Tencendora von Leilan (Buch 1 - Iry) ================================================================================ Kapitel 1: Ichtar - Der Ort der Ankunft --------------------------------------- Nun größtenteils überarbeitet geht Tencendora wirklich an den Start. Das erste Kapitel ist nun vollständig und ich hoffe, ihr habt viel Vergnügen damit: Ichtar – Der Ort der Ankunft Langsam schritt ich den langen, dunklen Gang entlang. Meine leisen Schritte hallten laut an den schwarzen Backsteinwänden wider und ließen den ohnehin düsteren Gang noch unheimlicher wirken. Doch ich hatte mich schon daran gewöhnt, lebte ich doch nun schon seit mehr als einem Jahr an diesem Ort, an dem man niemals die Sonne sah und alle Räume und Hallen nur mit wenig Licht erleutet waren. Mein Ziel war eine dunkle Kammer, der tiefste Ort dieses ganzen Gebäudes, das einem schwarzen Turm glich. Der Name dieser Kammer war Ichtar, der Ort der Ankunft. Dort sollte ich eine Aufgabe erledigen, die mir erst vor wenigen Minuten verkündet worden war. Ich seufzte leise, nicht so laut, dass man mich gehört hätte, denn dies durfte man sich hier nicht erlauben. Hier verhielt man sich am Besten unauffällig, willig und gehorsam. Man beschwerte sich niemals und stellte niemals die Forderungen und Entscheidungen, mit denen man konfrontiert wurde, infrage. Eine weitere, enge Wendeltreppe ging es hinunter, das spärliche Licht verlosch immer mehr und schließlich konnte ich nur noch aufgrund der rot brennenden Fackel in meiner Hand etwas erkennen. Nun war ich froh, dass ich sie mitgenommen hatte. Nur schwach hatte ich mich an die Dunkelheit hier unten erinnert, war ich doch seit meiner Ankunft nicht mehr hier gewesen. Auch wurde es nun kälter. Normalerweise war es hier warm, eher heiß, doch hier, weit enfernt vom Zentrum und der Oberfläche, konnte die Wärme des Feuers die Luft nicht mehr erhitzen. Dieser Bereich war abgeschnitten vom übrigen Gebäude, versiegelt durch Bannkreise. Mir fröstelte, ich zog mein dünnes Gewand enger um mich und hielt die Fackel näher an mein Gesicht, vorsichtig darauf achtend, dass sie mir nicht meine silbernen Haare ansengte. Diese Treppe war schier endlos. Meine Beine schmerzten bereits und ich dachte gerade, dass ich niemals unten ankommen würde, als ich eine schwarze Öffnung im Boden erkannte. Hier war es, ich erinnerte mich genau daran. Ich betrachtete kurz skeptisch das Loch im Boden, dann trat ich einen Schritt nach vorne und ließ mich hindurch fallen. Mit wehenden Haaren und Kleidern rauschte ich rasend schnell durch die Luft. Panik und Furcht vor dem Aufprall machten sich in meinem Herzen breit, obwohl ich wusste, dass mir aufgrund der den Fall dämpfenden Bannkreise nichts geschehen konnte. Tatsächlich, kurz danach schlugen meine Füße auf hartem Steinboden auf, knickten unter dem Gewicht meiens Körpers weg und ich kam auf Knien und Handflächen auf, ohne mich schwerer zu verletzen. Kurz sog ich aufatmend und erleichtert die Luft ein, da trotz allem ein scharfer Schmerz durch meine Knöchel gefahren war. Doch da ich in letzter Zeit gelernt hatte, ja hatte lernen müssen, Schmerzen zu ertragen und deren Auswirkung zu unterdrücken, konnte ich bald aufstehen und bedauerte beinahe sofort, dass meine Fackel, aufgrund des starken Fallwindes erloschen, nun nicht mehr brannte. Ich hätte die Wärme und das Licht gut gebrauchen können. Hier unten war es stockfinster, noch dunkler als ich es in Erinnerung hatte. Denn damals, so kam es mir plötzlich in den Sinn, hatten hier zwei Fackeln Licht gespendet. Wieder seufzte ich leise. Dann musste ich den Weg wohl ohne Licht fortsetzen. Und ich musste mich beeilen, ich hatte auf dem Weg hierher bereits zu viel Zeit verloren. Mich so schnell wie möglich an der rechten Wand