Fake Freak's Kiss von Schnullerkai ================================================================================ Kapitel 6: Freundschaftliche Ignoranz ------------------------------------- *schweig* "Jetzt hast du also endlich mal 'ne Freundin", stellte Ben mit einem Lächeln fest, das Tobias unangenehm war. Es war ein ganz normales Lächeln, weder boshaft noch traurig, doch irgendetwas stimmte damit nicht. "Ich dachte schon, du kriegst das nie auf die Reihe", fuhr Ben ungerührt fort und warf einen kurzen Blick auf die Tafel. Sie saßen im Biologieunterricht und unterhielten sich im Schutze des allgemeinen Lärms über den vergangenen Freitag. "Danke für dein Vertrauen", brummte Tobias und kritzelte ein kleines Figürchen auf die augeschlagene Seite seines College-Blocks. Es sah ein klein bisschen so aus wie eine Mangafigur, war allerdings von Profiarbeiten noch weit entfernt. Monamis beste Freundin zeichnete im Mangastil und in Monamis Zimmer hingen inzwischen etliche Arbeiten von ihr. Tobias hatte eher zum Spaß angefangen zu zeichnen, aber Monami hatte absolut begeistert darauf reagiert. "Da nicht für", schmunzelte Ben, schnippte ein Papierkügelchen gegen Tobias' Stirn und lachte leise, als dieser ihm gegen die Schulter boxte. "Und? Schon irgendwas passiert?", fragte er amüsiert. "Wir sind erst 'n Wochenende lang zusammen", brummte Tobias. "Na und?", grinste Ben. "Sonst gehst du doch auch gleich in die Vollen." "Sonst will ich ja auch nix als Sex", murrte Tobias. "Es ist ja wohl definitiv meine Sache, ob, wann und wo ich mit meiner ersten festen Freundin schlafe." "Naja, so lang sie mitmacht", grinste Ben. "Mann, Ben, du bist echt doof", stellte Tobias fest. Eine Weile lang spielte er mit seinem Bleistift, dann murmelte er: "Sie ist noch Jungfrau. Ich möchte nichts überstürzen." Ben lächelte sachte und setzte zum Sprechen an, als es plötzlich klingelte. Sofort wurde das Geraune und Gemurmel zu munterem Geschwätz, Taschen wurden eingepackt, Stühle quietschten und die Lehrerin verkündete lautstark die Hausaufgaben. "Was wolltest du sagen?", fragte Tobias. Sie hatten den Rest des Kurses vorgehen lassen, um in Ruhe reden zu können. Ben kratzte sich nachdenklich an der Wange. "Warte, was war das gleich...", murmelte er dabei scheinheilig, als sei es ihm entfallen. "Ach ja, ich wollte dir sagen, dass Monami sich wohl 'nen tollen Kerl geangelt hat. Vom Frauenhelden zum Perfect Lover, so was gibt’s nicht oft." Tobias spürte, wie er errötete, und schlug Ben mit der flachen Hand auf die Schulter. "Nun laber nicht so 'nen gequirlten Schnulz", jammerte er und ließ den Kopf sinken. Ben lachte laut auf, als sie vom Trakt in den Schulflur traten. "Lass mich doch", meinte er unbekümmert. "Kommste mit raus?" "Nee, weißte?", brummte Tobias trocken. "Natürlich komm ich mit, du Nuss." "Ein bisschen beneide ich Monami ja", gab Ben zu, als sie wie gewohnt an der Sporthalle saßen. Tobias seufzte schwer. "Lass das Thema, Ben", bat er leise. "Es bringt doch keinem was, wenn du immer wieder davon anfängst." Ben schüttelte bedrückt den Kopf. "Ich kann doch auch nichts dafür, Koala. Wenn ich in deiner Nähe bin, wird mir klar, dass ich dich nicht mehr loswerde, wenn wir Freunde bleiben. Und wenn du nicht da bist, fehlt mir was. Wie sagt man so schön? Ich kann weder mit dir noch ohne dich." Tobias seufzte erneut. "Es tut mir leid, dass ich dir nur Freundschaft anbieten kann." Ben lachte mit einem Mal wieder und knuffte ihn in die Seite. "Hey, Schuldbekenntnisse bringen auch keinem was. Du kannst auch nix dafür, also stress dich nicht." Tobias lächelte unsicher und zog seinen MP3-Player aus seiner Hosentasche, schaltete ihn ein und schob sich den einen Stöpsel ins Ohr. "Kommst du in drei Wochen trotzdem mit zum Schiff?", fragte er nach einer Weile. Ben schwieg für Sekunden, dann nickte er lächelnd. "Ich würde