuhl neben ihrem Bett. Die Beine lang ausgestreckt und die Hände unter den Oberarmen eingeklemmt, musste er bestimmt schnarchen, so wie sein Mund offen stand, während er seinen Kopf auf der Lehne des Stuhls abgelegt hatte. Über seine Nase zog sich eine Bahn von Pflastern, die Amanda vermuten ließen, dass er nicht genäht worden war. Wahrscheinlich würde er trotzdem eine Narbe zurückbehalten. Trotz der unheimlichen Stille schlief Amanda wieder ein und war erleichtert ein paar Stunden – oder war es eine ganze Nacht gewesen? – später von einem Geräusch geweckt zu werden. Bemüht um das Fiepen auf ihrer Seite herum zu hören, kniff Amanda die Augen zusammen und riss sie leicht verwundert auf, als jemand ihre Hand ergriff. "Kannst du mich hören?" Und selbst wenn nicht, hätte Amanda es nicht zugeben müssen. So überdeutlich, wie Eric seine Worte formte, hätte jeder seine Lippen lesen können. "Ja." Erleichtert lächelte Amanda ihren kleinen Bruder an, dessen besorgter Ausdruck aber immer noch nicht aus seinem Gesicht weichen wollte. "Ehrlich Eric, ich hab dich gehört." Amanda hielt ihre Stimme leise, weil ihre Ohren wirklich noch sehr empfindlich reagierten. Druck schien sich aufzubauen und da war irgendein Knacken, das sich unter das nervend hohe Fiepen mischte. Wenn sie sich zu lange versuchte auf Eric zu konzentrieren, wurde ihr wieder schlecht. "Haben wir alle Codes?" "Amanda..." Beschwichtigend drückte Erics warme Hand ihren Arm. Die Augen aufzuschlagen wurde immer schwieriger, aber dennoch wollte Amanda wissen, ob ihre Aktion wenigstens nicht umsonst gewesen war. Sie bedachte ihren kleinen Bruder mit dem stechendsten Blick, den sie aufbringen konnte. Zumindest verfehlte er seine Wirkung nicht, selbst wenn Eric nur aus bloßem Mitleid antwortete. "Clea sagt, sie hat alles, was sie braucht. Bloß das nächste Mal sollt ihr aus dem Gebäude raus, bevor ihr die Bombe hochjagt." "Guter Tipp." Scheiße. Lachen war keine gute Idee. "Eric, darf ich mich noch ein bisschen ausruhen?" Bereits bei der Frage war sie halb wieder eingeschlafen, was Eric einer Antwort enthob. Stattdessen streichelte er ihr über die Wange und ging leise hinaus. Als er vor der Tür stand, überlegte sich Eric kurz, ob er Nataniel Bescheid geben sollte. Amanda war verletzt worden. Auch wenn sie sich wieder erholte, sollte Nataniel vielleicht davon wissen. Er wählte die Nummer, bekam aber im Container keinen Empfang. Später am Abend musste er sowieso nach draußen, um ein paar Lebensmittel einzukaufen. Dann würde er es bei dem Wandler versuchen. Nataniel würde bestimmt nicht neben dem Telefon sitzen und jeden Tag auf Amandas Anruf warten. So schätzte Eric den Panther wirklich nicht ein. *** Trotz der inneren Blutungen, der unzähligen Brüche und der Tatsache, dass nichts so richtig heilte, wie es für einen Gestaltwandler eigentlich hätte sein sollen, selbst bei den einfacheren Blutergüsse nicht, klammerte sich Niela verdammt lange an ihr Leben. Obwohl sie nicht aufwachte, und es unmöglich war, ihr Nahrung oder Flüssigkeit auf normalem Wege zuzuführen, da ihr Magen ebenfalls verletzt zu sein schien, kämpfte sie länger gegen den Tod an, als die Ärztin ihr dafür gegeben hatte. Aus den Stunden wurden schließlich Tage. Vielleicht war es grausam, sie durch Infusionen noch länger mit Nährstoffen zu versorgen, aber das machte die Zugabe von Schmerzmitteln leichter. Und wenn sie wenigstens das für sie tun konnten, so sollte es dann auch sein. Nataniel war trotz seiner anderen Verpflichtungen eigentlich ständig in dem kleinen stickigen Raum, um darauf zu warten, dass Niela endlich erlöst wurde. Keiner wollte das für sie übernehmen, weil niemand es übers Herz brachte. Er schon gar nicht. Aber ihr Körper würde das ohnehin nicht mehr lange mit machen. Wenigstens ein kleiner Hoffnungsfunke. Da er nicht zu den Versammlungen mehr kommen konnte, hielt ihn Palia über Handy ständig auf dem Laufenden. Die letzten Vorbereitungen waren bereits abgeschlossen und so wie es aussah, würde die Durchführung so reibungslos wie möglich vollzogen werden. Eigentlich hätte Nataniel sich jetzt aufmachen und zu Amanda fahren können. Da inzwischen auch die zwei Tage verstrichen waren, in denen sie sich wirklich nicht gemeldet hatte. Aber er konnte nicht gehen. Die Sache mit Niela hätte ihm keine Ruhe gelassen. Als Anführer