Federkiel und Wanderstock von Carifyn ================================================================================ Kapitel 1: Wie Eines zum Anderen kommt -------------------------------------- Gern wüsste ich, wer diese Dokumente einmal finden wird... doch kann ich mit Sicherheit sagen, dass es mir nie vergönnt sein wird, das zu erfahren. Geschichten gehen stets ihren eigenen Weg. Deswegen, werte Leser, wer immer ihr auch sein mögt - lasst Vorsicht walten, wenn ihr dies hier lest, denn ihr haltet in Händen, was einst nur der Wunsch eines kleinen Jungen war... Wer ich bin? Ah, das spielt keine Rolle. Ich will euch nicht mit der Beschreibung eines alten Mannes langweilen. Was ich bin? Das ist schon sehr viel interessanter. Oh, nicht wenige Menschen nennen mich bloß einen Träumer, einen Fantast, dem Realität fremd ist, gefangen in den Welten, die er erfindet. Andere nennen mich einen Gaukler, Schwindler oder gar Vagabund, doch die Wahrheit ist, dass sie nur neidisch sind auf die Freiheit, die ich habe, auf meinen Wegen durch das Land. Gutmütige Zungen nennen mich einen Geschichtenerzähler, doch obwohl es mir schmeichelt, ist es ebenso wenig korrekt, wie all die anderen Namen, die ich trage. Säße ich hier vor euch in dem Versuch, eine Geschichte zu erzählen – die Worte würden mir nicht mehr gehorchen. Widerspenstige kleine Biester, diese Worte. Zu einem Zeitpunkt reihen sie sich wie die süßen Klänge einer lebhaften Melodie aneinander, zu einem anderen drehen sie sich auf deiner Zunge herum und entschlüpfen deinem Mund mit den unsinnigsten Bedeutungen. Nein, ein Geschichtenerzähler bin ich wahrlich nicht. Vielmehr bin ich ein Sammler, ein Forscher... ich ziehe durch die Welt und lausche den Erzählungen Anderer. Gefällt mir ein Satz, schreibe ich ihn auf, um ihn für später zu verwahren. Dann, wenn eine Geschichte ihn braucht, baue ich ihn ein. Ja, ihr habt mich schon richtig verstanden – wenn eine Geschichte ihn braucht. Dachtet ihr wirklich, eine Geschichte müsse erfunden und erst niedergeschrieben werden? Nein, nein. Sie schreiben sich selbst. Das haben sie immer schon getan. Alles, was sie brauchen, ist jemand, der sie zu hören vermag... einen Geschichtenerzähler. Oder jemanden wie mich: Einen Schreiberling. Ich höre ihnen zu – und manchmal, da kommt es vor, dass sie sich entschließen, durch meine Finger, meine Feder, auf das Papier zu fließen. Nur ab und an helfe ich ein wenig nach... ein Satz hier, eine unerwartete Wendung dort... doch stets ist es die Geschichte selbst, die das Geschehen weiterführt. Sie lebt sich selbst. Und ich bin bloß der Erzähler. Wie – ihr glaubt mir nicht? Nun, vielleicht sollte ich einfach von vorn beginnen... Vor vielen, vielen Jahren lebte in einem Dorf, das heute auf keiner Karte mehr verzeichnet ist, ein Junge mit dem Namen Fynn Perrigan. Damals wusste er noch nichts von dem Abenteuer, das ihm bevorstand, doch schon zu diesem Zeitpunkt war er fasziniert von Geschichten. Schon früh hatte er die kleine Dorfbibliothek gelesen und begann, selbst Texte zu schreiben. Mit mäßigem Erfolg, freilich. Wie kam es, frage er sich, dass manche Menschen es schafften, mehrere Bücher mit langen Erzählungen zu füllen, während er selbst schon im Ansatz scheiterte? Seine Freunde wussten mit seinem Problem nichts anzufangen, manche verhöhnten ihn sogar, und selbst die Ältesten wussten keine Antwort, die ihn zufrieden stellen konnte. Seine Eltern versuchten stets, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, doch da sie mit seinen sechs Brüdern und Schwestern vollauf beschäftigt waren, konnte er auch von ihnen nicht allzuviel Hilfe erwarten. Unterstützung kam schließlich von einer Seite, von der er es am wenigsten erwartet hätte. Ein Mädchen, zwei Jahre älter als er selbst, sah ihn eines Morgens auf dem Schulhof über ein Blatt Papier gebeugt sitzen... „Was tust du da?“ Mit einem überraschten Quieken sprang Fynn auf die Beine und presste seinen wertvollen Papierstapel an die Brust. Dann erst blinzelte er in die Richtung, aus der die Frage gekommen war. Ein Mädchen stand vor ihm, die linke Hand erhoben, um ihre Augen vor dem Licht der morgendlichen Sonne zu schützen. Pechschwarzes, leicht lockiges Haar fiel ihr wirr um das recht bleiche Gesicht, aus dem ihm Augen der gleichen düsteren Farbe fragend entgegen blickten. Das Hexenmädchen. Er erkannte sie sofort. Aber das war auch kein Wunder. Jeder kannte sie. Sie besuchte ebenfalls die kleine Dorfschule, so weit er wusste, zwei Jahrgangsstufen über ihm. Damit würde sie im nächsten Jahr die neunte und letzte Klasse besuchen. Sie war hoch intelligent, wie es hieß, doch nichtsdestotrotz ein seltsames Mädel. Stets trug sie Kleidung, die ihr drei Größen zu groß war, in den unterschiedlichsten Farben. Heute hatte sie sich in einen grün-weiß gestreiften Pulli, die viel zu langen Ärmel großzügig nach oben gekrempelt, und in eine ebenfalls zu lange, karmesinrote Leinenhose gehüllt. Schwarz-weiße Turnschuhe ragten unter ihrer Hose hervor und schienen das einzige zu sein, das ihr nicht zu groß war. Hastig sah sich Fynn nach allen Seiten um. Was sollte er sagen, wenn ihn jemand mit dem Hexenmädchen sah? Tatsächlich begegnete er mehreren neugierigen Blicken, die sich jedoch alle schnell wieder abwandten, wenn er in ihre Richtung sah. „Hey, seh' ich so gefährlich aus, dass es dir die Sprache verschlagen hat?“ Wieder fuhr Fynn bei dem Klang ihrer Stimme zusammen. Schnell drehte er sich zu ihr um und setzte zu einer Antwort an. „Ah... ich...“ Nicht zum ersten Mal verfluchte er sich dafür, dass er vor Nervosität zu stottern begann. Hätte es nicht so lächerlich geklungen, er hätte behauptet, die Worte würden ihm willentlich entweichen, bevor er sie zu fassen bekam. Oh, und sie amüsierten sich natürlich schrecklich darüber, wie er sich ohne ihren Beistand blamierte. „Ich …habe geschrieben.“, brachte er schließlich hervor. Sie hob eine fein geschwungene Augenbraue und legte den Kopf schief. „Geschrieben? So so... darf ich es lesen?“ Fynn glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. Er musste auch ziemlich verdutzt dreingeblickt haben, denn sie lachte leise. Doch zur Bekräftigung ihrer Worte streckte sie die Hand auffordernd in seine Richtung aus. „Komm schon. Ich beiße nicht.“ Fynn warf einen unsicheren Blick auf seine Papiersammlung, die er noch immer fest umklammert hielt. „Ich... nein, nein. Das ist etwas persönliches.“ Noch nie zuvor hatte jemand seine Notizen lesen wollen. Das heißt – einmal hatte sein Freund Sando sie gelesen. Und er hatte noch sehr gut in Erinnerung, wie dieser sie kurz darauf achtlos hatte auf den Boden fallen lassen. „Unnützes Zeug“, hatte er erklärt. „Wozu soll es gut sein, so eine Geschichte zu schreiben? Es gibt keine Drachen, und auch keine Ritter, die aufbrechen, um sie zu bezwingen.“ Seltsamerweise war Sando der erste, wenn es darum ging, das Holzschwert zu ergreifen und eben jenes Szenario nachzuspielen. Aber gewiss war es auch kein Zufall, dass er die Worte seiner Eltern gebraucht hatte, die ihn nur deshalb zur Schule schickten, um lesen und schreiben zu lernen, weil es Pflicht war. Unnützes Zeug... „Ach, stell dich nicht so an. Ich will es doch nur lesen.“ Das Hexenmädchen blickte ihn stirnrunzelnd an. Was konnte es schon schaden, wenn sie seine Texte las? Er seufzte und blickte auf seine Zettel hinab. Mehr als eine abfällige Antwort würde er auch von ihr kaum zu erwarten haben. Vorsichtig zog er das vorderste Blatt aus seinem Stapel und hielt ihn ihr hin. „Hier... aber sei vorsichtig damit.“ „Ja ja...“ Mit zwei Fingern nahm sie es entgegen und ließ ihre Augen über seine krakelige Schrift fliegen. Je mehr sie las, desto tiefer runzelte sie die Stirn, und Fynn begann daran zu zweifeln, dass es eine gute Idee gewesen war, ihr den Zettel zu überreichen. Umso überraschter war er über ihre Worte, als sie ihm sein Werk zurückreichte. „Das ist gut. Wirklich gut.“ Ungläubig blickte er von ihrem Gesicht auf das eng beschriebene Blatt in seiner Hand und wieder zurück. Ihre Züge waren ernst, nüchtern. Sie wirkte weder missbilligend, noch lachte sie ihn aus. Sie fand es nicht unnütz. Im Gegenteil... sie fand es gut. „Meinst du das ernst?“, fragte er zögerlich und sah erneut zu ihr auf, ein beinahe hoffnungsvolles Glitzern in den Augen. „Todernst.“, nickte sie, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht entsprach genau ihren Worten. „Wenn du noch mehr geschrieben hast... ich werde auch das lesen.“ Mit einem neuerlichen Zögern, aber einem vor ungläubiger Aufregung hüpfenden Herzen in der Brust, gab Fynn seine Zustimmung. Sie nickte zufrieden und wandte sich ab. Ohne ein weiteres Wort lies sie ihn stehen und verschwand ihm Schulgebäude. „Was hast du mit dem Hexenmädchen zu schaffen?