mir doch nie entgehen lassen, dich 'ne Woche lang für mich zu haben", scherzte er. Tobias konnte nicht leugnen, dass Bens kleine Anmachen befremdlich auf ihn wirkten, doch er grinste. "Monami wollte ich eh nicht mitnehmen", sagte er. "Du kannst also machen was du willst, so lang ich nicht mitmachen muss." "Ouha!", rief Ben gedämpft aus. "Du hast keine Ahnung, was du mir da anbietest, Koala!" Eine Weile lang starrten sie einander an, dann fing Ben an zu prusten, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. "Mann, Koala, wie du gucken kannst!", rief er aus und schubste Tobias leicht zur Seite. Tobias hätte ihn am liebsten beleidigt angefaucht, doch Bens Lachen war ansteckend. Tobias fiel also mit ein, bekam nach einer Weile sogar Bauchschmerzen vom Lachen und lehnte sich schließlich erstickt kichernd gegen Ben. Bens Arm zuckte kurz merkwürdig, dann beruhigten sie sich beide wieder. "Du kannst dann so langsam wieder von meiner Schulter runter, Koala", murmelte Ben nach einigen Augenblicken der Stille. Tobias zuckte zusammen und setzte sich wieder gerade hin. "Sorry", meinte er leise. "Ach was", grinste Ben. "Du hast dich nur auf den Arm gelehnt, den ich mir am Samstag beim Fußballtraining mit meinem Bruder verletzt hab." Tobias nickte leicht, dann bemerkte er den vermeintlichen Fehler in Bens Satz. "Seit wann zur Hölle hast du 'nen Bruder?", fragte er verwirrt. "Oh", machte Ben unschuldig, dann lachte er. "Er stand am Samstag einfach vor unserer Tür", sagte er. "Ich hab das völlig vergessen dir zu erzählen, verzeih mir bitte." "Vergeben und vergessen, wenn du mir jetzt endlich sagst, wieso das dein Bruder ist, nur weil der vor eurer Tür stand", erwiderte Tobias verwirrt. Ben knabberte für einen Moment an seinem Unterlippenpiercing, dann begann er zu erzählen: "Meine Eltern haben mir und Anna nie erzählt, dass mein Vater vor so übern Daumen zwanzig Jahren 'ne kurze Affäre hatte. Das war so eine kurze Polygamie-Phase unserer Eltern, um das eigene Eheleben aufzupeppen, nehme ich an. Und der schlaue Mann hat sich natürlich 'nen Scheiß um Verhütung gekümmert, wie wir Männer halt so sein können, und schon war mein Halbbruder gezeugt. Er ist jetzt fast neunzehn, also zwei Jahre älter als ich. Seine Mutter hat ihm erst vor zwei Wochen erzählt, wer sein leiblicher Vater ist, da hat er ihn gesucht." Ben seufzte mit einem Lächeln auf den Lippen. "Ich hab mich gefragt, ob er vielleicht mein ganzer Bruder ist, als ich am Samstag Abend mit ihm Fußball gespielt habe", fuhr er dann fort und kratzte sich im Nacken. "Er spielt Fußball, er hat die selben CDs wie ich im Regal stehen und..." Ben stockte, sah Tobias kurz direkt in die Augen und blickte dann zum Schulgebäude hinüber. "Lass uns wieder rein gehen", schlug er unbehaglich vor. Tobias legte den Kopf in Schieflage und schnaubte leise. "Was hat er noch mit dir gemeinsam, Ben?", fragte er, ohne auf Bens letzten Satz zu achten. Die Art, wie Ben sich an sein rechtes Ohrläppchen griff und mit dem daran hängernden Ohrring spielte, ließ Tobias aus irgendeinem Grund vermuten, dass Bens Halbbruder genau so schwul war wie er selbst. Als Tobias seinen Verdacht zögerlich aussprach, seufzte Ben schwer, fuhr sich mit der Hand durchs stachelige Haar und ließ dann den Kopf hängen. "Was willst du, Koala? Hundert Punkte oder 'ne Zuckerstange?", seufzte er leise. "Ich nehm die Punkte", meinte Tobias verwirrt und rückte ein wenig näher an Ben heran. "Was ist so schlimm daran? Das müsste doch gerade dich nicht stören?" Ben stöhnte entnervt auf und warf die Arme in die Luft, nur um sie sich daraufhin wieder in den Schoß fallen zu lassen. "Am Samstag war's noch witzig, sich mal mit 'nen Schwulen unterhalten zu können", fing er er. "Mit dir kann ich ja schlecht darüber reden, was ich nachts so mit Jungs anstelle." Für die Dauer eines Wimpernschlages huschte