vorrantastend, ging ich den Gang, der sich mir eröffnete, entlang. Lange Zeit setzte ich meinen Weg in völliger Finsternis fort, nur von meinen eigenen Gedanken und meiner eigenen Furcht von den Tiefen dieses Ortes begleitet. Stille lastete auf diesen Mauern, die Stille der Toten und Verdammten, durchfuhr es meinen Kopf. Schnell versuchte ich, diesen Gedanken zu vertreiben und nicht daran zu denken, was links und rechts von dem Gang, durch den ich ging, lag. Denn dort befanden sich Zellen, Kerker, Gruben, in die Gefangene und Verräter geworfen wurden, die sich eines Vergehens oder auch nur eines falschen Blickes gegen die Obrigkeit schuldig gemacht hatten. Sie wurden dort gemartert, so grausam, dass ihre Schreie selbst bis hinauf in die Türme klangen. ~~~*********~~~ Etwa fünfhundert Atemzüge lang führte mich der Gang tief in die unterirdischen Katakomben des Turmes hinunter, bis ich auf etwas Festes vor mir stieß. Ich streckte vorsichtig die Hand nach vorne aus und tastete den Gegenstand ab. Es war eine Tür, DIE Tür, um genau zu sein. Dies war dieselbe schwere Eichentür, durch die ich gekommen war. Ich war also an meinem Ziel angelangt. Entschlossen pochte ich und sofort wurde mit schnellen und gezielten Bewegungen geöffnet. Knarzend und knarrend schwang das Portal zur Seite und ich starrte direkt in die spärlich erleuchtete Wolfsschnauze der Wache. Das lange, zottelige, braune Fell starrte vor Dreck, Staub und verwesenden Fleischresten. Die Kreatur war mehr als zwei Meter hoch, hühnenhaft gebaut und wirkte in ihrer leicht gebückten, launernden Haltung äußerst bedrohlich. Die witternd nach hinten gezogenen Lefzen der Schnauze verstärkten diese Wirkung nur noch. Der muskulöse, aufrechte Wolfskörper, der in einer metallenen Rüstung steckte, nahm beinahe den ganzen Raum der Türöffnung ein. Jeder normale Mensch wäre bei diesem Anblick zusammengeschreckt oder hätte gar schreiend das Weite gesucht, doch ich war an diese Wesen gewöhnt. Das Tiergesicht verenge sich zu einer wütenden Fratze und ein lautes Knurren entwich seiner fellbedeckten Kehle. Seine menschlich aussehende, doch von Fell bedeckte Hand, die sich um eine hell leuchtende Fackel schloss, endete in langen, hellgrauen, geschärften Krallen, die gefählrlich blitzten. Ich schluckte meine Nervosität und meine Aufregung hinunter, und sprach dann mit fester Stimme: „Lasst mich passieren. Meister Belial gab mir den Befehl, mich bei Meister Smyrdo zu melden und dort meinen Auftrag entgegen zu nehmen!“ Der Wolfsmensch knurrte erneut, dann musterte er mich prüfend mit seinen verengten, bernsteinfarbenen Augen. Dann trat er einen Schritt zur Seite, sodass ich gerade genug Platz hatte, um an ihm vorbeigehen zu können. Dies tat ich auch, rasch, ohne ihn weiter zu beachten. Tiermenschen wie diese Wolfskreatur befanden sich am auf dem niedrigsten Platz der Hierarchie dieses Ortes, ebenso wie ich. Ich verspürte zwar Mitleid mit diesem Wesen, das in seinem ganzen Leben nichts anderes tun würde, als diese Tür zu bewachen, hatte es doch schon hier gestanden, als ich angekommen war, doch ich wusste, dass ich nichts für den Wolfsmenschen tun konnte. Außerdem waren diese Kreaturen von einer solch verabscheuungswürdigen Bosheit, dass ich mir nicht einmal sicher war, dass ich ihm helfen würde, selbst wenn ich es vermocht hätte. Nun, da ich das äußere Portal von Ichtar passiert hatte, erhellten einige Lichter den Gang, durch den ich nun ging. Ich konnte nicht anders und löste eine der Fackeln aus ihrer Halterung an der Wald, warum,w usste ich nicht, wahrscheinlich brauchte ich einfach nur etwas, an das ich mich klammern konnte. Die Tierwesen hier unten würden die Fackel nicht vermissen, sie konnten auch in vollkommener Dunkelheit hervorragend sehen. Rasch erreichte ich