“, frage Sando, als Fynn sich gerade auf seine Schulbank sinken ließ. Er hatte sich über die Lehne seines Stuhles in seine Richtung gelehnt, sodass ihm das aschblonde Haar über sein sommersprossiges Gesicht fiel. „Nicht so laut...“, zischte Fynn genervt, als sich ein paar ihrer Klassenkameraden neugierig zu ihnen umwandten. In Sandos blauen Augen blitzte es, doch er senkte dennoch seine Stimme. „Nun sag schon... bald weiß ohnehin die ganze Schulde, dass man dich mit ihr zusammen gesehen hat.“ Nicht nur die ganze Schule, dachte Fynn mit einem innerlichen Seufzen. Es hatte Nachteile, in einem solch kleinen Ort zu leben... „Ich weiß wirklich nicht, was so schlimm an ihr sein soll.“, reagierte er etwas gereizt auf die Worte seines Freundes. Der seufzte enttäuscht, als hätte er auf etwas gehofft, dass es wert war, weitererzählt zu werden. „Du kennst doch die Geschichten“, antwortete er. „Sie ist die Tochter einer Hexe.“ Fynn warf ihm einen nicht wenig skeptischen Blick zu. Natürlich kannte er die Geschichten... „Und es sind vermutlich auch nicht mehr als Geschichten.“, erwiderte er. Obwohl sie ihm natürlich auch ein wenig seltsam vorkam. Man sah sie stets alleine, wie sie auf der Mauer saß und Löcher in den Himmel starrte. Oder am Ende der Treppe stand und mit konzentrierten Blick auf das Treiben der Menschen hinunter sah. Und ihre Mutter... nun, abergläubisch, wie die Leute waren, bezeichneten sie sie als Hexe. Dennoch kamen sie sofort zu ihr gelaufen, wenn sie krank oder verletzt waren. Und sie half den Leuten, mit Kräutern oder Tränken. So verdiente sie ihr Geld. Aber es brachte ihr mehr als nur einen misstrauischen Blick ein. Sie und ihre Tochter waren erst seit ein paar Jahren hier, und trotz der kleinen Gemeinschaft noch immer kaum mehr als Fremde. Oh, es gab natürlich Gerüchte. Es hieß, in manchen Nächten könne man Stimmen, Gesänge aus ihrer Hütte hören. Seltsam, manchmal sogar vielstimmig, obwohl sie keinen Besuch hatte. Andere behaupteten, sie hätte Zaubersprüche über die Tränke gemurmelt, die sie ihnen verschrieb. Gewirkt hätten sie, sicherlich, darüber waren sich alle einig, doch sehr viel schneller, als es möglich hätte sein sollen. Das könne nicht mit rechten Dingen zugehen, behaupteten die Leute. Und wer weiß... vielleicht hatten sie ja Recht? Nichtsdestotrotz entwickelte sich von diesem Tag an eine seltsame Beziehung zwischen Fynn und dem Hexenmädchen. Am nächsten Tag brachte er andere selbstgeschriebene Texte mit, wie er ihr versprochen hatte. Sie wartete bereits am Tor zum Schulhof, wo sie an der Mauer lehnte und ihre zu groß geratene Kleidung im Wind flatterte. Schweigend nahm sie seine Geschichten entgegen, las sie, lobte sie und verbesserte sogar Fehler, wenn sie welche fand. Abgesehen davon sprachen sie nicht viel miteinander. Am Tag darauf, und auch an den folgenden, brachte er immer mehr seiner Notizen mit zur Schule. Sie las jeden einzelnen Text mit Interesse, zumindest glaubte er, das aus ihrem Gesicht herauszulesen. Bis er eines Tages mit leeren Händen vor ihr stand. „Du hast nichts mehr? Was soll das heißen?“ Fynn scharrte nervös mit seinen Füßen über den Boden und wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. „Na... das, was es eben heißt. Ich habe nichts mehr, dass ich dir zu lesen geben könnte.“ Das Mädchen starrte ihn ungläubig an. „Aber warum schreibst du denn dann nicht weiter?“ Sie schien das für selbstverständlich zu halten. Aber so einfach war das nun mal nicht.... aber wie sollte er ihr das erklären? Erneut wich Fynn dem ungewöhnlich intensiven Blick ihrer dunklen Augen aus und scharrte mit den Füßen. „Es... ach, weißt du... es geht nicht.“ Er wagte es, den Kopf zu heben, aber als sie ihn immer noch mit verständnislos gerunzelter Stirn musterte, sprudelte es aus ihm hervor: „Ich kann nichts mehr schreiben. Egal, wie ich die Sache angehe – es scheitert, bevor es überhaupt begonnen hat. Es ist beinahe...“ Erst da hielt er inne. Wenn er ihr auf die Nase band, was er wirklich glaubte, würde sie ihn sicherlich für verrüctk halten. Zu seinem Erstaunen war sie es, die den Satz mit seinen Worten beendete. „... als würden die Worte sich weigern, eine Geschichte zu erzählen.“ Verdutzt sah er sie an. Dass sein Unterkiefer nach unten geklappt war, fiel ihm gar nicht auf. Sie legte auf ihre typische Art und Weise den Kopf schief. „Das wolltest du doch sagen, oder nicht?“ Fynn brauchte einen Moment, bis er sich gefangen hatte. „Woher... weißt du das?“ Seine Stimme zitterte kaum merklich. Nicht zum ersten Mal, dafür aber wesentlich eindringlicher, fragte er sich, ob an dem Hexengerede über sie und ihre Mutter nicht doch etwas dran war. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, lachte sie. „Ach, hältst du mich etwa auch für eine Hexe?“ Sie kicherte und strich sich eine verirrte Locke aus der Stirn. „Glaub' mir, es ist gar nicht nötig, Zauberei zu beherrschen. Man kann dir deine Gedanken ohne Mühe vom Gesicht ablesen.“ Vermutlich blickte Fynn nach diesen Worten noch dümmer drein, wenn das überhaupt möglich war. Aber er musste sich wohl eingestehen, dass sie Recht hatte. Sie unterdrückte einen Lachanfall, indem sie sich eine Hand vor den Mund hielt und sich mit dem weiten Ärmel ihres Pullovers die Tränen aus den Augenwinkeln wischte. „Also, wenn bloß das Weiterschreiben dein Problem ist... was hältst du davon, wenn wir es zusammen versuchen?“ Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab. „Am Fluss unten gibt es einen Ort, an dem wir ungestört sind. Bring dein Schreibzeug mit... ich warte dort nach der Schule auf dich. Dann wandte sie sich um, um so schnell zu verschwinden, wie sie es jedes Mal tat. An diesem Tag allerdings hielt sie noch einmal inne. „Ach ja...“ Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. „Ich bin Elly.“ In Ermangelung einer besseren Antwort murmelte Fynn ein „Freut mich, dich kennen zu lernen...“ Wenngleich das ob ihrer früheren Treffen wohl etwas verspätet kam. Dann wollte er noch ein „Ich bin...“ anfügen, wurde jedoch von ihr unterbrochen. „Fynn Perrigan. Ich weiß.“ Sie grinste ihn verschmitzt an – das war das erste Mal, dass er diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht sah – und wandte sich um, um ihren Weg fortzusetzen. Kapitel 2: Erzähl mir... ------------------------ Oh, Elly erstaunte mich immer wieder. Noch immer sehe ich sie vor mir, wie sie mir damals erschienen ist... die zerzausten, tiefschwarzen Locken, der ernste und dennoch verträumte Ausdruck auf ihrem Gesicht, die stets zu große Kleidung, die um ihre schlanke Gestalt schlackerte... ah, und ihre Augen... diese schwarzen Perlen waren das einzige, was ihre wahre Persönlichkeit verrieten. Wild, unbeugsam – neugierig, wissend. Ja, das waren sie, in der Tat. Ich muss ihr dagegen recht erbärmlich vorgekommen sein. Meine Familie war nie sonderlich reich gewesen, und so trug ich die triste, ausgeblichene Kleidung, die schon drei Brüder vor mir getragen hatten. Da ich jedoch von Anfang an recht hoch gewachsen war, passte sie mir wie angegossen. Mein kastanienbraunes Haar, das sich nie von einem Kamm bändigen ließ, machte dem Ellys durchaus Konkurrenz, nicht aber meine Augen. In ihrem dunklen Grün muss, neben meinem unersättlichen Wissensdurst, stets ein Ausdruck der Unsicherheit, der Vorsicht gelegen haben – aber so genau vermag ich das nicht zu sagen, denn einen Spiegel hatten wir zu Hause nicht. Ganz zu Anfang machte mir Elly Angst... Trotz ihres Alters war sie das einzige Mädchen, das mich überragte, zudem hatte sie stets etwas... unheimliches an sich. Eine widernatürliche Ruhe, als hätte sie alle Zeit der Welt. Oh, ich glaube, sie wusste es, doch wenn, so ließ sie sich nichts anmerken. Und das war Glück, denn jemanden wie sie lernte man selten kennen Oh – sie war natürlich eine Geschichtenerzählerin. Eine echte. Sie hörte viele Geschichten, und sie vermochte einjede in den schönsten Farben wiederzugeben – als würden ihr die Worte geradezu zufliegen. Und wer weiß... vielleicht taten sie das tatsächlich. Fynn biss sich auf die Lippe und blickte sich am Flussufer um. Lange hatte er überlegt, ob er herkommen sollte, hatte gezögert, denn wer vermochte schon zu sagen, was an dem Hexengerede dran war? Er hatte sich schließlich entschieden, da das Hexenmädchen – Elly, verbesserte er sich in Gedanken – die einzige war, die sich je für seine Geschichten interessiert hatte, mehr noch, seine Leidenschaft zu teilen schien, denn sie wollte mit ihm gemeinsam schreiben, helfen, seine begonnen Texte fortzuführen... Wie konnte er diese Chance ungenutzt verstreichen lassen? Auf was er sich wirklich eingelassen hatte, ahnte er freilich noch nicht. Erneut wanderte sein Blick von einer Seite des Ufers zur anderen, doch er konnte keine Spur von Elly entdecken. Schilf erstreckte sich bis an den Rand des Wassers, das sich leise dahin plätschernd den Weg über glattgeschliffene Steine suchte. Ein Graureiher stelzte ein Stück flussaufwärts durch das flache Gras des Ufersaumes. Aber von dem schwarzhaarigen Mädchen war weit und breit nichts zu sehen. „Hier drüben!