ein lüsternes Grinsen über Bens Gesicht, dann sah er wieder verärgert aus. Bei seinen Worten fragte Tobias sich, warum er nie in Erwägung gezogen hatte, dass Ben ein durchaus funktionierendes Sexleben haben könnte. Er ging nicht davon aus, dass Ben noch Jungfrau war, aber dass er tatsächlich regelmäßig Sex hatte, glaubte Tobias auch nicht. Und dass er sich ernsthaft Gedanken darüber machte, glaubte er noch viel weniger. "Am Sonntag hat er sich 'ne Weile lang mit Paps unterhalten", fuhr Ben fort und zerriss Tobias' sinnfreie Gedanken, "dann hat er mich zu noch 'ner Runde Fußball überredet und als wir 'ne Pause gemacht haben, packt der Sack mich plötzlich und küsst mich einfach!" Ben stieß ein angewidertes Geräusch aus. "Küsst er denn so schlecht?", wagte Tobias einen Witz zu reißen. Ben funkelte ihn zornig an. "Nein. Wenn du's wissen willst, ist er 'n sagenhafter Küsser", entgegnete er und klang dabei so sarkastisch, dass Tobias sich kein Urteil über den Ernst dieser Aussage zu bilden wagte. "Aber ich kann's trotzdem nicht ab, einfach so geküsst zu werden", schob Ben missgelaunt hinterher. "Küsse ohne Gefühle schmecken nicht." Das konnte Tobias keinesfalls bestätigen, doch er sagte nichts dazu. "Als ich ihm das gesagt hab, meinte er, er hätte sich in mich verliebt, als ich ihm am Samstag die Tür aufgemacht hab", murrte Ben. "Schwachmat." "Nett bist du", merkte Tobias an. Ben seufzte. "Was soll ich machen?", fragte er eher rhetorisch. "An Liebe auf den ersten Blick hab ich noch nie geglaubt. Und was soll ich auch mit 'nem anderen Typen, der obendrein noch blutsverwandt mit mir ist, wenn ich meine Gefühle für dich nicht loswerde?" Er sah Tobias an und wirkte mit einem Mal irgendwie verloren. Tobias kam derweil ein ziemlich selbstsüchtiger Gedanke. "Vielleicht solltest du dir das mit ihm noch mal überlegen", sponn er seinen Gedanken allmählich zusammen. Ben sah ihn ungläubig an. "Ich hoffe, das meinst du nicht ernst", bemerkte er mit schiefen Blick. "Doch, ich mein das ernst", beteuerte Tobias. "Stell dir doch mal vor, du verliebst dich in diesen... Du hast mir seinen Namen noch gar nicht gesagt." Ben schüttelte resigniert den Kopf. "Das wird nie passieren. Und er heißt Kai. Red weiter." Tobias sammelte seinen gedanklichen Faden wieder auf. "Stell dir vor, du verliebst dich in Kai. Dann wärst du deine Gefühle für mich los. Ich meine, ich werd eh niemals schwul, für uns beide gibt es nichts in Richtung Liebesbeziehung. Wäre doch cool, wenn du jemanden hättest, mit dem du dich über mich hinweg trösten kannst!" Tobias zuckte zusammen, als Ben ihn ohrfeigte. "Ey, wofür war die denn?", fauchte er. "Dafür, dass du denkst, ich würde jemanden als Trostpflaster ausnutzen!", fauchte Ben zurück. "Nur, weil dich meine Gefühle für dich anwidern, musst du mich nicht beleidigen, ja?" Tobias zog betroffen den Kopf ein. Er leugnete nicht, dass er nicht mit Ben umzugehen wusste. Er hätte es nicht unbedingt mit "anwidern" umschrieben, aber es traf den Kern der Sache. Als Ben eine leise Entschuldigung murmelte, legte Tobias den Kopf in Schieflage. "Nein, du hast schon Recht", gab er zu. "Ich hab Scheiße gelabert, kommt nicht wieder vor, versprochen." Ben seufzte erneut und lehnte sich leicht zurück, legte die Hände an sein angewinkeltes Knie und blickte in den klaren Himmel. Er war nicht weniger verschwitzt als Tobias, allerdings schienen ihn die Temperaturen nicht so schlapp zu machen. Tobias fühlte sich schon wieder müde. Im Sommer waren Streitereien einfach nichts für ihn. "Noch zwei Wochen bis zu den Ferien", wechselte Ben unvermittelt das Thema und atmete tief durch. "Schule stinkt mir eh langsam", fügte er mit dem Anflug eines Lächelns hinzu. Tobias grinste. "Dito", meinte er, froh über den Wechsel. Die Stimmung war wieder angenehm. "Auf'm Meer riecht es besser, versprochen." "So lang du deine