Heroes von Tricksy ================================================================================ Kapitel 14: Fourteen -------------------- Tsukasas Hände zitterten, als er seinen Wagen abschloss und die Treppen zur Justizvollzugsanstalt hinauf eilte. Als er das Gebäude betrat, fand er sich in einer so riesigen Traube von Menschen wieder, dass er für einen Augenblick gar nicht wusste, ob er überhaupt richtig war. Überall liefen Beamte in Anzügen durch das Foyer und die angrenzenden Gänge, ständig damit beschäftigt, der Person am anderen Ende der Leitung ihres Handys eine unheimlich wichtige Neuigkeit mitzuteilen. Tsukasa versuchte angestrengt, irgendwelche Gesprächsfetzen aufzufangen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Das Einzige was er herausfand, war, dass es sich wohl um keine guten Dinge handelte. Er begann sich durch die Massen zu kämpfen. Egal, was hier vor sich ging. Er musste mit Karyu reden. „Bleiben Sie stehen!“ Tsukasa wurde an seinem Arm fest und zurückgehalten. Als er sich umdrehte, stand ein glatzköpfiger Polizist in einem beigen Anzug vor ihm. Tsukasa kannte ihn irgendwoher. „Sie!“, rief er dann beinahe erleichtert. Es war Karyus Vorgesetzter. „Hören Sie, ich muss dringend mit Yoshitaka sprechen, ich-“ „Es tut mir leid, aber heute dürfen wir niemanden zu den Gefangenen lassen. Es gab einen Ausbruch.“ Trotz der beinahe standardmäßig heruntergerasselten Worte, rührte sich etwas in den Augen des Mannes, als Tsukasa Karyus Namen erwähnte. Es schien so etwas wie Besorgnis zu sein. „Ein Ausbruch?“, wiederholte er ungläubig. „Wie, was, aber ich-“ „Es tut mir leid, Herr Oota“, wiederholte der Polizist eindringlich. Er sah sich um, beschloss dann, dass ihm niemand zuhören würde und senkte seine Stimme. „Shimasa ist ausgebrochen. Ich nehme an, Sie wissen wer das ist. Er ist ein gefährlicher Mann.“ Tsukasas Augenbrauen zogen sich zusammen, als er das sagte. „Gefährlich? In meinen Augen ist er nur ein hinterhältiges Arschloch, das sein Gnadenbrot mit dem Verrat seiner Kameraden verdient.“ Der Polizist blinzelte ob dieser Reaktion überrascht und schien für einen Moment um Worte verlegen zu sein. „Vielleicht ist das gar nicht so unwahr, Herr Oota. Aber er ist ein Verräter, der sehr wohl weiß, was er tut. Solange er auf freiem Fuß ist, kann ich niemandem Sicherheit garantieren. Dass wir seine Ziele nicht kennen, macht die Sache umso schwieriger.“ Er hielt inne und sah sich noch einmal verstohlen um. „Ich gebe Ihnen den Rat, sofort nach Hause zu fahren, und dort auch nicht wieder zu verschwinden, bis es eine Aufklärung gibt.“ Tsukasa hielt das erst für einen schlechten Scherz, doch als er die ernste Miene des Polizisten wahrnahm, wurde ihm doch ein wenig unwohl. Karyu rammte seine Schulter immer wieder gegen die Tür seiner Zelle, bis er meinte, dass sie schon völlig blau sein müsse. Auf den Gängen schenkte ihm jedoch keiner Beachtung. Karyu war zu einer unwichtigen Persönlichkeit verkommen, die für andere nur noch in der Zeitung mit der Schlagzeile Mörder nach Jahren gefasst existierte. Frustriert hämmerte er mit seinen Fäusten gegen den Stahl. „LASST MICH HIER RAUS! ICH WERDE IHM EIGENHÄNDIG DEN HALS UMDREHEN! DANN HABT IHR WENIGSTENS EINEN FESTEN GRUND DAFÜR, MICH HIER FESTZUHALTEN!