“ Nicht zum ersten Mal zuckte Fynn vor Schreck zusammen. Gedanklich fluchend sah er sich um. Wie schaffte sie es nur immer wieder, ihn derart zu überraschen? Mit finsterem Blick folgte er dem Klang ihres Lachens und entdeckte sie schließlich flussabwärts auf einem Stein sitzend, die nackten Füße im Wasser baumelnd. Mit den Händen hatte sie sich abgestützt, den Kopf nach hinten geworfen, und betrachtete ihn mit einem leicht belustigten Ausdruck auf dem Gesicht. Ihre Locken flogen leicht im Wind und umrahmten ihr Gesicht wie ein Kranz. Er konnte nicht leugnen, dass er nervös war. Es lag an ihr, irgendetwas hatte sie an sich, dass ihn unruhig werden lies. Ein Glitzern in ihren Augen ließ vermuten, dass sie das durchaus bemerkte, doch ging sie mit keinem Wort darauf ein. Statt dessen grinste sie ihn an. Eine ehrliche Geste der Freundlichkeit, die er in der Schule selten von ihr gesehen hatte. Es ließ sie gleich um ein vielfaches hübscher erscheinen. Mit einer Hand klopfte sie neben sich auf den Stein. „Komm, setz' dich her.“ Zögerlich folgte er ihrer Bitte, und auf ihr aufmunterndes Nicken hin zog er sich ebenfalls die Schuhe aus und ließ die Füße baumeln. Das angenehme Kühl des Wassers umschmeichelte ihn und stimmte ihn sogleich ein wenig ruhiger. Mit einem beinahe genüsslichen Seufzen ließ er seinen Papierstapel und die Schreibutensilien ins Gras fallen, legte sich auf den Rücken und blickte in den klaren, blauen Himmeln hinauf. Elly tat es ihm gleich, und so lagen sie eine Zeit lang schweigend nebeneinander und sahen zu, wie sich vereinzelte, weiße Cumuluswolken den Weg über den Himmel suchten. Sie war es, die das Schweigen brach. „Sieh mal“, sagte sie und deutete nach oben. Fynn folgte ihrer Geste mit den Augen. „Diese Wolke... sieht sie nicht aus wie ein Drache, der mit ausgebreiteten Schwingen über den Himmel gleitet?“ Fynn runzelte die Stirn. Seltsam, so hatte er das noch gar nicht betrachtet. Sie hatte Recht. Und wenn das ein Drache ist... „Dann sieht das aus wie ein Ritter, der auf seinem Streitross hinter ihm her jagt.“ Er deutete auf eine etwas kleinere Wolke hinter der Drachenfigur, sah schon vor seinem geistigen Auge, wie diese Jagd verlaufen konnte. Der Beginn einer neuen Idee, die bald zu einer Geschichte werden konnte... „Ein Ritter?“ Elly lachte nur. „Wäre es nicht möglich, dass es bloß ein Jüngling auf seinem Pferd ist, der mit dem Drachen um die Wette reitet?“ Fynn warf ihr einen verblüfften Blick zu. Sie deutete ihn wohl richtig und schenkte ihm ein Lächeln. „Schau doch nicht so. Bist du noch nie auf die Idee gekommen, dass Drachen bloß freie Geschöpfe sind, Könige des Himmels, die zu jagen oder gar zu töten mehr als nur eine Schande wäre?“ Dachte sie an all die Ritterspiele, mit denen er sich zusammen mit den anderen Jungen in seinem Alter regelmäßig die Zeit vertrieb? Bewaffnet mit Holzschwertern und stets auf der Jagd nach Ungeheuern, die es zu vertreiben galt – wie auch Drachen. Er fühlte, wie seine Ohren vor Verlegenheit heiß wurden, als hätte sie ihm daraus einen Vorwurf gemacht. Vielleicht war er bei Elly tatsächlich an die richtige Person geraten... Er setzte sich auf und sah sie an, stellte ohne Umschweife die Frage, die ihn schon den ganzen Weg hierher beschäftigt hatte. „Elly... wieso hast du angeboten, mit mir zu schreiben?“ Sie stützte sich auf die Ellbogen und erwiderte seinen Blick unbefangen. „Ach, ich finde einfach, du hast Talent.“ Fynn konnte nicht leugnen, dass ihm das Kompliment gefiel. Vielleicht errötete er sogar... aber es überzeugte ihn nicht. Wieder einmal schien das Hexenmädchen seine Gedanken zu lesen, denn sie lächelte. „Du kannst mir ruhig glauben. Allerdings glaube ich, dir fehlt ein entscheidendes Wissen... sag mir, wie beginnst du deine Geschichten?“ Fynn bedachte sie mit einem Stirnrunzeln, ehe er die Füße aus dem Wasser zog und den Kopf auf die Knie bettete. „Na... das, was sie uns in der Schule beigebracht haben. Ich mache mir darüber Gedanken, von was sie handeln soll, wer darin vorkommt, wo und wann sie spielt... solche Dinge eben. Und wenn ich das habe, fange ich an zu schreiben.“ Elly nickte bedächtig, während er das alles auflistete. Dann sagte sie bestimmt: „Und genau da liegt dein Problem.“ Er blinzelte sie verständnislos an. Fast ohne sein Zutun entwich ihm ein nicht besonders helle klingendes „Wie?“ Das brachte Elly erneut zum Lachen. „Na, dass du nicht weiterschreiben kannst“, erwiderte sie kichernd. „Eine Blockade, die du nicht überwinden kannst... wenn du so vorgehst, wirst du auch nie weiterkommen.“ „Wie meinst du das?“ Sie ließ sich wieder zurücksinken, wobei sich ihre schwarzen Locken wie ein Fächer um ihren Kopf herum ausbreiteten. Einen Moment lang schien sie nachzudenken. „Nun... glaubst du wirklich, es gibt ein Rezept wie dieses, mit dem die Schriftsteller ihre Bücher füllen?“ Darüber hatte er sich natürlich schon Gedanken gemacht. „Ja“, nickte er. „Aber sie müssen ein besseres haben als das, das wir in der Schule lernen. Sonst würden sie ihre Geschichten kaum so schnell niederschreiben können.“ Elly blickte ihn einen Moment mit großen Augen an, dann begann sie loszuprusten, rollte sich auf die Seite und lachte herzhaft. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte. Noch immer glucksend fragte sie: „Glaubst du das wirklich?“ Fynn blickte sie empört, fast ein wenig ärgerlich an. Wie sollte es sonst sein? Für ihn war es das Selbstverständlichste auf der Welt, seit er angefangen hatte, in Büchern zu schmökern. Elly allerdings gab ihm eine Erklärung, die ihn nie wieder loslassen sollte – wenngleich er die ersten Jahre stark an ihr zweifelte. „Das ist unsinnig“, erklärte sie. „Solche Vorgaben mögen nützlich sein, insbesondere am Anfang. Doch in Wirklichkeit hilft es dir nicht, wenn es darauf ankommt. Im Gegenteil... um eine Geschichte zu vollenden, braucht es mehr als das, viel mehr.“ Fynn musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. In ihm kämpften Neugier und wiederaufkeimendes Misstrauen um die Vorherrschaft. Natürlich gewann die Neugier. „Und was soll das sein?“ Er konnte nichts dagegen tun, dass er verärgert klang. Wie konnte sie erwarten, dass er nur auf ihr Wort hin das anzweifelte, was seit Jahrzehnten in der Schule gelehrt wurde? Sie schenkte ihm erneut ein Lächeln. Für einen Moment glaubte er, ein wissendes, gleichzeitig trauriges Glitzern in ihren Augen zu sehen... doch es war zu schnell verschwunden, als dass er sich sicher sein konnte. „Du musst wissen, wie du den Geschichten zuhören kannst.“, sagte sie leise. „Versuch' nicht, sie voran zu drängen. Setz' dich statt dessen hin, sieh dem Lauf des Flusses zu, oder den Wolken die über den Himmel ziehen, und warte ab. Lausche. Zu Anfang mag es ein wenig dauern, bis du verstehst, was sie dir erzählen, doch je öfter du den Geschichten zuhörst, desto schneller werden sie deine Nähe suchen.“ Fynn lauschte dieser Erklärung mit offenem Mund. Sie konnte nicht glauben, dass er ihr das ernsthaft abnahm. Er schüttelte den Kopf, doch bevor er etwas dazu sagen konnte, fuhr sie fort. „Ich erwarte nicht, dass du mir das abkaufst.“ Er glaubte beinahe ihre Gedanken zu hören: Noch nicht... „Aber denk' darüber nach, ja? Du hast das Talent, ihnen zuzuhören, sonst wärst du bisher nicht so weit gekommen.“ Sie warf einen Blick auf seinen Papierstapel, der noch immer unberührt neben ihnen im Gras lag. Als weit würde er das nicht gerade bezeichnen... „Und dieses Talent sollte nicht verschwendet werden“, schloss sie. Fynn zögerte mit seiner Antwort, aber dann schüttelte er erneut den Kopf, abwehrend, zweifelnd. „Wenn das wahr ist, wieso hat dann noch nie jemand diese Wahrheit veröffentlicht?“ „Wie kommst du darauf, dass es nie jemand getan hat?“ Sie sah ihm direkt in die Augen. „Viele haben es versucht.. aber ihre Schriften wurden verbrannt und sie selbst als Scharlatane verhöhnt...“ „Oder als Hexen...“, murmelte Fynn und betrachtete sie genau. Elly presste die Lippen aufeinander. „Oder als Hexen“, bestätigte sie. „Hm.