Bloodsplashed Memories von CuthbertAllgood ================================================================================ Kapitel 1: Breaking down ------------------------ Sie stritten wieder. Das kleine Mädchen stöhnte leise auf und drückte sich das Kissen auf den Kopf. Solange es in der Nähe war, taten seine Eltern so, als wäre alles in Ordnung. Sobald sie aber dachten, dass es schlief und es nicht bemerken würde, stritten sie und schrien sich gegenseitig an. Trotzdem das Mädchen noch sehr jung war – es war grade 6 Jahre alt geworden und würde nächsten Sommer mit der Schule beginnen, wie ihre Mutter stolz und es selbst genervt erzählte – so war es doch sehr reif und intelligent für sein Alter. Viele unterschätzten die junge Dame daher, auch – insbesondere – seine Eltern. Es war der Blonden durchaus klar, dass rein gar nichts in Ordnung war. Das Problem hieß Geld; oder konkreter der Umstand, dass keines vorhanden war. Ihre Mutter drohte ständig mit Scheidung, was auch immer das sein mochte, und Trennung. Den Begriff verstand sie und man konnte auch nicht sagen, dass sie ihm abgeneigt wäre. Denn das wäre sicherlich endlich ein Ende des ewigen Gezetters. Der Lärm schwoll an, sodass sie entnervt das Kissen wieder beiseite schob. Überrascht stellte sie fest, dass sich andere – fremde – Stimmen dazu gemengt hatten. Sie stand auf, die Decke fiel halb auf den Boden. Man sah ihr trotz dem ersten, knabenhaften Eindruck sowie dem zerrissenen T-Shirt und der abgeschnittenen Jeans, die ihr als Schlafgewand dienten, einen späteren sicherlich hohen Wuchs und eine gewisse Drahtigkeit an. Nun aber huschte sie beinahe geräuschlos über verstreute Kleidungsstücke hinter die Tür, drückte sich in die enge Nische zwischen jener und der Wand und versuchte, die Worte zu verstehen. „Halt mich nicht zum Narren, Stella!“, knurrte da einer der Fremden zornig. Stella, das war der Name ihrer Mutter. Die war durch ein leises Wimmern zu hören. „Lasst sie in Ruhe, verdammt!“ Ihr Vater. Angst schwang in seiner Stimme mit. Außerdem war er nicht die Art Mann, die fluchte. „Du hast hier ja wohl keine Forderungen zu stellen!“ Der andere Mann klang noch wütender. Ein Klatschen bewieß, dass jemand geschlagen worden war. Sie drückte sich weiter in ihr improvisiertes Versteck. „Der Chef hat keine paziena mehr, auf eure Lire und den Rest zu warten! Also brauchen wir wohl etwas anderes… Wie wäre es mit deinem Weib, vorerst?“ Raues Gelächter folgte, das ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte, während ihre Mutter aufschrie und ihr Vater Verwünschungen von sich stieß. „Ach, halt die Klappe“, fuhr der Typ fort, kurz darauf folgten Geräusche, die sie nicht genau einordnen konnte. Nur zwei waren eindeutig definierbar. Ein Gurgeln, gefolgt von einem noch lauteren Schrei ihrer Mutter. Erschocken kratzte ihre Hand, die bisher leicht auf der Tür gelegen hatte, über das Holz. Unnatürlich laut in der darauffolgenden Stille, die nur das Wimmern der Frau erfüllte. „Oh, scheiße…“, murmelte sie tonlos. Das zu erwartende „Was war das?“, folgte erst im selben Moment, in dem die Tür mit Wucht aufgerissen war und schmerzhaft gegen die Schulter des Mädchens geschlagen wurde, die daraufhin das Gesicht verzog, sich aber zugleich auf die Unterlippe biss, um nicht noch mehr Geräusche von sich zu geben. In ihr schmales Gesichtsfeld trat ein unbekannter Mann mit einer Handfeuerwaffe, die er vor sich hielt. „Sieh mal an… Hast du uns vielleicht jemanden verschwiegen, Stella? Nachdem du schon immer die Schuld auf deinen Mann abwälzen wolltest?“ Er erhielt keine Antwort, was ihn dazu brachte, sich umzudrehen und nach etwas – wahrscheinlich ihrer Mutter – zu treten. „Das ist eindeutig ein Kinderzimmer. Wie alt ist es? Wie lange verheimlichst du es uns schon, hm?“ Offenbar war seine Geduld aber schon zu erschöpft um auf eine Antwort zu warten, denn er machte eine Handbewegung, die scheinbar ein Befehl war – auf jeden Fall keuchte ihre Mutter auf und fiel auf einmal in ihr Blickfeld. Das war genug. Ohne überhaupt nachzudenken, schnellte sie vor, fiel neben der Frau auf die Knie. „Mama, steh auf!“ „Sieh an…“, machte da der gesprächsleitende Fremde. „Das ist also euer Sohn…“ „Ich bin ein Mädchen!“, protestierte die Blonde und sprang auf. Ihre Mutter wimmerte, dass sie verschwinden sollte, aber darauf achtete sie jetzt nicht. „Und ihr habt meiner Mama weh getan!“ Anstatt zu antworten, machte der Mann eine Kopfbewegung und das Mädchen wurde grob von hinten gepackt. Sie spürte nur zu deutlich den Lauf, der ihren Kopf leicht zur Seite drückte. „So, Stella. Wenn dich schon der Tod deines Mannes nicht beeindruckt hat – vielleicht bringt dich ja die Gefahr, in der dein… Kind … schwebt, dazu uns endlich zu verraten, wo das ist, was wir haben wollen?“ Zitternd hob sie den Kopf. „Ich habe es nicht, verdammt! Nehmt euch, was ihr wollt, aber lasst meine Tochter in Ruhe!