war es seine Pflicht und ihm selbst auch ein Bedürfnis, einem sterbenden Clanmitglied wenigstens ein Stück lang des Wegs zu begleiten, den es ging. *** "Du solltest dich nicht so verhalten, als wäre das nur ein Luftballon gewesen, der neben dir hochgegangen ist." Inzwischen zierten Blutergüsse in verschiedensten Farben den Großteil von Seths Nasenrücken. Wenn es erstmal alles verheilt war, würde er ziemlich verwegen aussehen. Noch mehr als jetzt, mit diesen tiefschwarzen Augen. "Ich hab noch genug Zeit mich auszuruhen, wenn alles erledigt ist." "Der Spruch geht eigentlich anders." Verständnislos sah Amanda den Blonden über ihre Notizen hinweg an. "Es heißt eigentlich: 'Ich hab noch genug Zeit mich auszuruhen, wenn ich tot bin.'" "Auch das, wenn's sein muss." Im Moment hatte Amanda keine Nerven für solcherlei Scherze. Sie war schon nach zwei Tagen völlig aufgebracht, weil man ihr immer noch Bettruhe verordnete. Auch die Tatsache, dass es inzwischen ihr eigenes Bett war, konnte die Situation nicht verbessern. "Du weißt, dass ich das nicht zulassen werde." Amanda blickte hoch und ihre Blicke trafen sich, bevor Seth wegsah. Hatte sie da gerade einen Ton an ihm gehört, den er ihr noch nie zuvor gezeigt hatte? Einbildung. Mit solchen Dingen wollte Amanda sich jetzt nicht auch noch belasten. Und immerhin hatte sie Nataniel vor Seth ein paar Mal erwähnt. Wenn sie sich nur erinnern könnte, als was. Immerhin hatten sie sich nicht über ihren Beziehungsstatus unterhalten. Das wäre Amanda völlig abwegig vorgekommen. "Seth?" Er sah hoch und sein Blick war wieder freundlich und offen, wie eh und je. Als hätte es dieses kleine, gefühlvolle Geständnis von gerade eben nie gegeben. "Danke. Dafür, dass du mich gerettet hast, meine ich." "Oh, kein Problem. Ich hab's mir notiert und werde die Schulden irgendwann eintreiben. Keine Sorge." "Red' nicht so einen Blödsinn." Damit war das Thema vom Tisch und Amanda widmete sich nur zu gern wieder den Kurzinfos, die Clea für sie zusammengestellt hatte. Selbst die verstand Amanda nur, wenn Seth sie ihr erklärte. Ihr Hirn dröhnte bereits nach kürzester Konzentration und die Ärzte hatten eigentlich versprochen, dass die Übelkeit auch schon aufgehört haben sollte. Davon war rein gar nichts zu spüren. Eher im Gegenteil. Aber sobald das Piepsen im Ohr weg ging, würde sich hoffentlich auch alles Andere verflüchtigen. Seth verabschiedete sich bereits nach einer halben Stunde wieder und versprach, Amanda später etwas zu Essen zu bringen. Allerdings nur im Austausch dafür, dass sie sich bis dahin ausruhte und etwas schlief. Sobald sie ihren Kopf einigermaßen gemütlich auf das Kissen gelegt hatte, fiel ihr nichts leichter, als seinem Wunsch nachzukommen. *** Nach vier unendlich langen Tagen drohten endlich ihre Vitalfunktionen zusammen zu brechen. Es konnte sich also nur noch um wenige Stunden handeln und der Kampf ihres Körpers gegen den Tod würde enden. Eine Tatsache, die Nataniel sowohl erleichterte, als auch schwer bedrückte. Zwar hatte er schon seinesgleichen getötet, aber bei einem so dahin schleichenden Tod zusehen zu müssen, war etwas völlig anderes. Er fühlte sich absolut machtlos. Seine Hand hielt wie schon so oft in den letzten Tagen, die von Niela. Weit weg mit seinen Gedanken hörte er das leise Geräusch nicht, das die absolute Stille des Raums durchbrach. Erst als er das dazugehörige Zucken von Fingern unter den seinen spürte, schnellte sein Kopf in die Höhe. Nielas Augen waren offen! Stumme Tränen liefen über ihre zerschundenen Wangen, obwohl sie eigentlich keine Schmerzen haben dürfte. Dafür wurde trotz allem immer noch regelmäßig gesorgt. Es änderte aber nichts daran, dass sie ihn aus klaren Augen anblickte, während ihre Lippen bebten. Erst als Nataniel sich weiter zu ihr beugte, war ihm klar, dass sie schon die ganze Zeit etwas zu sagen versuchte. „Sch-sch, Niela. Nicht reden. Ruh dich aus.“, versuchte er sie zu besänftigen, doch sie schüttelte schwach aber entschlossen den Kopf und setzte erneut an. Hätte er kein so feines Gehör, er hätte ihre Worte nicht verstehen können. Doch so beugte er sich noch näher zu ihr herab, so dass sie ihn besser sehen und er sie besser hören konnte. „…ut … lei…d…“, hauchte sie, während ihre Atmung sich deutlich anstrengte und sie es noch einmal versuchte. „Es … tut mir … so leid… Natan…iel… Hab … nicht gewollt…“ „Ist schon gut. Jetzt bist du wieder Zuhause.