“ Fynn ließ sich auf den Rücken sinken und starrte gedankenverloren in den Himmel. Nach dieser Aussage konnte sie noch viel weniger erwarten, dass er ihr glaubte. Und dennoch... die Möglichkeit, dass ein Stück Wahrheit daran war, war sowohl beängstigend als auch faszinierend. „Kannst du sie denn hören?“, fragte er schließlich und wandte den Kopf in ihre Richtung. Sie hatte sich an den äußersten Rand des Steins gekniet und eine Hand ins Wasser getaucht. „Ja“, antworte sie, ohne aufzusehen. „Dann erzähl mir eine Geschichte.“ Erst jetzt blickte sie auf. Vereinzelte schwarze Locken fielen ihr ins Gesicht, die sie jedoch ignorierte. Einen Moment lang beobachtete sie ihn schweigend. Vermutlich erkannte sie, dass er ihr nicht wirklich glaubte, auch wenn ihre Züge so undurchdringlich blieben wie zuvor. Dennoch ergriff sie die Möglichkeit, ihn vielleicht von ihrer Wahrheit überzeugen zu können. Sie ließ sich neben ihm im Schneidersitz nieder und blickte auf das dahinplätschernde Wasser. „Eine Geschichte also...“ Ihr Blick war abwesend, als würde sie in sich hineinhorchen, nach Worten suchen... oder lauschte sie viel mehr nach Geschichten? Lange saß sie so. Und als sie schließlich zu erzählen begann, klang es, als hätte sie nie etwas anderes getan. Wie so viele andere Geschichten, so beginnt auch diese mit einem „Es war einmal...“. Es war einmal ein Junge. Schmächtig, in sich gekehrt, gemieden von anderen ob seiner Schweigsamkeit. Wer war er?, wirst du wohl fragen, doch eine Antwort zu finden ist schwer, denn seit sich zugetragen hat, von was ich erzählen will, sind viele Jahre ins Land gezogen. Er trug Namen, die zu nennen zu viele sind. Zu verschieden. Zu unbekannt. Er selbst allerdings bevorzugte nur einen einzigen Namen... eine Bezeichnung, die doch gleichzeitig ein Titel für sein Wesen, sein Leben war: Träumer. Dieses Wort war nicht nur eine Umschreibung, nein, es traf genau, was er war, was er tat. Schon von so Vielem hatte er geträumt – Unbekanntes, nie erzählt, nie gesehen, Geheimnisse, die er nur für sich hütete wie den wertvollsten Schatz. Und nie endeten seine Wünsche, seine Vorstellungen... nie gewann das überhand, was seine Eltern die harte Realität nannten. Es galt Abenteuer zu bestreiten, Fremdes zu entdecken... und stets war er mittendrin. Man sah es an seinem Blick... statt seinem Lehrer zu lauschen sah er, ein leises Lächeln auf den Lippen, nach draußen, wo die Weite der Welt ihn mit ihrer Unendlichkeit lockte. Nicht einmal die Prügel, die er dafür erhielt, konnten ihm diesen Zug austreiben. Wer konnte schon verübeln, dass sich seine Eltern Sorgen zu machen begannen? Kindheitsträume schön und gut, sagten sie sich, doch irgendwann musste er daraus erwachen. Erwachsen werden. Oft hielten sie ihm Vorträge darüber... doch wie so oft hörte er nicht zu. Und wenn doch, so war seine Antwort immer die gleiche. „Nein.“, sagte er. „Wenn Erwachsen werden bedeutet, das Träumen aufzugeben, so will ich es nicht.“ Seine Eltern waren hilflos, schon bald verzweifelt. Was sollten sie tun? In seinem 16. Lebensjahr hatte er noch immer nicht die Initiative ergriffen, sich eine Lehre zu suchen... ein Leben aufzubauen. Als sie einen Schmied überzeugten, ihn als Lehrling aufzunehmen, erschien er nicht einmal bei der Arbeit. Statt dessen saß er den lieben langen Tag am Rande eines Flusses, an einem Stück Holz schnitzend, während er ein Lied dazu summte. Seine Eltern wussten nichts mit ihm anzufangen. Sie hatten keine Ahnung, was er trieb, doch sie waren sich sicher darin, dass sie ihn zur Vernunft bringen mussten. Und so kam es, dass sie ihm erneut gegenüber standen, mit ernsten Mienen. Von seiner Zukunft redeten sie, von dem Ernst des Lebens, der es erforderte, dass er fähig war, Geld zu verdienen. Zum Überleben, eine Familie zu gründen... Der Träumer allerdings blieb ruhig, gelassen. Mit einem Lachen erwiderte er: „Was lässt Euch glauben, dass ich nicht um das Leben weiß, das ich führen werde? Ihr macht Euch zu viele Sorgen – denn längst habe ich vorgesorgt.“ Und dann legte er seinen Eltern all seine Pläne dar... Sie waren freilich nicht so begeistert wie er selbst. Denn er hatte vor, sie zu verlassen, in die weite Welt hinauszuziehen. Für immer ungebunden... für immer frei. Ganz gleich, was sie ihm sagten, er ließ sich nicht davon abbringen. Und so zog er wenige Tage später tatsächlich los, bekleidet mit einem Wollmantel, der ihn in kalten Winternächten warm halten sollte, und einer Tasche mit seinen wenigen Habseligkeiten... Für lange Zeit hörte niemand etwas von ihm. Doch als er eines kalten Nachts in einem Dorf weit abseits seiner Heimat wieder auftauchte, hätten seine Eltern ihn nicht wiedererkannt. Er war älter geworden, nicht länger ein Kind, sondern ein junger, hübscher Mann mit von der Sonne gebräunter Haut und einer wilden Mähne schwarzen Haares. Sein Blick war jedoch das außergewöhnlichste, denn er erzählte von dem Leid, den Gefahren, denen er auf seinen Wegen begegnet war, doch auch von Freuden, die er gefunden hatte. Seine dunklen Augen waren so voller Leben, dass sie beinahe jeden in ihren Bann zogen. Er hatte etwas gefunden, und was immer es war, sie wollten es auch. Doch er stritt es ab und seine Antwort war knapp, bescheiden, doch für manch einen, der seinen geheimnisvollen Blick zu deuten vermochte, war es eine Andeutung... ein Versprechen. „Ich habe geträumt“, sagte er. Und hier erst beginnt die eigentliche Geschichte... Kapitel 3: Ich habe geträumt ---------------------------- „Ich habe geträumt“, sagte er. Und hier erst beginnt die eigentliche Geschichte... Lange, lange Zeit war es her, seit er eine Stadt betreten hatte, dachte er und fuhr sich durch das lose Haar, das ihm wie ein obsidianfarbener, leicht zerzauster Schleier über die Schultern wallte. Was sollte er fühlen? Freude... oder Enttäuschung? Nach so langer Zeit in der freien Natur, allein bloß mit sich selbst und den Tieren – und seinen Träumen – konnte er kaum noch verstehen, wieso sich die Menschen in diese engen Häuser einsperrten. Und doch freute er sich auf ein Bett... und frische Kleidung. Mit einem Verziehen der Lippen sah er an sich hinunter. Oh, er hatte versucht, sie in bester Ordnung zu halten, aber Hose und Hemd waren dennoch abgetragen, verstaubt von den Straßen, die er bewandert und zerrissen vom Unterholz der Wälder, die er erforscht hatte. Geld hatte er keines, schon lange nicht mehr. Hatte es nie gebraucht. Wozu auch, fernab der Zivilisation? Und so verhieß das betreten dieser Stadt einen vollkommenen Neuanfang für ihn. Hinein in die Ungewissheit... neugierig darauf, was ihn erwarten würde. Die Stadtbewohner beäugten seine Erscheinung misstrauisch, während er seinen Weg fortsetzte, vorbei an geöffneten Läden, aus denen Stimmen zu hören waren, Gerüche von Gebäck und heißen Getränken herauswehten. Auf einem großen Platz erst blieb er stehen und sah sich um, ein Auge zusammengekniffen. Ja, dieser Ort war perfekt... Er störte sich nicht im Geringsten an den Marktschreiern, die lautstark ihre Ware anpriesen und steuerte den großen Brunnen in der Mitte des gepflasterten Platzes an. Dort stellte er sich auf die steinerne Ummauerung, das sanfte Geplätscher des Wassers im Rücken, und blickte auf die Menschen hinab, die geschäftig hin und her eilten. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Da waren sie... und wussten noch gar nichts von ihrer Ehre. So lauscht denn dem Klang eurer Rettung, dachte er amüsiert, bevor er sich aufrichtete und in seine Tasche griff. Heraus zog er eine lange, hölzerne Flöte, sorgsam gefertigt und abgeschliffen, mit filigranen Linien bemalt, die ihr ein mystisches Aussehen gaben. Ohne zu zögern setzte er sie an die Lippen und begann zu spielen. Die Augen hielt er geschlossen... er musste nicht sehen, wie die Menschen plötzlich inne hielten, die Marktschreier verstummten und sich schweigend um ihn versammelten. Wie ein fremdes Wesen mochte er gewirkt haben... einem Märchen entsprungen. Sein verblichener Wollmantel bauschte sich sanft im Wind und seine Haare flatterten wie Flügel, die sich um ihn herum ausbreiteten. Sein Gesicht war sanft geschnitten, beinahe feminin, doch markant durch die hohen Wangenknochen und die mandelförmigen Augen. Und seine Musik... eine sprunghafte, lebendige Melodie... wob eine Geschichte. Sie erzählte von fremden Welten, von Wundern und Wünschen, die sich dort erfüllten. Gefährlich vielleicht, doch so atemberaubend, dass man das Auge nicht mehr von all der Schönheit abwenden konnte. Eine Welt, die nur darauf wartete, entdeckt zu werden... und doch war es nur eines: ein Traum. Sanft trug der Wind die letzten Töne seines ungeschriebenen Liedes davon. Langsam, beinahe unwillig ließ er sein Instrument sinken und öffnete die Augen. Ihm blickte