“ Diese jedoch hatte die Zeit, in der ihre Mutter sprach, dazu genutzt, sich aus dem von Schweiß glitschigen Griff des Mannes, der sie festhielt, zu winden und auf einmal hatte sie sogar selbst die Waffe in der Hand. Überrascht starrte sie sie an, ehe sie sie dann auf den Bedroher ihrer Mutter richtete. Der sah genauso verblüfft aus, begann aber zu lachen und bedeutete dem Typen hinter ihr, sie in Ruhe zu lassen. „Ich bin heute in guter Laune“, begann er dann, „also werde ich dir wohl deinen Wunsch erfüllen… Wir nehmen die Kleine mit, die wird sicher eine hervorragendende Schülerin.“ „Ich will nicht mit euch mit!“ Der Mann zerrte ihre Mutter hoch und setzte ihr seine eigene Waffe an die Schläfe. Ein selbstsicheres Grinsen zierte seine Züge. „Du willst doch nicht, dass ihr etwas passiert?“ Er war zu selbstsicher gewesen, dass das Kind nicht schießen würde oder die Waffe nicht entsichert war. Doch sie war entsichert, die Blonde schoß – und ließ die Waffe erst recht überrascht fallen, als sie die Stirn des Mannes getroffen hatte! Es dauerte einen Moment, bis sie sah, dass der Schuss, der von unten schräg hoch gegangen war, auch durch den Schädel ihrer Mutter gefahren war. Sie waren fast zeitgleich gestorben. „Nein… NEIN!“ Schreiend taumelte sie auf die Tote zu. Die Schreie wurden noch lauter, als jemand nach ihrer Schulter fasste. Von sinnen drehte sie sich um und jagte an den Männern, an der Leiche ihres Vaters vorbei, dessen durchgeschnittene Kehle sie wie ein blutiger Mund anzugrinsen schien, hinaus in ein nächtliches, winterliches Rom. Winter in Rom, das war nichts Romantisches. Was es war, das war kalt und unerbittert. Es waren noch einige Leute unterwegs. Manche sahen ihr zwar nach, aber niemand kümmerte sich wirklich um das Mädchen, das rannte, ohne auf den Weg zu achten. Niemand bemerkte das in der Nacht schwarze Blut, mit dem sie besudelt war. Das Blut ihrer Mutter. Das Blut ihres Vatermörders. Immer weiter jagte sie, durch Hauptstraßen ebenso wie kleine Gassen. Eigentlich hätte sie zu den Carabinieri gehen sollen, aber daran dachte sie nicht. Wie auch? Sie war nur ein Kind. Sie lief viel weiter, als sie es unter normalen Umständen gekonnt hätte, ohne sich umzusehen, ohne auf mehr zu achten als darauf, dass sie nicht irgendwo gegen krachte. Avanti, das war der einzige Gedanke, den sie zuließ. Aber irgendwann gingen auch die übermässigen Kraftreserven zuende. Keuchend blieb sie stehen und sah sich um nach einem Versteck oder ähnlichem, auch wenn die Fremden ihre Spur längst verloren hatten. Sie hatten sie nicht einmal lange verfolgt; welche Schande wäre es auch, als Schuldigen für den Tod des Anführers ein sechsjähriges Kind anzuschleppen? Aber das wusste das Mädchen nicht. Schließlich schob sie unter Aufbietung der letzten Kräfte die schweren Türen einer Basilika auf und schlüpfte ins Innere. Zwar war es hier auch nicht viel wärmer als draußen, aber zumindest ein wenig und außerdem war hier drinnen kein Wind und sollte es anfangen zu regnen, wäre sie auch davor sicher. Erst jetzt, wo sie zur Ruhe kam, holten die grausamen Bilder sie ein. Und die Gewissheit, dass sie jetzt allein war. Ganz allein. Die Blonde begann zu weinen, lautlos und es kaum registrierend, die Tränen zogen Schlieren über das Blut, das ihr Gesicht besudelte. Langsam schritt sie nach vorne und hob den Blick anklagend gegen das Kreuz, das hinter dem Alter an der Wand hing. „Warum hast du das zugelassen?“, fragte sie leise. Ihre Stimme zitterte und jemand, der weiter als einen Schritt entfernt gestanden hätte, hätte nicht einmal bemerkt, dass sie etwas gesagt hatte. „Was war der Sinn?“ Sie erhielt keine Antwort, natürlich nicht. Dennoch wartete sie ein paar Momente, und als sich dann noch nichts getan hatte, schlug sie trotzdem das Kreuz. „E Nomine patris et filii et spiritus sancti, amen“, murmelte sie tonlos, ehe sie sich abwandte. Die Nacht verbrachte sie im Beichtstuhl, doch es dauerte lange, bis der Schlaf ein Einsehen mit ihr hatte. Pazienza = Geduld Lira = italenische Währung vor dem Euro. 1000 Lire waren nicht ganz eine DM. Carabinieri = Polizei Avanti = Weiter, vorwärts, voran Basilika = Kirche mit überhöhtem Mittelschiff “E Nomine patris et filii et spiritus sancti” = Lat. “Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.” Kapitel 2: Start again ---------------------- „Hey du. Aufwachen.“ Verschlafen öffnete das Mädchen die Augen, als jemand sanft an ihrem Arm rüttelte. Mit einem leisen Aufschrei saß sie auf einmal kerzengrade auf dem gepolsterten Sitz des Beichtstuhls und rutschte an die hölzerene Rückwand. Erst dann erkannte sie ihren Irrtum. Es war keiner der Männer vergangener Nacht, der sie gefunden hatte, sondern ein älterlicher Priester, der sie mit sorgenvollen Augen musterte. „Keine Sorge, ich tu dir nichts!