“ Nach einer guten Stunde des Randalierens ließ Karyu sich auf den Boden sinken und lehnte sich mit den Rücken an die Tür. Eine überdimensionale Wut hatte sich über die letzten Tage in ihm angestaut und drohte nun unkontrolliert auszubrechen. Nur ein Vollidiot würde annehmen, dass es keinen Zusammenhang zwischen Karyus Festnahme und dem Ausbruch Shimasas gab. Also wurde es Zeit dazu, die japanische Polizei zur Liga der außergewöhnlichen Volldeppen zu küren. Karyu wusste nicht, was dieser elende Hund dort draußen in der Welt vorhatte, aber er würde sein letztes Hemd darauf verwetten, dass es nur Ärger bedeuten konnte. Er wollte Rache. Er wollte einfach nur noch Rache. Rache für seinen Bruder, Rache für seine Kameraden, Rache dafür, dass er in diesem verdammten Gefängnis saß. Und – diese Tatsache brach so plötzlich über ihn ein wie ein Eimer eiskalten Wassers – er wollte Rache, wenn Tsukasa auch nur ein einziges Haar gekrümmt würde. Natürlich fuhr Tsukasa nicht nach Hause, um sich dort zu verbarrikadieren. Sein Weg führte ihn zum Krankenhaus. Wenn er ehrlich war, dann hatte er sogar kurz in Erwägung gezogen, dem Rat des Polizisten zu folgen. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Shimasa Leute wie ihn verletzen, geschweige denn töten würde. Das würde nur eine allzu offensichtliche Spur legen. Vermutlich wollte der Typ nur untertauchen, um irgendwann wieder – was eigentlich? Was hatte es ihm eigentlich gebracht, den Einsatz zu verpatzen? Tsukasa hatte bis zu diesem Moment noch nie darüber nachgedacht. Und es ärgerte ihn, dass er jetzt damit begann, wo es doch so viel wichtigeres für ihn zu tun gab. Kaimahs Heilung war um keinen Deut vorangeschritten, er musste es irgendwie schaffen, Beweise gegen Katashi zu sammeln um das Krankenhaus wieder zu einem vollkommen sicheren Ort zu machen, er musste Karyu aus dem Gefängnis holen, er- Karyu. Tsukasa trat auf die Bremse und setzte seinen Wagen mit einer rasanten Bewegung in eine Parklücke. Er stand nahezu perfekt, doch das wäre nicht einmal nötig gewesen. Seit die Unterstützung durch Polizeiposten wieder eingestellt worden war, gähnte einem auf dem riesigen Parkplatz Leere entgegen. Mit klopfenden Herzen stieg Tsukasa aus, schloss ab und ging mit großen Schritten auf den Eingang des Krankenhauses zu. Es war Karyus Einsatz. Karyu hat überlebt. Karyus Festnahme war durch Shimasas Aussage bedingt. Eine Schwester reichte ihm im Vorbeigehen eine Krankenakte, und ohne sie zu beachten öffnete er sie. Sie nuschelte etwas vor sich hin, was Tsukasa nicht verstand, deutete zögerlich der Treppe entgegen. Ihre Augen waren angsterfüllt, doch Tsukasa blickte sie nicht an, als er weiter durch das wie leergefegte Krankenhaus ging. Es war Kaimahs Akte und allem Anschein nach hatte sich bei ihr ein neues Problem entwickelt. Doch Tsukasa konnte sich nicht richtig darauf konzentrieren. Die Anschläge auf Karyu waren laut Yagasumo allesamt von Katashi ausgeführt worden. Steckte er vielleicht mit Shimasa unter einer Decke? Unwahrscheinlich, Tsukasa hatte erfahren, dass sie sich den Untersuchungen Shimasas nach nicht einmal kannten. Tsukasa zog die schwere Tür in Kaimahs Zimmer auf. Er atmete einmal tief durch, nahm sich vor, sich nach dieser Untersuchung sofort mit Karyus Vorgesetzten in Verbindung zu setzen und trat an das Bett des Mädchens. Er zwang sich dazu, sie ermutigend anzulächeln, doch dieses Lächeln verflog wieder, als er ihr Gesicht sah. Schweiß stand auf ihrer Stirn, ihre Augen stierten an ihm vorbei und schienen Tsukasa gar nicht wahrzunehmen. Ihre Finger krallten sich vollkommen zitternd in die Decke, die sie sich bis ans Kinn hinaufgezogen hatte. Noch ehe Tsukasa fragen konnte was sie hatte, hörte er ein Klicken und spürte kalten Stahl an seinem Hinterkopf. Fushimasu blickte angestrengt nachdenkend die Reihen entlang. Er und Yagasumo saßen weit außen, direkt in einer Ecke des Raumes. Ein ständiges Klagen hing in der Luft, und die acht bis an die Zähne bewaffneten Männer versuchten die Geräusche mit Tritten zu unterbinden. Sie saßen schon so lange hier, dass die Fesseln begannen, Fushimasu in die Handgelenke zu schneiden. Es war alles schneller gegangen, als irgendjemand von ihnen hätte reagieren können. Am frühen morgen hatten diese Männer das Krankenhaus