eine ergriffen schweigende Menge entgegen, manch einem seiner Zuhörer stand voll Staunen den Mund offen, doch sie fingen sich nach kurzer Zeit. Es ging ein Seufzen durch die Menge, als sich die Menschen zu regen begannen. Und dieser Laut, der so viel mehr sagte als Worte, war für den Musiker eine größere Belohnung als der Applaus und die bewundernden Rufe, die zaghaft zu ihm herauf schallten. Er lächelte, ebenso ergriffen wie sein Publikum. Viele der Menschen begegneten seinem Blick offen, ein anerkennendes Nicken hier, eine einsame Träne dort – was mochten die Klänge seines Liedes in ihnen geweckt haben? Er sah so verschiedene Ausdrücke auf den Gesichtern, dass er sich dessen nicht sicher war, doch eines wusste er mit Bestimmtheit: er hatte an ihren Herzen gerührt. Was mehr war, als er zu hoffen gewagt hatte. Noch einen Augenblick lang ließ er die Erinnerung an seine Melodie nachklingen, als würde der Wind noch immer einige Töne über den Platz tragen, dann verbeugte er sich tief. Strähnen seines Haar fielen ihm in die Augen... ob er deswegen so heftig blinzelte, oder weil ihm Freudentränen in die Augen traten? All diese Jahre in Einsamkeit, in denen er sich von Siedlungen fern gehalten hatte, sie hatten sich gelohnt... Als er sich wieder aufrichtete, drängte sich die Menge dichter um ihn, murmelnd, tuschelnd. „Wie heißt du, Junge?“, wollte ein älterer Herr wissen. „Wo kommst du her?“, ein anderer. Er erwehrte sich den Fragen mit einem verlegenen Lächeln, das die Tiefen seiner dunklen Augen zum leuchten brachte. Seinen Namen hatte der Wind längst mit sich fortgetragen, seine Heimat waren die Straßen und Felder, Bäche und Wälder, Täler und Berge... doch würden sie das verstehen, wenn er es sagte? Schließlich gebot er den Fragen Einhalt, indem er eine Hand halb erhob. Seine Finger waren feingliedrig, wie die eines Gelehrten, nicht von den Schwielen körperlicher Arbeit gezeichnet, doch bei weitem nicht so gepflegt. Er antwortete mit den Worte, die er sich auf dem Weg hierher zurechtgelegt hatte: „Ich komme von weit her, gehe, wohin die Straße mich führt...“ Seine Stimme hallte leise, doch klar verständlich über den Marktplatz. „Mein einziger Begleiter ist die Musik...“, dabei hob er seine kunstvolle Flöte an. „...und mein Name...“ Er stockte, rettete sich in ein Lächeln und fuhr fort: „Verloren, vergessen.“ Und jetzt kam der schwierige Teil. Wieder hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit der Menschen, doch konnte er schon das aufkeimende Misstrauen in den Blicken erkennen. Nur einige wenige würden seine Musik wie einen heiligen Schatz in ihrem Inneren hüten... der Gedanke stimmte ihn traurig, machte ihn gleichzeitig wütend, obwohl er sich dessen schon im Voraus bewusst gewesen war. Selbst starke Gefühle waren so vergänglich wie eine vorübergehende Laune... Er schien noch leiser zu werden, und hätte ihn einer der Anwesenden gekannt, hätte er sagen können, dass ein Ausdruck der Unsicherheit über sein Gesicht huschte. „Gibt es unter Euch guten Bürgern einen Menschen, der einem umherziehenden Künstler Unterkunft gewährt? Geld habe ich keines, doch soll meine Musik die Bezahlung sein.“ Ein Murren durchlief die Menschenmasse, genau, wie er es erwartet, gefürchtet hatte. Er ließ seine Augen wandern und wenn er dem Blick einer der Anwesenden begegnete, so wurde dieser rasch abgewandt. Hier und da hörte er gemurmelte Entschuldigungen, die durch die Gesichter derer, die sie sagten, Lügen gestraft wurden, und nach und nach löste sich der Kreis um ihn herum auf. Seine Züge wurden mit jedem, der ging, ein kleines Stück trübsinniger. Mutloser. Sollten sich seine Ängste hier verwirklichen? War die Erinnerung an seine Musik so kurzlebig? Hatte er zuviel erhofft? Noch einmal sah er sich um, blickte über den Platz, der sich so plötzlich geleert hatte, sah all denen hinterher, die jetzt wieder ihren Geschäften nachgingen. Doch halt! Da stand noch jemand, der sich nicht abgewandt hatte. Für einen Moment hellte sich sein Gesicht auf. Es war eine junge Frau, nicht viel älter als er selbst, und ein Mann , der dem Aussehen nach ihr Vater war. Sie selbst starrte ihn voller Faszination an, mit einem so intensiven Blick ihrer goldgesprenkelten Augen, dass er nicht wusste, ob er sich unwohl fühlen sollte oder aber geschmeichelt. Der alte Mann allerdings war es, der seine Hoffnung schnell wieder verblassen ließ. Hochgewachsen, stattlich, das ergraute Haar zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden, der Blick voll skeptischem Misstrauen auf ihn gerichtet. Er schluckte und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, als ob es über seine... abgerissene Erscheinung hinwegzutäuschen vermochte. Doch zumindest verlieh es ihm etwas Würde. Nein, bitten und betteln würde er nicht – er hatte gesagt, was er zu sagen hatte. Jetzt galt es, das letzte Urteil zu erwarten, das seine Hoffnung erfüllen oder seinen Weg hier und jetzt vor ein plötzliches Ende stellen würde. Trotz dieser Einstellung wurde er unter dem Blick seiner letzten beiden Zuhörer immer unruhiger, bis die Frau endlich das Schweigen brach. „Eure Musik... erzählt von so viel. Von Schönheit und Geheimnissen, Melancholie und Sehnsucht...“ Ihre Stimme war hell und klar, doch so leise, dass der Wind sie hinfort zu tragen drohte. Dennoch erfüllten sie sein Herz mit Wärme. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er setzte schon zu einer Antwort an, als der alte Herr neben ihr schnaubte. „Genug der schönen Worte, Rhyanna.“ Obwohl er es nicht aussprach, klang in diesen Worten etwas abfälliges mit, bei dem sich der Blick des Träumers unwillkürlich senkte. Ohne eine Miene zu regen, kam der alte Mann auf ihn zu, kramte einige Münzen aus seinem Beutel hervor und hielt sie ihm vor die Nase. „Nehmt das für Eure Vorstellung und dann verschwindet. Hier ist kein Platz für Spielleute.“ Er presste die Lippen aufeinander und mied den Blick des Alten, starrte statt dessen auf die Münzen. Kein Platz für Spielleute... bin ich nicht mehr als das?, fragte er sich. Ein Spielmann? „Vater, wie kannst du so etwas sagen?“ Die Frau tauchte neben ihm auf, gleich einem stürmischen Engel, das schwarze, lockige Haar gebauscht, die Wangen vor Empörung gerötet, eine Hand in die Falten ihres Kleides gegraben. Er ertappte sich dabei, wie er sie bewundernd, doch nicht allzu höflich anstarrte, und wandte schnell den Blick ab. Der Alte hatte die Hand mit den Münzen gesenkt und sah zwischen ihm und seiner Tochter hin und her. „Rhyanna... du willst doch wohl nicht-“ „Doch, genau das will ich!“ Sie fuhr energisch herum und kehrte ihrem Vater den Rücken zu. Elegant warf sie sich ihre Locken über die Schulter und deutete noch in der gleichen Bewegung einen Knicks an. „Es wird mir eine Ehre sein, Euch in unserem Hause begrüßen zu dürfen. Seid unser Gast, Musiker.“ In diesem Moment glich sich der Ausdruck auf den Gesichtern von ihm und dem Alten, doch entlockte so viel Dreistigkeit Letzterem schließlich ein resignierendes Seufzen, dem Musiker aber ein „Habt Dank, edle Dame.“ So kam es also, dass der Träumer ein Zimmer im Hause der Familie Noraine bezog, eine reiche Bürgerfamilie mit einem eigenen Anwesen am Rande der Stadt. Man brachte ihm neue Kleidung, die ihm beinahe übertrieben edel vorkam, und ihn deswegen nur umso mehr beeindruckte. Schon an diesem ersten Abend, bei Wein, Geschichten und seiner Musik ließ sich der Vater Rhyannas erweichen und stellte sich zwar als strenger, doch ebenso freundlicher Herr heraus, der seiner einzigen Tochter kaum einen Wunsch abschlagen konnte. Der Träumer genoss den Abend. Hatte er zuvor noch an seinem Vorhaben gezweifelt so kostete er jetzt die Freude eines ersten Erfolges aus. Die Melodien, mit denen er die Familie und den Haushalt unterhielt, spiegelten seine Seele wieder, waren fröhlich und unbefangen. Das Zimmer, das ihm zugewiesen wurde, übertraf schließlich sogar seine kühnsten Träume. Ein Bett, so weich und anschmiegsam, wie er es noch nie erlebt hatte, erwartete ihn, direkt unter dem Fenster mit Blick über die Stadt. Er ließ sich in die Kissen fallen und genoss das Gefühl der wohlverdienten Müdigkeit, das ihn ergriff. Beinahe wäre er eingedöst, noch voll angekleidet, doch ein Klopfen an der Tür riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Rhyanna betrat das Zimmer, sah sich kurz um und richtete dann den Blick ihrer ungewöhnlichen Augen auf ihn, von einem Lächeln erfüllt, das ebenso auf ihren Lippen lag. „Ich hoffe, all das hier ist nach Eurer Zufriedenheit“, sprach sie ihn an. Er lachte leise, ein amüsiertes Funkeln im Blick. Oh, er hätte doch selbst auf einer alten Holzpritsche geschlafen. „Das ist es“, nickte er höflich, seine überschwängliche Begeisterung unterdrückend. Er betrachtete die Frau neugierig. Er konnte ihr geradezu ansehen, dass es etwas gab, dass ihr auf der Zunge lag. Und er musste nicht lange warten. „Träumer... ein schöner Name, der Eurer Musik mehr als gerecht wird.