“ Ein kaum merkliches Nicken war die Antwort, während die Blonde ihn immer noch aus schreckensgeweiteten Augen anstarrte. Sie bot keinen schönen Anblick. Die langen Haare waren querbeet zerzaust und würden wahrscheinlich zu einem großen Teil heruntergeschnitten werden müssen. Die ohnehin bemitleidenswerte Kleidung, die sowieso nicht für draußen und erst recht nicht im Winter gedacht war, war noch zerrissener und vor allem dreckiger als am Vortag. Verkrustetes Blut und getrocknetes Salzwasser verunstalteten noch dazu das Gesicht des Kindes. Man sah dem Mann an, dass er zig verschiedene Gedankengänge verfolgte, die das Mädchen vor ihm betrafen. Schließlich entschied er sich dazu, einen Schritt zur Seite zu treten, sodass sie problemlos heraus- und wenn sie es wollte auch an ihm vorbeikam. „Du siehst… nicht gut aus“, bemerkte er dann schließlich, als sie immer noch reglos verharrte. „Wo sind deine Eltern?“ Der Blick der Blonden trübte sich leicht, bis sie sich auf die Unterlippe biss. Dann schüttelte sie leicht den Kopf. „Ich… hab keine“, stellte sie sehr leise fest. Es klang mehr nach einer Versicherung sich selbst gegenüber als nach einer Antwort. Dann stand sie auf und tappte bedächtig aus dem Beichtstuhl. Kritisch verfolgte der Priester ihre Bewegungen und kam zu dem Schluss, dass er wohl eine Ausreißerin vor sich hatte, die allem Anschein nach übel verprügelt worden war. Auch wenn er keine direkten Wunden erkannte; wahrscheinlich lagen die unter all dem Schmutz verborgen. „Wie heißt du, Kleines?“ Sie überlegte einen Moment. Ihren richtigen Namen zu nennen wäre zweifelsfrei nicht sehr klug, da sie annahm, dass diese Leute sie immer noch verfolgten. Zu diesem Schluss kam selbst ein Kind. Kurz flackerte die Erinnerung an ein Gespräch mit ihrem Vater auf, bei dem er ihr von deutschen Flugzeugen erzählt hatte. Viel verstanden hatte sie nicht, aber die Bilder, die er ihr gezeigt hatte, hatten ihr gefallen. „Heinkel“, erklärte sie daher dem dadurch noch verwirrterem Mann und verließ die Kirche wieder. Da sie sich nicht mehr an den Weg erinnern konnte, brauchte sie wesentlich länger, bis sie an ihrem bisherigen Heim ankam. Das jedoch erkannte sie nicht wieder. Das relativ kleine Haus stand nicht mehr, stattdessen waren an dessen Stelle und an der der beiden benachbarten noch rauchende Trümmer. Schaulustige standen umher und versperrten ihr den Weg, sodass sie einiges an Geschick aufbringen musste, um sich zwischen den Menschen durch nach vorne zu schlängeln. Nichts stand mehr. Carabinieri standen den letzten Feuerwehrmännern im Weg, während das ganze von einem langen Absperrband mit der Aufschrift vietato l’ingresso von der Straße abgetrennt worden war. Fassungslos starrte Heinkel die Trümmer vor sich an, ohne wirklich zu verstehen, was das bedeutete. Ihre ganze Vergangenheit war ermordet oder verbrannt worden. Schließlich überwand sie sich und zupfte einen vorbeigehenden Carabiniere am Ärmel. „Scusi… Was ist hier passiert?“ Verwirrt starrte er sie an, und erst jetzt wurde dem Mädchen selbst ihr Aufzug bewusst. Ein leiser Fluch lag auf ihren Lippen, als sie sich umdrehte und zwischen den Gaffern verschwand. Nun war ihre geringe Größe ein Vorteil, den sie zu nutzen gedachte. Bis der Mann sich durch die Masse geschoben hatte, war sie schon lange verschwunden. Das Problem war nur, dass es jetzt noch mehr Leute geben würde, die sie suchten. vietato l’ingresso = Ein-/Zutritt verboten Carabiniere = Polizist Scusi = Entschuldigung Kapitel 3: Fighting in mind --------------------------- Nein, ich war nie in Rom. Die Angaben hier sind mithilfe einer Stadtkarte entstanden. Fighting in mind So viel gerannt wie jetzt und vergangene Nacht war sie in ihrem ganzen Leben noch nicht. Zusammengenommen, versteht sich. Sich die Lunge aus dem Leib keuchend blieb Heinkel in einer der charakteristischen, schummrig-engen calle Roms stehen, vorüber gebeugt, mit den Händen auf den Beinen aufgestützt. Die Gefahr, die von einem solchen Ort erst recht für ein Mädchen in ihrem Alter ausging, sah sie nicht und selbst wenn, wäre es ihr auch egal. Etwas hatte sich vergangene Nacht in dem jungen Geist unwiderruflich geändert. Sie war viel erwachsener geworden. Aber das half ihr jetzt im Moment auch nicht weitern. Genauso wenig wie die Gefahr, erkannte sie nämlich das wahre Ausmaß ihrer Probleme. Ihr war kalt. Sie hatte Hunger. Sie wurde verfolgt. Sie war allein. Ihr Zuhause gab es nicht mehr. Sie hatte ihre Mutter erschoßen. Das Blickfeld der Blonden begann zu verschwimmen. Ärgerlich wischte sie die Tränen beiseite, ehe sie über ihr Gesicht rannen. Weinen wollte sie nicht mehr. Sie würde nicht mehr zulassen, dass es jemals wieder einen Grund zum Weinen gab. Nie mehr würde sie zu schwach sein, denen zu helfen, die ihr wichtig waren. Und erst recht würde ihr kein