Chou no Ko von -Yue (蝶の子) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ich hätte nichts anderes tun können oder wollen. Ich wagte die Worte nicht auszusprechen. Ich wusste sie würden mich aufspießen wie die Spitzen scharfer Speere einen hilflosen Fisch. Ich würde mich ebenso in Schmerzen winden, in der Gewissheit, die sie mit sich bringen würden, zappeln im Fluss meiner Tränen, statt damit zu synchronisieren, denn ich wollte es gar nicht wahr haben. Und so schüttelte ich nur den Kopf. Tomikos Schluchzen drang wie durch eine Nebelwand zu mir und durch mich hindurch. Ich verspürte nicht den Drang sie in die Arme zu nehmen. Auch wenn die Situation es schon nahezu verlangte, trugen mich meine Schritte weg von dem Zimmer, weg von Tomiko. Vor der Leere, die sich in mir ausgebreitet hatte, konnte ich jedoch nicht fliehen. Der helle Flur des Krankenhauses glänzte steril und ich hatte das Gefühl zu schweben. Der Boden der Tatsachen schien weit entfernt. Allmählich spürte ich ein feines Ziehen in meinem Kopf. Es war als würde sich ein Stück dünner Zahnseide von einer Hälfte meines Gehirns zur anderen fädeln. Der Stress machte sich bemerkbar. Ein Schwall lauwarmer Luft empfing mich, als ich aus dem großen Gebäude trat. Ich flutete meine Lungen mit Sauerstoff, doch es war weniger erfrischend wie ich gehofft hatte. Der weiße Stoff meines Hemdes klebte unter meinen Armen. Was für eine lästige Körperfunktion das Schwitzen doch war. In meinem Jackett kramte ich nach einer Schachtel Lark und meinem Zippo. Es war eines der eleganteren Modelle mit einem schlichten Wellenmuster in mattem Silber. Früher hätte ich mich sicherlich für ein verrückteres Motiv entschieden. Eine Karikatur vielleicht oder eine Bulldogge. Ich wusste selbst nicht genau, was ich an diesen Hunden fand. Sie sind dick, faltig und die Mehrzahl hat einen Überbiss. Trotz und mit diesen, für die meisten Menschen durchaus negativen, Attributen, möchten sie auch nur eines; Ein gutes Zuhause, einen Menschen, der ihnen Zuneigung schenkt. Für ihr Aussehen können sie schließlich nichts und genau genommen ist es ihnen sowieso schnuppe. Ich nahm einen Zug von meiner Zigarette. Mein Jackett hatte ich mir wieder locker über den Arm gehängt. Wie ich in diesem Moment hier draußen stehen und über die Merkmale einer Hunderasse nachdenken konnte, war mir selbst ein vollkommenes Rätsel. Jemand tippte mir auf die Schulter. In meinem Magen kribbelte es. Ich wandte den Kopf nach rechts, blickte in Tomikos verweinte Augen, die mich beinahe fassungslos zu mustern schienen. Dafür wirkte ich umso gefasster. Ich dachte es müsse einen guten Ausgleich schaffen, stattdessen brachte mein Verhalten eine Unausgewogenheit in unsere Verbindung, dass es in der Leitung nur so krachte. „Was zum Teufel ist bloß los mit dir?!“, tobte sie, „Muss man eine Gefühlsregung erst aus dir herausprügeln?!“ Ich schnippte die überstehende Asche auf das Gitter neben mir. „Einer von uns muss schließlich die Ruhe bewahren“, entgegnete ich und brachte das Fass zum Überlaufen. Ich war beeindruckt von der Fülle an Emotionen, die über ihr Gesicht huschten, bis ihre Fassungslosigkeit in Wut umschlug. Wie bei einem Glücksrad, bei dem der Zeiger endlich zum Stillstand kam. Ich hätte es gerne im Zeitraffer gesehen. „Wenn du so einen kühlen Kopf bewahren kannst, kannst du dich mit dem Bestattungsinstitut auseinandersetzen!“ Sie hatte ihre, vom Weinen angeschlagene, Stimme notgedrungen um einige Dezibel gesenkt. Ich drückte den Glimmstängel auf der Gitterfläche aus und ließ ihn durch eine der quadratischen Öffnungen fallen. „Ja“, antwortete ich nüchtern. Damit hatte ich sie jetzt wohl endgültig in den Wahnsinn getrieben. Bildlich gesprochen, täte sich wahrscheinlich just in diesem Moment ein schwarzes Loch unter ihren Füßen auf, das sie in einen Strudel aus Verzweiflung, Trauer und Wut zerren würde. Ich blendete mein Vorstellungsvermögen aus und sah so lediglich, wie sie über den Parkplatz zu ihrem Wagen ging, die Hände zu Fäusten geballt. Wann war ich nur so hässlich geworden? Ich hätte jetzt gerne eine Bulldoge zum lieb haben gehabt. Ich glaube, ich mochte sie eigentlich gar nicht, ich war eifersüchtig auf sie. Vor drei Jahren hatten wir uns getrennt. Mit ‚wir’ meine ich die Band. Wir hatten Erfolg, haben sogar Hallen gefüllt, doch wie jede Ära, nahm auch diese ein Ende. Und das Ende war früh abzusehen gewesen, nachdem Aoi geheiratet hatte und ich Probleme mit der Bandscheibe bekam. Ich glaube fast wir alle hatten zu dieser Zeit das Verlangen uns in unser, bis dahin vernachlässigtes, Privatleben zurückzuziehen. Nach unserer Auflösung habe ich mich zum ersten Mal wirklich alt gefühlt. Die Zeit mit der Band war wie im Flug vergangen und meine andauernden Rückenprobleme unterstrichen die Situation perfekt. Früher dachte ich immer, die Musik wäre mein persönlicher Jungbrunnen. Doch Körper und Geist schienen geteilter Meinung zu sein. Meine Drumsticks rührte ich immer seltener an. Ich hatte mein schillerndes Bühnenoutfit gegen einen Maßanzug getauscht. Ich stand nicht mehr auf der Bühne, ich war der Hintermann, der die Fäden zog. Ich war Wegbereiter, Streitschlichter, Audioregisseur, schlicht Vertragspartner für Künstler und Plattenfirma. Dennoch erfüllte mich meine jetzige Arbeit als Produzent mit einer ähnlichen Zufriedenheit wie sie mir das Musikmachen selbst verschafft hatte. Zum Teil sind es meine Ideen, die als Töne die Hörer erreichen. Das genügte mir. Ich drehte den Schlüssel im Schloss bis ich einen Widerstand spürte. Mit dem Fuß drückte ich gegen die weiß lackierte Wohnungstüre. „Ich bin zurück“, sagte ich. Keine Antwort. Das Klicken der Türe hallte in dem kleinen Flur wider. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und legte die Schlüssel auf die hölzerne Kommode. Eine weiße, selbst gehäkelte Decke zierte die Oberfläche. Mari hatte darauf bestanden dem dunklen Tischchen etwas Freundlichkeit zu verleihen. Der Anrufbeantworter blinkte. Ich griff nach dem Ultraschallbild, das am Spiegel über der Kommode pinnte und knüllte es zusammen, bevor ich den Knopf des Apparates drückte. „Hallo, Kai… ich bin’s. Ich hab gehört was passiert ist. Es ist so schrecklich, ich kann es nicht fassen. Es tut mir so leid… Bitte lass mich wissen, wenn du etwas brauchst. Melde dich.“ Ich ballte meine Hand zu einer Faust. Als ich in den Spiegel blickte, glühten meine Wangen rot. Ich hätte wissen müssen, dass Tomiko Reita unverzüglich darüber informieren würde. Ich löschte die Nachricht. Der frühere Bassist hatte sich schon zu oft in Dinge eingemischt, die ihn nichts angingen. Ich zerriss das Papier in meiner Hand. Die übrig gebliebenen Schnipsel spülte ich in der Toilette hinunter. Ich ging in die Küche und griff in meinem Kühlschrank nach einer Dose Bier. Draußen dämmerte es bereits. Seit heute Vormittag hatte ich nichts mehr gegessen. Mein Appetit hielt sich allerdings in Grenzen. Ich löschte das Licht und ging in das gegenüberliegende Wohnzimmer. Alles war unverändert, so, wie ich es verlassen hatte. Die zerwühlte Decke zeugte davon, dass hier vor kurzem noch jemand gesessen hatte. Ich stellte die Dose auf den rechteckigen Glastisch und nahm die Decke in beide Hände. Vorsichtig, als könne sie sich jeden Moment in Rauch auflösen, roch ich daran. Es war ein zarter, süßlicher Geruch, der mir in die Nase stieg. Ein wenig Lavendel, ein wenig Honig. Ich vergrub das Gesicht in dem beigen Flaum, schmiegte meine Wangen fest hinein, bevor ich anfing zu schreien. Schon als ich das Bier aus dem Kühlschrank genommen hatte, war mir klar gewesen, dass mir 75ml dünner Alkohol nicht reichen würde. Seit einer Stunde saß ich auf den weißen Polstern und rüstete mich auf das, was mir bevorstand. Es bereitete mir Magenschmerzen und ließ mich einige Male sauer aufstoßen. Meine Kehle brannte von Alkohol und Zigaretten. Als ich aufstand, musste ich aufpassen, nicht über einige der leeren Dosen zu fallen. Ich schlängelte mich im Zick-Zackkurs in den Flur und riss aus der untersten Schublade der Kommode eine große Mülltüte. Ich brauchte einen Moment bis ich es schaffte, das dünne Plastik auseinander zu friemeln und biss ungeduldig die Zähne zusammen, dass ich das Blut in meinen Ohren rauschen hörte. Als ich den Kampf endlich gewonnen hatte, fielen der gelben Tüte die leeren Dosen und der volle Aschenbecher zum Opfer. Ich riss das Fenster auf und atmete durch. Mein Blick fiel auf die Schlafzimmertüre und schon jetzt spürte ich die Übelkeit in mir aufkeimen. Ich selbst fand mich noch nicht betrunken genug dafür, um mich in meine persönliche Hölle zu wagen, doch ich konnte es nicht länger hinauszögern. Schwerfällig drückte ich die Klinke hinab. Die Rollläden waren noch immer zugezogen. Es graute mir davor die Lampe anzuschalten. Doch in der Dunkelheit würde ich mich schwer zurechtfinden. Mit einem leisen Summen sprang die Deckenleuchte an. Ich blinzelte einige Male als mir die Helligkeit in die Netzhaut stach. Gelbe und rote Punkte vermischten sich vor meinen Augen und was blieb, war das Rot auf weißem Untergrund. Ich schluckte trocken und wieder spürte ich meinen Magen. Meine Hände zitterten als ich das blutige Laken von der Matratze und die Überzuge von den Bettdecken riss. Grob stopfte ich es zu den Dosen und der kalten Asche in die Tüte. Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust und für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl, es würde zerspringen. Ich sah auf die hüllenlosen Decken und die weiße Matratze. Ich glaubte nicht, dass ich heute Nacht hier schlafen können würde. Mit einem Nylonband knotete ich den Sack zu und hoffte, dass dieser die Last tragen würde. Wenigstens bis ich ihn aus der Wohnung geschafft hatte. Es war noch nicht ganz Mitternacht als ich meine Autoschlüssel schnappte und die volle Tüte in den Kofferraum meines Wagens lud. Ich musste eine Last loswerden. Selbst wenn es mir nur helfen sollte, die heutige Nacht zu überstehen, ich musste sie loswerden, um mit dem Geschehenen abschließen zu können. Es war Ballast, der die Seele vergiftete. In meinem Subaru fuhr ich durch die nächtlichen Straßen Tokyos. Noch immer war es schwülwarm. Die Klimaanlage lief, doch das Radio hatte ich ausnahmsweise ausgeschalten. Ich wollte allein sein. Allein in meinem Wagen mit einer Tüte voll Bierdosen, dreckigen Laken und Zigarettenstummeln. So wie der Inhalt es widerspiegelte, fühlte ich mich. Schmutzig, leer und aufgebraucht. In der Nähe einer Plastikfabrik gab es einen Schutthaufen. Eine weiß-rote Schranke versperrte mir die Zufahrt auf den Fabrikparklatz und so parkte ich den Wagen neben der Umzäunung am