“, sagte sie leise und hob eine Hand auf ihr Herz, gleichsam unsicher wie auch ein Ausdruck ihrer eigenen Verträumtheit, die der seinen ähnlich war. „Aber... sagt... würdet Ihr mir Euren richtigen Namen verraten?“ Das Lächeln verließ seine Lippen nicht. Er zögerte – sollte er nach dem Warum fragen? - doch der Wunsch, ihr ein Stück seiner alten Geschichte wie ein Fragment eines Puzzels in die Hand zu drücken, war groß. „Norael“, antwortete er schließlich und beobachtete, wie ihre Lippen den Namen nachformten, als wolle sie ihn sich auf der Zunge zergehen lassen, ehe... Mitten im Satz brach Elly ab und richtete sich auf ihre Ellbogen gestützt auf. Fynn blinzelte in das helle Sonnenlicht, dass er während der Geschichte schon gar nicht mehr wahrgenommen hatte. „Was ist?“, fragte er, ein wenig verärgert über die unerwartete Unterbrechung. Elly antwortete nicht, legte statt dessen den Kopf schräg und schien zu lauschen, dann sprang sie auf, so plötzlich, dass er überrascht zusammen zuckte. „Ich glaube, wir sollten das ein Andermal fortsetzen“, erklärte sie. Empört richtete sich auch Fynn auf. „Aber... du kannst doch deine Geschichte nicht einfach...“ Da hörte er, was sie gehört hatte. Ein Ruf aus der Richtung des Dorfes, leise, doch vom Wind zu ihnen getragen. Waren fremde Geschichten es wert, eine angefangene unbeendet zu lassen, wenn man nur eine Gelegenheit bekam, sie zu hören? „Der Geschichtenerzähler! Der Geschichtenerzähler ist da!“ Kapitel 4: Ein verlorenes Herz ------------------------------ Kapitel 4: Ein verlorenes Herz Ein echter, wahrhaftiger Geschichtenerzähler... Worttänzer und Traumweber – Historiker, Forscher. Sie spielen mit unserer Fantasie, sind Meister der Sprachen... neugierig wie kleine Kinder, wenn es gilt, eine neue Erzählung zu entdecken, die sie ihrem gut gehüteten Schatz hinzufügen. Sie kennen die Geschichte des Landes wie kein Anderer, wissen um Legenden und Sagen, die in Vergessenheit gerieten. Wanderer zwischen den Kulturen, Reisende, die nicht mehr bei sich tragen als ihre Geschichten. Beinahe romantisch... oh, lacht ruhig über mich sentimentalen alten Mann. Ab und an kommt es vor, dass einer jener ruhelosen Geister – denn das waren sie alle – einen Lehrling nimmt, wenn er sein Ende nahen spürt, und seine Geschichten, sein Wissen, weitergibt. Nur sehr wenige Kinder träumten von diesem Schicksal, die, deren Seele doch stets die Sehnsucht der weiten Welt suchte, deren Träume wuchsen statt mit der Zeit verloren zu gehen. Ich war eines dieser Kinder. Es gilt als Ehre, einen Geschichtenerzähler für die Dauer seines Aufenthaltes eine Unterkunft zu gewähren, denn ihnen wird nachgesagt, ein reines Herz erkennen zu können. Es sind die guten Menschen, an deren Türen sie klopfen, bei denen sich dann all jene versammeln, die ihre Geschichten zu schätzen wissen. Oh, es mag vieles geben, das man als bloßen Mythos abtun kann... die Legende über ihre Unsterblichkeit zum Beispiel, sind sie doch Menschen wie wir. Obwohl... selbst daran mag etwas wahres haften, werden sie doch durch ihre Geschichten, die über Jahrtausende hinweg weitergegeben werden, letztlich unsterblich. Doch ihr Gespür für die Natur eines Menschen – das halte ich für die reine Wahrheit. Ich glaube es seit dem Zeitpunkt, da einer von ihnen ohne zu zögern an die Tür jener Frau klopfte, die man weithin nur Hexe nannte. Leise fluchend eilte Fynn hinter Elly her. Sie legte ein großes Tempo vor, ohne sich dabei allzu sehr zu verausgaben, während er schon nach den ersten Metern den Berg hinauf nach Atem rang. Unter einem Arm trug er seine Notizen und sein Schreibzeug, das ihm beim Rennen beinahe verloren ging, krampfhaft umklammert. Erst auf der Hügelkuppe wurde Elly langsamer und hielt schließlich ganz an. Keuchend kam Fynn neben ihr zum Stehen und stützte sich mit einem Arm auf den Knien ab. Sein Herz hämmerte noch im Takt seiner Schritte, als wolle es den Weg ohne ihn fortsetzen. Vor ihnen erstreckte sich die Marktstraße ihres Heimatdorfes, kaum breit genug, als dass ein Pferdekarren hindurch fahren konnte. Die Bewohner drängten aus den aneinander gelehnten Fachwerkhäusern, Kinder unterbrachen ihr Spiel und eilten den Erwachsenen hinterher. Lange, lange Zeit war es her, seit der letzte Geschichtenerzähler in dieses Dorf gekommen war, und so wurde er bereits sehnsüchtig erwartet und mit viel Herzlichkeit begrüßt. Fynn tauschte einen Blick mit Elly, las Aufregung, Erwartung, Freude, ja, Hoffnung in ihren Augen, als Spiegel seiner eigenen Gefühle. Gemeinsam gingen sie zu der Menschenansammlung, schlossen sich ihr an, jeder in seine eigenen Träume vertieft. Sie mochten wahr werden, diese Träume, dachte Fynn in diesem Moment. Wie lange hatte er darauf gewartet, einen jener Wanderer kennen zu lernen, die Erinnerung an den letzten bereits halb verblasst, war er doch kaum älter als vier Jahre gewesen. Jetzt aber... Er wollte ihre Geschichten hören, doch umso mehr das Geheimnis eben jener ergründen. Wie entstanden sie? Wie hielt man sie fest? Wie schuf man sie selbst? Der Geschichtenerzähler hielt nicht an, bildete im Gegenteil die Führung eines langen Zuges, der durch das ganze Dorf verlief. Wer wusste schon zu sagen, ob er bloß seinen Weg ging, oder aber all die Bewohner dieses Ortes wissen lassen wollte, dass er hier war? Alter hatte sein Haar weiß werden lassen, von grauen Strähnen durchzogen, ebenso seine Gestalt gebeugt. Er ging gestützt auf einen einfachen, hölzernen Wanderstock, während ein abgetragener Reisemantel den Wind auffing. Nein, er war nicht mehr jung, dennoch war sein Schritt zielgerichtet, weder schwankte, noch zögerte er, der Blick starr gerade aus gerichtet. Letzteres hatte jedoch einen anderen Grund, wie Fynn mit einem leisen Schaudern erkannte – der Mann war blind, seine Augen nur milchigweiß und blicklos. Doch das machte ihn nicht abstoßend, eher im Gegenteil, es machte ihn nur umso faszinierender. Dieser Mann war weit gereist, sagte sich Fynn. Hatte vielleicht viel gesehen, bevor er sein Augenlicht verlor, mit Sicherheit aber viel erlebt. Und seine Reise ging weiter, immer noch. Er wählte seinen Weg, so sicher, als könne er sehen. Gemurmel folgte ihm, wussten doch mittlerweile alle, wohin er ging, und konnten es doch nicht glauben. Es gab nur ein Haus, das so weit abseits lag, nur eine Person, die sich noch nicht um den alten Mann geschart hatte, wie Raubtiere, die es nach Ansehen, Anerkennung hungerte, obgleich sie wussten, dass es nicht berechtigt sein mochte. Fynn wunderte sich, woher diese Gedanken kamen, und wusste doch, sie waren wahr. Er suchte erneut den Blick Ellys und glaubte etwas wie Genugtuung darin zu lesen, Spott gegen all jene, die sie Hexentochter nannten. Ja, sie wusste, was sie wirklich war... wer sie war. Und nach und nach begann auch Fynn ihr mehr Glauben zu schenken, als den Meinungen all der Anderen. Den Rand des Dorfes hatten sie bereits hinter sich gelassen, als die Gefolgschaft des alten Mannes zurückblieb, während er selbst in Richtung der Hütte schritt, die ein Stück weiter von Buchen eingerahmt wurde. Elly bedeutete Fynn, der ebenso zögerte, mit ihr zu kommen, und so folgte er schweigend. Nur allzu deutlich war er sich der ihnen folgenden Blicke bewusst, und so versuchte er, seine Gedanken abzulenken, indem er ihr Ziel in Augenschein nahm. Dumpf tastete sich der Wanderstock ihres Führers über den Pfad. Die Hütte war eigenhändig errichtet, wie er wusste, doch strahlte sie für ein Hexenhaus – er schalt sich für das Wort gleich darauf einen Narren – ungewöhnliche Heimeligkeit aus. Sie lag am Rande des Waldes, reine Zweckmäßigkeit, wie er später erfahren sollte, und war nicht nur von Bäumen, sondern auch von einem kleinen, gepflegten Kräutergarten umgeben. Vor dem Gartentor angekommen, trat Fynn unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, während sich der alte Mann, geführt von Elly, zur Tür vortastete. Dort angekommen klopfte er an das wettergegerbte Haus. Ellys Mutter öffnete ihm, und obgleich Fynn sie nicht zum ersten Mal sah, betrachtete er sie doch zum ersten Mal mit einem Blick, ungetrübt von den Vorurteilen Anderer. Sie trug ein einfaches Leinenhemd, zusammengeschnürt mit einer Schärpe an der Taille, nicht ganz dünn, doch auch nicht zu füllig. Locken, schwarz wie die Ellys, fielen ihr ungebändigt über die Schultern und umrahmten ein sanftes Gesicht, mit ernsten, reifen Zügen. Sie erkannte den Geschichtenerzähler sofort als das, was er war, doch ihre Reaktion kam unerwartet. Mit leisen Worten und eindeutigen Gesten wies sie ihn ab. Ihn, einen Geschichtenerzähler! Kaum jemand hätte das gewagt. Fynn sah Enttäuschung in Ellys Blick aufkeimen, doch ehe mehr daraus werden konnte, sprach der alte Mann die ersten Worte, seit er ins Dorf gekommen war. „Du brauchst mich nicht abzuweisen.