beinahe lautlos gestürmt und die Ärtze und viele der Kranken, die sich bewegen konnten als Geiseln in den Konferenzraum geführt. Niemand hatte etwas bemerkt und alle war so unauffällig geschehen, als hätten sie einen genauen Plan von diesem Gebäude gehabt. Niemand hatte die Zeit gehabt, die Polizei zu verständigen. Bei einer genauen Betrachtung hatte Fushimasu schnell zwei Dinge festgestellt. Erstens, Doktor Oota war nicht unter den Geiseln, was ihn zuerst zu der Hoffnung veranlasste, dass sie alle noch heil aus der Angelegenheit herauskommen würden. Zweitens, auch Doktor Katashi war nirgendwo ausfindig zu machen, und das beunruhigte ihn wieder. Was seine Schuld bezüglich der Anschläge auf Yoshitaka Matsumura betraf, hatte Doktor Oota ihn bereits unterrichtet. Das konnte nur in Schlimmes ausarten. Als er dann vor vielleicht einer Viertelstunde das Getuschel zweier Geiselnehmer belauschte, hatte er die Hoffnung ganz verloren. Die aufgeschnappten Worte auf Oota warten und noch drei Schuss übrig sprachen nach Fushimasu' Ansicht für sich. Doch gerade ebenhatte er einen genialen Einfall gehabt. Jetzt galt es nur noch, ihn irgendwie umzusetzen. Der Zufall wollte es so, dass er direkt neben dem Lüftungsschacht saß. Und schlecht erreichbar, war er auch nicht, er müsste lediglich auf diesen Tisch neben sich klettern. Das war der einzige Weg in die Freiheit, das wusste jedes kleine Kind, dass gerne spannende Filme sah. Und hier war es nicht einmal so, dass der Schacht zugeschraubt war. Die Abdeckung ließ sich ganz einfach auf einer Schiene zur Seite schieben. Die einzigen Probleme bestanden also in seinen gefesselten Händen und den acht Männern, die mit Adleraugen über sie wachten. „Yagasumo!“, zischte er dem Arzt neben sich zu. „Ich glaube, mit Ihrer Hilfe schaffen wir es hier heraus!“ „Ist Ihnen denn gar nicht aufgefallen, wie still es ist?“ Tsukasas Augen waren in die Leere abgedriftet. Sie ruhten auf der ihm gegenüberliegenden Wand, doch sie sahen den Mann, der ihm eine Waffe an den Kopf hielt. „Ihr Kopf ist wieder unnötig überfüllt. Sie müssen langsam lernen, ihre Umgebung wahrzunehmen.“ Der Druck an seinem Kopf verstärkte sich und Tsukasa fuhr erschrocken zusammen. Gleich, dachte er. Gleich sterbe ich also. Dann dachte er an seinen ersten Tag im Krankenhaus, an seine Wahl zum Oberarzt, an Fushimasu, an seine Mutter und seinen Vater und seinen Bruder, an Ankouru, an die nervige Horiko, die er hätte heiraten sollen, er dachte an das erste Mal, als er Karyu begegnet war, und an das letzte Mal, als er ihn lächeln sah. Er dachte noch viele andere Dinge, und sein Leben drohte nun wirklich an ihm vorbeizufliegen, als sich ein Schalter in seinem Kopf umlegte. Tsukasa begann, sich vollkommen von alleine zu bewegen, und fand das so lächerlich, dass er am liebsten laut gelacht hätte, wenn er nicht gerade ums Überleben kämpfte. Genau in dem Moment, in dem Tsukasa sich duckte, dröhnte ein Knall in seinen Ohren. Kaimah schrie vor Schreck auf, zog sich die Decke über den Kopf und zitterte weiter. Die Kugel steckte in der Wand, Tsukasa lag auf allen Vieren und konnte seine Gliedmaßen durch das überschüssige Adrenalin nicht ruhig halten. Wie selbstverständlich erhob er sich wieder, drehte sich um und schlug Katashi die Akte mit solch einer Wucht ins Gesicht, dass die Haut unter seinem Auge aufplatzte. Blut sprenkelte auf Tsukasas Dekolleté, und Katashis schmerzerfülltes Stöhnen ließ sein Herz das Leben durch ihn pumpen wie noch nie zuvor. Er würde nicht sterben. Er würde diesen Sack zu Brei prügeln. Tsukasa holte weit aus und schlug mit der Faust direkt nach Katashis Hals. Er traf, doch im selben Augenblick spürte er einen betäubenden Schmerz, als ihm die Pistole an den Kopf geschlagen wurde. Für einen Moment wurde es schwarz