zweiter, solch fataler Fehler unterlaufen. Trotzig richtete sie sich auf. Sie würde das schon schaffen. Sie würde stark werden, und es würde niemand mehr jemandem wehtun, wenn sie das verhindern konnte. Wie sie das anstellen wollte, wusste sie zwar noch nicht. Aber irgendwie würde das schon gehen, zweifelsfrei. Im Geiste überlegte sie ihre nächsten Schritte, was sich als schwieriger herausstellte, als sie gedacht hätte. Heinkel hatte nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Vielleicht wäre es sinnvoll, dafür zu sorgen, dass sie wieder halbwegs normal aussah. Das Blut musste dringend herunter – es hinterließ ein unangenehm klebriges Gefühl auf ihrer Haut – ebenso die langen, verklebt-zerzausten Haare. Die hatte sie ohnehin nie leiden können und auch die schwache Hoffnung ihrer Mutter, dass sie dann auch tatsächlich mal als Mädchen erkannt würde, hatte sich nie bestätigt. Wenn das doch mal wer bemerkte, dann höchstens an ihrer Stimme. Blieb die Frage, wie sie das anstellen wollte. Ihr Blick fiel auf eine Bierflasche, die sie kurzerhand zerschlug und dann eine der größeren Scherben dazu verwendete, an ihren Haaren herumzusäbeln. Das Ergebnis war schief und krumm und noch dazu hatte die Blonde sich mehr in ihre Hand geschnitten als alles andere. Ihrem Optimismus aber schadete das kein bisschen. Im Gegenteil. Einige Meter weiter fand sie eine Pfütze, die ihr dazu diente, das Blut abzuwaschen. Das Wasser war kaum sauberer und ihr wurde davon erst recht kalt, als der Wind über ihr klitschnasses Gesicht pfiff. Dennoch hob sich die Laune des Kindes weiter. Wenn sie es jetzt noch schaffen würde, etwas zu essen zu organisieren… So wirklich erfolgreich war sie nicht. Das hatte einen sehr einfachen Grund: bereits mit sechs Jahren war sie unheimlich stolz, betteln kam nicht infrage. Und Stehlen erst recht nicht. Das wäre… un… metha… dingsbums oder sowas. Irgendein komisches Wort, das sie mal irgendwo aufgeschnappt hatte. Immerhin war ihr nicht mehr kalt. Das lag daran, dass sie jetzt, solange sie nichts Besseres zu tun wusste, über die Dächer Trasteveres kletterte und balachierte. Weniger weil sie der Meinung war, dass ihr das irgendetwas brachte, sondern weil sie sich so mehr darauf konzentrierte, nicht herunter zu fallen, dass nicht einmal mehr ihre eigenen, schuldbewussten Gedanken zu ihr durchdrangen. Allerdings war sich die Blonde dadurch auch nicht bewusst, dass sich aller Augen Blicke auf sie selbst richteten. Der Untergrund, auf dem sie wandelte, war nass, aber daran verschwendete Heinkel kaum mehr einen Gedanken als daran, ob in China ein Sack Reis umgefallen wäre (mal davon ab, dass sie keine Ahnung hatte, was China war). Auch ein mögliches Herunterfallen verband sie eher mit vielleicht aufgeschlürften Knien als mit den gebrochenen Knochen – dem gebrochenen Genick - die aus einem Sturz in der Höhe des fünften Stockwerkes drohten. Ab und an drangen Bruchstücke des Stimmengewirrs zu ihr hoch. Sie achtete wenig darauf, sondern ließ sich schließlich auf dem Rücken eines der steinernen Löwen nieder, die das Dach zierten, die Ellbogen auf die Mähne des Kopfes gestützt und ihren eigenen zwischen den Händen, während ihr Blick über den Tiber glitt. Nie hätte sie sich vorgestellt, dass es so schwer wäre, sich allein durchzuschlagen. Nichts funktionierte mehr. Zumal sie kaum klare Gedanken fassen konnte, weil jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, der vorwurfsvolle Blick der gebrochenen Augen ihrer Mutter auf ihr lag – zumindest redete sie sich ein, dass er vorwurfsvoll sei. Die durchgeschnittene Kehle ihres Vaters sie angrinste. Mit kindlichem Starrsinn verbot sie den Tränen, über ihr Gesicht zu laufen. Nie wieder. Sie würde nie, nie wieder weinen. Allerdings wurde es mittlerweile wieder verdammt kalt, wie sie so hier saß. Das Mädchen sprang auf. Keine sehr gute Idee. Der alte Stein protestierte mit einem sehr lauten, deutlich vernehmbaren Knacken, infolge dessen sie fast augenblicklich erstarrte. Wie viel Pech konnte man am Stück haben? Ein Schrei entfuhr ihrer Kehle, als der Löwe komplett unter ihr wegbrach. Calle = Gasse Unmethadingsbums = gemeint ist „unmoralisch“ Trastevere = Stadtteil von Rom, grenzt an den Tiber (ziemlich großer Fluß, fließt durch Rom… man weiß ja nie, wer wie wenig Geographie kann ;D) Kapitel 4: Lost --------------- Sie hatte ganz entsetzliche Kopfschmerzen, als sie wieder aufwachte. Und schwindlig war ihr auch noch. Mit einem leisen Ächzen stemmte sie sich in eine sitzende Position, was ihr mit Schwindel und einer Expolision im hinteren Bereich ihres Schädels gedankt wurde. Versuchsweise öffnete sie die Augen. Nicht, dass es einen Unterschied machte. Es blieb schwarz. Hatte sie etwa bei dem Sturz das Augenlicht verloren? Was war überhaupt geschehen? Das, was sie unter sich spürte, fühlte sich verdächtig an nach einem…. Komposthaufen?! So oder so, es war eindeutig feuchtes Laub, und das nicht zu knapp. Ohne jede Vorsicht stand sie auf und schlug sich prompt den Schädel ein. Vermengt mit den Kopfschmerzen und dem Schwindelgefühl ließ das bunte Flecken vor ihren Augen flackern und für einen Moment drohte sie umzufallen. Dennoch schaffte sie es, die Balanche zu halten. Ein Fauchen erklag rechts neben ihr. „Na toll.