“Hey, Tala!”
Der Angesprochene drehte sich langsam um und sah Kai genervt an.
“Was willst du?”, fragte er kühl. Der Blaugrauhaarige grinste.
“Ich wollte dich einfach mal besuchen, auch wenn du nur ein paar Zimmer weiter weg wohnst”, meinte Kai freundlich und fügte noch hinzu: “Und mal gucken, wie es dir so geht.”
“Wie soll es mir schon gehen.” Der Rothaarige verdrehte seinen blauen Augen, wurde jedoch sogleich wieder ernst.
“Wo er doch tot ist”, flüsterte er.
“Es tut mir leid, Wölfchen.” Kai sagte nichts weiter, sondern machte ein paar Schritte auf seinen besten Freund zu.
“Tu das nicht, Kai. Was, wenn uns jemand sieht?”, wisperte der Ältere und sah sich misstrauisch um. Auf dem Gang waren noch weitere Menschen, unter anderen auch ein Aufseher, der aufmerksam die beiden Russen beäugte. Der Blaugrauhaarige seufzte.
Dass er immer noch daran glaubte.
“Hier wird niemand etwas dagegen sagen, wenn sich zwei Männer umarmen, glaub mir das”, sagte Kai leise. Sie hatten es schon oft durchgekaut. So oft.
“Ich traue niemanden hier”, zischte Tala und wandte sich um. “Jetzt geh wieder auf dein Zimmer, Kai!”
Mit traurigen Augen sah der Jüngere ihm hinterher.
Warum nur musste es so enden mit ihnen?
“Er kann nicht tot sein”, murmelte Tala, als er wütend und traurig zugleich nach draußen ging. Schwere graue Wolken bedeckten den Himmel über dem Garten. Der frisch gemähte Rasen verbreitete seinen angenehmen Duft in der Abendluft. Die meisten Blüten waren noch geöffnet, obwohl die Sonne nicht mehr schien. Geistesabwesend pflückte Tala eine weiße Blume.
Seit wann hatte die Abtei eigentlich einen so großen Garten? Verwirrt blieb er stehen.
Hatte Kai jemals etwas davon erwähnt? Dass Voltaire den angrenzenden Wald zum Garten machen wollte?
Er schüttelte seinen Rotschopf und ging eilig weiter. Weiter zu seinem Grab.
Es fing an zu nieseln, doch Tala zog sich einfach nur die Kapuze seines Pullovers über den Kopf und ging noch schneller. Nach wenigen Minuten war er da - und sah den schneeweißen Stein mit den frischen Blumen davor.
Ian Papov.
1989-2065
Wir werden dich immer vermissen
In ewiger Liebe deine Freunde
Tala las diese Zeilen so oft, bis der sanfte Nieselregen in einen Prasselregen überging und der Himmel sich langsam schwarz färbte. Hell erleuchtete ein Blitz das Firmament und die finstere Umgebung.
“Scheiße!”, fluchte der Rotschopf und flüchtete unter eine der nahestehenden Tannen. Nun fielen schwere, dicke Tropfen, die ihren Weg durch die scheinbar unzählbaren Tannennadeln gefunden hatten, auf ihn herunter. Neugierig starrte er die dunklen Wolken an, wartete geduldig auf einen Blitz.
Der nächste Blitz erhellte die ganze Lichtung mit Ians Grabstein. Einige Sekunden lang sah man die Entladung ganz deutlich am Himmel, doch Tala sah nur auf die Lichtung.
Sein Blick fiel auf ein bestimmten Ort.
2065.
Seine Augen weiteten sich. Doch dann wurde es schon wieder dunkel. Die weiße Blume noch immer in der rechten Hand, eilte Tala durch die Dunkelheit auf den Grabstein zu.
“Wir haben doch das Jahr 2008!”, sagte er panisch und befühlte die Gravur des weißen Steines. Dort war es eingemeißelt - 2065.
Das würde heißen… Ian war mit 75 Jahren gestorben?!
“Aber… das würde heißen, ich bin jetzt 76 Jahre alt?” Verstört sah Tala sich um - und sein Blick fiel auf seine Hand. Faltig, zerschunden lag sie auf der eingravierten 65.
“Es tut mir leid, Tala”, flüsterte eine Stimme durch den Regen. Erst hörte der Rothaarige sie gar nicht, doch er drehte sich um. Dort stand Kai - sein bester Freund.
Doch er war keine 18 Jahre mehr. Sein trostloses Lächeln war faltig, seine einst blaugrauen Haare waren weißlich, aber eher grau. Er trug nicht mehr seinen üblichen Klamotten in schwarz, blau oder grau Tönen, sondern eine dunkelbraune Hose und dazu ein kariertes Hemd.
“Was ist passiert?”, fragte Tala lautlos.
“Es fing vor einigen Jahren an, du siehst nur das, was du willst. Du hörst nur das, was du willst. Anfänglich nannten wir es Altersstarrsinn - aber du fingst an mit Bryan Schach zu spielen”, sagte Kai bitter und legte eine kleine Pause ein. “Bryan ist seit fünf Jahren tot, Tala.
Und auch dieses Gespräch wird wie jedes enden. Du verdrängst es und wirst weiterhin dein Leben hier tristen.”
“Und Ian? Was ist mit Ian?”, flüsterte der einst Rothaarige.
“Ian ist wirklich erst vor sechs Tagen gestorben. Er war dehydriert und niemand hat es bemerkt”, antwortete Kai und fügte dann hinzu: “Er hat sich so liebevoll um dich gekümmert, obwohl du nicht einmal sahest, wie er immer dünner, immer kranker wurde. Du sahst nur den 17 Jahre alten Ian, der seine Scherze trieb…”
Tala sah sich um, er merkte wie seine Umgebung langsam verschwamm. Hilfesuchend sah er Kai an.
“Hilf mir!”, schrie er, als seine Umgebung sich auflöste…
“Schach matt, mein Lieber”, feixte Tala lachend und schubste schwungvoll Bryans schwarzen König um. “Ich bin dir nicht nur im Beybladen überlegen.”
Bryan grummelte. “Ich will nachher ‘ne Revanche, klar?”
“Natürlich, Bryan. Du hast eh keine Chance gegen uns”, frotzelte Ian und grinste Kai an.
“Was sagst du dazu, Kai? Wer gewinnt? Tala und ich oder doch eher Bryan?”
Der Blaugrauhaarige sah ihn gequält an und ging dann weg.
“Hey, Kai!”, rief Tala ihm hinterher und sprang auf, als der Jüngere nicht reagierte.
“Nun warte doch!” Mit wenigen Schritten hatte er ihn eingeholt.
“Was ist denn los, Kai?”, fragte der Rothaarige besorgt und sah seinen besten Freund an.
“Nichts ist los”, murmelte der Jüngere. Auffordernd fügte er hinzu: “Nun geh’ und spiel’ weiter Schach mit dir selbst…”
“Ich spiele nicht Schach mit mir selbst! Ian und ich haben Bryan schon wieder fertig gemacht…”, meinte Tala grinsend.
“Herr Iwanov, bitte beruhigen Sie sich wieder…”
“Komm Ian, wir spielen auch mal gegeneinander”, schlug er vor.
“Du hast eh keine Chance“, feixte der Kleinere und setzte sich selbstsicher auf Bryans Platz.
“Wenn ich gewinne, darf ich auch mal oben liegen, ja?”
“Wovon träumst du eigentlich, Ian?” Tala verdrehte die Augen.
“Ich träume von einem Ende dieses Alptraumes, Wölfchen…”, flüsterte Kai leise und verließ den Raum. Er konnte eh nichts mehr ändern.