Federkiel und Wanderstock von Carifyn ================================================================================ Kapitel 4: Ein verlorenes Herz ------------------------------ Kapitel 4: Ein verlorenes Herz Ein echter, wahrhaftiger Geschichtenerzähler... Worttänzer und Traumweber – Historiker, Forscher. Sie spielen mit unserer Fantasie, sind Meister der Sprachen... neugierig wie kleine Kinder, wenn es gilt, eine neue Erzählung zu entdecken, die sie ihrem gut gehüteten Schatz hinzufügen. Sie kennen die Geschichte des Landes wie kein Anderer, wissen um Legenden und Sagen, die in Vergessenheit gerieten. Wanderer zwischen den Kulturen, Reisende, die nicht mehr bei sich tragen als ihre Geschichten. Beinahe romantisch... oh, lacht ruhig über mich sentimentalen alten Mann. Ab und an kommt es vor, dass einer jener ruhelosen Geister – denn das waren sie alle – einen Lehrling nimmt, wenn er sein Ende nahen spürt, und seine Geschichten, sein Wissen, weitergibt. Nur sehr wenige Kinder träumten von diesem Schicksal, die, deren Seele doch stets die Sehnsucht der weiten Welt suchte, deren Träume wuchsen statt mit der Zeit verloren zu gehen. Ich war eines dieser Kinder. Es gilt als Ehre, einen Geschichtenerzähler für die Dauer seines Aufenthaltes eine Unterkunft zu gewähren, denn ihnen wird nachgesagt, ein reines Herz erkennen zu können. Es sind die guten Menschen, an deren Türen sie klopfen, bei denen sich dann all jene versammeln, die ihre Geschichten zu schätzen wissen. Oh, es mag vieles geben, das man als bloßen Mythos abtun kann... die Legende über ihre Unsterblichkeit zum Beispiel, sind sie doch Menschen wie wir. Obwohl... selbst daran mag etwas wahres haften, werden sie doch durch ihre Geschichten, die über Jahrtausende hinweg weitergegeben werden, letztlich unsterblich. Doch ihr Gespür für die Natur eines Menschen – das halte ich für die reine Wahrheit. Ich glaube es seit dem Zeitpunkt, da einer von ihnen ohne zu zögern an die Tür jener Frau klopfte, die man weithin nur Hexe nannte. Leise fluchend eilte Fynn hinter Elly her. Sie legte ein großes Tempo vor, ohne sich dabei allzu sehr zu verausgaben, während er schon nach den ersten Metern den Berg hinauf nach Atem rang. Unter einem Arm trug er seine Notizen und sein Schreibzeug, das ihm beim Rennen beinahe verloren ging, krampfhaft umklammert. Erst auf der Hügelkuppe wurde Elly langsamer und hielt schließlich ganz an. Keuchend kam Fynn neben ihr zum Stehen und stützte sich mit einem Arm auf den Knien ab. Sein Herz hämmerte noch im Takt seiner Schritte, als wolle es den Weg ohne ihn fortsetzen. Vor ihnen erstreckte sich die Marktstraße ihres Heimatdorfes, kaum breit genug, als dass ein Pferdekarren hindurch fahren konnte. Die Bewohner drängten aus den aneinander gelehnten Fachwerkhäusern, Kinder unterbrachen ihr Spiel und eilten den Erwachsenen hinterher. Lange, lange Zeit war es her, seit der letzte Geschichtenerzähler in dieses Dorf gekommen war, und so wurde er bereits sehnsüchtig erwartet und mit viel Herzlichkeit begrüßt. Fynn tauschte einen Blick mit Elly, las Aufregung, Erwartung, Freude, ja, Hoffnung in ihren Augen, als Spiegel seiner eigenen Gefühle. Gemeinsam gingen sie zu der Menschenansammlung, schlossen sich ihr an, jeder in seine eigenen Träume vertieft. Sie mochten wahr werden, diese Träume, dachte Fynn in diesem Moment. Wie lange hatte er darauf gewartet, einen jener Wanderer kennen zu lernen, die Erinnerung an den letzten bereits halb verblasst, war er doch kaum älter als vier Jahre gewesen. Jetzt aber... Er wollte ihre Geschichten hören, doch umso mehr das Geheimnis eben jener ergründen. Wie entstanden sie? Wie hielt man sie fest? Wie schuf man sie selbst? Der Geschichtenerzähler hielt nicht