vor Tsukasas Augen und er sah gerade noch, wie Katashi nach Luft rang. Halb blind vor Pein versuchte er, dem anderen Arzt die Waffe zu entwenden, doch dieser klammerte sich so sehr an sie, dass es unmöglich war. Blut sickerte Tsukasa in die Augen, was diese Aufgabe nicht leichter machte. Es musste einen anderen Ausweg geben. Er warf durch den roten Schleier einen flüchtigen Blick auf Kaimah, dann dachte er fieberhaft nach und sprang schließlich in Richtung Tür, Katashi auf seinen Fersen. Yagasumo schien sich nicht sicher zu sein, ob er auf Fushimasu reagieren und damit eventuell einen Tritt der Geiselnehmer kassieren sollte. Dann schien er sich zu überwinden und beugte sich seinem Kollegen entgegen. „Wie meinen Sie das?“, flüsterte er zurück. Fushimasu nickte so unauffällig wie möglich dem Lüftungsschacht zu. Yagasumo blickte die Wand hinauf und für einen Moment schien es, als hielte er das für einen schlechten Scherz. „Doktor Fushimasu, ich denke, das ist nicht der richtige Zeitpunkt um albern zu werden!“ „Das ist nicht albern.“ Fushimasu Augen wanderten zu den acht Gestalten, von denen nun eine mit einer Krankenschwester den Raum verließ, den Lauf einer Waffe in ihrem Rücken. Je weniger sie beobachteten, desto besser. „Hören sie, nach allem was Doktor Oota mir über Katashi erzählt hat – und das stammt ja im Grunde alles von Ihnen – bin ich mir ziemlich sicher, dass er nicht zufällig keiner der Geiseln ist. Meiner Meinung nach hat er Wind davon bekommen, dass sie geredet haben. Und jetzt soll es Doktor Oota an den Kragen gehen. Immerhin ist er derjenige, der die besten Kontakte zur Polizei von uns allen hat, und demnach für ihn am gefährlichsten.“ Bei den versteckten Hinweis auf den Polizisten, mit dem sein Kollege anwandelte, musste Yagasumo an den Tag denken, an dem Katashi ihn dazu zwang, ihn nicht zu behandeln. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn. „Wenn ich es hier heraus schaffe“, redete Fushimasu weiter, „dann kann ich Hilfe holen. Yoshitaka Matsumura ist der Leiter des Sondereinsatzkommandos. Er wird die Geiselnehmer mit seinen Leuten überrennen.“ „Aber er ist doch inhaftiert!“ „Nach Allem, was ich erlebt habe, wird er alles kurz und klein hacken, was ihn daran hindern könnte, Doktor Oota zu helfen.“ Yagasumo schien einen Moment darüber nachzudenken, dann legte sich seine Stirn in Falten. „Wir sind Geiseln. Wahrscheinlich wird die Polizei sowieso bald verständigt, um ein Lösegeld auszuhandeln.“ „Und was, wenn wir bloß ein Druckmittel sind?“ „Wie meinen Sie das?“ Fushimasu ließ sich einen Augenblick Zeit, bevor er darauf antwortete. In den vergangenen Stunden hatte er lange und intensiv über die möglichen Ursachen und Folgen ihrer Situation nachgedacht. „Angenommen, wir sind nur noch am Leben, weil Doktor Oota noch am Leben ist-“ Er hielt inne, als einer der Geiselnehmer an ihnen vorüberging und sie misstrauisch musterte. Es vergingen ein paar Minuten, bis er wieder weit genug weg war, um weiter zu reden. „Für den Fall, dass es diesen Typen nicht gelingt, Doktor Oota zu erwischen, haben sie immer noch uns in der Hand. Sein Ergeben gegen unsere angebliche Freilassung. Wenn sie ihn dann haben – zack – werden wir als Zielscheiben freigegeben.“ „Das ist doch absurd! Genauso gut können sie auch einfach nur ein Lösegeld wollen.“ Fushimasu zuckte beinahe beiläufig mit den Schultern und löste damit ein mulmiges Gefühl bei Yagasumo aus. „Das ist ganz ihre Entscheidung, ob sie mir helfen. Wenn Doktor Oota tot ist, können Sie ja gehen, und es Herr Matsumura mitteilen, das heißt natürlich, wenn Sie dann noch leben. Sie sind ja bekanntlich sehr gute Freunde. Ob wir wirklich alle sterben? Wer kann das schon sagen? Das Einzige was ich weiß ist, dass ich Hilfe holen werde.