Schuhe anbehältst, wohlgemerkt", scherzte Ben. "Ey, als würden deine Füße nach Rosen duften!", lachte Tobias und boxte ihm gegen die gesunde Schulter. "Selbstverständlich!", erwiderte Ben, als sei das völlig selbstverständlich. Er klang beinah empört, was Tobias einen nur noch schlimmeren Lachanfall bescherte. "Ey, ist gut jetzt", schnaubte Ben nach einer Weile und stand auf. "Komm schon, es klingelt in einer Minute. Und das mit den Schuhen war 'n Witz, falls du's noch nicht mitbekommen hast." Tobias hüstelnd den Rest seines Lachkrampfes weg. "Klar hab ich das mitbekommen", grinste er. "Aber dein "Selbstverständlich!" war einfach zu schön." Ben grinste selbstgefällig, dann nickte er zum Schulgebäude hin. "Komm jetzt, Koala." "Jaaaaaa, Papaaaa!", entgegnete Tobias lachend, sprang auf und folgte Ben zurück in die Schule. Nach Schulschluss nahm Ben Tobias mit zu sich nach Hause, da Tobias neugierig war auf Kai, der für einige Tage bei Ben eingezogen war. Ben schien diese Neugierde nicht unbedingt zu gefallen, doch er widersprach nicht. Außerdem hatten sie schon lange nicht mehr zusammen Hausaufgaben gemacht. "Und warum ist Kai bei euch eingezogen?", fragte Tobias, während sie ihre Fahrräder abschlossen. "Weil seine Mum im Krankenhaus liegt", erklärte Ben und klang irgendwie unbeteiligt. "Sie macht's wohl nicht mehr lange. Und Kai hat unseren Vater darum gebeten, seine Vaterrolle einzunehmen. Er will kein Geld, Arbeit hat er selbst schon, aber er möchte eine Bezugsperson haben. Paps hat ihm sofort das Gästezimmer hergerichtet." Er murrte wortlos vor sich hin, als wäre ihm das Gesprächsthema zuwider. Kai war rothaarig. Das war das erste, was Tobias von ihm sah. Rothaarig mit schwarz eingefärbten Haarspitzen. Und als er sich vom Spülstein in der Küche weg und zu Ben und Tobias drehte, sah Tobias auch seinen Kreuzohrring und das Piercing in seiner linken Augenbraue. Auf seinem T-Shirt prangte die Formel für Titan, was auch immer einen Menschen dazu brachte, sich chemische Elemente auf die Klamotten zu schreiben. "Ay, Benny", begrüßte Kai seinen Halbbruder und hob eine seiner nassen Hände. An ihnen klebte Schaum, offenbar war er mit dem Abwasch beschäftigt. "Wen haste denn da mitgebracht?" "Das ist Tobias", stellte Ben vor. "Ko... Tobias, darf ich vorstellen? Mein Halbbruder Kai." Tobias hob eine Augenbraue, als Ben es unterließ, seinen Spitznamen zu verwenden, kommentierte aber nicht. Kai griff derweil nach dem Geschirrtuch, das an seinem Gürtel hing, und trocknete sich die Hände ab, bevor er Tobias die Hand reichte. Tobias griff zu, lächelte kurz und zog dann die Hand zurück. "Ay, 'n schwacher Händedruck, Tobias", stellte Kai fest. "Ich hab hier noch zu tun, aber ich nehme an, ihr beschäftigt einander ohnehin selbst zu Genüge." Er grinste anzüglich und Tobias spürte, wie Ben neben ihm heftig zusammen zuckte. "Tobias ist nicht... Wir sind nur sehr gute Freunde", murmelte Ben. Kai lachte leise. "Sag das doch gleich, Benny. Du hast so begeistert von ihm erzählt, da dachte ich..." Ben fuhr abrupt herum und verließ fluchtartig die Küche. Tobias warf noch einen kurzen Blick auf Kai, dann folgte er Ben in dessen Zimmer. Ben hatte sich auf seinem Bett zusammen gerollt und wirkte, als wolle er verschwinden. Tobias ließ sich neben ihn aufs Bett fallen. "Was ist kaputt, Ben?", fragte er, legte eine Hand auf Bens Schulter und drückte sie leicht. "Der tut einfach so, als wäre gestern nix gewesen", zischte Ben. "Und warum zum Himmel ist es ihm scheißegal, was zwischen uns ist, wenn er angeblich was von mir will? Der Kerl verwirrt mich." Tobias schmunzelte leise, zog die Beine an den Körper und legte seinen freien Arm drum herum. "Ganz sicher, dass er dich nicht interessiert?", fragte er und Ben zuckte leicht zusammen. "Schwachsinn, Koala", murmelte er, klang allerdings nicht sonderlich überzeugend. "Hey, ich