an, bildete im Gegenteil die Führung eines langen Zuges, der durch das ganze Dorf verlief. Wer wusste schon zu sagen, ob er bloß seinen Weg ging, oder aber all die Bewohner dieses Ortes wissen lassen wollte, dass er hier war? Alter hatte sein Haar weiß werden lassen, von grauen Strähnen durchzogen, ebenso seine Gestalt gebeugt. Er ging gestützt auf einen einfachen, hölzernen Wanderstock, während ein abgetragener Reisemantel den Wind auffing. Nein, er war nicht mehr jung, dennoch war sein Schritt zielgerichtet, weder schwankte, noch zögerte er, der Blick starr gerade aus gerichtet. Letzteres hatte jedoch einen anderen Grund, wie Fynn mit einem leisen Schaudern erkannte – der Mann war blind, seine Augen nur milchigweiß und blicklos. Doch das machte ihn nicht abstoßend, eher im Gegenteil, es machte ihn nur umso faszinierender. Dieser Mann war weit gereist, sagte sich Fynn. Hatte vielleicht viel gesehen, bevor er sein Augenlicht verlor, mit Sicherheit aber viel erlebt. Und seine Reise ging weiter, immer noch. Er wählte seinen Weg, so sicher, als könne er sehen. Gemurmel folgte ihm, wussten doch mittlerweile alle, wohin er ging, und konnten es doch nicht glauben. Es gab nur ein Haus, das so weit abseits lag, nur eine Person, die sich noch nicht um den alten Mann geschart hatte, wie Raubtiere, die es nach Ansehen, Anerkennung hungerte, obgleich sie wussten, dass es nicht berechtigt sein mochte. Fynn wunderte sich, woher diese Gedanken kamen, und wusste doch, sie waren wahr. Er suchte erneut den Blick Ellys und glaubte etwas wie Genugtuung darin zu lesen, Spott gegen all jene, die sie Hexentochter nannten. Ja, sie wusste, was sie wirklich war... wer sie war. Und nach und nach begann auch Fynn ihr mehr Glauben zu schenken, als den Meinungen all der Anderen. Den Rand des Dorfes hatten sie bereits hinter sich gelassen, als die Gefolgschaft des alten Mannes zurückblieb, während er selbst in Richtung der Hütte schritt, die ein Stück weiter von Buchen eingerahmt wurde. Elly bedeutete Fynn, der ebenso zögerte, mit ihr zu kommen, und so folgte er schweigend. Nur allzu deutlich war er sich der ihnen folgenden Blicke bewusst, und so versuchte er, seine Gedanken abzulenken, indem er ihr Ziel in Augenschein nahm. Dumpf tastete sich der Wanderstock ihres Führers über den Pfad. Die Hütte war eigenhändig errichtet, wie er wusste, doch strahlte sie für ein Hexenhaus – er schalt sich für das Wort gleich darauf einen Narren – ungewöhnliche Heimeligkeit aus. Sie lag am Rande des Waldes, reine Zweckmäßigkeit, wie er später erfahren sollte, und war nicht nur von Bäumen, sondern auch von einem kleinen, gepflegten Kräutergarten umgeben. Vor dem Gartentor angekommen, trat Fynn unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, während sich der alte Mann, geführt von Elly, zur Tür vortastete. Dort angekommen klopfte er an das wettergegerbte Haus. Ellys Mutter öffnete ihm, und obgleich Fynn sie nicht zum ersten Mal sah, betrachtete er sie doch zum ersten Mal mit einem Blick, ungetrübt von den Vorurteilen Anderer. Sie trug ein einfaches Leinenhemd, zusammengeschnürt mit einer Schärpe an der Taille, nicht ganz dünn, doch auch nicht zu füllig. Locken, schwarz wie die Ellys, fielen ihr ungebändigt über die Schultern und umrahmten ein sanftes Gesicht, mit ernsten, reifen Zügen. Sie erkannte den Geschichtenerzähler sofort als das, was er war, doch ihre Reaktion kam unerwartet. Mit leisen Worten und eindeutigen Gesten wies sie ihn ab. Ihn, einen Geschichtenerzähler! Kaum jemand hätte das gewagt. Fynn sah Enttäuschung in Ellys Blick aufkeimen, doch ehe mehr daraus werden konnte, sprach der alte Mann die ersten Worte, seit er ins Dorf gekommen war. „Du brauchst mich nicht abzuweisen.