The deep End
The deep End
»Let the hurricane set in motion«
Ich konnte nur noch rechtzeitig die Augen schließen, bevor es mich im wahrsten Sinne des Wortes eiskalt erwischte. Ein ziehender Schmerz breitete sich für einige kurze Momente in meiner Stirn aus, doch er ebbte sehr schnell wieder ab. An dessen Stelle trat ein anderes, weitaus unangenehmeres Gefühl. Wie tausend kleine Nadeln stach das eisige Wasser in meine Haut. Die Flüssigkeit breitete sich auf meinem Kopf aus, sickerte in meine Haare und rann meinen Hals hinab. Ich konnte die Nässe an meiner Brust spüren; der eine Teil des Wassers, der mich dort getroffen hatte, sog sich in mein rotes Shirt und schmiegte sich kalt an meine Haut. Gänsehaut zog sich über meine Arme, die Kälte hatte mir alle Luft aus den Lungen gepresst, sodass ich nun nach Sauerstoff schnappte wie ein Fisch an Land. Scharf sog ich die Luft zwischen den Zähnen ein. Mein Gesicht war nass und das Wasser perlte von meiner Nase.
Als ich die Augen blinzelnd und langsam wieder öffnete, sah ich in das selbstgefällige Grinsen eines dunkelhaarigen Jungen, der mich feixend musterte. Die Genugtuung und das Vergnügen standen ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Er hatte Freude an meinem Anblick. Natürlich. Wie sollte es auch anders sein? Ich hatte ja gerechnet, dass ich mein Fett noch wegkriegen würde, aber ich hatte mir etwas anderes ausgemalt. Das bewies mir mal wieder, wie sehr ich mich doch in diesem Idioten täuschen konnte. Memo an mich: Nicht mehr so blauäugig sein, was einen gewissen Schwachkopf namens Cas Valentine betraf. Das konnte doch nur ins Auge gehen.
Ich wischte mir mit einer Hand über das Gesicht und schnaufte. Der Schwachkopf lachte und ich stand kurz davor, ihn zu würgen. Das hier war eine nie enden wollende Geschichte. Wir triezten uns, seit ich denken kann. Keine Tat blieb ungesühnt. Eine Endlosschleife. Eine Racheaktion folgte auf die nächste. Es war nie anders gewesen. Ich kann mich erinnern, dass wir mal notgedrungen Pausen eingelegt hatten, wenn wir mal im Urlaub waren oder so. Aber es bot sich sogar an, dass seine und meine Familie nur selten in Urlaub fuhren.
»Mr. Valentine, würden Sie mir bitte erklären, was um alles in der Welt Ihnen eigentlich einfällt, meinen Unterricht auf diese Weise zu stören?«, fragte Mrs. Randall scharf. Ich prustete los. Die Kälte tat meiner Schadenfreude keinen Abbruch. Er würde seine Strafe nicht nur von mir bekommen, sondern auch von der Lehrerin unseres Debattierkurses. Das geschah ihm Recht.
»Sie auch, Mr. Nightingale. Mir ist egal, welches Spiel Sie beide spielen, aber verlegen Sie es auf den Nachmittag und nicht in meinen Unterricht! Beide nachsitzen. Heute Nachmittag. Holen Sie sich nach dem Unterricht die Aufgaben bei mir ab«, zischte Mrs. Randall. Ich verzog das Gesicht. Eigentlich mochte ich sie ja. Sie war eine gute Lehrerin, hatte Witz und Charisma, aber sie konnte auch sehr streng sein. Ich schnaubte. Warum wurde ich angearscht, wenn Valentine den Mist verzapfte? Das war eindeutig ungerecht.
Ich pulte den zerrissenen Fetzen Gummi aus meinen nassen Haaren und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger fest. Dieser Spinner hatte mir doch tatsächlich eine Wasserbombe an die Birne geworfen! Irgendwie konnte ich es immer noch nicht glauben. Mitten im Unterricht. Wirklich zu dumm, dass er direkt vor mir beziehungsweise ich direkt hinter ihm saß. Andernfalls hätte er es sich bestimmt überlegt, ob er das Ding quer durch den Raum geworfen hätte. Saftsack. Während ich mit dem Saum meines Shirts mein Gesicht abwischte, schmiedete ich bereits Rachepläne. Das würde ich definitiv nicht auf mir sitzen lassen. Ich war nass … das konnte nicht wahr sein!