eine weitere Tür, diesmal eine aus dunkelbraunem, beinahe schwarzem Holz, massiv und schwer. Ich zog an dem eisernen Riegel und nachdem ich die Tür unter Aufbietung all meiner Kräfte aufgezogen ahtte, kam ich in einen großen Raum, in dessen Mitte sich ein Pentagramm befand, umgeben von auf Ständern befestigten Ölbecken. Sofort wurde ich mit einem prüfenden Blick bedacht, der von einer menschlich aussehenden Gestalt in einem langen Kapuzenmantel kam. Ich erkannte die kleinen, grünen, intelligent wirkenden Augen des Mannes. Sie waren das erste gewesen, das ich gesehen hatte, als man mich hierher gebracht hatte. „Seid gegrüßt, Meister Smyrdo!“, begrüßte ich ihn mit einer tiefen Verbeugung. „Mir wurde von Meister Belial befohlen, hierher zu kommen. Er berichtete, Ihr würdet den Neuankömmling in meine Obhut geben.“ Ein knappes Nicken war die Antwort. Die Gestalt Meister Smyrdos war gebückt, wie von Alter, obwohl er eigentlich wie alle anderen hier alterslos war. Tiefe Falten durchzogen sein gezeichnetes Gesicht, das immer einen bitteren, beinahe traurigen Ausdruck zu zeigen schien. Nachdem er den Grund meines Hierseins erfahren hatte, wandte sich Meister Smyrdo sofort von mir ab und richtete seinen Blick auf das Pentagramm, dessen Linien, die ich bisher für schwarz gehalten hatte, hellblau aufleuchteten und den ganzen, düsterne, tiefen Raum in ein unheimliches, doch ungewohnt helles Licht tauchten. Der Meister kniete sich auf den Boden und fuhr mit seinem Finger einige der Linien nach, woraufhin sich verschlungene Muster aus bläulichem Licht auf dem Boden auszubreiten begangen, die den Ritualkreis vervollständigten. Dabei bewegte er unaufhörlich lautlos seine Lippen. Mir klopfte das Herz bis zum Halse, auch wenn ich meine gefasste Haltung nicht bröckeln ließ. Ein Neuer sollte heute ankommen und mir war die Aufgabe zuteil geworden, ihn abzuholen und zu begleiten. Noch niemals hatte ich eine solch große Aufgabe erhalten, war sie doch bisher immer den Älteren und Erfahreneren aus meinem Stand vorbehalten gewesen. Doch gleichzeitig war ich traurig, bedauerte den Menschen, der sich jetzt wieder in den Fängen der Schatten befand und sein Leben ohne Sonne und Glück fristen musste. Doch weder ich noch die Anderen konnten etwas dagegen unternehmen, dass immer Weitere unser Schicksal teilen mussten. Das Licht, das von den sich vervielfältigenden, immer weiter ausbreitenden Linien ausging, wurde langsam unerträglich hell und als ich gerade die Augen schließen wollte, um mich vor dem Blenden zu schützen, hob Meister Smyrdo seinen schlichten, weißen Stab, an dessen Spitze sich in einem verschlungenen Holzmuster ein hellgrüner Stein befand. Mit einem Ruck stieß er die Unterseite des Stabes in eine Vertiefung des obersten Zackens des Pentagramms. Aus den Ölbecken rund um den Bannkreis schossen plötzlich bläulich zuckende Flammen, die das Licht, das ohnehin schon beinahe unerträglich hell leutete, noch weiter intensivierten. Ich hielt der Blendung nicht mehr stand und verdeckte meine Augen, konnte so nicht weiter beobachten, was geschah. Doch ebenso schnell wie alles angefangen hatte, war es beendet. Das magische Licht verlosch, die Flammen in den Ölbecken gingen zurück, bis sie schließlich leise zischend ausgingen und wieder war der Raum nur durch die gleichmäßig leuchtenden Fackeln an den Wänden erhellt, erschien mir nun beinahe so dunkel, dass ich kaum etwas erkennen konnte. In diesem Moment wusste ich, dass die Lichter sich erst wieder entflammen würden, wenn erneut ein Neuankömmling hierher gerufen wurde. Und nun, nachdem sich meine Augen wieder an normales Licht gewöhnt hatten, konnte ich die Gestalt erkennen, die zusammengekauert in der Mitte des Ritualkreises saß, die Arme um den Körper geschlungen, wie ein