What have you done now? von Ange_de_la_Mort (America/Russia) ================================================================================ What have you done now? ----------------------- In Braginskys Haus war es immer kalt. Immer Winter. Immer voller Schnee. Fröstelnd zog Alfred die Fliegerjacke enger um seinen Körper und rückte die Brille zurecht, als er das eindrucksvolle Gebäude betrat. Es war niemand da, der ihn begrüßte. Hatte Braginsky vergessen, dass er kommen würde? Dabei hatte Alfred sich extra bei ihm und seinem Boss angemeldet. Wie auch immer ... dann würde er sich wohl auf die Suche nach ihm machen müssen. Was sich als nicht sonderlich schwierig erweisen sollte - es gab ja nur wenige Orte, an denen Braginsky sich aufhielt, wenn er daheim war. Um genau zu sein, gab es nur zwei: Sein Büro und den Garten. Und dort, im Garten, der eigentlich überhaupt kein richtiger Garten war, sondern einzig eine kleine Ansammlung von Sonnenblumen, fand Alfred ihn auch. Braginsky kniete vor den Sonnenblumen und war gerade dabei, jede einzelne Schneeflocke per Hand von ihren Blüten zu entfernen. Und das tat er mit einer Hingabe, wie Alfred es nur selten erlebt hatte. Aber Braginsky war ja sowieso eine Klasse für sich … Die 'größte Nation der Erde' – wie er sich selbst nannte, wobei Alfred da widersprechen würde, denn kein Land konnte auch nur annähernd so groß und eindrucksvoll sein wie Amerika, nicht wahr? - wirkte in solchen Momenten vielmehr wie ein kleiner Junge, nicht wie der Mann, der er eigentlich war und sein sollte. Und irgendwie scheute sich Alfred ein wenig davor, ihn bei seiner selbst auferlegten Aufgabe zu stören. Schließlich räusperte sich er doch leise. „Ivan? Hast du vergessen, dass ich komme?“ Er reagierte nicht. Alfred wartete kurz und überlegte, ob der andere ihn einfach nicht gehört hatte oder ob er ihn absichtlich ignorierte. Wahrscheinlich war es letztere Option. „Ivan“, sagte er noch einmal, dieses Mal lauter und forscher. „Ich kenne meinen Namen.“ Nun erhob sich Braginsky doch und baute sich in voller Größe vor Alfred auf. Was einem Ivan Braginsky natürlich nicht schwer fiel. Der Mann war prädestiniert dafür, sich drohend vor anderen Menschen aufzubauen. Allein seiner Körpergröße wegen. Er war wohl als einzige der Nationen geschätzte zwei Meter groß – natürlich übertrieb Alfred bei dieser Schätzung gehörig, aber er war es einfach nicht gewohnt, zu anderen Leuten aufsehen zu müssen. „Was kann ich für dich tun, Amerika?“ Ah. Amerika. So standen sie also inzwischen zueinander. Alfred kam es so vor, als würde die Temperatur um ein paar weitere Grad sinken. Natürlich. Es war sein Name. Sein richtiger Name. Doch so, wie Braginsky es aussprach, klang es einfach nur unpersönlich. Und das nach all dem, was sie miteinander erlebt hatten … „Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?“, fragte Braginsky mit der gleichen Schärfe und Kälte in der Stimme, die sich gerade auch durch Alfreds Kleidung fraß. „Ich hatte dir doch gesagt, dass ich komme.“ „Hattest du? Das muss ich ganz vergessen haben.“ Er legte einen Finger an sein Kinn und neigte den Kopf ein wenig, tat so, als würde er nachdenken müssen. Vergessen. Du vergisst nicht, Russland. Du hast noch nie vergessen. Wahrscheinlich hast du es nur geflissentlich ignoriert. „Nun, jedenfalls bin ich hier, um mit dir zu reden.“ „Dann rede.“ Alfred seufzte leise. „Willst du mich nicht in dein Büro bitten?“ „Ich lade ausschließlich Freunde in mein Haus ein, Amerika.“ Er sagte das in dem schweren, russischen Akzent, der für Alfreds Ohren noch immer schmerzhaft klang, und seine Lippen umspielte ein sachtes Lächeln, das jedoch seine Augen nicht erreichte. Nein. Seine violetten Augen waren ausdruckslos. „Sind wir keine Freunde mehr?“, fragte Alfred leise und bedächtig, beinahe so, als würde er mit einem wilden Tier sprechen. Denn wenn in Braginskys Augen kein Leuchten stand – das wusste er aus eigener Erfahrung –, so konnte es jederzeit passieren, dass er einen mit seinem Schal erwürgte oder seinem Wasserrohr zusammenschlug. „Wir waren nie Freunde.“ Eine endgültige Aussage, die noch dadurch unterstrichen wurde, dass Braginsky sich umdrehte und wieder zu seinen Sonnenblumen kniete. „Wieso nicht?“ „Oh, bitte!“ Braginsky gab ein genervtes Schnauben von sich. „Du hast mich jahrelang nicht ernst genommen!“ „Wie sollte ich? Dein Land ist bis heute auf keiner Weltkarte verzeichnet!“ Ein Knurren. Braginskys Hände ballten sich zu Fäusten, seine Finger zitterten leicht vor Wut. „Es würde helfen, wenn du dir endlich eine richtige Weltkarte besorgst!“ „Ich habe eine richtige Weltkarte!