Straßenrand. Die Tüte hatte zum Glück noch keine Risse abbekommen und so konnte ich sie mir über die Schultern werfen ohne Gefahr zu laufen etwas zu verlieren. Ich ging die wenigen Meter zu Fuß über trockenen Rasen bis ich einen circa anderthalb Meter hohen Zaun erreichte. Einige Gummireifen waren davor zu einem Muster gereiht. Wahrscheinlich hatten sie Kinder zum Spielen benutzt. Ich lud den Sack daneben ab und lehnte ihn vorsichtig gegen den kalten Draht. Die Reifen kamen mir mehr als gelegen, denn ich wollte nicht riskieren, dass sich das Plastik am spitzen Ende des Zaunes verfängt und der Inhalt auf der falschen Seite landet. Ich stapelte zwei der Reifen aufeinander und stellte mich probeweise darauf, um zu sehen ob sie mich trugen, ohne zu sehr aus dem Gleichgewicht zu rutschen. Es schien zu funktionieren und so packte ich die Tüte, streckte mich und warf sie so gut ich konnte zwischen verwesendes Holz und Elektroschrott. Ich fühlte mich befreiter als ich den Weg zurück zu meinem Wagen ging. Der Motor schnurrte in der nächtlichen Stille und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete durch. Als ich zurückfuhr lief das Radio und erst in den frühen Morgenstunden drehte ich es aus. Kapitel 2: ----------- „Ich werde heiraten!“ Aoi strahlte von einem Ohr zum anderen als er uns diese freudige Mitteilung machte. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet der impulsive Gitarrist mit der lauten Stimme und der hibbeligen Art als erster von uns fünfen heiraten würde? Vielleicht war es auch nur das Überraschungsmoment und der Umstand kam mir deswegen seltsam schwammig vor. Die Worte hatte ich verstanden nur den Schweregrad ihrer Bedeutung konnte ich in dieser Situation nicht erfassen. Aoi war der Älteste der Band und gleichzeitig der Naivste. Es war mir ein vollkommenes Rätsel wie er bis jetzt im Showbusiness hatte überleben können. Später erzählte er mir einmal, dass ihn der Rückhalt der Band stark gemacht hat, überlebensfähig. Ohne seine Freunde hätten ihn die hungrigen Mäuler der Musikindustrie längst gefressen. Uruha erhob sich neben mir. Ich rutschte tiefer in die Kissen als das Gewicht schwand. „Das ist großartig, Aoi!“ Die schlanken Arme des Gitarristen wanderten um Aois Hals, drückten ihn sanft. Ich stemmte meine Füße auf den Boden und stand schwungvoll auf. Fest klopfte ich ihm auf die Schulter. „Glückwunsch“, lächelte ich. „Das muss gefeiert werden!“ Uruha war Feuer und Flamme. Voller Enthusiasmus griff er nach einer vollen Sprudelflasche und schüttelte sie wie ein Rennfahrer auf dem Siegerpodest. Noch bevor es Aoi und mir gelang die rettende Tür zu erreichen, prasselte ein Wasserregen auf uns nieder und durchnässte unsere Oberteile bis sie an unserer Haut klebten. Aoi lachte und beschimpfte den Übeltäter zugleich, während ich mir die feuchten Strähnen aus dem Gesicht strich. Auch Uruhas T-Shirt hatte die Fontäne nicht ohne Flecken überstanden. Ich sah ihm zu wie er es sich galant auszog und sich danach mit der Hand durch sein schulterlanges Haar fuhr, das ihm nach dieser Aktion in wilden Strähnen ins Gesicht hing. Seine Taille war schmal und seine Haut sahneweiß, was es mir schwer machte den Blick abzuwenden. Aoi stieß mir den Ellenbogen in die Seite. „Wäre es Kais Wohnung, hätte er uns längst rausgeworfen“, feixte er. Uruha zog eine Schnute. „Aber das ist meine Wohnung und sicher nicht das erste Mal, dass das Sofa Flecken abbekommt.“ Er lachte auf, schwang sein blaues Oberteil über dem Kopf und verschwand in das angrenzende Schlafzimmer. „Da bin ich mir sicher“, murmelte ich als Uruhas wackelnder Hintern aus meinem Blickfeld verschwunden war. „Wissen es Reita und Ruki schon?“ Ich wandte mich Aoi zu, sicher die Antwort zu kennen. Wie erwartet schüttelte der Gitarrist den Kopf. Wie schon so oft in letzter Zeit spürte ich den Bruch der Band deutlich. Ich wusste nicht, ob es den anderen ähnlich ging, doch ich hatte das Gefühl wir steuerten unaufhaltsam unserem Ende entgegen. Sollte man sprichwörtlich nicht damit aufhören wenn es am schönsten ist? Uruha kam in einem knitterfreien Hemd und mit einer Sektflasche in der Hand zu uns zurück. Uruhas Kleidung war stets faltenlos. Ebenso wie seine Persönlichkeit. Er mochte Ecken und Kanten haben, jedoch habe ich noch keine einzige ungebügelte Falte an ihm entdeckt. Falten erstickte er im Keim. „Wir sollten mit etwas Prickelnderem als Wasser anstoßen. Was meint ihr?“ Ich schmunzelte. Ja, Uruha trank gerne. Bevor der smarte Gitarrist auf die Idee kommen konnte auch diese Flasche zu schütteln, nahm ich sie ihm aus der Hand und löste den Korken weniger spektakulär. Derweil hatte Uruha drei Gläser aus der Vitrine geschnappt und sie auf dem hellen Holztisch platziert, bereit gefüllt zu werden. Mehr als ein Mal schenkte er mir nach. Mir wurde warm und ich merkte wie ich mich entspannte. Ich sank zurück in die weichen Polster. Automatisch wanderte meine Hand zu meinen Rücken. Mit Daumen und Zeigefinger fuhr ich meine Wirbelsäule entlang. Ein Handgriff, der mittlerweile zur Gewohnheit geworden war. Als ich die Blicke der beiden bemerkte, löste ich die Hand aus meinem Rücken und trank einen großen Schluck. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Uruha und ich setzte ein Grinsen auf. Alles okay, wollte ich damit sagen. Und tatsächlich ging es mir gut. Präziser gefasst, meinem Rücken ging es gut. Manchmal hatte ich das Gefühl meine Wirbelsäule wäre ein abstrakter Mörser und nach und nach würde sie mich zermahlen. „Wirklich?“, hakte Uruha nach. „Wirklich“, versicherte ich. Uruha schnaufte leise. Er streckte seinen Arm nach der Fernbedienung aus und schaltete die Anlage ein. Er übersprang einige Lieder bis er einen Titel für gut befand und The Cure aus den Lautsprechern drang. Friday, I’m in love. Aoi lachte leise auf. Uruha mochte Robert Smith und wann sein selbst zusammengestellter Sampler das letzte Mal den CD-Spieler verlassen hatte, vermochte niemand zu sagen außer Uruha selbst. Es wurde spät und Uruha bot uns an bei ihm zu übernachten. Doch da Aoi mit dem Wagen hier war und Tomiko nicht warten lassen wollte, schlug er das Angebot aus. Ich rang mit mir selbst. Ich würde gerne bei ihm schlafen, doch die Gewissheit die Wohnung am nächsten Morgen so oder so verlassen zu müssen, machte mir zu schaffen. Es würde mir nur unnötig schwer fallen. Ob Aoi mich mitnehmen könne, fragte ich, denn ich hätte vergessen die Katze zu füttern. Das war seiner Zeit eine meiner lausigsten Ausreden. „Du vernachlässigst deine Katze zur Zeit etwas viel“, merkte Aoi an als wir in seinem Toyota saßen. „Ich bin es nicht gewohnt mich um ein Tier zu kümmern. Ich werde mich bessern“, gelobte ich. Tatsächlich hatte ich Maigo* (so hatte ich sie getauft, nachdem mir die Leiterin einer Abgabestation erzählt hatte, dass ihnen das Kätzchen völlig orientierungslos in die Arme lief. Niemand schien es zu vermissen, niemand kam, um es abzuholen.) erst seit drei Monaten bei mir Zuhause. Nachdem unsere Touren weniger wurden und alles auf einen Stillstand hinwies, fühlte ich mich einsam in meiner Wohnung und ich hatte ihr ein neues Heim gegeben. Wie alt sie war wusste ich nicht, woher sie kam wusste ich ebenso wenig. Doch als ich sie sah, maunzend in einem kleinen Käfig, wusste ich eines ganz sicher, dass ich nicht ohne sie nach Hause gehen würde. Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Sie genoss meine Streicheleinheiten und ich genoss sie ebenfalls. Es tat gut durch das weiche Fell zu kraulen, zu spüren wie sich ihr kleiner Körper bei jedem Atemzug hob und senkte. Sie hatte eine kahle Stelle über ihrem rechten Auge. Es fiel besonders auf, weil sie komplett schwarzes Fell hatte. Für mich stellte es keinen Schönheitsmakel dar, sondern einen hohen Wiedererkennungswert. Sie sah richtig verwegen aus, wenn sie sich der Spielmaus in ihrem Rondell stellte. Als ich nach Hause kam schlief sie auf dem Sessel, ihrem auserkorenen Lieblingsplatz. Der Futternapf war geleert und auch die Milch hatte sie feinsäuberlich ausgeschleckt. Ich zog mich ins Schlafzimmer zurück. Die Frage wie Reita und Ruki die Neuigkeit aufnehmen würden beschäftigte mich. Aoi schien der Einzige zu sein, der es wagte einen Schritt in Richtung Zukunft zu gehen. Doch als Band traten wir auf der Stelle. Wir alle waren Individuen, die sich in unterschiedliche Richtungen entwickelten. So etwas kann gut oder schlecht für eine Band sein. In unserem Fall hatten unsere Veränderungen eine negative Auswirkung. Ganz davon abgesehen, dass uns die Plattenfirma samt Produzent im Nacken saß und unsere künstlerische Freiheit mit unserer Uneinigkeit immer weiter abnahm. Ich hatte mich gerade hingelegt als das Telefon ging. Ich ließ es klingeln bis der Anrufbeantworter ansprang. „Du müsstest längst Zuhause sein“, vernahm ich Uruhas gedämpfte Stimme durch die angelehnte Türe hindurch, „Schläfst du schon?“ Ich sprang auf. Im Flur nahm ich den Hörer ab. „Uruha?!“ „Hab ich dich geweckt?“, fragte er. Ich verneinte. Seine Stimme klang ruhig, fast ein wenig schläfrig. Ich hörte den Alkohol aus ihm sprechen. „Glaubst du, dass wir es schaffen?“ „Ich habe Zweifel“, gestand ich ihm und Zweifel plagten ihn mit Sicherheit auch, sonst würde er mich nicht mitten in der Nacht anrufen und diese Frage stellen. Nicht einmal wenn er betrunken war. „So…“ Wir schwiegen eine Weile. Ich lehnte an der Kommode, dem Spiegel den Rücken gekehrt. Bevor ich sein leises Räuspern hörte, dachte ich schon er wäre eingeschlafen. „Ich hab jemanden kennen gelernt.“ Diese Worte stürmten so unvorbereitet auf mich ein, dass ich mir nicht mehr sicher war, ob wir noch vor wenigen Minuten von derselben Sache gesprochen hatten. Hatte ich vorhin eine letzte Chance vertan? „Das freut mich, Uruha“, sagte ich und fühlte mich dabei wie ein Roboter, der sein Programm zur Selbsterhaltung abspielte. „Er ist wirklich nett“, erklärte er, „Er arbeitet bei einem Autohaus.“ „Auf Männer in Anzügen warst du schon immer scharf“, sagte ich, doch es gelang mir kaum es belustigt klingen zu lassen. „War das ein Vorwurf?“ Seine Stimme klang verunsichert und ich rief mich zur Ordnung. „Ich bin nur müde“, versuchte ich das Gleichgewicht in unser Gespräch zurückzubringen, „Ich freue mich wirklich, wenn du jemanden gefunden hast. Stellst du ihn uns vor?“ Wollte ich ihn überhaupt kennen lernen? „Vielleicht. Er wohnt nicht in Tokyo“, erklärte er mir. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass mehr an der ganzen Sache hing, doch ich war zu müde, mein Kopf vom Alkohol zu benebelt. Als ich nicht antwortete, fragte er mich, ob ich geistig noch anwesend wäre. Ich lachte leise und verneinte. Er wünschte mir eine gute Nacht und entschuldigte sich für seinen späten Anruf, dann legte er auf. Ich musste die neuen Informationen erst sortieren bevor ich sie speichern konnte. Sonst würde ich durcheinander kommen. Vorerst lagen sie in einem temporären Ordner und würden bis morgen früh warten müssen. Davor wollte ich mir keine Gedanken darüber machen. Sie würden mir den Schlaf rauben. Als Uruha in die Band kam, machte er keinen Hehl daraus, dass er homosexuell war und niemand von uns hatte ein Problem damit. Ein Problem wurde es für mich erst, als ich begann Uruhas Art attraktiv zu finden. Doch Uruha war ein Mann und er war ein Arbeitskollege. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was er eben von mir erwartet hatte. Dass ich jubele oder dass ich ausrasten würde. Vielleicht aber auch genau das, was ich getan hatte. Ich hatte in einen Modus umgeschaltet, bei dem ich bildlich gesprochen aus meinem Körper trat und eine sprechende Hülle hinterließ. Meine Gefühle nahm ich dabei mit. Ich stand quasi neben meinem leeren Selbst und beobachtete es ruhig. Ich versuchte diesen Zustand bis zum nächsten Morgen andauern zu lassen, doch es gelang mir nicht. Im Morgengrauen riss ich meinen Wecker in einem Anfall von Verzweiflung von meinem Nachttisch. Ich lag wach in meinem Bett und rang um Kontrolle. Meine Knochen begannen zu mahlen, mein Rücken schmerzte. Ich würde eine weitere Kapsel aus meiner Packung brauchen. *Maigo: verirrtes Kind Kapitel 3: ----------- Als ich mit dicken Augenringen am nächsten Morgen meinen Briefkasten leerte, fiel mir ein selbst adressierter Umschlag in die Hände. Überrascht behielt ich ihn einige Sekunden lang stumm zwischen den Fingern und starrte auf meine Handschrift. Eigentlich wollte ich das Bestattungsunternehmen anrufen, stattdessen schnappte ich meine Wagenschlüssel und fuhr auf direktem Weg zu Tomiko. Sie sah noch genauso verweint aus wie am Tag zuvor, als sie mir die Türe öffnete. „Was willst du?“, fragte sie mit belegter Stimme. „Ich möchte zu Hana.“ „Hana ist um diese Uhrzeit im Kindergarten.“ Sie klang gereizt. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Natürlich war sie im Kindergarten. Es war noch nicht einmal Elf. Trotzdem wurde mir Einlass gewährt. Ich streifte meine Schuhe von den Füßen und stellte sie ordentlich neben der Türe ab. „Du stinkst“, bemerkte Tomiko. „Kann sein“, erwiderte ich. Ich hatte mich seit gestern weder geduscht, noch hatte ich mich umgezogen. Nun bekam ich nicht einmal Gastpantoffeln. Spätestens jetzt wäre bei jedem der Groschen gefallen, dass er hier nicht willkommen war. Es war nicht so, dass wir uns nicht leiden konnten. Der andere war uns nur mehr oder minder egal. Deswegen mochte ich unser Verhältnis so sehr. Es war so ehrlich. In Socken folgte ich ihr in die Küche. „Wann holst du sie denn ab?“, fragte ich während ich mich auf einem der Rattanstühle niederließ. Tomiko setzte ihre Arbeit, die sie wegen mir unterbrochen hatte, fort und schälte, mir gegenüber sitzend, Kartoffeln. Ich sah zu, wie lange, erdige Streifen Kartoffelhaut auf das ausgelegte Zeitungspapier fielen. „Ein Fahrdienst bringt sie nach Hause. Zum Essen ist sie hier“, antwortete sie, „Hast du dich mit dem Bestattungsinstitut in Verbindung gesetzt?“ Ich verneinte und beschwichtigte sie zugleich mit den Worten, dass wir uns hier und jetzt auf die Art und Weise der Bestattung einigen konnten und ich den Anruf ohne Aufschub von hier aus tätigen würde. Das beruhigte sie. Beide kamen wir zu dem Schluss, dass es eine schlichte Feuerbestattung werden sollte. Nicht mehr und nicht weniger. Wir wollten alles so schnell wie möglich hinter uns bringen. Es gab keine Verwandtschaft mehr. Tomiko war Maris einzige Schwester und beide Elternteile bereits verstorben. Ich selbst hatte keine Geschwister, der Kontakt zu meinem Vater war nach der Trennung meiner Eltern kaum bis gar nicht vorhanden und meine Mutter lebte in England. Spätestens wenn der Termin der Beerdigung feststehen würde, müsste ich sie von Maris Tod unterrichten. Noch schaffte ich es nicht diese Gnadenfrist zu unterschreiten. Während ich die Nummer des Bestattungsunternehmens wählte, wechselte ich in meinen Robotermodus. Sachlich und mit fester Stimme trug ich mein Anliegen vor und äußerte meine Wünsche. Ich bekam für den morgigen Nachmittag einen Termin. Als ich wieder in die Küche kam, erwischte ich Tomiko dabei wie sie sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts über die Augen strich. Sie hatte wieder angefangen zu weinen. Ich setzte mich. „Hast du Aoi informiert?“ Ich fand, dass ihr Mann bei ihr sein sollte. Sie schüttelte den Kopf. Er habe zuviel zu tun. Jetzt, da eine neue Musiksendung mit ihm als Moderator an den Start gehen sollte, war er die letzten Tage selten Zuhause. „Aber Reita hast du angerufen.“ Es klang wie ein Vorwurf. Es war ein Vorwurf. Ihre Augen blitzen mich an. Ich sah eine Sicherung förmlich durchbrennen. „Er hätte meine Schwester mehr verdient als du! Es ist mir immer noch ein Rätsel, was sie gerade an dir fand!“, krächzte sie, „Ganz davon zu schweigen, dass er mehr Betroffenheit gezeigt hat, als ihr eigener Ehemann!