“ Yagasumo musterte seinen Kollegen vollkommen erschüttert. Man sah ihm an, dass in seinen Kopf sämtliche Gedanken durcheinander flogen, sein Blick war ängstlich, dann reuevoll, dann wieder ängstlich. Und schließlich schluckte er seine Angst hinunter und nickte. „In Ordnung. Was muss ich tun?“ Tsukasa rannte. Sein Weg führte ihn leere Gänge entlang, an aufgestoßenen Türen vorbei. Sein Herz pochte in seinen Ohren, und sein Hals trocknete ob des Keuchens aus. Immer wieder warf er flüchtige Blicke hinter sich. Katashi war ihm auf den Fersen, doch ihn wunderte es, dass er nicht auf ihn schoss. Wahrscheinlich hatte seine Waffe nicht eine so große Reichweite. Er bremste scharf, und schlitterte auf die Treppe zu an der er gerade im Begriff gewesen war, vorbei zu rennen. Vier Stufen auf einmal nehmend sprang er hinunter. Wie von Sinnen rannte er ins Foyer und erneut musste er sich stoppen, als er die Männer sah, die die Eingänge bewachten. Sie bemerkten ihn und riefen sich gegenseitig Befehle zu, und Tsukasa hörte, wie Waffen scharf gemacht wurden. „NICHT! ER GEHÖRT MIR!“ Aus den Augenwinkeln sah Tsukasa Katashi die Treppe hinunter eilen, seine Pistole auf ihn gerichtet. Er stürzte an der Treppe vorbei in Richtung Büros. Was sollte er tun? Er konnte nicht hinaus, und sich ewig zu verstecken war ebenso unmöglich. Irgendwann würde Katashi ihn erwischen, es war bloß eine Frage der Zeit. Unwirsch wischte Tsukasa sich das Blut aus dem Gesicht und tastete in seinen Taschen nach seinem Handy. Nichts. Die anfänglich durch das Adrenalin verdrängte Panik kehrte schleichend zurück. Er kam an einem kleinen Blechwagen vorbei und riss ihn mit aller Kraft zu Boden, um den Weg hinter sich zu versperren. Er konnte Blech und Besteck auf dem Boden scheppern hören, drehte sich aber nicht um. Noch nie hatte er sich so sehr gewünscht, dass Karyu jetzt hier wäre! Sein Atem stockte genauso schlagartig wie seine Gedanken. Karyus Waffe. Endlich ein Ziel vor Augen, sprintete er den Gang entlang. Sein Büro war nicht mehr weit, und mit etwas Glück begegnete er bis dort niemandem oder wurde von Katashi niedergeschossen. Tsukasa bog um die Ecke stolperte vorwärts und zog sich wieder hinter die Wand zurück. Sein Puls war auf hundertachtzig. So geduldig wie möglich wartete er, bis der Mann mit dem Gewehr hinter der Ecke des kreuzenden Ganges verschwunden war. Hinter sich hörte Tsukasa Katashi näher kommen. Er war weg. Tsukasa hechtete wieder los und legte die verbleibenden zwanzig Meter in Rekordzeit zurück. Keuchend stemmte er die Tür zu seinem Büro auf, presste sie wieder zu und stürzte sich auf seinen Aktenschrank. Mit fliegenden Fingern riss er an den Schubladen und durchsuchte sie. Lose Blätter breiteten sich bald über den Boden aus, Ordner stürzten ihm auf den Kopf. Schließlich zog er etwas schwarzes zwischen zwei Umschlägen hervor. Die Pistole lag schwer und kalt in Tsukasas Händen, und als er sie richtig fasste überkam ihn mit einem Mal eine unnatürliche Ruhe. Auf dem Gang hörte er ein Schlurfen, kurz darauf flog die Tür auf. Tsukasa richtete seine Waffe direkt auf Katashis Gesicht. Fushimasu nickte kaum merklich, als er es geschafft hatte, sich mit Yagasumos Skalpell seiner Fesseln zu entledigen. Ob dieses Zeichens atmete sein Kollege einmal tief durch. Noch während Fushimasu ihm erläutert hatte, wie er sich die ganze Sache vorstellte, wurde Yagasumo bewusst, dass er das vielleicht nicht überleben würde. Er wurde vor die Wahl gestellt, und Fushimasu hatte dafür Verständnis gezeigt, wenn es ihm zu riskant war, besser noch, er hatte ihm vorgeschlagen, dass er an seiner Stelle das Ablenkungsmanöver starten könne, damit Yagasumo die Möglichkeit zur Flucht bekam. Natürlich hatte er abgelehnt, er konnte es sich einfach nicht leisten, nach den ganzen