Versuch, sich zu schützen, der jedoch, wie ich wusste, nichts als vergeblich sein konnte. ~~~*********~~~ Gekleidet war er in einen braunen Pullover und blaue Jeans, Kleidung, die aihn an diesem Ort fremd wirken ließen. Wie lange es her war, dass ich auch solche normale Kleidung geragen hatte? Als er sich aufrichtete und sich unsicher und verwirrt umsah, erkannte ich, dass seine braunen Haare jugendlich kurz geschnitten waren und seine dunkelblauen Augen trotz des Entsetzens klar und frisch blieben. Seine Arme überzog ein leichtes Zittern, als er leicht taumelnd aufstand und Meister Smyrdo unsicher anblickte, genau so wie ich es damals getan hatte. „Wo bin ich hier? Wie bin ich hierher gekommen und wer bist du?“ Genau dieselben Fragen wie ich sie damals gestellt hatte, doch ich wusste, dass Meister Smyrdo nicht darauf antworten würde. Er war stumm, seit man ihm vor vielen Jahren aufgrund eines Verbrechens, das er angeblich gar nicht begangen hatte, die Zunge herausgeschnitten hatte. Nun trat ich vor, in diese bekannte, beinahe heimelig anmutende Szene, und blickte den Jungen etwas traurig, doch auch so aufmunternd wie möglich an. Meine Kehle war wie zugeschnürt, doch brachte ich dennoch einige Worte heraus. Es waren, wenn ich mich recht entsann, dieselben, die ich damals bei meiner Ankunft vernommen hatte: „Der Ursprung der Flammen, das Zentrum der Finsternis, die Festung von Tencendora heißt dich willkommen, Kind der Erde. Mein Name ist Iry und ich werde von heute an dein Mentor sein. Verlasse nun den Bannkreis!“ Bei meinen Worten richteten sich die Augen des Jungen sofort auf mich und noch wie benebelt von dem Gefühl des Teleports taumelte er einige Schritte auf mich zu. Wie ich erkennen konnte, war er etwa einen halben Kopf kleiner als ich und etwa zwei Jahre jünger. Ich schätzte ihn auf fünfzehn Menschenjahre. Es war ein Jammer, zuzusehen, wie jung die Neuen waren. Ich seufzte unhörbar und ohne, dass sich an meiner Miene etwas veränderte. Mit einem letzten Blick zu Meister Smyrdo verließ der Junge den verglühenden Ritualkreis und tat seinen ersten Schritt in die Schatten. Nun war er wirklich für immer hier gefangen. „Aber... wo bin ich hier?“ Ich lächelte traurig: „Das wirst du noch sehen. Jetzt komm und lass uns diesen kalten, unwirtlichen Ort verlassen.“ Doch eine Bewegung aus der Richtung Meister Smyrdos erinnerte mich an etwas, das ich vergessen hatte: „Aber zuerst nenne mir deinen Namen!“ „Mein Name?“; fragte er perplex und ich konnte in seinem Gesicht erkennen, dass er seine anfängliche Verwirrung langsam ablegte und ein wenig wütend und gereizt wurde. „So ist es, dein Name!“ Meister Smyrdo musste den Namen eines jeden Neuen kennen, um den Bann zu sprechen, der verhinderte, dass er diesen Ort wieder verlassen konnte und fortan außerdem durch einfachste Magie aufzuspüren war. Sein Name kettete ihn unwiderruflich an diesen Ort. Der Junge legte den Kopf schief, kniff misstrauisch die Augen zusammen und sagte dann: „Julian Schilde.“ Ich nickte Meister Smyrdo kurz zu, der das Nicken knapp und gefühllos erwiderte, sich seine Kapuze über die Augen zog und seinen Stab wieder sinken ließ. Er hustete kurz und wandte sich dann um, um durch eine an der Rückseite des Raumes angebrachte Tür zu verschwinden, vermutlich in seine Gemächer. Erneut sah ich den Jungen an, dann blickte ich ihm ernst in die dunkelblauen Augen: „Von nun an und für alle Zeiten sei dein Name Jayme!“ Dies war der erste Name, der mir in den Sinn gekommen war, als ich ihn gesehen hatte. Es war brauch, dass man dem Neuankömmling den Namen gab, der einem zuerst eingefallen war. „Und nun folge mir, Jayme!