sterbe nicht, wenn du nicht mehr in mich verliebt bist, Ben", versprach Tobias mit einem Anflug von Amüsement. Ben drehte sich auf den Rücken und sah Tobias seufzend an. "Du redest grade mit 'nem Schwulen über Liebesprobleme, ist dir das eigentlich klar?", fragte er ironisch. Tobias legte in gespieltem Entsetzen eine Hand auf seine Brust. "Was? Oh, heiliger Vater, das ist mir nicht bewusst gewesen!", rief er theatralisch aus. Ben gluckste und schlug ihm schwach auf den Arm. "Du bist bescheuert, Koala", stellte er fest. "Komm, Ben, solche Beleidigungen sind Frauensache", erwiderte Tobias, obwohl er Ben selbst des öfteren als doof, bescheuert oder blöd bezeichnete. "Ich bin schwul, ich darf das", brummte Ben allerdings, musste aber auch sofort grinsen, nachdem er ausgesprochen hatte. "Das Gesicht will ich sehen!", meinte Tobias gut gelaunt. "Aber jetzt mal ernsthaft, was denkst du über Kai?" Und schon war das Grinsen wieder futsch. Tobias hätte sich in den Hintern treten können. "Ja, was denk ich über den Schwachmaten?", fragte Ben sich selbst und verschränkte die Hände unter seinem Kopf. "Er ist aufdringlich, hat keinen Anstand, dafür kann er küssen wie ein Gott und er spielt mich im Fußball problemlos an die Wand. Was interpretierst du daraus?" Tobias hob nicht zum ersten Mal in der letzten Stunde die Augenbrauen. "War das letzte positiv oder negativ?", fragte er unsicher nach. Ben lachte. "What do you think?", fragte er. Tobias zuckte die Achseln. Ben spielte eigentlich am liebsten gegen ebenbürtige Spieler, mit besseren oder schlechteren hatte er so seine Differenzen, soweit Tobias wusste. "Negativ?", vermutete er also zaghaft. Ben grinste. "I think it's nice to have a big brother who's better than myself", sagte er allerdings. "Du siehst ihn also als Bruder", vermutete Tobias. "Wie kommst du denn darauf?", brummte Ben. "Ich kenn den Kerl seit zwei Tagen. Familiäre Gefühle sind da nicht so schnell machbar." "Und andere Gefühle?", fragte Tobias. Ben presste sich die Hände aufs Gesicht und seufzte schwer. "Ernsthaft? Keine Ahnung", antwortete er, ließ die Hände wieder sinken und schüttelte leicht den Kopf. "Er verwirrt mich, mehr kann ich dazu nicht wirklich sagen." Tobias ließ das Thema schließlich fallen, da Ben nicht mehr darüber reden wollte. Er schien mit seiner inneren Situation derzeit überhaupt nicht klar zu kommen, daher bot Tobias ihm an, einfach mit den Hausaufgaben anzufangen, um ihn abzulenken, was tatsächlich wirkte. Ben gehörte zu den eigenartigen Menschen, die sich mit Schule ablenken konnten. Er arbeitete still vor sich hin, anders als sonst. Sonst arbeiteten sie zusammen, lachten über Aufgaben und Fragestellungen, die ihnen zu schwer waren und ärgerten einander, wenn sie Fehler machten. Heute war Ben einfach nur still und das war langweilig. Tobias musste sich also allein mit Englisch herum plagen. Seine Aufgabe war eine Zusammenfassung eines Textes, den er im Unterricht gelesen, aber dann irgendwie verbaselt hatte, daher musste er sich aus den Fingern saugen, was er zu schreiben hatte. Zu seinem Glück hatte er den Inhalt noch in etwa im Kopf, allerdings fehlte ihm das Formulierungstalent. Dazu hätte er Ben gebraucht, doch der war im Moment zu nichts zu gebrauchen. Er schrieb seine Deutschhausaufgaben in sein Heft und summte dabei wieder "Pieces" von Sum41 vor sich hin, also dachte er angestrengt nach und dabei störte man ihn besser nicht. Tobias war dankbar für diesen "Nachdenkerklingelton". So wusste er immer, wann er die Klappe halten musste. Wer das nicht wusste, war offenbar Kai, der, anstandslos wie Ben ihn beschrieben hatte, ins Zimmer platzte, als Ben gerade zwischen Deutsch- und Englischhausaufgaben wechselte. Er warf Kai einen Blick der Marke "Ein Wort und du bist tot!" zu, der allerdings unbeachtet blieb, und fragte kühl: "Was wäre jetzt