Schlamasseln, die auf seine Kosten gingen, einfach den Vorzug des gesicherten Überlebens zu genießen. Er war vielen etwas schuldig. Aber war es das wert? Seine Augen wanderten quer durch den Raum. Er sah weinende Kinder, zitternde Frauen, Männer, die bleich wie ein Laken in die Leere stierten und sich allem Anschein nach mit ihrem Ende abgefunden hatten. Wenn Fushimasu mit seiner Vermutung Recht behielt, dann würde niemand von ihnen das Krankenhaus lebend verlassen. Und sollte das etwa allein seine Schuld sein? Natürlich, dachte er. Natürlich war es das wert. Auch Yagasumo nickte nun. Und kurz nachdem er das getan hatte, stand er auf, schrie und stürmte auf die Geiselnehmer zu. Es geschah alles wie in Zeitlupe. Yagasumo lief so schnell er kann, und doch bewegte er sich kaum von der Stelle. Die Geiseln starrten ihn an, mit aufgerissenen Augen, ungläubig, ängstlich, mit der Sicherheit seines Todes im Blick. Er rannte weiter, stieß den ersten Mann zur Seite so kräftig er es konnte. Die anderen hechteten ihm entgegen, die Hände nach ihm ausgestreckt, jemand solle ihn doch halten und zum Schweigen bringen, verdammt noch mal! Die Augen, in die der Arzt blickte, waren erschrocken, verwirrt, die Herzen klopften schneller, sie durften doch nicht die Kontrolle über diese Menschen verlieren. Alle sieben Augenpaare richteten sich auf ihn, gut so, starrt mich an, dachte er, für euch ist es jetzt sowieso zu spät. Man packte ihn, zerrte an ihm, verdrehte die Arme, riss ihn herum, sodass er genau auf die Stelle blickte, wo er zuvor mit Fushimasu gesessen hatte. Sie war leer, das Blech des Luftschachtes zitterte noch ein wenig in den Schienen. Fushimasu bekam gerade genug Luft, um nicht zu ersticken. Der Schacht war eng, verdreckt, seine Ellbogen drückten sich zu sehr auf den Brustkorb. Mit seinen Schuhsohlen schob er sich immer weiter, es ging etwas abwärts, um ein paar Ecke, nach oben, wieder waagerecht. Er wusste, dass er sich links halten musste, doch schon nach ein paar Minuten zweifelte er daran, sich nicht zu verirren. Ein Ventilator blies ihm ins Gesicht und nahm ihm für einige Sekunden die wenige, notwendige Luft, ein paar Meter weiter atmete er wieder auf. Wenn er hier herauskam, würde er Yoshitaka Matsumura bitten, das schwerste Geschütz aufzufahren, dass er bereit hatte, das schwor er sich. Auch wenn er zunächst dafür sorgen musste, dass er aus seiner Zelle entkam, koste es, was es wolle. Ob er sich damit strafbar machte, ob er dann vielleicht später neben diesem Polizisten hinter Gittern saß, darüber dachte Fushimasu jetzt nicht nach, und für den Augenblick fand er die Folgen dieses Unternehmens auch vollkommen unwichtig. Er konnte dumpfe Schreie hören, erst überraschte, das Entsichern von schweren Waffen, dann einen wütenden, und er war sich ziemlich sicher, dass die eine Stimme Katashi gehörte. Nein! Er gehört mir! Er kroch schneller vorwärts. Es stimmt also, ging es durch seinen Kopf, es stimmt, er versucht, Doktor Oota zu töten. Es roch nach frischer Luft, er war also tatsächlich auf dem richtigen Weg. Nicht viel später kam er dort raus, wo er vermutet hatte. Durch die Lamellen des Schutzbleches konnte er auf den großen Parkplatz hinter dem Krankenhaus blicken. Hier konnte er es jedoch nicht einfach beiseite schieben, daran hatte er zuvor gar nicht gedacht. Ächzend versuchte er, sich im Schacht zu drehen, was ihm für mehrere Sekunden die Luft nahm. Nach viel zu langer Zeit hatte er es geschafft, mit den Beinen voraus zum Ausgang zu liegen. Er trat, er trat immer wieder gegen das Blech, es verbog sich bereits unter seinen Füßen, aber seines Erachtens nach dauerte es zu lange, bis es endlich scheppernd vier Meter in die Tiefe fiel. Er atmete noch einmal so tief es ging ein, dann schob er sich vorwärts und stürzte hinterher. Ein Blick in den Himmel verriet ihm ein nahendes Unwetter, bevor er zu seinem Auto sprintete. Tsukasa schloss seine Augen und drückte ab. Nichts geschah, und als ihm klar wurde warum, nestelte er panisch an der Pistole herum. „SCHEISSE!