“ Da waren sie. Die Worte, die seit einiger Zeit in Tomiko getobt haben mussten. Ich wartete schon eine Weile darauf, dass sie sie aussprach und nun war es endlich soweit. Ich strich mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Morgen um 17 Uhr habe ich einen Termin beim Bestatter“, sagte ich. Tomiko blähte wütend ihre Nasenflügel und schnaubte. Gekochte Kartoffelscheiben fanden nach und nach ihren Weg in eine mit Blumen verzierte Schale. Wir saßen uns stumm gegenüber. Ich wartete bis sie alle Kartoffeln geschnitten hatte, dann warf ich einen Blick auf die Uhr. Bald würde Hana hier sein. Hana war Aois und Tomikos einziges Kind. Im November letzten Jahres wurde sie vier. Tomiko schnitt ihr das Haar sobald es bis über ihre Schultern ging, damit Hana ihre heiß geliebten Zöpfe zu beiden Seiten tragen konnte. Sie liebte Kirschen. Deswegen Band Tomiko ihrer Tochter die Zöpfe mit roten Haargummis, an denen dicke, runde Plastikkirschen baumelten. Die Klingel surrte. Tomiko stand auf, wischte sich die klebrigen Finger an ihrer Schürze ab und ging zur Türe. Ich blieb sitzen, lauschte den Geräuschen im Flur, den lauter werdenden Schritten, bis Hana ihre kurzen Arme um meine Hüfte schlang (denn höher kam sie nicht) und mit strahlendem Gesicht zu mir hochsah. Ich lächelte. Tomiko blieb mit unbestimmtem Gesichtsausdruck im Türrahmen stehen. „Ich hab richtig geraten!“, verkündete Hana stolz, „Ich hab geraten, dass du unser Besuch bist.“ „Du bist schlau, Hana-chan“, lobte ich sie und stupste ihr mit dem Finger an die Stirn. Sie kicherte und löste sich dann um in ihrem Ranzen zu kramen. Tomiko trat schweigend an den Herd um den vorbereiteten Fisch zu braten. Ich wollte ihr meine Hilfe anbieten, da lenkte Hana meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Schau!“ Sie hielt mir ein bemaltes Blatt Papier vor die Nase. Ich nahm es ihr vorsichtig aus der Hand und betrachtete es. „Tante Mari ist jetzt ein Engel“, erklärte sie. Ich besah die Wolke auf der die Kinderbildvariante meiner Frau saß, ihre weißen Flügel und den blauen Himmel. „Sie kann uns von dort oben alle sehen und auf uns aufpassen!“ Ich lächelte. Eine andere Wahl hatte ich nicht. Mit leichtem Druck streichelte ich ihr über den Kopf. „Da bin ich mir sicher“, sagte ich. Es gab Fisch und Kartoffelsalat. Da Hana selbst den ganzen Fisch nicht schaffte, teilte sie brüderlich mit dem uneingeplanten Gast. Tomiko kochte gut. Besser als ihre Schwester. Im Gegensatz zu ihr hatte sie Kochkurse besucht und nicht selten hatte sie die beste Mahlzeit von allen präsentiert. Mari hingegen hatte sich damit zufrieden gegeben etwas Einfaches, Essbares zustande zu bringen. Der Unterschied war nur, dass selbst Tomikos einfache Gerichte besonders schmeckten. Mit einer Serviette wischte Tomiko ihrer Tochter etwas Mayonnaise aus dem Mundwinkel, ehe sie uns mit den Worten, wir würden sie beim Küchenputz behindern, aus dem Raum schickte. Ich schätzte sie wollte mich loswerden. Denn je eher ich mit Hana sprach desto schneller würde ich mein Anliegen erledigt haben. Zusammen mit Hana nahm ich auf dem Sofa platz. Ich versteckte meine Hände auffällig hinter dem Rücken und schon hatte ich Hanas Aufmerksamkeit gewonnen. „Was hast du da?“, fragte sie in lieblichen Tonfall und reckte ihren Hals um einen Blick darauf zu erhaschen. Ich schmunzelte. „Rat mal.“ Sie spitze die Lippen. Ihr Blick wanderte an die Decke, während sie im Schneidersitz vor und zurück wippte. „Eine CD“, riet sie. Ich schüttelte den Kopf. „Einen Versuch hast du noch“, sagte ich, weil ich spürte, dass ich sie sonst nicht bei Laune halten konnte. Hana war nicht besonders geduldig. „Ein Malbuch!“ Mit erwartungsvollen Augen blickte sie mich an, als ich das Geheimnis lüftete, indem ich langsam einen Umschlag hinter meinem Rücken zum Vorschein brachte. Sie runzelte die Stirn ehe ihre kleinen Finger den Umschlag unsanft aufrupften und ihre Augen zu strahlen anfingen. „Du hast eins bekommen. Danke!“ Fasziniert sah sie auf ihr persönliches Ringo Starr Autogramm. In blauem T-Shirt mit der Aufschrift Love posierte der Ex-Schlagzeuger der Beatles in lockerer Haltung vor der Kamera. Als Hana von ihrer Kindergärtnerin aufgeschnappt hatte, dass Ringo Starr bald keine Autogramme mehr geben würde, hatte sie sich in den Kopf gesetzt unbedingt noch eines zu ergatterm. Und so hatten wir uns vor drei Monaten hingesetzt und einen Brief verfasst und diesen mitsamt Rückporto nach England geschickt. Ich hatte es schon fast vergessen und nun freute ich mich umso mehr Hana ein Stück glücklicher gemacht zu haben. Tomiko verabschiedete sich an der Tür von mir. Sie wirkte lockerer als noch vor wenigen Stunden und ein feines Lächeln zierte ihre Lippen als sie sich bei mir für mein Bemühen bedankte. Ich denke einzig und allein mein gutes Verhältnis zu Hana brachte mir Pluspunkte ein. Als ich nach Hause kam, führte mich mein erster Weg in die Küche. Ich zog ein Bier aus dem Kühlschrank. Seit Maris Tod war Alkohol die einzige Möglichkeit mich zu beruhigen. Ich durfte nicht zulassen, dass Einsamkeit und Verzweiflung in mir aufkeimten. Ich wüsste nicht, wie ich mich dann wieder unter Kontrolle bringen sollte. Für derartige Notfälle war Mari zuständig gewesen. Auf dem Sessel lag Maigo. Seit gestern Nachmittag hatte ich die Katze nicht mehr gesehen. Die Wohnung war nicht sonderlich groß, doch wenn jemand versteckte Nischen und Ecken kannte, dann war es Maigo. Träge hob sie den Kopf als ich mich auf das Sofa setzte. Ich klopfte neben mich und sie verstand. Mit einem Sprung überquerte sie die beiden Armlehnen und landete zielsicher neben meinem Schoß. Ihr Kopf schmiegte sich gegen meine Hand und langsam fuhr ich ihr durch das seidige Fell. Sie schnurrte. Mit dem Gedanken, gleich eine heiße Dusche zu nehmen, schloss ich die Augen. Kapitel 4: ----------- Reitas Zigarettenrauch stieg mir in die Nase und in meinen Fingern begann es zu kribbeln. Ich widerstand dem Drang in meine Jackentasche zu greifen und mein bereits angefangenes Päckchen hervorzuziehen. Ich wollte kürzer treten. Zumindest hatte ich mir das vorgenommen. Reita seufzte während er den Rauch ausblies. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Seit einer geschlagenen Stunde warteten wir auf das frisch verlobte Paar und sein Gefolge. Ich war froh als ich hörte, dass weder Ruki noch Reita die erwarteten Reaktionen gezeigt hatten. Es hatte keinen Krach gegeben, niemand wurde laut. Selbst wenn man an Rukis Mine merkte, dass ihn die Hochzeit unseres Gitarristen im Zusammenhang mit der Zukunft der Band mehr beschäftigte als er zugeben wollte. Ich nahm einen Schluck aus meiner Kaffeetasse. Innerlich dankte ich dem Sonnenschirm, der uns Schatten spendete. Normalerweise war ich ein geduldiger Mensch, doch ich mochte es nicht wenn man mich lange warten ließ. Reita drücke seine zweite Zigarette im Aschenbecher aus. „Was denkst du, werden Drohbriefe oder E-Mails wahrscheinlich sein?“ Ich hob den Blick und setzte meine Tasse zurück auf den Tisch. Ruki hatte das Thema vor ein paar Tagen zur Sprache gebracht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir keine ernsthaften Gedanken darüber gemacht. Ich war mir bewusst, dass es nicht das erste Mal passieren würde, dass die Frau eines beliebten Musikers Hassbriefe bekam, doch aus irgendeinem Grund hatte es mich nicht gerührt. Tomiko war eine harte Nuss und Aoi kannte die Unbarmherzigkeit, die das Showgeschäft mit sich brachte. Es brauchte mehr als ein paar drohende Worte von pubertären Teenagern, um die beiden aus der Fassung zu bringen. „Möglich wäre es.“ Ich zuckte die Schultern. „Dagegen sind wir machtlos.“ Reita brummte leise und zog am Strohhalm seines Orangensaftes. Er wusste, ich hatte Recht und ich wusste, er hasste die Ohnmacht, die das Gefühl der Machtlosigkeit mit sich brachte. Ich setzte meine Tasse wieder an die Lippen und trank bevor mein Kaffee kalt wurde. Während die anderen noch ihre halbvollen Tassen vor sich stehen hatten, schenkten Aoi und ich uns meist schon wieder nach. Wenn der Kaffee nicht mehr dampfte, wurde er ungenießbar. Aoi ging sogar so weit, dass er den lauwarmen Koffeinschub eher in den Ausguss goss, statt ihn zu trinken. Als ich wieder aufblickte, sah ich Rukis blonden Haarschopf in der Menge auftauchen. Er war der kleinste von uns, doch das Platinblond war kaum zu übersehen. Ich hob meine Hand, damit er uns nicht verfehlte. Reita warf einen kurzen Blick hinter sich bevor er sich wieder umwandte. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Wenn Ruki alleine hier auftauchte, war es ein sicheres Zeichen dafür, dass wir noch warten mussten. Der Stuhl schabte über den Boden als Ruki ihn zurückzog. Er schnaubte leise ehe er die Arme vor sich auf dem Tisch verschränkte und den Kopf darauf bettete. Reita und ich wechselten einen fragenden Blick. „Alles okay?“, erkundigte sich der Bassist und stieß auf erneutes Schnauben. „Ruki?“ „Uruha macht mich wahnsinnig! Er und Mari liefern sich einen Wettkampf um das Beste Kostüm der Braut. Und keiner gibt auf“, stöhnte er gequält. „Beende es Kai!“ „Wieso ich?“, fragte ich verwundert. „Ich habe es nicht geschafft und Reita würde sich einspannen lassen. Komm schon, Kai. Der ganze Junggesellenabend fällt ins Wasser wenn Uruha sich nicht endlich loseist.“ Ich seufzte schwer. Uruha hatte den Abend geplant, doch sobald Mode ins Spiel kam, schien er selbst das zu vergessen. Langsam stand ich auf. „Dafür zahlst du mir den Kaffee.“ Ruki hob den Kopf. „Geht klar.“ Als ich mich zu ausgewähltem Laden aufmachte, hatte ich nicht den leisesten Schimmer wie ich den Moderausch der beiden beenden sollte. Ein kleines Glöckchen bimmelte als ich die Türe aufdrückte und in einen hellen Raum trat, der von Tüll und weißen Rüschen lebte. Von der Theke aus begrüßte mich eine schmächtige Verkäuferin. Ich nickte ihr zu. Kundschaft konnte ich keine entdecken. Doch aus dem hinteren Raum des Ladens drangen gedämpfte Stimmen und ich konnte Aois markantes Lachen herausfiltern. Ich folgte den Tönen und fand meine Bandkollegen samt Braut und ihrer Schwester zwischen zwei Brautkleidern im westlichen Stil und mitten in einer Diskussion über das hübscheste Modell. Die Vier schienen mich nicht zu bemerken. Ich räusperte mich. „Das dort“, sagte ich bestimmt und deutete auf das mit Perlen besetzen Dekollete. Vier Augenpaare ruhten auf mir bis Tomiko das Perlenkleid zurück an den Haken hing. Ich hatte es geahnt. Uruha stieß einen freudigen Laut aus. „Dann bin ich dir wohl einen Eisbecher schuldig.“ Ich blickte von Mari zu Uruha und seufzte. Wegen eines Eisbechers ging es also schon Stunden. „Ich lade dich ein“, sagte ich. Mari sah mich verwirrt an und ich lächelte entschuldigend. „Wegen mir hast du euren kleinen Wettstreit verloren. Deswegen lass uns demnächst ein Eis essen gehen.