“ Er lächelte sie an, traurig und voller Kummer. Sie war trotz allem wahrhaftig eine von ihnen. Der schwache Druck ihrer Hand schien sogar noch stärker zu sein, als ihre Stimme und trotzdem schien sie etwas loswerden zu wollen. Noch mehr Tränen liefen ihr über die Wangen, bis er sie schließlich mit seinem Daumen wegwischte. „Ich … war’s…“, kämpfte sie weiter um jedes Wort. „Hab … Rudel … verraten.“ Nataniel zuckte erschrocken zusammen, während seine Augen sich ungläubig weiteten. „Was?“ Niela lächelte traurig und drehte den Kopf von ihm weg, sprach aber unbeirrt weiter. „Ich wollte … Amanda … Schuld zuschieben … damit keiner … sie…“ Ihre Worte brachen ab, aber Nataniel verstand auch so. Niela hatte das Rudel an die Organisation verraten, damit es so aussah, als wäre es Amanda gewesen. Warum? Damit keiner seine Gefährtin mochte und akzeptierte? Niela beantwortete ihm die Frage, ohne darum gebeten worden zu sein. Ihre Stimme klang jetzt kräftiger, aber es wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. „Ich wollte … dass sie … verschwindet… Ich wollte…“ Sie sah ihn wieder an. Ihre Augen waren nun trübe, als könne sie bereits kaum noch etwas sehen. Auch ihre Hand bewegte sich nicht mehr in seiner, die er trotz allem nicht losgelassen hatte. „Ich wollte … dich…“, gestand sie, fuhr aber rasch zwischen heftigen Atemzügen fort, die pfeifend gingen. „…als ich euch beide … sah … bin ich … zurück … zur Organisation…“ Sie hustete und Blut lief ihrem Mundwinkel herab, das er ihr mit einem Tuch fortwischte, während er ihr schweigend zuhörte. „..aber ich konnte … euch … nicht noch einmal … verraten… Es tut mir … so leid … aber ich habe … nichts verraten… Bitte, … glaub mir … sie wissen nichts…“ Und das glaubte ihr Nataniel aufs Wort, weil ihr Zustand für sich sprach. Sie mussten sie brutal gefoltert haben. Diese Schweine! „Ich glaube dir.“, sagte er trotz seiner gegensätzlichen Gefühle sanft, um sie zu beruhigen, weil sich ihre Atmung immer mehr überschlug, je mehr sie sich aufregte und das konnte nicht gut sein. Absolut nicht gut. Seine Worte schienen zu helfen, denn sie beruhigte sich tatsächlich etwas. Zwar ging ihr Atem immer noch schwer und mehr als nur schleppend, aber der Ausdruck in ihren getrübten Augen wurde weicher und wich schließlich einer endgültigen Müdigkeit. Sie schloss sie langsam wieder und obwohl er die Worte aus ihrem Mund nicht mehr verstehen konnte, sah er doch, was sie da mit ihren Lippen formte – ich liebe dich. Es war überflüssig darauf etwas zu erwidern, denn sie war bereits wieder ohnmächtig geworden. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sie ihm so eben ihre Gründe für den Verrat mitgeteilt hatte. Und gerade in seiner Lage, konnte er verstehen, warum sie so weit gegangen war. Es war unverzeihlich, aber nicht unverständlich. Am Abend kurz nach Sonnenuntergang erlag Niela ihren schweren Verletzungen. Sie war nicht wieder aufgewacht und hörte vollkommen ruhig im Schlaf auf zu atmen. Erst an der absoluten Kälte und Starre ihrer Finger, war es ihm erst so richtig aufgefallen. Es war lautlos und letzten Endes doch schnell gegangen. Obwohl Nataniel inzwischen mit Eric hatte reden können, um ihm mitzuteilen, wann er wo abzuholen sei, um endlich zu ihnen zu stoßen, war er immer noch so verdammt von allem aufgewühlt, dass er sich dieses eine Mal nicht einmal wunderte, weshalb Amanda nicht hatte mit ihm reden wollen. Ihr Bruder hatte nicht aufgebracht oder übermäßig besorgt geklungen, weshalb es also nichts Schlimmes sein konnte. Vielleicht war sie einfach nur beschäftigt gewesen. So wie er, weil er auch des Öfteren gar nicht erreichbar gewesen war. Vor allem in der Zeit von Nielas Ableben hatte er das Handy nie dabei gehabt und nun, wo das ganze Rudel sie trotz der Geschehnisse betrauerte und dem Feuer übergab, war er mit so vielen Dingen beschäftigt, dass er gar nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Aber es war eine fast schon willkommene Ablenkung und die daraus resultierende Müdigkeit ein zuverlässiges Schlafmittel. Morgen würde er sich auf den Weg machen. Danach war das Warten endlich vorbei. Genauso wie die viel zu finsteren Tage der letzten Wochen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)