“, brüllte er hysterisch, versuchte mit zitternden Händen dieses verdammte Ding zu entsichern. Doch dann wurde ihm klar, dass Katashi schon wieder verschwunden war. Er hatte schneller realisiert, dass Tsukasa nun einen ebenbürtiger Gegner verkörperte, als dieser seinen dummen Fehler. Es klickte, und am ganzen Leib bebend vor Zorn und Angst und dem Willen, diese Sache zu überleben, folgte er Katashi auf den Gang, die Waffe im Anschlag. Er sah gerade noch, wie ein Schatten verschwand und eilte hinterher. „WIESO TUN SIE DAS?!“, schrie er und musste sich wieder das Blut aus den Augen wischen. Karyu, ich danke dir, dachte er, ohne dich würde ich jetzt wohl tot sein. Mit strammen Schritten ging er den Gang entlang, nicht mehr rennend und hustend vor Anstrengung. Jetzt konnte er Katashi genauso töten wie er ihn, es gab keinen Grund zu fliehen. Neues Adrenalin pumpte durch seine Blutbahnen, die Furcht verschwand immer mehr, wurde schwächer, und machte Hass und Wut Platz. Dieser Mann, der ihm den kalten Lauf an den Kopf gehalten hatte, wollte auch Karyu umbringen, er wollte ihn erst leiden lassen und dann hinterrücks ermorden. Tsukasa war sich so sicher wie nie zuvor. Karyus zertrümmerter Körper, Karyus Inhaftierung, Karyu war unschuldig, er hatte niemanden getötet, NEIN. „ANTWORTEN SIE, SIE ARSCH!“ Seine Stimme überschlug sich vor Zorn, er bog um die Ecke, sah Katashi hinter der nächsten Wand verschwinden. Mit einem Satz stürzte Tsukasa ihm nach und schoss, doch er durchlöcherte nur den Boden. Der Lärm hallte in seinen Ohren nach als er weiterging und schließlich an der Rezeption ankam. Dort stand er direkt vor ihm hinter dem Tresen, die Pistole zielte zwischen Tsukasas Augen, und als er das realisierte sprang er sofort zur Seite. Noch ein Knall erklang, die Kugel ging ins Leere und wutentbrannt sprang Tsukasa wieder aus seiner Deckung und drückte ebenfalls ab. Auch er traf nicht, Papier flog durcheinander, doch von Katashi war jede Spur verloren. „Warum ich das tue?“, erklang dann seine Stimme, und Tsukasa fixierte die Stelle, von der sie kam. „Er hat ihn getötet. Er hat meinen Bruder getötet!“ „Yoshitaka Matsumura! HERR MATSUMURA!“ Karyu sprang erschrocken und zugleich hoffend von seiner Liege auf. Die Stimme kannte er, das war Tsukasas Assistenzarzt. Das MUSSTE er sein. Mit zwei großen Schritten eilte er zu der Zellentür und hämmerte dagegen. „HIER!“, brüllte er zurück. „NEIN, NICHT DA, HIER, SIE IDIOT!“ Keuchend und schlitternd kam Fushimasu vor seiner Zelle zum Stehen. Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein Gesicht war zerkratzt und verdreckt. Noch ehe Karyu fragen konnte, wieso genau er hier war, brabbelte er los. „Im Krankenhaus sind Männer mit Waffen und alle sind gefangen genommen worden und alles ist abgesichert und Katashi war nicht dabei und er ist doch irgendwo da und Doktor Oota ist in Gefahr und Yagasumo dann Rufe und ganz viele Waffen und gefährlich und viele Männer und Doktor Oota und Katashi und Luftschacht Gequetsche ich hole Hilfe!“ „Jetzt holen Sie erstmal Luft!“, fuhr Karyu ihn mit bebender Stimme an. Den Zusammenhang zwischen in Gefahr und Doktor Oota hatte er sehr wohl verstanden. „Fertig? Gut. Und jetzt HOLEN Sie mich hier irgendwie heraus! Und wenn sie dem Wachmann dafür einen Stuhl überbraten müssen, ganz egal, ich stehe danach für ihr Verbrechen ein, aber TUN Sie irgendetwas! Und DANACH erzählen Sie mir in einem vernünftigen Japanisch, was zur Hölle da passiert ist!