gewesen, wenn Tobias und ich grad voll bei der Sache gewesen wären?" Tobias spürte, wie er errötete. Kai grinste unbekümmert. Offenbar wusste er nicht, dass gerade ein ruhiger Ben ein ungutes Zeichen war. "Dann hätte ich gefragt, ob ich mitmachen kann, weißte?", erwiderte er locker und ging neben Ben in die Hocke. Ben hatte einen sehr niedrigen Schreibtisch, an dem er auf Knien seine Hausaufgaben machte. "Ich wollte fragen, ob du nachher 'n bisschen Zeit für mich hast", antwortete Kai auf die ungestellte Frage, was er eigentlich wollte. "Es gibt da was, das ich mit dir bereden muss." Ben schien nachzudenken. Die Art, wie er mit den Zähnen nach seinem Piercing fischte, war zwar kein Wink mit dem Zaunpfahl wie sein Summen, aber es war ein deutliches Zeichen, ihn mal kurz in Ruhe zu lassen. "So lang du auch wirklich redest und nicht wieder mein Redewerkzeug anknabberst, meinetwegen", erwiderte er schließlich. Kai lachte verlegen und kratzte sich im Nacken. "Ay, ja, ich weiß, das war 'n bisschen übereilt, sorry", sagte er, klang aber nicht, als würde er es bereuen. Ben wandte sich wieder seinen Hausaufgaben zu. "War's das?", fragte er und ergriff seinen Füller. "Yo, das wär's", nickte Kai. "Kommste dann einfach zu mir, wenn du deinen Gast hier rausgeschmissen hast?" "Mein Gast heißt Tobias und ich schmeiße ihn nicht raus. Ich warte, bis er nach Hause will", korrigierte Ben ruhig, ohne Kai eines Blickes zu würdigen. "Aber ansonsten: Ja. Also geh jetzt bitte, dann geht’s auch schneller." Kai nickte, obwohl Ben es nicht sah, wandte sich ab und verließ den Raum. Etwas trauriges hatte in seinem Blick gelegen. "Ich glaub, du hast ihm ganz schön vor den Kopf gestoßen", bemerkte Tobias zaghaft. Ben seufzte. "Er ist so tierisch unhöflich, das geht mir gewaltig auf den Sack", erklärte er. "Und du weißt ja, wie ich auf Leute reagiere, die mich nerven." "Es war trotzdem nicht nett", beharrte Tobias. Ben sah ihn schweigend an, dann schlug er sein Englischbuch zu. "Ist gut, ich werd gleich mit ihm reden", sagte er resigniert. "Kriegste deine Hausaufgaben allein hin? Ich geh mich bei meinem Bruder entschuldigen." "Schon klar, ich gehe", entgegnete Tobias verständnisvoll, packte seine Sachen zusammen und erhob sich. Als Tobias wenige Minuten später an seinem Fahrradschloss herum nestelte, weil es aus irgendeinem Grund klemmte, bekam er sein dämliches Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Wenn er richtig Glück hatte, kam Ben mit Kai zusammen und dann musste er endlich nicht mehr darüber nachdenken, was er sagte. Besonders, wenn es um seine eigenen Gefühle ging. Bei dem Gedanken fiel ihm Monami ein und er griff wie automatisch nach dem Handy in seiner Hosentasche. Sein Daumen tippte die PIN ein, als täte er nichts anderes den lieben langen Tag und kurz darauf hatte Tobias auch Monamis Nummer aus seinem Telefonbuch heraus gesucht. "Hey, Freak, du knabberst mir die Lippen ab und meldest dich ewig nicht, was geht?", meldete sich Monami lachend. "Hast du dir das gerade ausgedacht?", fragte Tobias ungläubig. "Ey, yo, ich bin schlagfertig, mein Bester", erwiderte Monami. "Also, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?" "Ähm...", machte Tobias, sah auf sein noch immer angekettetes Fahrrad, ohne es wirklich anzusehen und dachte über eine Antwort nach. "Vielleicht, dass wir gestern erst telefoniert haben und vorgestern bei mir waren?", gab er schließlich zaghaft zurück. Monami lachte leise. "Na gut, bist frei gesprochen, Tobias. Warum rufst du an?" Tobias lächelte und seufzte kaum hörbar. Solche Einleitungsgespräche kannte er schon jetzt von Monami. Schon vor ihrer Beziehung hatte sie ihn gern ein wenig aufgezogen, bevor sie zum eigentlichen Thema gekommen waren. Wenn sie einander irgendwo getroffen hatten, war sie oft mit einem total überraschten "Dich kenn ich!" auf ihn zugekommen. Das