“ Seine Stimme war tief und angenehm, geschult durch das Erzählen. Die blinden Augen richteten sich auf die Frau, als blicke er tief in ihre Augen. Vielleicht aber blicke er auch direkt in ihr Herz... „Ich kenne deine Geschichte bereits, Anna... er hat sie mir erzählt.“ Fynn legte den Kopf schräg. Ihm entging das scharfe Einatmen von Ellys Mutter nicht. Verwirrt, doch neugierig vergaß er seine Nervosität beinahe. Auch in Ellys Blick las er Verwirrung. Dann aufkeimendes Verstehen und Hoffnung. Ihre Mutter kam ihr zuvor. Sie klang überraschend kühl bei ihrer Antwort. Hatte je jemand gewagt, einem ehrbaren Geschichtenerzähler auf diese Art zu begegnen? Nicht in diesem Dorf jedenfalls. „Hat er das? Nun, dann sollte er selbst kommen und nicht einen alten Mann an seiner statt schicken.“ Sie wandte sich bereits wieder um. Eine knochige Hand berührte sie am Arm, hielt sie fest. „Er hat mich nicht geschickt.“ Ein Stocken in ihrem Atem. „Nein, ich wollte nur selbst die Frau kennen lernen, die sein Herz gefangen nahm.“ Schweigen folgte auf seine Worte, das eine Spur traurig wurde, als die Frau den Kopf beugte, plötzlich müde, plötzlich von Wehmut erfüllt und der Last der Zeit gebeugt. „Sein Herz gefangen zu nehmen, hat nicht gereicht, um ihn bei mir zu halten. Dafür hätte ich seine Seele stehlen müssen, doch das konnte ich nicht. Denn auch ich habe mein Herz verloren, vor Jahren schon, an etwas, das ich niemals halten kann.“ Die Locken verbargen ihr Gesicht, doch ihre Stimme klang bitter. Auf schwer zu bestimmende Art hatte Fynn das Gefühl, ein Gespräch mitzubekommen, das nicht für ihn bestimmt war. Das nur die Frau und den Erzähler etwas anging... und jene dritte Gestalt, die sie erwähnten. Doch seine Neugier verdrängte den Entschluss, sich umzuwenden und zu gehen. Der alte Mann zog seine Hand zurück, seine Lippen von einem sanften Lächeln umspielt. „Man kann nicht alles halten, das ist wahr... doch gib die Hoffnung nicht auf.“ Erneut berührte er sie, diesmal aufmunternd, nur kurz, federleicht. Als Antwort hob sie den Blick. „Er wird zurück kommen. Irgendwann.“ Zaghaft erwiderte sie sein Lächeln, obgleich er es nicht sehen konnte, doch die Wehmut verschwand nicht ganz daraus. „Hoffentlich wird es dann nicht zu spät sein...“, flüsterte sie. „Nun, dieser alte Mann bittet um Unterkunft“, wischte der Geschichtenerzähler ihre Bemerkung beiseite und stützte sich auf seinen Stab. „Preis sollen Geschichten sein. Wird sie ihm gewährt?“ Nach einigem Zögern seufzte die Frau. „Unterkunft soll Euch gewährt werden. Seid willkommen in meinem Heim.“ Ellys Jubelrufe entlockten ihr dann doch ein ehrliches Lächeln. Ihre Tochter führte den alten Mann ins Haus. Plötzlich fühlte sich Fynn auf seinem Platz neben dem Tor sehr verloren. Doch das währte nicht lange. „Komm, junger Mann.“, richtete Anna das Wort an ihn. „Sei auch du willkommen.“ Erleichterung machte seine Schritte leicht, als er Elly folgte, sein Herz laut klopfend. Nur einen Augenblick lang glaubte er, einen besorgten Blick Annas in die Richtung des Dorfes aufzufangen, wo sich die Menschen nur langsam zerstreuten, kopfschüttelnd, flüsternd. Wieder war es Neugier, die Fynn vergessen ließ, wo er war. Voller Staunen blickte er sich in der Hütte um, als er Elly und dem Mann folgte. Sie bestand aus mehreren Räumen, wirkte dadurch kleiner, als sie tatsächlich war. Und doch, so schlicht die Einrichtung auch war – sie schien selbst gefertigt, ob sie den Händen von Ellys Mutter entstammte? - so reich war sie an etwas, das er, der er zusammen mit vier Brüdern ein Zimmer teilte, das kaum mehr als ihre Betten und einen Schrank enthielt, doch oftmals vermisste... Wärme, Gemütlichkeit. Hier bist du willkommen, erzählte sie. Elly führte sie in einen Raum, der durch ein langsam vor sich hin flackerndes Feuer erhellt wurde, über dem ein Kessel hing, der angenehmen Duft nach Suppe verbreitete. An einer Wand fand sich ein Regal und eine Sammlung verschiedenster Kochutensilien, an einer anderen drängte sich ein aus dicken Holzleisten gefertigter Tisch und einer Bank davor. Ganz im Gegensatz zu all der Einfachheit all dessen lag ein Stück vor der offenen Kochstelle ein Teppich ausgebreitet, der, obgleich alt, augenscheinlich einmal sehr teuer gewesen sein musste. Ausgeschmückt wurde der Raum durch getrocknete Kräuter und andere Vorräte wie ein Sack Kartoffeln oder Äpfel. Schwerfällig ließ sich der alte Mann auf der einfachen Holzbank nieder, erleichtert, nach der langen Reise wieder sitzen zu können. Ein tiefer Seufzer entwich seinem Lippen. Elly eilte mit einem Murmeln aus dem Raum heraus, als ihre Mutter nach ihr rief. Fynns Blick wanderte wie magisch angezogen zu dem alten Mann zurück. Er wirkte dürr und knorrig wie eine alte Eiche. Alt musste er sein, ja... doch im Wind würde er sich wie der Stamm jener Eiche biegen, statt zu brechen. War nicht auch das Teil dessen, was man sich über diese Wanderer erzählte? Sie wurden im Alter stets zäher, statt gebrechlich und schwächlich wie die Großeltern, die im letzten Winter so sehr unter der Kälte gelitten hatten, dass Fynns Familie nicht geglaubt hatte, sie würden den nächsten Frühling noch erleben. Nein, dieser Mann, obgleich er so alt wie die Zeit selbst schien, war voller Leben. Die dünnen Lippen des Alten verzogen sich zu einem warmen Lächeln. „Komm, Junge.“ Er wies mit einer knorrigen Hand neben sich. „Setz dich zu mir.“ Gerade noch wollte Fynn sich fragen, woher der Alte wusste, dass er noch an Ort und Stelle stand, da meinte dieser auch schon gutmütig. „Ich mag blind sein, doch nicht taub. Deine Schritte sind dem Mädchen nicht aus dem Raum gefolgt. Nun komm und setz dich zu mir... oder hat sich die Welt so sehr verändert, dass die Jungen nicht mehr neugierig genug sind, einen alten Geschichtenerzähler auszufragen?“ Langsam ging er auf den Mann zu, noch während er über die Worte nachdachte. „Nein, Vater... neugierig bin ich wohl.“ Zögernd, aber von dem Drang beseelt, sich zu rechtfertigen, fügte er an: „Aber die Erwachsenen scheinen ihre Neugier zu verlieren... immerzu erzählen sie mir, ich soll nicht so viel fragen und die Dinge als gegeben sehen.“ Er erhielt ein dunkles Lachen zur Antwort. „Ja, viele vergessen im Alter viel zu schnell, dass auch sie einmal jung waren und begierig darauf, mehr zu lernen, mehr zu sehen.“ Sein Blick war geradeaus gerichtet, auch als Fynn sich neben ihm auf der Holzbank niederließ, als könnten die blinden Augen irgendwo in der Ferne etwas erkennen, das einem Sehenden verborgen blieb. Noch von dem gleichen Drang getrieben platzte Fynn hervor: „Ich werde meine Neugier nie verlieren!“ Und obgleich er wusste, er sprach die Wahrheit, war er sich doch gleichzeitig bewusst, wie sehr seine Worte nach denen eines Kindes klangen, trotzig, weil es den Älteren widersprach. Wie ungewohnt es war, keine Rüge für diese Dreistigkeit zu bekommen... wie angenehm. „Oh, Junge, bewahre dir diesen Vorsatz. Es wird dir nur ein glücklicheres Leben bringen.“ Es schien zugleich Rat als auch Lebenserfahrung zu sein. Wie viel hatte er gesehen? Wie viel musste er erzählen können! Fynn rutschte unruhig auf seinem Sitzplatz hin und her, bis seine Neugier endlich die Überhand gewann. „Seid Ihr weit gereist, Vater?“ Ehrfürchtig wählte er den Titel, den man schon vor Jahrhunderten den Wanderern gegeben hatte, den Weisen, den Geschichtensammlern. Denn all ihre Zuhörer waren wie ihre Kinder, denen sie erzählten. „So weit, wie das Land groß ist“, lautete die Antwort. Ein Lächeln lag darin, als wisse er um all die Fragen, die Fynn auf der Zunge brannten. „Wie lange werdet Ihr bleiben?“ „Oh, lange genug für die ein oder andere Geschichte, mein Junge.