“ Sie seufzte. „Ratten haben mir jetzt grade noch gefehlt.“ Zwar hatte sie keine Angst vor Ratten – nicht mehr zumindest mehr, vor zwei Tagen wäre es noch ganz anders gewesen. Allerdings hieß das nicht, dass sie Lust hatte, sich beissen zu lassen. Zumal die Viecher sich festbissen, glaubte sie zumindest, und sie wollte und brauchte keinen Schmuck in Form einer Ratte. Ein weiteres Fauchen antwortete ihr. „Ach, halt doch die Klappe. Ich hab echt andere Probleme als dich.“ Die Blonde ignorierte das in der Dunkelheit unsichtbare Tier und stemmte sich gegen die niedrige Decke. Plastik, schätzte sie aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit. Wie sie erwartet hatte, schwang die nach einer Weile – und einer für ein kleines Mädchen ungeheuren Anstrengung – tatsächlich auf, kam ihr jedoch beim ersten Versuch wieder entgegen. Beim zweiten Male dann blieb es offen. Zwei Ratten sprangen an ihr vorbei auf den Rand des Kompostcontainers, um den es sich offensichtlich handelte, von da an auf die Straße weiter und direkt vor die Pfoten einer streunernden Katze, vor denen Rom nur so strotzte. „Na lecker…“ Heinkel kletterte hinterher nach draußen und vermied es dabei, zu den Tieren zu sehen. Sie hatte keinerlei Ahnung, wie sie jetzt auf das Blut – sollte welches fließen – reagieren würde. Sie wollte es auch gar nicht erst ausprobieren. Beim Herunterspringen gesellte sich zusätzlich zu dem Schwindel und den Kopfschmerzen noch ein leichtes Übelkeitssgefühl, wie sie entnervt feststellte. Als hätte ihr das jetzt noch gefehlt! Der Blick des Mädchens wanderte umher; mittlerweile war es wieder dunkel geworden und der Wind, der schon zuvor unangenehm kalt gewesen war, steigerte sich so langsam zu den ersten Ausläufern eines kleinen Sturms. Jetzt musste es nur noch anfangen zu regnen – oder gar zu schneien – dann wäre das Unglück aus ihrer Sicht komplett. Zumal ein leichtes Kratzen in ihrem Hals zusätzlich eine nahende Erkältung oder Schlimmeres ankündigte. Andererseits war es mehr als seltsam, dass sie so weit allein war, auch wenn ihr das selbst wenig bewusst war. Andere Menschen befanden sich nicht in Heinkels Umgebung, zumindest sah sie niemanden. Obwohl der Platz noch vor wenigen Stunden voller Menschen gewesen war. Ein typisches Merkmal der Sensationslust – auf gar keinen Fall helfen und sich so oder andererweitig in die Geschehnisse verwickeln lassen. Das wäre viel zu viel der Mühe. Selbst bei einem Kind. Sie zupfte sich ein paar Blattreste aus den Haaren. Die Überreste des Steinlöwen lagen nicht sehr weit von ihr entfernt; nur noch wenige Stücke waren etwas größer und noch weniger ließen die ursprüngliche Form der Statue erahnen, wenn man sie nicht zuvor gesehen hatte. Und auch dann fiel es noch schwer. Die Katze dagegen hatte sich mit ihrer Beute bereits verzogen, sodass nur noch ein paar Haare und wenige blutige Spritzer an die Ratten erinnerten. Entgegen ihrer Vermutung rief das Blut keinerlei Emotionen in ihr wach – im Gegenteil, eher Gleichgültigkeit. Wahrscheinlich hatte auch die Streunerin das ein oder andere Haarbüschel eingebüsst, überlegte sie stattdessen. Sie hatte kein bisschen auf die Geschehnisse oder dessen Geräuschkulisse geachtet. Fröstelnd schlang die Blonde die Arme um ihren Körper. Mit jedem Moment schien es noch kälter zu werden. Zwar hatte sie ihren ersten Tag allein überstanden – durch ein Wunder mit nicht mehr als einer Gehirnerschütterung – aber der anfängliche Optimismus begann mehr und mehr, in stumpfe Angst umzuschlagen. So ungern sie es sich eingestand – sie war verloren. Und unendlich allein und hilflos. Kapitel 5: Nightmares --------------------- Nightmares Weil ihr kein anderer Ort einfiel, hatten ihre Schritte die Blonde an den einzigen Platz geführt, der für sie je Sicherheit bedeutet hatte; selbst jetzt noch, zumindest in Ansätzen. Rasch schlüpfte sie unter dem Absperrband hindurch und stockte dann. Der Blick der tiefblauen Augen huschte über verkohlten Stein, halb eingestürztes Dachgebälk, verruste, in Trümmern stehende Wände und die durch eine ironische Fügung beinahe unversehrte Treppe. Auch die Möbel, soweit sie sie von hier aus erkannte, waren zufällig mal kaum mehr erkennbar oder fast unberührt. Alles stand an seinem Platz; bisher waren nur die Flammen gelöscht und die Toten geborgen worden. Schließlich schüttelte sie leicht den Kopf, gab sich einen Ruck und betrat langsam die Brandruine. Ihre Hand streifte