“ Ich wusste, dass er seinen wahren Namen binnen weniger Tage vergessen haben würde, so wie auch ich den meinen schon lange nicht mehr kannte. Doch seinem Mentor, also mir, würde er ewig im Gedächtnis bleiben. Doch ich durfte ihn nie wieder aussprechen. Jayme sah mich nun wütend an: „Ich weiß nicht, was du da für nen Scheiß redest, aber ich will endlich mal wissen, wo ich bin und was du und dieser komische Kerl von mir wollen! Ich war grad auf dem Weg zur Schule. Was mach ich also hier?“ Er hatte ein stark ausgeprägtes Temperament. Ich war damals zu verwirrt gewesen, um mich mit solcher Inbrunst zu widersetzen. Und leider war diese Art das erste, was er sich würde abgewöhnen müssen, denn mit Ungeduld und Jähzorn würde er sich hier nur Feinde schaffen. „Ich werde dir alles erklären, sobald wir diesen Ort verlassen haben. Du hast mein Wort darauf.“ Er hatte keine Wahl und so folgte er mir aus dem Raum hinaus auf den düsteren Gang. Plötzlich kam ich mir verändert vor, erfahrener und doch weitaus schwächer. Mein Wort?! Pah! Was bedeutete hier unten schon das Wort eines Menschen, insbesondere das Wort eines Menschen wie mir? Während ich, die Hand fest um die Fackel geschlossen, den Gang durchschritt, hörte ich Jaymes Schritte die ganze Zeit hinter mir, seine Turnschuhe schlurften auf dem schmutzigen Steinboden und hörten sich fremd an. Plötzlich stockte er in seiner Bewegung und er keuchte laut auf. Dem Anschein nach hatte er den Wolfsmenschen vor uns entdeckt. Ich wandte mich zu ihm um und sprach leise: „Hab keine Angst. Wenn du ihn fürchtest, wird er dir gegenüber aggressiv. Die Tierwesen dürfen uns nichts zuleide tun, da wir in der Hierarchie auf derselben Stufe stehen. Und nun komm.“ Nun drehte ich mich wieder dem Wolfsmenschen zu und befahl ihm, das Tor zu öffnen und den Weg freizumachen. Er knurrte, als er Jaymes Furcht witterte, doch gehorchte letztendlich. Erneut umfing uns die Dunkelheit, doch diesmal konnte sie mir nicht bis ins Herz hineinkriechen, da mich die Fackel und Jaymes Anwesenheit davor bewahrten. „Was war denn das fürn Vieh?“, erkundigte sich mein Schützling, als die Tür sich wieder geschlossen hatte. „Dies war ein so genannter Wolfsmensch. Er gehört zum Stamm der Tierwesen“, antwortete ich kühl und sachlich und setzte mich wieder in Bewegung. „Aber verdammt nochmal“, begehrte Jayme wieder auf, „Wo bin ich hier? Ich muss zur Schule zurück, sonst komm ich zu spät!“ Ich blickte ihm bedauernd in die Augen: „Verzeih, aber du wirst niemals zurückkehren önnen. Du wirst den Rest deines Lebens hier fristen. Hier, an einem Ort, an dem du niemals wieder die Sonne sehen wirst. Du wirst dich damit Abfinden müssen.“ Entsetzt schrie er auf und stürzte sich im selben Moment auf mich. Überrascht von der unglaublichen Kraft, die in dem Jungen steckte, ließ ich mich von ihm niederwerfen. Vielleicht war es auch einfach aufgrund der Tatsache, dass ich mich ohnehin gegen nichts zur Wehr setzte. Rasch schloss er seine Finger um meinen Hals und brachte mich so zum Würgen. „Du Spinner! Lass mich endlich hier raus, du verdammter Bastard! Ich will nach Hause und du wirst sofort diesem komischen Typen befehlen, dass er mich wieder nach Hause beamen soll. Sofort!“ Obwohl ich kaum mehr Luft bekam, sprach ich mit möglichst ruhiger Stimme zu ihm. „Das liegt nicht in meiner Macht. Meister Smyrdo nimmt von einem Diener wie mir keine Befehle entgegen. Wenn es dein Wunsch ist, kannst du mich hier und jetzt töten. Es wird weder mich noch sonst jemanden an diesem Ort stören. Aber wenn du mich jetzt umbringst, dann wirst du alleine sein. Niemand wird an deiner Seite stehen und dir erklären, was du wissen musst. Als du vorhin deinen Namen nanntest, hast du den Pakt geschlossen. Du kannst niemals wieder zurück nach Hause gehen.“ Er lockerte den Griff seiner Hände, doch seine geweiteten Augen blickten mich nun entsetzt an: „Nie wieder? Ich seh meine Freunde oder meine Familie echt nie wieder?