und sein begeistertes "Ich dich auch, ist das nicht der Wahnsinn?!" hatten sie oft zu beknackten Unterhaltungen inspiriert. "Ich musste gerade ohne wirklichen Grund an dich denken", antwortete Tobias nach ein paar Sekunden, dann stockte er kurz. "Warte mal, seit wann bin ich ein Freak?", fragte er verwirrt. Monami prustete ins Telefon. "Mann, merkst du das früh!", bemerkte sie kichernd. "Wolltest du dich als normal bezeichnen mit deinen Nietengürteln und den Piercings?" "Vergiss bloß nicht die Chucks und die komischen Haare", schnaubte Tobias. "So lang du mich nicht als Emo bezeichnest..." "Gut, dass du mich vorwarnst, ich hatte es mir grad auf die Zunge gelegt", meinte Monami mit schlecht überrascht gestellter Stimme. "Spaß", lachte sie, als Tobias voll grimmiger Belustigung schwieg. "Wenn du'n Emo bist, werd ich lesbisch." Tobias' Gesichtszüge entgleisten. "Bitte nicht!", rief er ungläubig aus, obwohl er wusste, dass Monami einen Scherz gemacht hatte. Monami fing schon wieder an zu lachen. "Magst du herkommen?", fragte sie. "Klar", erwiderte Tobias strahlend, obwohl sie es nicht sehen konnte. "Bin gleich da, leg nicht auf. Was machst du eigentlich gerade?" Er klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und fing wieder an, an seinem Fahrradschloss herum zu fingern. "Ich lieg auf meinem Bett, starr die Decke an und freu mich tierisch darüber, dass dein Anruf den akuten Tod meiner Person verhindert hat." Tobias hielt inne. "Wot?", machte er und nestelte weiter an dem nervigen Fahrradschloss herum. "Ich hab mich gelangweilt, das ist alles", meinte Monami, während Tobias endlich sein Schloss auf bekam, es um die Sattelstange und den Gepäckträger legte und das Rad aus dem Ständer zog. Dabei fiel ihm das Handy herunter. "Fuck", murmelte er, bückte sich mit einer Hand am Sattel seines Fahrrads und griff nach seinem Handy. "Ey, Tobias, bist du noch da? Was war denn das?", hörte er Monamis gedämpfte Stimme, kurz bevor er sich das Handy wieder ans Ohr hielt. "Ja, sorry, das Handy hat Schwerkrafttests durchgeführt", sagte er. "Häh?", machte Monami. "Es ist runter gefallen", erklärte Tobias schmunzelnd. "Ahso, sag das doch." Tobias nahm das Handy in die linke Hand, schwang sich aufs Fahrrad und fuhr los, das Handy noch am Ohr. Der Weg war nicht weit und er konnte problemlos mit einer Hand lenken. Schwieriger wurde es beim Bremsen, aber das würde er auf der Fahrt zu Monami kaum müssen. "Ey, Tobias, du fährst jetzt nicht mit Handy anner Backe, oder?", fragte Monami entsetzt. Tobias lachte. "Hey, ich bin ein Freak, schon vergessen?" "Und was für einer", brummte Monami. "Ein lebensmüder, durchgedrehter, schlecht angezogener und hinreißend süßer Freak!" "Wenn du das sagst, klingt es fast wie ein Kompliment", merkte Tobias an und hielt einen üblen Lachkrampf zurück, während er in einer beunruhigenden Schieflage um eine Kurve fuhr. Sein Fahrstil brachte seine Mitmenschen öfters zu besorgten Kommentaren. Aber was sollte man machen? Tobias liebte den Adrenalinschub, den er durch seine übertriebenen Kurven verspürte. "Das ist Ansichtssache", stellte Monami seufzend fest. "Beeil dich mal", sagte sie dann. "Und klingel nicht, meine Eltern sind zu Hause." "Was ist so schlimm daran, wenn sie mich kennen lernen?", fragte Tobias verständnislos. "Lass uns das gleich besprechen, okay?", bat Monami. "Ey, bin ich dir peinlich?" Tobias verzog das Gesicht. "Nein, um Himmels Willen!", rief Monami aus. "Aber meine Eltern haben ein totales Problem mit Jungs. Ich bin ihre einzige Tochter und mein Vater will mich entweder verlobt oder single sehen. Daran ist auch meine erste Beziehung zerbrochen, ich hab Angst davor. Und wieso zwingst du mich, so was am Telefon zu besprechen?" Tobias schwieg, bremste sein Fahrrad und sah zu Monamis Zimmerfenster hinauf. Monami klang so unglaublich traurig. "Entschuldige