dabei zufällig die Überreste des Türrahmens, der selbst jetzt noch eine ganz schwache Wärme ausstrahlte und einen dunklen Kranz aus Ruß auf ihrem Handrücken hinterließ. Das Mädchen achtete nicht auf das Knacken, das ab und an die Stille durchbrach und damit eine wortlose Warnung aussprach, zu gehen bevor ihr das alles auf den Kopf fallen würde. Allerdings sprach das Gesetz der Wahrscheinlichkeit gemeinsam mit all dem, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt hatte, dagegen, dass etwas Derartiges geschehen würde. Irgendwo musste schließlich auch einmal ein Ende sein. Nicht, dass Heinkel sich solche Überlegungen machte. Sie dachte nicht einmal daran, dass sie jeden Moment von ein paar herunterkommenden Brocken erschlagen werden könnte, oder Ähnliches. Stattdessen wanderte ihr Blick umher über das, was ihr am Vertrautesten im Leben war und doch am Entfermdetsten. Jeder Schritt wirbelte Staubwolken auf, die an ihr und der dürftigen Kleidung hängen blieben, ohne dass es noch einen Unterschied machte. Einmal jagte auch eine Spinne an ihr vorbei, nachdem sie dadurch aufgeschreckt worden war. Sie schenkte ihr keinerlei Beachtung. Im Wohnzimmer war die Decke heruntergekommen; es versperrte den Weg in ihr eigenes, ehemaliges Zimmer. Die Überreste der gläsernen Türen der Schrankwand mischten sich ebenso wie das, was vom Fernsehen übrig geblieben war, unter den Staub und knackten laut, als sie darauf trat. Die Hälfte des Couchtisches stand noch, aber egal, wie man es drehte und wendete; nichts war mehr wirklich intakt oder verwendbar. Das war ihr raschen Blickes klar geworden. Als sie in der Küche nachsehen wollte, krachte ein Stück des darüber gelegendem Flures herunter, für das die geringen Schwingungen der Schritte des Mädchens bereits zuviel waren und machte damit auch das Obergeschoß unbegehbar. Blieb also doch nur das Wohnzimmer. Erschreckend, wie wenig von ihrem Leben noch übrig geblieben war. Erst jetzt, als sie langsam wieder in jenes zurück tappste, bemerkte sie die Ausgedörrheit in ihrer Kehle und ihrem Mund. Zudem förderten Staub und Asche den Husten, der sich mit dem Zunehmen des Unwohlseins, der Krankheit mehr und mehr hervordrägte. Sie machte sich nichts daraus; sie war schon öfter krank gewesen und auch wenn das nicht nett war, ging es doch vorbei. Was der Blonden dabei nicht bewusst war, war, dass das, was sie da ausbrütete, keine Erkältung war, sondern eine ausgewachsene Lungenentzündung. Doch wie gesagt, sie wusste es nicht und verschwendete auch keinen Gedanken daran, während sie das halbwegs heile Sofa gegen die am stabilsten wirkende Wand schob, die noch leicht warm war – was ihr schon einen guten Teil der letzten, angeschlagenen Kraftreserven raubte. Dann rollte sie sich darauf zusammen, sich klein machend und an die Wand gedrückt. Morgen noch. Nur morgen noch. Wenn es morgen nicht ging, gestand sie sich ein, würde sie wirklich Hilfe brauchen. Morgen. In dieser Nacht bekam sie zwar Schlaf, aber keine Erholung. Sie war nicht mehr erschöpft genug und stand auch nicht mehr ausreichend unter Schock, um den Träumen zu entgehen, die sie gradewegs aus der Hölle verfolgen zu schienen. Oder vielleicht auch nur aus dem Haus, in dem sie sich befand. Mehr als einmal wachte sie auf, schweißgebadet, schreiend. Am nächsten Morgen brach sie auf, bevor die Zuständigen kamen, die Trümmer beiseite zu schaffen. Ihr war nicht mehr kalt. Dafür sorgte die Fieberhitze schon. Kapitel 6: Save my soul ----------------------- Save my soul Irgendwann später würde sie in diesem Tage ein Wunder sehen. Ihr persönliches, kleines Wunder. Er begann als Apokalypse. Das Wetter hatte sich nicht gebessert, im Gegenteil schien es noch viel schlimmer geworden zu sein. Dennoch ertappte Heinkel sich mehr als einmal bei dem Gedanken, dass sie gerne diese Kälte gegen das Feuer in ihren Adern tauschen würde. Natürlich inklusive Kopfschmerzen und Hustenanfällen. Die Blicke, die das Äußere des Mädchens auf sich zog, ignorierte sie. Es waren ohnehin kaum welche; immerhin war dies Rom. Großstädte hatten es so an sich, dass die Leute darin nicht einmal wirklich auf ihren Nebenmann - oder auch Nebenfrau – achteten und erst recht nicht auf irgendwelche Kinder; egal wie sie aussahen. Ihr eigener Blick war zwar auf den Tiber gerichtet, aber man brauchte keine besondere Beobachtungsgabe um zu bemerken, dass sie ihn nicht sah. Genauso wenig wie sie den schwarzhaarigen Engel sah, bevor sie fast in ihn hereinlief. Der Engel – ihr Engel – war in ihrem Alter, hatte lange schwarze Haare, ein himmelblaues Kleid unter dem Mantel und rückte sich grade die Brille wieder grade. Das war nicht, was sie irritierte. Was sie irritierte, war, dass ihr Gegenüber nicht Italenisch redete, sondern munteres Latein. Fasziniert und gleichermaßen verwirrt hörte sie einem Moment lang dem Redeschwall zu. Ein ungefährer Sinn erschloß sich ihr natürlich – so unterschiedlich waren Latein und Italenisch auch wieder nicht – aber dennoch blieb ihr einiges unverständlich. „Also, tut mir ja wahnsinnig leid“, bemerkte sie dann schließlich leicht heiser, „aber ich versteh dich nicht.