“ Ich schüttelte den Kopf, dankbar dafür, dass ich nun etwas mehr Luft bekam. Schon zu lange war ich daran gewöhnt, mich nicht mehr gegen Gewalt zu wehren. Nun löste er die Hände vollends von meinem Hals und ließ sich rücklings gegen die Wand sinken. „Aber...“ Auch ich setzte mich auf, sog tief aber lautlos die Luft ein und sprach: „Glaube mir, für mich war es am Anfang genauso schwer wie für dich... Aber du wirst dich daran gewöhnen. Und jetzt komm, folge mir... Wir haben bereits zu viel Zeit verloren.“ Ich erhob mich un reichte ihm die Hand. Er zögerte jedoch, sie zu ergreifen und blickte mich misstrauisch an. „Du bist doch dafür verantwortlich, dass ich hier bin, oder? Warum sollte ich dir folgen?“ Ich schüttelte leicht den Kopf: „Es tut mir wirklich Leid, Jayme... Aber ich bin nicht Schuld daran, dass du hier nun verweilen musst, auch ich bin unfreiwillig an diesem dunklen Ort. Wenn es nach meinem Willen ginge, müsste niemals wieder auch nur eine einzige Seele unser dunkles Schicksal hier teilen. Doch uns fragt niemand. Also bleibt uns nichts anderes zu tun, als unsere Bestimmung zu akzeptieren und zu versuchen, das Beste daraus zu machen.“ Mit diesen Worten wandte ich mich um und klaubte die Fackel auf, die zu Boden gefallen war, als er mich umgeworfen hatte. Dann erst setzte ich meinen Weg durch den Gang fort und hörte zu meiner Erleichterung, dass er aufstand und mir folgte. Die lange Zeit, die wir brauchten, um den Weg zurückzulegen, verbrachten wir schweigend. Schließlich standen wir unter dem schwarzen Loch, durch das ich herunter gesprungen war. Wenn man nicht dazu befugt war, gelangte man dort nicht mehr hinauf, sow ie Meister Smyrdo und der Wolfswächter, die man hier hinuntergeworfen hatte, ohne ihnen jemals die Rückkehr zu gestatten. Als Jayme neben mir stand, umhüllte uns ein Luftstrom, begleitet von einem schwarzen Licht, das für kurze Zeit das rötliche Licht des Feuers erstickte. Ich reichte ihm rasch die Hand, die er nur zögernd ergriff. Sofort sog der Luftstrom uns beide nach oben. Er gab ein lautes, überraschtes Keuchen von sich und schon setzten wir auf dem Boden der Wendeltreppe auf. „Was warn das für ne kranke Scheiße?!“ Leise antwortete ich: „Das war der Bannzauber, der über dem Ort liegt, den wir soeben verlassen haben. Er stellt sicher, dass nur diejenigen diese Treppe erreichen, die dazu befugt sind. Aber mache dir keine Sorgen, du wirst nicht so bald wieder dorthin zurückkehren müssen.“ Ich wusste, dass all dies nur äußerst unbefriedigende Antworten für eine neugierige Selle wie ihn waren, doch immerhin war es mehr als das, was mir damals erzählt worden war. Mir war damals nur mit wütender Stimme befohlen worden, zu schweigen. Nun begann ich, die ewig lange Wendeltreppe hinaufzusteigen, nur dass ich mich diesmal im Unterschied zu meinem letzten Hiersein an der Stelle des Mentors und nicht an der des Neuankömmlings befand. Wie schnell doch alles gekommen war. Als ich gerade eben die Widerspenstigkeit und den Unwillen des Jungen gesehen und gespürt hatte, war wieder etwas in mir aufgeflammt, das ich längst vergessen geglaubt hatte: Der Hass auf diesen Ort, der Wunsch zu fliehen und die Angst, auf ewig hier bleiben zu müssen. Doch ebenso schnell wie die Gefühle aufgekommen waren, hatte ich sie wieder in die Tiefen meiner Seele verbannt. Hier durfte man es sich nicht einmal erlauben, an solche Dinge zu denken, sonst erfuhr man bald solch schreckliche Strafen, dass man einen schnellen Tod vorziehen würde. Plötzlich zerriss Jaymes Stimme wieder die vollkommene Stille der Tiefen: „Erklär mir doch mal, was das alles hier soll und wo ich bin...