0,1 Prozent Fett von Selia ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Ernsthaft, die kenn ich irgendwo her.“ Sein Wispern dringt zwei Sitze weiter, geradewegs in ihre Ohren und lässt sie innerlich erstarren. Sich umdrehen, es ist ihr nicht möglich, obwohl sie vor Schreck herumschnellen, aufspringen und das Weite suchen möchte. Stattdessen tut sie, was sie mit am besten kann: still sitzen und schön aussehen. Sein Kumpel flüstert irgendetwas zurück. Der Klang gedämpft und abwägend, sodass sich ihre Füße fester auf den Boden der Tatsachen drücken. So als wollten sie den Boden der Bahn durchstampfen mit dem bisschen läppischer Kraft, über die ihr Körper verfügt. Draußen sausen Graffitis an Gebäudewänden vorbei, die nach einer Erlösung aus dieser zugemüllten Welt durch Abriss schreien. Zwischen den maroden Steinen drängt sich wildes Unkraut an die Oberfläche und hat die Konstrukte durchzogen wie Schimmelpilz. Der Himmel ist besiedelt mit den Nachkommen des Frühlings, die zu Schäfchenwolken herangewachsen sind. Ein Plakat rauscht vorbei; fettarmer Joghurt in einem ansprechend weißen Becher mit vitaler, bunter Schrift. Das Model strahlt, den Becher dekorativ neben sich haltend und die Passanten auffordernd, es ihr gleich zu tun: Esst diesen Joghurt; werdet so wunderbar und glücklich wie ich! Seid tagtäglich auf einer Fläche gefangen, auf ein 2-dimensionales Bild reduziert! Letzteres verrät sie keinem der Mädchen, die mit Neid und Depression an ihrer Perfektion vorbeigehen. Teils beeindruckt stehen bleiben, teils sich schämend den Hals zwischen die krummen Schultern ziehen und noch wünschen. Sie kann nicht mehr wünschen. Bierwerbung folgt auf dem nächsten Plakat. Eine weiße Krone, für jedermann käuflich. „Alter!“, entflieht es dem einen Typen und sie spürt die Dynamik seiner jungen Jahre wie ein angriffslustiges Tier im Nacken. ‚Durchzug’, betet sie innerlich und ihre zehn manikürten Finger schlingen sich Luft abschnürend um den Griff ihrer Umhängetasche auf ihrem Schoß, so sehr will sie taub sein. Etwas holpert. Beute ist im Visier. Sie weiß es, lange bevor die beiden Jungen ihre Plätze verlassen und, die Caps tief gezogen, den Schritt noch tiefer sitzend, auf neuen Ed Hardys an ihr vorbei schlurfen. Gar nicht verdächtig, wie sie sie aus dem Augenwinkel angaffen. Ihre Blicke schneiden sie kurz entschlossen ohne Betäubung auf, langen grob in ihre Eingeweide und rupfen die blutige Masse heraus. Darm baumelt, Leber stürzt, Nieren quellen, ihr Herz schlägt. Alles landet auf einer Waagschale, nur um anschließend wieder in sie zurückgekippt zu werden. Nachsorge halten die jungen Anatomiebegeisterten für überflüssig. Sie schaut nicht auf, ihre Hände sind interessant. Weich, gepflegt und mit langen Fingern ausgestattet, an denen sich kein Ring räkelt. Die Jungs verschwinden auf dem nächsten Vierersitz, tuschelnd. Auf ihren Rucksäcken fleddrige Aufnäher aus einem Teeniemagazin, die mit den Namen angesagter HipHopper prahlen. Eine böse Vorahnung liegt in der Luft und hält die Zeit an. Es dauert noch eine gefühlte Ewigkeit, bis die Bahn die nächste Haltestelle erreicht, obwohl sie schon quälend lange hier sitzen muss. Die Tasche parat und das Blut mit Koffein aufgestockt, damit es kräftig durch ihren Körper zirkuliert und Agilität in die Muskeln prügelt. Plötzlich sind die zwei wieder da und setzen sich ihr demonstrativ gegenüber. Die Beine ungeniert breit, die Schuhe schmutzig und von den endlos langen Pullovern grüßen mit Knarren wedelnde Gangsterprints. Imitate. So billig, dass sie lachen will. Sie trägt zuweilen Slips, die teurer sind alles, was die zwei zusammen am Leibe haben. „Hey“, macht der eine und nickt ihr penetrant mit dem Kopf zu. „Du!“ Sie wagt nicht die Unterlippe zwischen die Zähne zu ziehen oder gar das Kinn zu heben. Stattdessen hört sie tief aus ihrem Kopf eine feste Stimme schallen: „Genau so bleiben!“ Sie befolgt artig, wie immer. „Das is die nich’. Die Nase is’ viel zu groß, ey“, lacht der eine und deutet dabei auf sein eigenes Gesicht. Nebenbei legt er den linken Fuß lässig auf die Ferse und grinst diabolisch. „Weißte, der hier denkt, du bist die Joghurttante!“, spuckt er ihr abfällig vor die Füße. Sie zuckt zusammen. Nur für eine Millisekunde, nur minimal. Nichts, was den beiden in ihrer Überheblichkeit auffallen würde. Ihr Augenmerk wandert zur Anzeige, wo in roten Lettern die nächste Station eingeblendet wird. Zusätzlich ist eine Computerstimme so freundlich, die Fahrgäste auf den baldigen Ausstieg hinzuweisen. Sich dies nicht zwei Mal sagen lassend, erhebt sie sich ruckartig und haucht ein einstudiertes „Nein“, bevor sie durch den halben Wagon marschiert, zur Tür. Das Plakat mit der Joghurtwerbung fliegt erneut vor dem Fenster vorbei. „Da! Haste gesehen?! Ihre Augen sind auch viel größer und die Haare länger und das Gesicht ist schmaler. Außerdem ist die auch dünner! Echt, du bist so blind, ey!“ Belehrungen. Spott. Lachen. Die Werbeikone hat volles Haar, das ihr in gesunder Dynamik über die schmalen Schultern fällt, die wiederum in ein sportlich schlichtes T-Shirt gekleidet sind. Glanz, kreiert wie von Zauberhand, lässt ihre haselnussbraunen Strähnen leuchten. Die Augen sind voll, die Pupillen schwarz, überdimensional und unter natürlich langen Wimpern hindurch strahlend wie Sterne. Zwischen den prächtigen Kusslippen blitzen weiße, perfekt gerade Zahnreihen hervor. Sind eine symmetrische Ergänzung ihrer feinen, aber keck erscheinenden Nase. Sie weiß, was sie will – nur das Beste. Für sich. Für alle. Joghurt mit 0,1 Prozent Fett, aber voller Geschmack – das macht dich perfekt. Beweise? Ihre Haut kennt keine Rötungen, keine Poren, keine Stressflecken und erst recht keine einzige Sommersprosse, die für die meisten Leute ohnehin nur überschminkt gehören. Bildbearbeitung sorgt dafür, dass Menschen sie in der Öffentlichkeit zu erkennen glauben – als eine hässliche Kopie ihrer selbst. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)