“ „Auf einer richtigen Weltkarte wäre nicht nur Amerika verzeichnet!“ Er stand auf und ging mit vor Wut verzerrter Miene auf Alfred zu. Schließlich packte er den anderen am Kragen und schüttelte ihn durch. „Genau das ist das Problem, mein Freund ...“ Dieses Wort sprach er voll Häme aus. „Wärst du nicht so furchtbar egozentrisch, würdest du dir vielleicht nicht ständig Feinde machen!“ Feinde? Alfred sah ihn verwirrt an, könnte vielleicht besser über dieses Wort nachdenken, wenn er gerade nicht so geschüttelt würde, dass seine Zähne klapperten. Er hatte doch keine Feinde … es gab nur Leute, die neidisch auf ihn waren. Aber das waren keine Feinde. Oder …? „Bist du mein Feind, Ivan?“ Er erhielt keine Antwort. Zumindest nicht gleich. Braginsky ließ ihn los und sah ihn einige Sekunden an. Dann lachte er. Es war das helle Kichern, das leicht wahnsinnige Glucksen, das einem jeden, der es zu hören bekam, das Blut in den Adern gefrieren ließ. Nur Alfred nicht. Alfred war es gewohnt, hatte es in vielen Momenten gehört, in guten und in schlechten Zeiten. Er hatte es gern gehört. Hatte gerne mitangesehen, wie sich kleine Fältchen unter Braginskys Augen bildeten und wie eben diese Augen leuchteten wie Sterne in einer klaren Nacht. Von diesem Leuchten war nichts mehr übrig. Er lachte immer weiter, lachte, bis ihm Tränen die Wangen hinabliefen. Oder weinte er aus einem anderen Grund? „Ich halte noch immer viel von dir, Amerika“, sagte er leise. „Deswegen lasse ich dir ein letztes Geschenk zukommen.“ „Ein letztes?“, wiederholte er leise. „Ivan, was -“ „Nenn mich bitte nicht so.“ Das tat weh. Ein 'bitte' aus Braginskys Mund. Das war er nicht gewohnt. Das kannte er nicht. Das wollte er eigentlich überhaupt nicht kennen. Braginsky hatte nie um etwas gebeten, er hatte es sich immer genommen. Selbst als er mit Alfred geschlafen hatte, hatte er nie gebeten. Er hatte nie darum bitten müssen. „Verzeih. Russland.“ „Sowjetunion“, verbesserte er kühl. „Sowjetunion.“ Alfred verdrehte die Augen hinter seiner Brille. Dass der andere manchmal so verflucht pingelig sein wollte. „Du wolltest mir etwas schenken“, sagte er ungeduldig. „Ja. Ich weiß, wie gerne du den Helden spielst.“ Es kostete Alfred viel Mühe, sich den Kommentar zu verkneifen, dass er den Helden nicht spielte. Er war der Held. Was war daran so schwer zu verstehen? „Und jeder Held braucht einen Gegenspieler.“ „Und das willst du sein?“ Wieder erhielt er erst keine Antwort. Es sollte ihn nicht wundern, das gehörte eben zu Braginskys Wesen. Dennoch spürte Alfred, wie ihm das Herz schmerzte. Sie waren doch Freunde, auch wenn … wenn Ivan das nicht mehr sehen wollte. Liebhaber, auch wenn Ivan es verschweigen wollte. Warum sollten sie plötzlich Feinde werden? „Подсолнечник.“ „Bitte was?“ Ivan sah liebevoll auf die Sonnenblumen herab. „So nennen wir sie hier. So wird man sie auch auf der ganzen Welt nennen, wenn sie erst einmal ein Teil von mir geworden ist.“ Alfred blinzelte, schüttelte den Kopf. „Du willst die Welt erobern?“ „Nein. Ich will, dass sie eins mit mir wird.“ „Du weißt, dass es das Gleiche ist.“ Falls Ivan das tat, überging er es einfach. „Ich habe die Möglichkeiten dazu. Das Geld. Die Waffen.“ „Ivan ...“ Alfred hob eine Hand und legte sie dem anderen sanft auf die Wange. Kälte fraß sich durch seinen Handschuh. Es war nicht nur die Kälte der Umgebung, die sich auf Ivans – und auch auf seiner eigenen – Haut abgelagert hatte; es war eine Kälte aus seinem Inneren. „Geh nach Hause, Amerika“, sagte Ivan und Alfred konnte den Vodka riechen, dessen Duft den anderen ständig umgab. Das hatte aber nichts zu sagen. Wahrscheinlich war er nicht betrunken. Wahrscheinlich hatte der Geruch sich nur auf seiner Kleidung festgesetzt, auf seiner Haut, in seinen Haaren. So wie der Geruch von kaltem Rauch einen Raucher immer umgab, umgab Ivan ein Nebel aus Vodka. „Geh nach Hause“, sagte er noch einmal. „Russland heißt dich nicht mehr willkommen.“ Wieder wandte er sich ab. Dieses Mal merkte selbst Alfred, dass das Gespräch beendet war, dass er nicht stören sollte, dass seine Anwesenheit nicht erwünscht war. Und er ging. Genauso leise, wie er gekommen war. Ohne das anzusprechen, was er ihm eigentlich hatte sagen wollen. Ohne dass Ivan je erfahren würde, wie Alfred wirklich für ihn fühlte. Und er wusste, dass dieser Tag der Tag war, an dem Amerika seinen ersten richtigen Feind geschaffen hatte. Er wusste auch, dass es – egal, wie ihr Konflikt ausgehen sollte – zwischen ihnen nie wieder so sein würde wie früher. Und er fürchtete, dass dieses Wissen sein Herz zersplittern würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)