“ Er war ein wenig kleinlauter geworden, wie es den Anschein hatte. Entweder er hatte gemerkt, dass er mit Wut nichts erreichte oder er war noch weiter verunsichert. „Gedulde dich bitte noch eine kleine Weile. Wir sind bald an einem Ort angelangt, an dem sich dies alles besser erklären lässt. Ich weiß, das fällt dir nicht leicht, aber jetzt ist nicht der passende Moment für solch umfangreiche Erklärungen.“ Darauf nickte er nur, auch wenn ich ihm ansehen konnte, dass er mit der Antwort nicht zufrieden war. Nach etwa fünf weiteren Minuten stummen Aufsteigens kamen wir endlich an einem weiteren Gang an. Jayme keuchte laut, doch ich ließ mir meine Erschöpfung nicht anmerken. Kurz lehnte er sich an die Wand, um zu verschnaufen und ich nutzte die Situation aus, um im etwas Wichtiges zu erklären: „Die erste und wichtigste Lektion, die du an diesem Ort lernen und beherzigen musst, um zu überleben ist, dir niemals deine Gefühle, Emotionen und deinen körperlichen oder geistigen Zustand anmerken zu lassen!“ Jayme sah mich fragend an: „Wie meinst du das?“ „Du darfst dir weder Erschöpfung noch Schmerzen, nicht Leid, Missfallen oder gar Hass anmerken lassen. Wenn du deine Gefühle nach außen lässt, wirst du es sehr bald bereuen. Du darfst niemandem offenbaren, was du denkst oder fühlst, sonst könnte es dich das Leben kosten.“ Er nickte leicht, wenn er auch noch nicht verstand, was ich meinte. „Doch mir kannst du Vertrauen schenken“, versuchte ich ihn aufzumuntern, „Du kannst immer mit mir reden. Mir ist bewusst, dass du mich noch nicht kennst und mich vielleicht auch hassen magst, weil du mich für dein Schicksal hierher gebracht zu werden verantwortlich machst, doch ich weiß wie du dich fühlst. Mir erging es damals ebenso. Jeder Mensch hier teilt dein Leid und deine Geschichte. Ich möchte dir zur Seite stehen, solange du mich brauchst. Also wann immer du einen Drang zu reden verspürst, komme zu mir!“ Und wieder nickte er, versuchte aber diesmal den Ansatz eines Lächelns, das allerdings sehr schief wurde. Schnell setzten wir nun unseren Weg durch die Gänge fort, die langsam aber sicher heller wurden. Schließlich befestigte ich die Fackel, die uns bisher den Weg erleuchtet hatte, an einer leeren Halterung. Eine weitere Treppe gingen wir hinauf und befanden uns dann in einem runden Raum mit etwa dreißig Schritt Durchmesser. Die Falltür, durch die wir gekommen waren, fiel zu und fügte sich nahtlos in den schwarzen Steinboden ein. Ich konnte hören, wie Jayme die Luft scharf einzog und sich fasziniert umsah. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, denn auch mir war es ebenso ergangen, als ich das erste Mal die düstere Schönheit der Halle von Kaleadan gesehen hatte. Sie war, im gegensatz zu vielen anderen Teilen des Turmes, schlicht gehalten und gänzlich schwarz. Ihr einziger Schmuck waren drei marmorne Gargylen, die sich um die drei filigran verzierten Säulen schlangen. Diese drei Gargylen unterschieden sich nur in ihren Augen. Der erste Gargyl, Feldon genannt, hatte Smaragdaugen, der zweite Gargyl, Salderon, Rubinaugen und der dritte Gargyl, Naran, Saphiraugen. Ich blickte Jayme an und sprach: „Wenn dich schon die Halle von Kaleadan fasziniert, dann warte nur, bis du die Gemächer der Meister oder die Eingangshalle erblickst. Diese sind noch weitaus prachtvoller.“ Von ihm gefolgt, öffnete ich die Tür bei der Säule Feldons und trat in den sich mir öffnenden langen Gang. An dessen Ende gelangten wir erneut in einen Rundraum, an dessen linker Seite sich eine Treppe nach oben wand. „Wir sind da... Hier, die drittte Tür rechts. Dort wirst du deinen Schlafplatz finden.“ Ich öffnete die beschriebene Tür und sie schwang knarrend auf. Uns eröffnete sich der Bilf auf ein ärmliches Zimmer, auf dessen Boden sich etwa zehn Lager aneinander reihten, außerdem standen vier ramponierte Hölzschränke an den Wänden. Dieser Raum stand im starken Gegensat zu der wunderschönen Halle von Kaleadan und so rümpfte Jayme die Nase und zog eine Augenbraue hoch: „Hier werde ich wohnen?