»Du bist genauso dran wie ich, Nightingale«, zischte Val mir zu, bevor er sich mit triumphierenden Lächeln wieder umdrehte. Dieser Dämpfer mit dem Nachsitzen schien ihn in Anbetracht der Tatsache, dass er mich buchstäblich kalt erwischt hatte, nicht zu stören. Aber er würde schon sehen, was er davon hatte. Sein dämliches Grinsen würde ich ihm aus dem Gesicht wischen. Gedanklich rannte ich bereits mit seinem Handy über den Schulhof und versenkte das dumme Ding im nächsten Klo. Die Vorstellung zauberte ein breites Grinsen auf meine Lippen.
Heute beim Nachsitzen würde ich jedenfalls Zeit haben, um ihm eins auszuwischen. Daher bot sich das sogar regelrecht an. Bis dahin musste ich mir nur etwas einfallen lassen, aber das sollte wohl nicht weiter schwer sein — was sich als Irrtum erwies.
Doch mein kleiner Racheakt ergab sich aus der Situation heraus und hatte sogar viel mehr Wirkung als irgendwas Geplantes. Wie immer saß ich beim Nachsitzen hinter ihm. Diesmal waren wir allein, offensichtlich hatte heute niemand sonst irgendeinen Schwachsinn berissen. Mrs. Randall war nicht gerade zimperlich gewesen, was die Aufgabenverteilung anging, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals Aufgaben beim Nachsitzen gemacht zu haben. Die hatte ich stets entweder zu Hause oder morgens in der Schule erledigt.
Valentine war genauso wie ich. Er machte seine Aufgaben auch nie hier, stattdessen saßen wir beide gelangweilt an unseren Tischen. Ich kritzelte meinen Block mit wahllosen Bildern und Symbolen zu, während mein Blick nahezu permanent an der großen Uhr über der Tür hing. Warum musste ich eigentlich nachsitzen? Valentine, dieser Idiot, hatte die Wasserbombe nach mir geworfen. Warum wurde ich jetzt noch einmal zusätzlich bestraft? Das war nicht berechtigt. Seit wann wurde denn das Opfer mit verurteilt?
Mir fiel der Füller aus der Hand. Es kam selten vor, dass ich mit dem Ding schrieb, aber die Mienen meiner Kugelschreiber waren allesamt leer, was mich im Endeffekt dazu veranlasste, wieder den Füller zur Hand zu nehmen. Beim Aufprall auf das Papier verspritzte die Feder einige blaue Tintentropfen, die sich zu mittelgroßen Klecksen auf dem weißen Untergrund entwickelten. Ich nahm den Stift. Es ging alles ganz schnell.
Ich sah, wie Valentine sich zu mir umdrehte, wieder dieses selbstgefällige Grinsen auf den Lippen — und in diesem Moment holte ich aus. Dann riss ich die Hand nach vorne. Ich konnte beobachten, wie die dunkelblauen Tropfen von seinem Shirt in einer Spur nach oben bis auf sein Gesicht flogen. Die Tinte saugte sich in dem hellen Stoff seines Oberteils fest, lief über seine helle Haut. Ein Tropfen rann in seinen Mundwinkel.
Sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar. Ich fotografierte ihn imaginär ab, um dieses Bild für immer in Erinnerung zu behalten. Eine Mischung aus Überraschung und Verwirrung lag in seinen Augen, die abwechselnd mich und den Füller in meiner Hand anstarrten. Doch er brauchte nicht lange, um zu begreifen, was geschehen war. Vals Augenbrauen zogen sich zusammen. Er hob seinen Handrücken an seinen Mund und wischte die Tinte weg. Kurz betrachtete er die blaue Farbe auf seiner Hand, ehe er mich wieder anschaute.
Ich grinste ihn breit an. Die Tinte stand ihm ausgezeichnet. Val spannte und entspannte seine Hände immer wieder, ballte sie zu Fäusten und öffnete sie wieder. Ich wedelte vergnügt mit meinem Füller vor seiner Nase herum. Wir fixierten uns gegenseitig wie zwei feindliche Raubtiere. Ich wusste, er wäre mir am liebsten an die Gurgel gesprungen, aber zufälligerweise wusste ich, dass ich gerade sein Lieblingsshirt besudelt hatte. Er würde es sich also zweimal überlegen, ehe er auf mich losging. Ich war immer noch mit meinem tintesprühenden Füller bewaffnet.
Doch dann verzog er seine Lippen zu einem dünnen Lächeln, was seinem Gesicht einen sauren Ausdruck verlieh. Irgendwie war ich gespannt, was er sich einfallen lassen würde, um mich seine Rache spüren zu lassen. An Kreativität mangelte es ihm nicht, also wurde es auch nie langweilig.
