Federkiel und Wanderstock von Carifyn ================================================================================ Kapitel 5: Hoffnungswege ------------------------ „Denn Träume sterben niemals...“ Viele Kinder träumen, das wisst Ihr sicher selbst. Und manche träumen mehr als andere, verlieren sich darin, vergessen den Tag. Träume sind nicht Wirklichkeit. Bloß unerfüllte Hoffnungen. So sagt man. Ich aber sage, Hoffnung treibt uns vorwärts. Und Träume sind, was unser Leben ausmacht. Das Mädchen, von dem ich euch erzählen will, glaubte fest daran. Sie kannte viele Geschichten, merkte sich einjede, die die Erzähler in ihrer Heimatstadt vortrugen, trug sie im Herzen, erinnerte sich in manch einsamer Stunde. Und träumte sich hinein. Ich stelle mir gerne vor, dass sie sich als eine der Prinzessinen sah, die, gefangen in einem Turm, gerettet werden mussten. Doch wahrscheinlicher ist, dass sie sich in den Figuren wiederfand, die einfach waren, einsam, traurig. Sie hatte alles, denn sie entstammte einer reichen Familie. Kleider, Stoffe, genug zu Essen, reichlich Unterricht in Dingen wie Geschichte, Musik, Sticken... doch eines hatte sie nicht: Freunde. Freunde, an die sie sich wenden konnte, wenn sie Gesellschaft suchte. Freunde, die ihr Wärme schenkten. Ihre Mutter starb früh und hinterließ einen Fleck in ihrem Herzen, der nicht gefüllt werden konnte. Ihr Vater kümmerte sich gut um sie, vermochte ihr kaum einen Wunsch abzuschlagen, doch er sah es nicht gern, wenn sie auf der Straße spielte... sich mit Kindern anderer Familien traf, die nicht so hoch standen, wie ihre eigene. Zu Anfang wehrte sie sich, schrie ihren Vater an, der unnachgiebig blieb, dann glaubte sie, sie würde damit leben können, denn herzlos war er nicht. Schließlich fürchtete sie, sie würde durch die Einsamkeit kalt werden, wie das Eis, das das Wasser im Winter mit einer schützenden Schicht umgibt. Und sie zog sich noch mehr in ihre Träume zurück. Vielleicht war es das, was sie rettete. Nun, was ich euch erzählen will, handelt zu der Zeit, als sie gerade als erwachsene Frau in die Gesellschaft aufgenommen worden war. Bei den Feierlichkeiten dafür trug sie ein elegantes Kleid, hatte ihr Haupt erhoben, so, wie ihr Vater es erwartete. Er war stolz auf seine schöne Tochter und sah nicht, wie wenig sie all das berührte. Er wusste auch nicht, dass sie zurück in ihrem Zimmer, endlich wieder allein, lange wach in ihrem Bett saß, die Beine an sich gezogen, und grübelte. Was sollte es bringen, dass sie jetzt erwachsen war? Das Leben änderte sich nicht für sie. Wurde nicht besser. Ihre Träume blieben die einzigen Freunde, die sie hatte. Auf die konnte sie sich verlassen. Und doch, ich denke, sie träumte sich ihren Retter herbei... und er kam, in Gestalt eines jungen Gauklers, der auf dem Marktplatz seine Künste vorführte. Niemand wollte ihm Unterkunft gewähren, auch, vielleicht gerade, ihr Vater nicht. Dennoch trat sie vor, bezaubert, und lud ihn in ihr Heim ein. Ihr Vater gab nach. Hätte er seine Tochter besser gekannt, hätte er vielleicht gesehen, wie sie den jungen Mann ansah, wie sie ihm verfiel. All die Jahre hatte sie geglaubt, Träume könnten niemals Wirklichkeit werden... und doch erzählte ihr dieser hier, er hätte seinen Traum in die eigenen Hände genommen. Und sie trachtete danach, es ihm gleich zu tun, mit aller Sehnsucht, die sie als junge Frau in sich trug. Sie war wie eine Prinzessin aus den alten Märchen... oder auch jenes einfache Mädchen, unentdeckt, unbeachtet bisher... und er war der Prinz, der sie rettete, der sie beachtete... sie mit sich nahm. Es kam der Tag, an dem er weiterziehen wollte. Natürlich bat sie ihn zu bleiben. Sie war an ihr Heim gefesselt, an ihren Vater, bis dieser sie gehen ließ. Sie sank selbst auf die Knie nieder, flehte, bis Tränen ihre Augen röteten. Mit ihm wäre ein weiterer Traum gestorben... mitgerissen, fort von ihr. Wer konnte schon sagen, wie lange sie diesen Verlust verkraftet hätte? Doch der Gaukler hatte andere Pläne. „Begleite mich“, sagte er. Und sie stimmte zu. In der Nacht flohen sie. Nur ein Zettel blieb zurück, doch er reichte nicht, ihren Vater zu besänftigen. Die Verfolger fanden sie nicht, irgendwann gab man die Suche auf. Auch ihr Vater weinte über den Verlust eines Traumes, jenes Traumes, der seine Tochter gewesen war, doch er fand Trost in den Briefen, die er von ihr erhielt. Denn er erkannte, was sie gefunden hatte, obwohl es ihm schwer fiel, zu aktzeptieren. Sie liebte. Sie lebte. Oh, natürlich lernte sie, dass Träume niemals einfach zu leben waren, doch sie fand die Freiheit, die sie sich erhofft hatte, in den Wegen, die sie gemeinsam wählten, die Wärme, nach der sie sich gesehnt hatte, in der Umarmung seiner schützenden Arme, und ihre Träume, die höher flogen, als jemals zuvor, Flügel spreizten, in dem einen Wunsch, der sich erfüllt hatte. Das Mädchen, von dem ich erzähle... sie träumte auch von einem Heim, von Kindern, von Familie. Und irgendwann musste sie einsehen, dass sie ein Herz voller Unruhe nicht halten kann. Ihre Wege trennten sich, doch keiner von beiden hatte jemals die Entscheidung bereut, einander anzuvertrauen. Niemals. Ihr Glück währte zu lange, als dass es hätte verschenkt sein können. Merkt euch dies: Träume sterben niemals. Sie gehen höchstens verloren, um neu entdeckt zu werden. Einmal erfüllt bringen sie neue hervor, größer, schöner, bunter. Niemals sind sie leicht, doch immer sind sie es wert. Und auch, wenn man einen Traum gehen lässt, lebt er fort, und fort... und fort. Schweigen herrschte, als der Erzähler seine letzten Worte ausklingen ließ. Einzig durchbrochen vom Stoffrascheln, als Anna aufstand und den Raum verließ, eilig, beinahe fluchtartig. Die Tür fiel laut hinter ihr ins Schloss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)