“ Die Schwarzhaarige schlug sich daraufhin mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Scusi! Natürlich nicht. Ich vergesse immer, dass ich nicht überall Latein reden kann. Alles okay?“ Seltsam. Die Blonde lief sie um, und dann fragte sie, ob alles in Ordnung war? Verquer. Aber irgendwie auch süß. „Va tutto bene“, beruhigte sie daher. „Und bei dir?“ Die Schwarzhaarige nickte und lächelte breit. „Ich bin übrigens Yumiko!“, stellte sie sich dann fröhlich vor. „Heinkel…“ Viel weiter wäre sie gar nicht gekommen, selbst wenn sie wollte, weil die Blonde da wieder von einem Hustenanfall überfallen wurde. Die Lungenentzündung machte sich bemerkbar. Der Blick des kleinen Engels wurde da auch gleich wesentlich besorgter; man brauchte sie nicht lange beobachten, um zu bemerken, dass sie offenbar sehr schnell darin war, alles und jeden in ihr Herz zu schließen. „Du klingt aber nicht nach ‚alles in Ordnung’“, stellte sie fest. „Und du siehst auch nicht danach aus… Deine Eltern sind ja nicht sehr sorgfältig.“ Während den letzten Worten verdüsterte sich der Blick der Blonden, sie wandte ihn gegen Boden und drehte sich weg. „Mh-hm… arrivederci“, nuschelte sie. Sie hatte nun wirklich keine Lust, darüber zu reden. „Hey, warte!“ Plötzlich war der Engel wieder neben ihr. „’tschuldigung…“ Sie legte den Kopf leicht schief. Im hübschen Köpfchen der Schwarzhaarigen hatte es durchaus Klick gemacht, sie kannte diese Reaktion nur zu gut. „Meine sind auch tot“, erklärte sie dann etwas leiser. Dann hellte sich der Blick mit einem Mal wieder auf. „Sag mal, was hast du für eine Konfession?“ „WAS habe ich?“ „Ehm. Glaubensrichtung.“ Verwirrt warf die Blonde einen zweifelnden Blick in das Gesicht des Engels. Eine seltsame Art und Weise, abzulenken. „Katholisch… warum?“ „Benissimo! Komm mit. Ich glaub, dann kann ich dir helfen.“ Heinkel verstand jetzt zwar noch sehr viel weniger, ließ sich aber von Yumiko mitziehen. Wie sie später feststellte, die beste Entscheidung, die sie je getroffen hatte. Va tutto bene = Alles in Ordnung Arrivederci = Auf Wiedersehen. Benissimo = Wunderbar Kapitel 7: Epiloque. Some kind of peace. ---------------------------------------- Damn. Epilog ist bald länger als der ganze Rest zusammen ... Epiloque. Some kind of peace. „HEINKEL WOLFE!“ Sie hielt inne mit Zählen und kam zu dem Schluss, dass Alexander einen neuen Rekord aufgestellt hatte. 13 Sekunden. Entweder hatte er langsam einen Trick entwickelt, oder aber sie war nachlässig gewesen. Das schlacksige, mittlerweile vierzehnjährige Mädchen seufzte leise, ehe sie sich wieder erhob und die Sonnenbrille zu Recht schob. Dann balanchierte sie so sicher über das niedrige Kapellendach zum Rand, als wären es nicht brüchige Schiefern unter ihr, sondern fester Boden. „Bin ja schon da…“, nuschelte sie. Von ihrem jetzigen Standpunkt aus musste sie auf den hünenhaften Priester hinunter sehen, aber sie hatte auch oft genug zu ihm hinaufzusehen, also sah sie nicht ein, dass sie jetzt herunterkommen sollte. Etwas lauter fuhr sie, in betont bedauerndem Tonfall, sodass selbst ein Vollidiot merken würde, dass sie maßlos übertrieb, fort. „Und ja, es tut mir aufrichtig leid, dass der arme kleine Enrico fast einen Herzinfarkt hatte und es tut mir auch sehr leid, dass ihm die Haut über der Schläfe geplatzt ist und er blutet wie ein abgestochenes Schwein, aber er hat sich nicht an mich heranzuschleichen, sonst könnte es sein, dass er stattdessen irgendwann mal eine Kugel im Kopf hat und sich nicht nur eine Ohrfeige einfängt. Darf ich jetzt gehen?“ So oder so, der blonde Priester musste erst einmal nach Worten suchen, da sie ihm damit den Wind aus den Segeln der Standpauke genommen hatte, die er sich mehr oder weniger zurechtgelegt hatte. Außerdem war er ohnehin nicht der Erziehungstyp. Mit den Kindern war er schon überfordert gewesen. Jetzt, wo sie ins Teenageralter kamen, waren sie eine einzige Katastrophe. „Komm sofort da herunter, junge Dame!“, befahl er stattdessen. Die einzige Antwort bestand aus einem Kopfschütteln. „Zwanzig Liegestütze.“ „Was soll DAS denn bringen? Wir sind hier nicht beim Militär!“ „Ich meinte natürlich vierzig.“ Allerdings hatte er die Erfahrung gemacht, dass er mit den Heranwachsenden auch konsequenter seinen konnte als den Kindern. Natürlich nicht Yumiko, die war nach wie vor sein Engel. Aber er hatte keine Probleme damit, Enrico oder Heinkel irgendwas zu verbieten oder sie zu bestrafen – sobald ihm etwas Passendes einfiel, hieß das. Sie verdrehte die Augen. „Jawohl, Meister…“ Mit dieser Mischung aus Knurren und Nuscheln ließ sich die Blonde halber auf das Dach fallen, um in die erforderliche Position zu gelangen. „KOMMST DU DA ERST RUNTER?!