Ich war froh, dass heute Freitag war. Heute Abend würde Party sein. Das war der einzige Lichtblick der Woche gewesen. Die Luft draußen war schwülwarm. Der Sommer war heiß dieses Jahr. Auf dem Parkplatz vor der Schule roch es nach heißem Asphalt. Es war reichlich bescheuert, dass der Parkplatz der prallen Sonne ausgesetzt war, und zu blöd, dass ich einen tiefgrünen Wagen fuhr. Ich fühlte mich wie in einem Ofen, als ich mich auf den Fahrersitz gleiten ließ. Aber glücklicherweise war mein Vater Automechaniker und hatte mir gütigerweise eine Klimaanlage eingebaut.
Als ich auf die Straße abbog, sah ich Val den Gehweg entlanglaufen. Er fummelte an seiner Tasche herum, während ich mir in Erinnerung rief, dass er normalerweise auch immer mit dem Auto zur Schule fuhr. So absurd es vielleicht klingen mochte, aber wir waren Nachbarn. Valentine und ich waren im selben Kindergarten gewesen. Unsere Eltern kannten sich. Ich verscheuchte den Gedanken und wunderte mich, ob er wirklich den Weg zu Fuß laufen wollte. Die Schule war doch recht weit entfernt.
Ich hielt neben ihm und er hob den Kopf. Er starrte mich einige Augenblicke lang durch die Scheibe an und ich starrte zurück. Dann glitt er leise auf den Beifahrersitz und schnallte sich wortlos an. Er sah aus seinem Fenster.
Wir waren keine Feinde in dem Sinne. Wir hassten uns nicht. Aber wir waren auch nicht wirklich befreundet. Wir kannten uns, nicht nur schulisch. Es war eine Art … Rivalität zwischen uns, ein Wettstreit vielleicht. Ich wusste nicht, wie ich es beschreiben sollte. Trotz dem, dass wir benachbart waren, wusste ich nicht viel über ihn. Er hatte keine Geschwister, seine Eltern waren geschieden, aber seine Mutter hatte vor einigen Jahren neu geheiratet. Sein Zimmerfenster war nach Süden hin ausgerichtet, also auf die Straße. Manchmal konnte ich ihn von meinem Zimmer aus sehen. Val hatte zwei Mäuse, zwei schwarze, Sherlock und Holmes. Ich hatte gelacht, als ich die Namen der beiden zum ersten Mal gehört hatte.
Was er aber für ein Mensch war, wusste ich kaum. Ich kannte zum größten Teil nur seine schulische Seite. Privat hatte ich so gut wie gar nichts mit ihm zu tun, auch wenn wir einander gegenüber wohnten; obwohl unsere Eltern sogar gut miteinander befreundet waren. Wir hielten uns bei ihren Plänen und Ausflügen immer aus.
Ich hielt in unserer Auffahrt und wir stiegen aus. Val huschte wie ein Schatten über die Straße, verschwand hinter der Haustür. Meine Eltern waren noch nicht zu Hause, ebenso wenig meine kleine nervige Schwester. Zum Glück. So hatte ich erst einmal meine Ruhe und konnte mich seelisch auf die Party heute Abend vorbereiten. Nicht, dass es von Nöten gewesen wäre, aber es konnte auch nicht schaden.
Da Hunger bei mir ein permanenter Zustand war, öffnete ich als erstes den Kühlschrank. Das war Routine. Immer, wenn ich von der Schule nach Hause kam, sah ich als erstes in den Kühlschrank; mein alltägliches Ritual. Ich war hingerissen, als ich die Schüssel mit Obstsalat entdeckte, die da so einsam herumstand. Unschlüssig kaute ich auf meiner Unterlippe herum, doch dann entschied ich mich einfach, egoistisch zu sein und alles aufzuessen. Frei nach dem Motto: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ich bewaffnete mich mit einem Löffel und stiefelte die Treppe hinauf.
Vals Rache folgte am Montag. Wir hatten zusammen Sport und dieser Idiot hatte sich nach dem Unterricht meine Hose gekrallt. Rausrücken war natürlich auch nicht, und so kam es, dass ich ihn wie ein Verrückter über den gesamten Sportplatz jagte, während er fröhlich lachend mit meiner Hose in der Hand vor mir wegrannte. Er wusste, dass er mir im Laufen überlegen war. Val war ein Sprinter. Mir blieb keine andere Wahl, als ihn mit Boxershorts zu verfolgen, ich reichte nicht an ihn heran. Er schien immer schneller zu werden. Begleitet wurde unser kleiner Spektakel von Gelächter, Getuschel und verzücktem Kichern irgendwelcher Weiber.