“ Seine Stimme war tief und angenehm, geschult durch das Erzählen. Die blinden Augen richteten sich auf die Frau, als blicke er tief in ihre Augen. Vielleicht aber blicke er auch direkt in ihr Herz... „Ich kenne deine Geschichte bereits, Anna... er hat sie mir erzählt.“ Fynn legte den Kopf schräg. Ihm entging das scharfe Einatmen von Ellys Mutter nicht. Verwirrt, doch neugierig vergaß er seine Nervosität beinahe. Auch in Ellys Blick las er Verwirrung. Dann aufkeimendes Verstehen und Hoffnung. Ihre Mutter kam ihr zuvor. Sie klang überraschend kühl bei ihrer Antwort. Hatte je jemand gewagt, einem ehrbaren Geschichtenerzähler auf diese Art zu begegnen? Nicht in diesem Dorf jedenfalls. „Hat er das? Nun, dann sollte er selbst kommen und nicht einen alten Mann an seiner statt schicken.“ Sie wandte sich bereits wieder um. Eine knochige Hand berührte sie am Arm, hielt sie fest. „Er hat mich nicht geschickt.“ Ein Stocken in ihrem Atem. „Nein, ich wollte nur selbst die Frau kennen lernen, die sein Herz gefangen nahm.“ Schweigen folgte auf seine Worte, das eine Spur traurig wurde, als die Frau den Kopf beugte, plötzlich müde, plötzlich von Wehmut erfüllt und der Last der Zeit gebeugt. „Sein Herz gefangen zu nehmen, hat nicht gereicht, um ihn bei mir zu halten. Dafür hätte ich seine Seele stehlen müssen, doch das konnte ich nicht. Denn auch ich habe mein Herz verloren, vor Jahren schon, an etwas, das ich niemals halten kann.“ Die Locken verbargen ihr Gesicht, doch ihre Stimme klang bitter. Auf schwer zu bestimmende Art hatte Fynn das Gefühl, ein Gespräch mitzubekommen, das nicht für ihn bestimmt war. Das nur die Frau und den Erzähler etwas anging... und jene dritte Gestalt, die sie erwähnten. Doch seine Neugier verdrängte den Entschluss, sich umzuwenden und zu gehen. Der alte Mann zog seine Hand zurück, seine Lippen von einem sanften Lächeln umspielt. „Man kann nicht alles halten, das ist wahr... doch gib die Hoffnung nicht auf.“ Erneut berührte er sie, diesmal aufmunternd, nur kurz, federleicht. Als Antwort hob sie den Blick. „Er wird zurück kommen. Irgendwann.“ Zaghaft erwiderte sie sein Lächeln, obgleich er es nicht sehen konnte, doch die Wehmut verschwand nicht ganz daraus. „Hoffentlich wird es dann nicht zu spät sein...“, flüsterte sie. „Nun, dieser alte Mann bittet um Unterkunft“, wischte der Geschichtenerzähler ihre Bemerkung beiseite und stützte sich auf seinen Stab. „Preis sollen Geschichten sein. Wird sie ihm gewährt?“ Nach einigem Zögern seufzte die Frau. „Unterkunft soll Euch gewährt werden. Seid willkommen in meinem Heim.“ Ellys Jubelrufe entlockten ihr dann doch ein ehrliches Lächeln. Ihre Tochter führte den alten Mann ins Haus. Plötzlich fühlte sich Fynn auf seinem Platz neben dem Tor sehr verloren. Doch das währte nicht lange. „Komm, junger Mann.“, richtete Anna das Wort an ihn. „Sei auch du willkommen.“ Erleichterung machte seine Schritte leicht, als er Elly folgte, sein Herz laut klopfend. Nur einen Augenblick lang glaubte er, einen besorgten Blick Annas in die Richtung des Dorfes aufzufangen, wo sich die Menschen nur langsam zerstreuten, kopfschüttelnd, flüsternd. Wieder war es Neugier, die Fynn vergessen ließ, wo er war. Voller Staunen blickte er sich in der Hütte um, als er Elly und dem Mann folgte. Sie bestand aus mehreren Räumen, wirkte dadurch kleiner, als sie tatsächlich war. Und doch, so schlicht die Einrichtung auch war – sie schien selbst gefertigt, ob sie den Händen von Ellys Mutter entstammte? - so reich war sie an etwas, das er, der er zusammen mit vier Brüdern ein Zimmer teilte, das kaum mehr als ihre Betten und einen Schrank enthielt, doch oftmals vermisste... Wärme, Gemütlichkeit. Hier bist du willkommen, erzählte sie. Elly führte sie in einen