“ Maris gezupfte Brauen hoben sich. Dann lächelte sie. „Sehr gerne.“ Ich wandte mich ab als Uruhas Lächeln verblasste. Mit einem Bauchladen umgebunden lief Aoi durch Kabukichou, einem beliebten Vergnügungsviertel, und versuchte verzweifelt Kondome unter das weibliche Volk zu bringen. Hatte er welche verkauft mussten die Frauen auf einem neongelben T-Shirt unterschreiben, dass Uruha dem Gitarristen aufgedrängt hatte. Für Uruha eine Modesünde schlechthin aber er wollte, dass Aoi auffiel und das tat er definitiv. Einige der Mädchen hinterließen sogar ihre Handynummer und das sicher nicht zuletzt weil sie den Gitarristen erkannt hatten. Nichts desto trotz schaffte Aoi es tatsächlich ungefähr die Hälfte der Pariser loszuwerden und als Uruha es für eine angemessene Leistung hielt kamen wir zum Teil mit den Bars, durch die wir zogen bis unser frisch Verlobter nur noch schwer gerade aus gehen konnte. Dass wir in einluden, hatte der alte Schluckspecht gnadenlos ausgenutzt. Reita stützte ihn als wir das, in Shinjuku gelegene Viertel verließen. Er versprach uns Aoi sicher nach Hause zu bringen während Ruki am Straßenrand eines der Taxen anhielt. Wir warteten bis Reita den Gitarristen in den Wagen bugsiert hatte. Mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen hob er die Hand zum Abschied. Auch Uruha grinste. Und das triumphierend von einem Ohr zum anderen. Für ihn war der Junggesellenabend mit einfachen Mitteln mehr als gelungen. Ich sah dem Taxi nach. Tomiko würde uns verfluchen wenn sie ihren Mann in Empfang nehmen würde, der mit Sicherheit auch morgen zu nichts zu gebrauchen sein würde. Ruki, Uruha und ich machten uns auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Am Anfang unserer Tour waren wir zu neunt gewesen. Darunter auch ein schwules Pärchen, dass Aoi schon seit der Bandgründung kannte. Vom Tresen aus hatte ich ihnen zugesehen, wie sie sich eng aneinander geschmiegt auf der Tanzfläche bewegten. Ihre Körper schienen zu synchronisieren, jede Bewegung war so fließend als ob sie sich abgesprochen hätten. Ihre Vertrautheit gab mir ein Gefühl der Hoffnung. Bilder liefen wie ein Film in meinem Kopf ab, so schnell aneinandergereiht, dass ich sie mit meinem inneren Auge kaum zu fassen bekam. Ein Stummfilm. Uruhas Lippen bewegten sich und ich konnte ihn nicht hören. In diesem Moment hatte Rukis fester Schultergriff mich in das Hier und Jetzt zurückgeholt. Auch jetzt saß er neben mir, nippte an seinem Wasser um dem Alkohol, den er getrunken hatte, entgegenzuwirken und starrte auf die Tischplatte. Uruha war das letzte Stück mit dem Taxi gefahren. Er hatte den weitesten Weg. Wir waren allein. „Alles in Ordnung?“ „Das sollte ich Dich fragen“, entgegnete der Blondschopf und sein Blick fiel auf die leere Tablettenhülle. „Bestens.“ Seit ich eine der Roten genommen hatte ging es mir tatsächlich besser. Ich versuchte von meinem Tablettenkonsum abzulenken. „Du wirkst niedergeschlagen.“ „Gut möglich.“ Er strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. „Ich fühle mich wie nach dem Schulabschluss. Nenn es Zukunftsangst wenn du willst. Es wird nicht mehr lange dauern bis Aoi die Musik an den Nagel hängen wird. Deine Rückenprobleme halten an und Uruha hat schon verkündet ins Ausland zu gehen wenn hier alle Stricke reißen. Bleiben Reita und ich. Und es fällt mir schwer nach vorn zu blicken ohne euch an meiner Seite.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über meine Lippen. Auf irgendeine Art und Weise tat es gut diese Worte zu hören auch wenn sie weh taten. Auch ich fühlte mich allein. Ich fürchtete schon ich wäre der Einzige der sich diesen Abend so zerrissen gefühlt hat. Doch so langsam beschlich mich der Verdacht, dass in jedem von uns fünfen etwas zerbrochen war. „Wie sieht es eigentlich mit dir und Mari aus?“ Ich hob meine Brauen, überrascht über die plötzliche Wendung des Gesprächs. „Sie ist wirklich nett. Fast das Gegenteil ihrer Schwester. Ich weiß noch immer nicht was Aoi an ihr findet.“ Er seufzte tief. „Vielleicht hast du so eine große Anziehungskraft auf Mari weil Tomiko dich nicht leiden kann“, feixte er und grinste verschmitzt. „Das wüsste ich“, bemerkte ich und meine Brauen zogen sich augenblicklich zusammen wie immer wenn ich den Eindruck hatte, irgendetwas verpasst zu haben. „Wenn wir zusammen weg waren hat sie sich immer neben dich gesetzt. Sie wollte deine Drinks probieren. So etwas nennt man einen indirekten Kuss! Und sie hat Uruha gefragt was du gerne magst.“ Das war neu für mich. „Davon habe ich bis jetzt nichts mitgekriegt“, brummte ich und suchte nach Worten um Rukis drohende These zu entkräften. „Ich habe gehört du hast sie zu einem Eis eingeladen“, stichelte Ruki. „Weil ich Schuld daran war, dass sie gegen Uruha verloren hat!“ Ein vielsagendes Lächeln umspielte Rukis Mundwinkel. Ich hätte sie nicht eingeladen wäre sie mir nicht sympathisch. Ich hätte ihr keine Beachtung geschenkt wäre sie nicht mit jedem Treffen mehr in meine Reichweite gerückt. Es war als hätte ich einen eingebauten Sensor, der ein Signal aufgegriffen hätte. Maris Signal. Ich hätte ihr keine Beachtung geschenkt wenn dieser Sensor das Blut nicht schneller durch meine Adern gepumpt hätte. Ich rieb mir über meine linke Brust. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)