bitte, Monami", sagte er schließlich. "Magst du mal aus'm Fenster schauen?" "Wie...?" Am Fenster erschien Monami und Tobias winkte ihr lächelnd. "Lässt du mich rein?", fragte er, als sie eher zaghaft zurück winkte. Er sah sie nicken. Monami öffnete Tobias die Tür, zog ihn mit einem Finger an den Lippen in die Wohnung und in ihr Zimmer. Erst, als sie mit einem schweren Atemzug die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah sie Tobias richtig an. Und erst jetzt drückte sie die rote Taste auf ihrem Handy. Tobias tat es ihr schmunzelnd gleich, als Monami ihn auch schon umarmte. Wenn sie ihre dick besohlten Stiefel nicht trug, wirkte sie so winzig auf ihn. So war sie nämlich wirklich einen Kopf kleiner als er. "Kannst du mir mal erklären, warum ich dich rund um die Uhr vermisse, obwohl ich dich jederzeit anrufen und sogar sehen kann?", seufzte Monami mit dem Kopf an seiner Schulter. Tobias lächelte, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie zärtlich. Als Monami fast sofort die Augen schloss, tat er es ihr gleich. Das war er nicht wirklich gewohnt, aber es hatte etwas. "Vielleicht magst du mich ja einfach?", schlug er leise vor, als er sich von ihr löste. "Das wird’s sein", schmunzelte Monami. "Und was machen wir nun?" Tobias zuckte die Achseln, ging an Monami vorbei und setzte sich aufs Bett, wo es sich erst einmal seiner Schuhe entledigte. Monami ließ sich neben ihn fallen. Sie trug nur kurze Schwimmshorts und ein dünnes Trägertop, so dass Tobias sich neben ihr furchtbar dick eingepackt fühlte. Es war einfach viel zu warm in diesem Raum. "Du riechst nach Schweiß, Tobias", murmelte Monami und schmiegte sich an ihn. "Ich weiß", erwiderte Tobias schlicht und legte eine Hand auf Monamis Schulter. "Schlimm?" Monami machte ein verneinendes Geräusch. Tobias seufzte leise und lächelte auf sie hinunter. Monami wirkte müde. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete leise vor sich hin. Tobias streichelte mit den Fingerspitzen über ihren Hals nahe der Schlagader. Er hatte schon herausgefunden, dass Monami das als angenehm empfand, allerdings hatte ihn das auch nicht überrascht. Viele Mädchen, die er kennen gelernt hatte, mochten es, am Hals gestreichelt zu werden. Monami seufzte leise, lächelte leicht und rückte noch ein wenig näher an ihn heran. Die wachsende Nähe verursachte nur noch mehr Wärme. Tobias spürte, wie ihm Schweißtropfen den Rücken hinab krochen. "Monami?", murmelte er. "Hm?", machte sie unwillig. "Würd's dich stören, wenn ich mein Shirt ausziehe?, fragte Tobias. "Mir ist tierisch heiß." Monami setzte sich auf. "Mach ruhig", seufzte sie. Tobias zog sich sein Shirt über den Kopf und ließ es achtlos zu Boden fallen, bevor er Monami wieder in seine Arme winkte. Er mochte es, wie sie sich an ihn kuschelte und wie sie wohlig seufzte, wenn er ihren Hals streichelte. Monami legte eine Hand auf sein Bein und rieb ihre Nase an seinem Hals. Tobias ergriff ihre Hand sanft und verschränkte seine Finger mit ihren. "Du bist so schön warm", murmelte Monami. "Als lägst du gerade am Strand." "Wollen wir mal wieder schwimmen gehen?", fragte Tobias lächelnd. "Hmmm, gern", erwiderte Monami und schubste Tobias sanft in eine liegende Position. "Aber bis dahin können wir ja noch ein bisschen rückenschonender kuscheln", fügte sie hinzu, legte sich neben Tobias und schmiegte sich wieder in seine Arme. Tobias lächelte sanft. Mit Monami im Arm wäre er am liebsten einfach eingeschlafen, allerdings war es dafür zu warm und außerdem durfte er Monamis Eltern nicht vergessen. Ihr Vater versaute im Endeffekt die Stimmung, indem er an die Tür klopfte und Monami zum Essen rief. Monami lotste Tobias also wieder aus der Wohnung, hauchte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Lippen und schloss die Tür hinter ihm. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)