“ „Als ob…“ Noch während sie richtig nach Halt suchte, bröckelte der unter ihr weg und sie lag mit einem Schlag drei Meter weiter unten im Gras, die ersten vertrockneten Blätter des Jahres wirbelten hoch und verfingen sich in ihren Haaren. Aus irgendeinem Grunde kam ihr das verflucht bekannt vor. „Hast du dir was getan?“ „Als ob ich es schaffen würde, mir was zu brechen…“ In der Tat wäre dies ein Kunststück, das sie bisher noch nicht zustande gebracht hatte. Nicht, dass sie das störte. Sie konnte auch gerne darauf verzichten. Aus der Lage heraus stemmte sie sich halbwegs hoch und begann entnervt mit den Liegestützen, die ihrer Meinung nach nichts als reine Schikane waren. Es war ja nicht so, dass sie nicht schon lange ausgebildet wurden – und sie kannte das verdammte Training, bei leichten Einsätzen waren sie sogar schon mitgekommen – hatten beim letzten sogar weitgehenst Handlungsfreiheit gehabt – und wenn sie dabei eines gelernt hatte, dann war das ganz sicher, dass sich kein Ketzer und kein Monster dadurch beeindrucken ließ, ob man Liegestütze konnte oder nicht. Dennoch kam kein weiterer Laut des Protestes über ihre Lippen. Irgendwann hatte sie innerlich resigniert und Alexanders Autorität mehr oder weniger akzeptiert – auch wenn sie freilich keine Gelegenheit ausließ, ihre Grenzen auszutesten – aber sie wusste ziemlich genau, wie weit sie bei ihm gehen durfte. Bei Enrico war das eine ganz andere Sache. Seit sich herauszukristallisieren begann, dass er früher oder später die Organisation übernehmen würde, wurde aus ihm… ja, was eigentlich? Er war nicht mehr der Junge, den sie kennengelernt hatte, als Yumiko sie damals hergezerrt hatte. Damals hatte sie ihn zwar gehasst, was auf Gegenseitigkeit beruhte, aber es war eine Art Hass-Liebe gewesen. Eigentlich war sie sogar ganz gut mit ihm klar gekommen, wenn er nicht grade wieder ihren Engel geärgert hatte. Aber jetzt… „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“ „Bitte?“ Sie hob den Blick. Dabei bemerkte sie erst einmal, dass sie das Zählen ganz vergessen hatte. Wundervoll. „Du bist fertig“, stellte er fest und schüttelte leicht den Kopf, während sie aufstand. „Und wenn du mir schon nicht zuhörst, hör wenigstens ihr zu.“ Noch bevor er geendet hatte, sprang eine Woge aus blauem Kleid und schwarzen Haaren hinter ihm vor und ihr um den Hals. Einen Augenblick später fragte sie sich irritiert, wofür sie grade aufgestanden war, wenn sie schon wieder auf dem Boden lag. „Mhgrawda!“, brachte sie beim Versuch, Luft zu holen, heraus. „Verzeihung.“ Yumiko ließ die Blonde wieder los und sprang auf die Beine, ehe sie der anderen dabei half. Dann zog sie diese auch prompt hinter sich her, ohne ein Wort des Erklärens. Das war bei weitem nicht das erste Mal, und so wunderte sich das Blondchen auch nicht darüber, sondern fügte sich in ihr Schicksal. Nach einer Weile begann die muntere Schwarzhaarige vor sich hin zu plappern. Es fiel Heinkel immer sehr leicht, ihr zuzuhören, da sie sich nicht mit der Frage beschäftigen musste, was davon wichtig war und was nicht. Sie speicherte einfach jedes Wort aus Yumikos Mund als überaus wichtige Information ab, und wenn es nur darum ging, dass eine Blume blühte. Wo auch immer Yumi hinwollte, sie hatte beschlossen, über den Kirchhof zu gehen, und wenn der Blick der anderen mal nicht auf eben jener lag, wanderte er über Grabsteine und Kreuze. Was sie dazu veranlasste, mit einem Schlag stehen zu bleiben. Das wiederrum erwieß sich als leicht schmerzhafter Einfall, da Yumiko noch einen Moment weiterzog. „Was ist?“ „Stehen die da schon lange da?“ Mit diesen Worten zeigte sie auf eine kleine Gruppe Kreuze unter einer Trauerweide. „Ja, glaub schon. Bestimmt schon zehn Jahre oder so. Alex kümmert sich darum. Warum?“ „Sind mir nie vorher aufgefallen.“ Sanft löste sie sich aus dem Griff der Freundin und ging auf die Totenmale zu. Was ihren Blick – und nun ihre Schritte – darauf zu gelenkt hatte, wusste sie nicht, aber sie wollte das herausfinden. Die Jugendliche schob ein paar Äste an die Seite, sodass sie die Namen lesen konnte. Ein paar Blätter segelten zu Boden, als diese Hand zu zittern begann. „Heinkel? Alles in Ordnung?“ „Si…Sicher. Ich dachte nur, dass mir die Namen… bekannt vorkommen.“ Sie nickte, biss sich kurz auf die Lippe und drehte sich dann so abrupt um, dass ihr einer der Äste gegens Gesicht peitschte. Es waren drei Kreuze. Nicht zwei. Drei. Und das war vielleicht gar nicht so falsch, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte. Sie würde sich wohl nachher mal bei Alexander bedanken müssen. Kirchhof = altertümliches Wort für einen Friedhof in der Nähe einer Kirche Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)