Raum, der durch ein langsam vor sich hin flackerndes Feuer erhellt wurde, über dem ein Kessel hing, der angenehmen Duft nach Suppe verbreitete. An einer Wand fand sich ein Regal und eine Sammlung verschiedenster Kochutensilien, an einer anderen drängte sich ein aus dicken Holzleisten gefertigter Tisch und einer Bank davor. Ganz im Gegensatz zu all der Einfachheit all dessen lag ein Stück vor der offenen Kochstelle ein Teppich ausgebreitet, der, obgleich alt, augenscheinlich einmal sehr teuer gewesen sein musste. Ausgeschmückt wurde der Raum durch getrocknete Kräuter und andere Vorräte wie ein Sack Kartoffeln oder Äpfel. Schwerfällig ließ sich der alte Mann auf der einfachen Holzbank nieder, erleichtert, nach der langen Reise wieder sitzen zu können. Ein tiefer Seufzer entwich seinem Lippen. Elly eilte mit einem Murmeln aus dem Raum heraus, als ihre Mutter nach ihr rief. Fynns Blick wanderte wie magisch angezogen zu dem alten Mann zurück. Er wirkte dürr und knorrig wie eine alte Eiche. Alt musste er sein, ja... doch im Wind würde er sich wie der Stamm jener Eiche biegen, statt zu brechen. War nicht auch das Teil dessen, was man sich über diese Wanderer erzählte? Sie wurden im Alter stets zäher, statt gebrechlich und schwächlich wie die Großeltern, die im letzten Winter so sehr unter der Kälte gelitten hatten, dass Fynns Familie nicht geglaubt hatte, sie würden den nächsten Frühling noch erleben. Nein, dieser Mann, obgleich er so alt wie die Zeit selbst schien, war voller Leben. Die dünnen Lippen des Alten verzogen sich zu einem warmen Lächeln. „Komm, Junge.“ Er wies mit einer knorrigen Hand neben sich. „Setz dich zu mir.“ Gerade noch wollte Fynn sich fragen, woher der Alte wusste, dass er noch an Ort und Stelle stand, da meinte dieser auch schon gutmütig. „Ich mag blind sein, doch nicht taub. Deine Schritte sind dem Mädchen nicht aus dem Raum gefolgt. Nun komm und setz dich zu mir... oder hat sich die Welt so sehr verändert, dass die Jungen nicht mehr neugierig genug sind, einen alten Geschichtenerzähler auszufragen?“ Langsam ging er auf den Mann zu, noch während er über die Worte nachdachte. „Nein, Vater... neugierig bin ich wohl.“ Zögernd, aber von dem Drang beseelt, sich zu rechtfertigen, fügte er an: „Aber die Erwachsenen scheinen ihre Neugier zu verlieren... immerzu erzählen sie mir, ich soll nicht so viel fragen und die Dinge als gegeben sehen.“ Er erhielt ein dunkles Lachen zur Antwort. „Ja, viele vergessen im Alter viel zu schnell, dass auch sie einmal jung waren und begierig darauf, mehr zu lernen, mehr zu sehen.“ Sein Blick war geradeaus gerichtet, auch als Fynn sich neben ihm auf der Holzbank niederließ, als könnten die blinden Augen irgendwo in der Ferne etwas erkennen, das einem Sehenden verborgen blieb. Noch von dem gleichen Drang getrieben platzte Fynn hervor: „Ich werde meine Neugier nie verlieren!“ Und obgleich er wusste, er sprach die Wahrheit, war er sich doch gleichzeitig bewusst, wie sehr seine Worte nach denen eines Kindes klangen, trotzig, weil es den Älteren widersprach. Wie ungewohnt es war, keine Rüge für diese Dreistigkeit zu bekommen... wie angenehm. „Oh, Junge, bewahre dir diesen Vorsatz. Es wird dir nur ein glücklicheres Leben bringen.“ Es schien zugleich Rat als auch Lebenserfahrung zu sein. Wie viel hatte er gesehen? Wie viel musste er erzählen können! Fynn rutschte unruhig auf seinem Sitzplatz hin und her, bis seine Neugier endlich die Überhand gewann. „Seid Ihr weit gereist, Vater?“ Ehrfürchtig wählte er den Titel, den man schon vor Jahrhunderten den Wanderern gegeben hatte, den Weisen, den Geschichtensammlern. Denn all ihre Zuhörer waren wie ihre Kinder, denen sie erzählten. „So weit, wie das Land groß ist“, lautete die Antwort. Ein Lächeln lag darin, als wisse er um all die Fragen, die Fynn auf der Zunge brannten. „Wie lange werdet Ihr bleiben?