“ Er wandte Fynn den Kopf zu und was in seinem Gesicht lag, war so voller Güte und Wärme, dass Fynn den alten Mann sofort in sein Herz schloss. In diesen wettergegerbten Zügen konnten sich all die Legenden über Geschichtenerzähler bewahrheiten. Unsterblich. Allwissend. Magieverwoben. Die Fragen sprudelten dann nur so aus ihm hervor. Nur einige wenige bewahrte er sich auf, zu ängstlich, auf Abweisung zu stoßen und seinen Traum schon jetzt zu verurteilen. An diesem Abend sah der Geschichtenerzähler die versammelten Dorfbewohner der Reihe nach an, zumindest wirkte es so, als er sein Gesicht ihnen allen zuwandte. Kinder und Alte, unter seinen gutmütigen, blicklosen Augen, die einmal so viel von der Welt gesehen hatten, waren sie alle gleich. Stand und Herkunft spielten keine Rolle, ebenso wenig gute und schlechte Taten, denn all das war Vergangenheit. Sie alle verband das Sehnen nach den Geschichten, die sie das hier und jetzt vergessen ließen, Leiden und Sorgen mit sich forttrugen, damit sie, die sie ihre Träume nicht leben konnten, die einfachen Menschen, auch einmal von Abenteuern und fernen Welten träumen konnten. Nur deswegen hatten sie sich alle an diesem Tag hier versammelt, an einem Ort, den sie sonst gemieden hätten, bloßer Vorurteile wegen. Nur das war es, was die Tradition der Geschichtenerzähler am Leben erhielt: Sehnsucht. Die Sehnsucht der Zuhörer, die erwartungsvoll zu dem Erzähler aufsahen, und die Sehnsucht des Erzählers, Geschichten, Erinnerungen, Gefühle in Geschichten zu bannen und an seine Zuhörer weitergeben zu können. Doch nicht alle sehnten sich bloß danach. Unter den Zuhörern, die sich an diesem Abend vor dem Ehrwürdigen versammelt hatten, saßen ein, zwei... vielleicht sogar drei Leute, die anderes sehnten, die Träume träumten, die sich noch erfüllen konnten... oder die Träume bereits gelebt hatten. Fynn erkannte diese Gedanken im Blick des Alten, als dieser auf ihm und Elly ruhte und dann lange Zeit nachdenklich auf Ellys Mutter Anna verharrte, als könne er sie tatsächlich sehen. Ich habe mein Herz verloren, vor Jahren schon... an etwas, das ich niemals halten kann. Was mochte diese Worte bedeuten? Sie hatte es mit Trauer in der sanften Stimme gesagt, mit einer Spur von Bitterkeit, doch ebenso voller Stolz. Sie schämte sich nicht dafür, ihr Herz hergegeben zu haben. An was? An wen? Doch das war wohl eine andere Geschichte... Wieder glaubte Fynn den Blick des Erzählers auf sich ruhen zu spüren. Als er aufsah, begegnete er den blinden, milchig weißen Augen, alt, wissend. „Was ich euch erzählen will...“, begann der Alte leise und das Schweigen im Raum vertiefte sich. Einjeder hatte die Aufmerksamkeit jetzt auf ihn gerichtet. Die Stimme umschmeichelte sie alle wie ein warmer, wohliger Windhauch, klang weich und samten, wie die eines geübten Sängers. „Was ich euch erzählen will, ist eine Geschichte von der Liebe zu Träumen und dem Traum, der in Erfüllung ging, von Hoffnung, die nie starb. Ihr solltet sie euch zu Herzen nehmen, denn Euer aller Träume können sich noch immer erfüllen.“ Für einen Augenblick fühlte Fynn sich an Ellys Geschichte erinnert. Sie hatte so ähnlich angefangen... von Träumen. Auch er träumte, er träumte schon, so lange er sich erinnerte. Obgleich der Geschichtenerzähler mit seinen Worten sie alle einfaßte, schienen sich die nächsten direkt an Fynn zu richten. Oder war es nur sein Herz, das mit all seiner jungen Sehnsucht darauf reagierte und höher schlug? „Denn Träume sterben niemals...“ Kapitel 5: Hoffnungswege ------------------------ „Denn Träume sterben niemals...“ Viele Kinder träumen, das wisst Ihr sicher selbst. Und manche träumen mehr als andere, verlieren sich darin, vergessen den Tag. Träume sind nicht Wirklichkeit. Bloß unerfüllte Hoffnungen. So sagt man. Ich aber sage, Hoffnung treibt uns vorwärts. Und Träume sind, was unser Leben ausmacht. Das Mädchen, von dem ich euch erzählen will, glaubte fest daran. Sie kannte viele Geschichten, merkte sich einjede, die die Erzähler in ihrer Heimatstadt vortrugen, trug sie im Herzen, erinnerte sich in manch einsamer Stunde. Und träumte sich hinein. Ich stelle mir gerne vor, dass sie sich als eine der Prinzessinen sah, die, gefangen in einem Turm, gerettet werden mussten. Doch wahrscheinlicher ist, dass sie sich in den Figuren wiederfand, die einfach waren, einsam, traurig. Sie hatte alles, denn sie entstammte einer reichen Familie. Kleider, Stoffe, genug zu Essen, reichlich Unterricht in Dingen wie Geschichte, Musik, Sticken... doch eines hatte sie nicht: Freunde. Freunde, an die sie sich wenden konnte, wenn sie Gesellschaft suchte. Freunde, die ihr Wärme schenkten. Ihre Mutter starb früh und hinterließ einen Fleck in ihrem Herzen, der nicht gefüllt werden konnte. Ihr Vater kümmerte sich gut um sie, vermochte ihr kaum einen Wunsch abzuschlagen, doch er sah es nicht gern, wenn sie auf der Straße spielte... sich mit Kindern anderer Familien traf, die nicht so hoch standen, wie ihre eigene. Zu Anfang wehrte sie sich, schrie ihren Vater an, der unnachgiebig blieb, dann glaubte sie, sie würde damit leben können, denn herzlos war er nicht. Schließlich fürchtete sie, sie würde durch die Einsamkeit kalt werden, wie das Eis, das das Wasser im Winter mit einer schützenden Schicht umgibt. Und sie zog sich noch mehr in ihre Träume zurück. Vielleicht war es das, was sie rettete. Nun, was ich euch erzählen will, handelt zu der Zeit, als sie gerade als erwachsene Frau in die Gesellschaft aufgenommen worden war. Bei den Feierlichkeiten dafür trug sie ein elegantes Kleid, hatte ihr Haupt erhoben, so, wie ihr Vater es erwartete. Er war stolz auf seine schöne Tochter und sah nicht, wie wenig sie all das berührte. Er wusste auch nicht, dass sie zurück in ihrem Zimmer, endlich wieder allein, lange wach in ihrem Bett saß, die Beine an sich gezogen, und grübelte. Was sollte es bringen, dass sie jetzt erwachsen war? Das Leben änderte sich nicht für sie. Wurde nicht besser. Ihre Träume blieben die einzigen Freunde, die sie hatte. Auf die konnte sie sich verlassen. Und doch, ich denke, sie träumte sich ihren Retter herbei... und er kam, in Gestalt eines jungen Gauklers, der auf dem Marktplatz seine Künste vorführte. Niemand wollte ihm Unterkunft gewähren, auch, vielleicht gerade, ihr Vater nicht. Dennoch trat sie vor, bezaubert, und lud ihn in ihr Heim ein. Ihr Vater gab nach. Hätte er seine Tochter besser gekannt, hätte er vielleicht gesehen, wie sie den jungen Mann ansah, wie sie ihm verfiel. All die Jahre hatte sie geglaubt, Träume könnten niemals Wirklichkeit werden... und doch erzählte ihr dieser hier, er hätte seinen Traum in die eigenen Hände genommen. Und sie trachtete danach, es ihm gleich zu tun, mit aller Sehnsucht, die sie als junge Frau in sich trug. Sie war wie eine Prinzessin aus den alten Märchen... oder auch jenes einfache Mädchen, unentdeckt, unbeachtet bisher... und er war der Prinz, der sie rettete, der sie beachtete... sie mit sich nahm. Es kam der Tag, an dem er weiterziehen wollte. Natürlich bat sie ihn zu bleiben. Sie war an ihr Heim gefesselt, an ihren Vater, bis dieser sie gehen ließ. Sie sank selbst auf die Knie nieder, flehte, bis Tränen ihre Augen röteten. Mit ihm wäre ein weiterer Traum gestorben... mitgerissen, fort von ihr. Wer konnte schon sagen, wie lange sie diesen Verlust verkraftet hätte? Doch der Gaukler hatte andere Pläne. „Begleite mich“, sagte er. Und sie stimmte zu. In der Nacht flohen sie. Nur ein Zettel blieb zurück, doch er reichte nicht, ihren Vater zu besänftigen. Die Verfolger fanden sie nicht, irgendwann gab man die Suche auf. Auch ihr Vater weinte über den Verlust eines Traumes, jenes Traumes, der seine Tochter gewesen war, doch er fand Trost in den Briefen, die er von ihr erhielt. Denn er erkannte, was sie gefunden hatte, obwohl es ihm schwer fiel, zu aktzeptieren. Sie liebte. Sie lebte. Oh, natürlich lernte sie, dass Träume niemals einfach zu leben waren, doch sie fand die Freiheit, die sie sich erhofft hatte, in den Wegen, die sie gemeinsam wählten, die Wärme, nach der sie sich gesehnt hatte, in der Umarmung seiner schützenden Arme, und ihre Träume, die höher flogen, als jemals zuvor, Flügel spreizten, in dem einen Wunsch, der sich erfüllt hatte. Das Mädchen, von dem ich erzähle... sie träumte auch von einem Heim, von Kindern, von Familie. Und irgendwann musste sie einsehen, dass sie ein Herz voller Unruhe nicht halten kann. Ihre Wege trennten sich, doch keiner von beiden hatte jemals die Entscheidung bereut, einander anzuvertrauen. Niemals. Ihr Glück währte zu lange, als dass es hätte verschenkt sein können. Merkt euch dies: Träume sterben niemals. Sie gehen höchstens verloren, um neu entdeckt zu werden. Einmal erfüllt bringen sie neue hervor, größer, schöner, bunter. Niemals sind sie leicht, doch immer sind sie es wert. Und auch, wenn man einen Traum gehen lässt, lebt er fort, und fort... und fort. Schweigen herrschte, als der Erzähler seine letzten Worte ausklingen ließ. Einzig durchbrochen vom Stoffrascheln, als Anna aufstand und den Raum verließ, eilig, beinahe fluchtartig. Die Tür fiel laut hinter ihr ins Schloss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)