“ Fushimasu sog noch einmal tief den Atem ein und schien zu Karyus Verblüffung wieder ruhig zu werden. Dann nestelte er an seinem Arztkittel herum und zog einen Schlüssel hervor, den er Karyu zeigte. Das verdutzte ihn noch mehr. „Sie haben... meinen Zellenschlüssel?“ Eifriges Nicken. „WORAUF WARTEN SIE DANN NOCH, SCHLIESSEN SIE ENDLICH AUF ODER ICH REISSE IHNEN DEN KOPF AB!“ Mit fliegenden Fingern steckte Fushimasu den Schlüssel ins Schloss, es klickte laut und Karyu stemmte sich so kräftig gegen die Tür, dass die krachend gegen die Außenwand flog. „SO!“ Er griff den Arzt am Arm und zog ihn hinter sich den Gang entlang. „Und jetzt sagen Sie mir was da passiert ist und warum Sie diesen Schlüssel hatten!“ Gerade als Fushimasu zum Reden Ansetzen wollte, trat ihnen ein Mann in den Weg, er war groß, schlank, glatzköpfig hatte einen beigen Anzug an. „Den hat er von mir, Yoshitaka. Das alles kann doch nur eine Verschwörung gegen dich sein.“ Nachdem Fushimasu die Situation so detailliert wie möglich erläutert und auch seine sehr unguten Vermutungen aufgeführt hatte, eilten sie zu dritt durch das Wirrwarr aus durcheinander laufenden Polizisten, die, wie Karyu erfuhr, sich für den Einsatz am Krankenhaus bereit machten. Daraufhin konnte er nur den Kopf schütteln, Wut brodelte in ihm. „Wie kann man so naiv sein?! Die Sache ist nicht mit vier, fünf Streifenwagen gegessen!“ Sein Vorgesetzter griff Karyu und Fushimasu am Arm und führte sie einen leeren Gang entlang, direkt zum Ausstattungsraum des Sondereinsatzkommandos. „Wie ich sehe sprechen Sie noch immer meine Sprache“, sagte Karyu bebend als er den Raum betrat und routiniert damit begann sich auszurüsten. Er hatte Angst, er war wütend, er drohte in ein tiefes Loch endlosen Selbsthasses zu stürzen wenn er jetzt darüber nachdachte, was Tsukasa geschehen würde, wenn er nicht bald handelte. Also versuchte er gar nichts zu denken. Alles was er tat geschah praktisch wie durch eine Maschine. „Ich will zwanzig Mann – die Besten – vier Handfeuerwaffen pro Person, drei Vans, Headsets, Seile, - wenn es sein muss – Granaten, UND ZWAR JETZT!“ Sein Vorgesetzter nickte ohne den Anflug eines Widerwortes und verschwand. Es blieb keine Zeit um anzumerken, wer hier wessen Chef war. Karyu befreite sich von der Sträflingsuniform und zog ein Diensthemd über, schnallte sich die Kugelweste um. Fushimasu saß abseits auf einem der kalten Stahlstühle und beobachtete ihn mit bebendem Körper. Erst jetzt schien ihn all das einzuholen, was am heutigen Tag geschehen war. „Katashi und Doktor Oota befinden sich irgendwo im Gebäude, vergessen Sie das nicht“, erinnerte er. „Was, wenn er diesen Einsatz bemerkt und kurzen Prozess macht?“ „Wir werden vom Dach aus agieren“, antwortete Karyu, als schien ihn diese Anmerkung nicht zu wundern. Und dieses mal, dachte er grimmig, würde auch alles funktionieren. „Und wir werden vor den Streifenwagen da sein, das kann ich Ihnen versprechen, bei Allem, was mir heilig ist. Diese Anfänger! Haben noch nie dem Tod in die Augen gesehen und bekommen vielleicht in einer halben Stunde eine Kugel in die Stirn geschossen. Geben Sie mir den Gürtel da.“ Fushimasu griff nach dem Objekt, auf das Karyu deutete und reichte es ihm herüber. Spielend befestigte er Tränengasgranaten daran und schnallte ihn mit zwei weiteren Griffen um. Die Befestigung von Waffen folgte, dann die schwere Jacke. Es geschah alles so schnell, dass Fushimasu teilweise gar nicht sah, was Karyu tat. Nach vielleicht zwei Minuten kam Karyus Vorgesetzter wieder herein, und ihn schien es nicht zu wundern, dass Karyu bereits bis unter die Zähne bewaffnet vor ihm stand. „Alle sind kontaktiert. In spätestens fünf Minuten werden die Wagen hier sein.“ „Gut.“ Karyu griff nach einem Gewehr. Hosted by Animexx e.V. 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