“ „Oh, lange genug für die ein oder andere Geschichte, mein Junge.“ Er wandte Fynn den Kopf zu und was in seinem Gesicht lag, war so voller Güte und Wärme, dass Fynn den alten Mann sofort in sein Herz schloss. In diesen wettergegerbten Zügen konnten sich all die Legenden über Geschichtenerzähler bewahrheiten. Unsterblich. Allwissend. Magieverwoben. Die Fragen sprudelten dann nur so aus ihm hervor. Nur einige wenige bewahrte er sich auf, zu ängstlich, auf Abweisung zu stoßen und seinen Traum schon jetzt zu verurteilen. An diesem Abend sah der Geschichtenerzähler die versammelten Dorfbewohner der Reihe nach an, zumindest wirkte es so, als er sein Gesicht ihnen allen zuwandte. Kinder und Alte, unter seinen gutmütigen, blicklosen Augen, die einmal so viel von der Welt gesehen hatten, waren sie alle gleich. Stand und Herkunft spielten keine Rolle, ebenso wenig gute und schlechte Taten, denn all das war Vergangenheit. Sie alle verband das Sehnen nach den Geschichten, die sie das hier und jetzt vergessen ließen, Leiden und Sorgen mit sich forttrugen, damit sie, die sie ihre Träume nicht leben konnten, die einfachen Menschen, auch einmal von Abenteuern und fernen Welten träumen konnten. Nur deswegen hatten sie sich alle an diesem Tag hier versammelt, an einem Ort, den sie sonst gemieden hätten, bloßer Vorurteile wegen. Nur das war es, was die Tradition der Geschichtenerzähler am Leben erhielt: Sehnsucht. Die Sehnsucht der Zuhörer, die erwartungsvoll zu dem Erzähler aufsahen, und die Sehnsucht des Erzählers, Geschichten, Erinnerungen, Gefühle in Geschichten zu bannen und an seine Zuhörer weitergeben zu können. Doch nicht alle sehnten sich bloß danach. Unter den Zuhörern, die sich an diesem Abend vor dem Ehrwürdigen versammelt hatten, saßen ein, zwei... vielleicht sogar drei Leute, die anderes sehnten, die Träume träumten, die sich noch erfüllen konnten... oder die Träume bereits gelebt hatten. Fynn erkannte diese Gedanken im Blick des Alten, als dieser auf ihm und Elly ruhte und dann lange Zeit nachdenklich auf Ellys Mutter Anna verharrte, als könne er sie tatsächlich sehen. Ich habe mein Herz verloren, vor Jahren schon... an etwas, das ich niemals halten kann. Was mochte diese Worte bedeuten? Sie hatte es mit Trauer in der sanften Stimme gesagt, mit einer Spur von Bitterkeit, doch ebenso voller Stolz. Sie schämte sich nicht dafür, ihr Herz hergegeben zu haben. An was? An wen? Doch das war wohl eine andere Geschichte... Wieder glaubte Fynn den Blick des Erzählers auf sich ruhen zu spüren. Als er aufsah, begegnete er den blinden, milchig weißen Augen, alt, wissend. „Was ich euch erzählen will...“, begann der Alte leise und das Schweigen im Raum vertiefte sich. Einjeder hatte die Aufmerksamkeit jetzt auf ihn gerichtet. Die Stimme umschmeichelte sie alle wie ein warmer, wohliger Windhauch, klang weich und samten, wie die eines geübten Sängers. „Was ich euch erzählen will, ist eine Geschichte von der Liebe zu Träumen und dem Traum, der in Erfüllung ging, von Hoffnung, die nie starb. Ihr solltet sie euch zu Herzen nehmen, denn Euer aller Träume können sich noch immer erfüllen.“ Für einen Augenblick fühlte Fynn sich an Ellys Geschichte erinnert. Sie hatte so ähnlich angefangen... von Träumen. Auch er träumte, er träumte schon, so lange er sich erinnerte. Obgleich der Geschichtenerzähler mit seinen Worten sie alle einfaßte, schienen sich die nächsten direkt an Fynn zu richten. Oder war es nur sein Herz, das mit all seiner jungen Sehnsucht darauf reagierte und höher schlug? „Denn Träume sterben niemals...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)