“ „So ist es. Doch hier wirst du ohnehin nur nächtigen. Die restlichen Stunden wirst du an anderen Orten zugegen sein und deine Arbeiten verrichten.“ Nun betrat ich den Raum vollends und deutete auf ein Lager, das sich direkt neben meinem befand: „Hier, das ist deine Schlafstatt. Ich habe die meine hier drüben.“ Er setzte sich mit verschränkten Armen auf sein Lager und forderte ungeduldig: „Jetzt erklär aber mal! Ich hab immer noch keine Ahnung, wo ich hier bin und was ich hier soll!“ Langsam begann seine Art, meine Nerven zu reizen, doch ich versuchte, verständnisvoll und ruhig zu bleiben: „Übe dich noch ein wenig in Geduld. Gleich werde ich dir den Turm zeigen, sodass du es selbst sehen wirst.“ Obwohl er protestierte, ließ ich mich nicht erweichen. Ich wusste aus Erfahrung, dass die Neuen niemals glaubten, wo sie waren, wenn man ihnen nicht Beweise lieferte. So ging ich zu einem der Schränke und wühlte ein wenig in ihm herum. Schließlich hatte ich gefunden, was ich gesucht hatte und wandte mich wieder zu ihm um. „Das hier sollte dir passen.“ Ich hielt ihm ein schlichtes ärmelloses Oberteil aus Leinen und eine braune, weite Hose hin. „Zieh es bitte an!“, forderte ich ihn auf. „Aber warum?“, protestierte er und mustete die Kleidung. „Deine Kleidung passt nicht hierher“, antwortete ich ihm und legte ihm die beiden Kleidungsstücke in den Schoß. Seufzend besah Jayme sie sich noch einmal und hatte sich dann in wenigen Minuten umgezogen. Seinen Pullover und die Jeans sowie den Rucksack, den er bei sich trug und der offensichtlich seine Schulsachen beinhaltete, legte er auf sein Lager. Ich blickte sie bedauernd an. Bei seiner Rückkehr heirher würde er weder sie noch seine anderen Sachen vorfinden. Er würde sie niemals wieder sehen. Als er sich umgezogen hatte und ich sein Erscheinungsbild kontrolliert hatte, verließ ich, von ihm gefolgt, das Zimmer, um ihn die Dienstbotentreppe hinauf zu führen. An mehreren Stellen führten Gänge in die verschiedenen Stockwerke, doch ich führte ihn jedes Mal höher hinauf. Schließlich mündete die Treppe in einen offenen Rundgang, der für die Verhältnisse dieses Ortes sehr hell war. Am Rand des steinernen Ganges konnte man über einen Vorsprung vom Turm hinunterblicken, auf die Umgebung, die sich darunter und darum erstreckte. Doch obwohl wir außerhalb des Gebäudes waren, wehte kein Wind, nicht einmal ein kleines, laues Lüftchen. Auch der Gruch blieb derselbe: modrig, dumpf und abgestanden. Von fern drangen die lauten Geräusche einer Truppe zu uns, die gerade über den inneren Hof marschierte. Ihre metallenen Stiefel schepperten unangenehm regelmäßig über den steinernen Boden. Jayme zitterte leicht, die unheimliche Windstille musste wohl auch ihm aufgefallen sein. Der Himmel, den wir sehen konnten, war grau und bildete im keinen großen Kontrast zu dem grauschwarzen Turm hinter und unter uns. Ich deutete auf die Brüstung am Rand des Rundganges und befahl ihm, dorthin zu gehen. Langsam und unsicher schritt Jayme auf die Mauer zu und blickte hinunter. Seine Augen weiteten sich schreckerfüllt und seiner Kehle entwich ein leises Keuchen. Ich trat zu ihm und ließ meinen Blick ebenfalls über die Gegend schweifen. Obwohl ich sie bereits so viele Male betrachtet hatte, erschreckte sie mich immer noch. Jedes Mal, wenn ich sie erblickte, entdeckte ich neue, schauerlichere Facetten an ihr. Ich konnte den bitteren Unterton meiner Stimme nicht unterdrücken, als ich sprach: „Willkommen in der Hölle...“ Fortsetzung folgt in Kapitel 2 : Rivkoh - Der Führer der Ramuh Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)