Obwohl Val ein Sprinter war, war ich vorteilhafter dran als er. Er hatte keine Ausdauer. Ich dafür schon. Ihm ging nach einigen Runden allmählich die Puste aus. Als ich ihn endlich eingeholt hatte, warf ich mich von hinten auf ihn. Er landete auf dem Rasen und ich hoffte, dass er Gras gefressen hatte. Wir schnauften beide völlig außer Atem und rangen schwer keuchend nach Luft. Val drehte sich auf den Rücken. Dabei schubste er mich von sich, sodass ich neben ihm hockte. In der Zwischenzeit hatte ich ihm meine kostbare Hose entrissen, sprang auf und zerrte mir das Teil über die Beine, damit er damit nicht noch einmal davonlaufen konnte.
Dieser kleine Zwischenfall hatte dazu geführt, dass wir beide zu spät zum nächsten Unterricht kamen. Dummerweise war der Debattierkurs an der Reihe. Mrs. Randall war nicht sehr erfreut darüber und war ordentlich angesäuert, nachdem sie erfahren hatte, was genau uns nun von der Pünktlichkeit abgehalten hatte.
»Nightingale, Valentine«, sagte sie barsch und verschränkte die Arme ärgerlich vor der Brust, während sie uns anstarrte, als wollte sie uns unangespitzt in den Boden rammen. Wenn sie so aussah, hatte ich regelrecht Angst vor ihr. Val und ich standen nebeneinander an der Tür. Wir hatten beiden den Schwanz eingezogen. Keiner riskierte es, sich mit Mrs. Randall anzulegen.
»Strafarbeit, beide«, fauchte sie und schlug uns mit flacher Hand vor die Stirn. Es tat nicht weh, es war vielmehr ein harmloser Klaps. Ich stöhnte entnervt auf. Schon wieder? Konnte sie sich nicht etwas Neues einfallen lassen? Langsam wurde es wirklich öde. Ich grummelte leise vor mich, Val schien genauso wenig begeistert zu sein wie ich. Doch der Knaller sollte erst noch kommen. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass sie sich ausgerechnet das einfallen ließ?
Wir sollten ein Referat halten. Val und ich sollten ein Referat halten. Und das nicht jeder einzeln, sondern in Partnerarbeit. Ich hatte Mrs. Randall ungläubig angestarrt, Val hatte nicht anders ausgesehen als ich. Jeder Versuch, die Strafarbeit in eine andere Richtung zu lenken, scheiterte kläglich. Sie war unerbittlich.
Damit waren Valentine und ich dazu verdammt, notgedrungen Zeit miteinander zu verbringen, um dieses Referat auszuarbeiten. Ob das gut gehen würde? Meine Revanche stand noch aus, ich würde also genug Zeit haben, mir etwas einfallen zu lassen, und auch mit Sicherheit genug Umsetzungsmöglichkeiten. Das würde die reinste Schlammschlacht werden. Ich sah es bereits kommen. Wir würden vermutlich gar nicht dazu kommen, dieses Referat vorzubereiten, sondern würden uns abwechselnd neue Sticheleien einfallen lassen.
Im Endeffekt waren wir selbst dafür verantwortlich, immerhin provozierten wir ständig irgendwelche Strafarbeiten. Dass es aber so enden würde, davon sind wir nie ausgegangen. Aber irgendwann war immer das erste Mal. Es war statistisch gesehen voraussehbar, dass wir mal so auf die Schnauze fliegen würden. Wir hatten uns selbst ein Bein gestellt, waren gestolpert und mussten nun wieder aufstehen. Ich stöhnte innerlich auf, als mir einfiel, dass ich anfing, Metaphern zu verwenden, um meine Situation zu beschreiben. Na wunderbar. Meine Mutter würde das sicherlich freuen, wenn ich zu einem Poeten mutieren würde. Herrlich! Mir blieb demnach keine andere Wahl, als mich mit diesem Los abzufinden. Ich würde versuchen das Beste daraus zu machen. So schlimm konnte es nicht sein, mit Val zusammenzuarbeiten.
Wir sahen einander skeptisch an. Ich konnte ihm ansehen, dass er genauso dachte wie ich. Wir trauten einander nicht so viel Hirnaktivität zu. Ich zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen. Auf sie mit Gebrüll, dachte ich, bevor ich die Aufgaben von Mrs. Randall entgegennahm.
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tbc.