Federkiel und Wanderstock von Carifyn ================================================================================ Kapitel 3: Ich habe geträumt ---------------------------- „Ich habe geträumt“, sagte er. Und hier erst beginnt die eigentliche Geschichte... Lange, lange Zeit war es her, seit er eine Stadt betreten hatte, dachte er und fuhr sich durch das lose Haar, das ihm wie ein obsidianfarbener, leicht zerzauster Schleier über die Schultern wallte. Was sollte er fühlen? Freude... oder Enttäuschung? Nach so langer Zeit in der freien Natur, allein bloß mit sich selbst und den Tieren – und seinen Träumen – konnte er kaum noch verstehen, wieso sich die Menschen in diese engen Häuser einsperrten. Und doch freute er sich auf ein Bett... und frische Kleidung. Mit einem Verziehen der Lippen sah er an sich hinunter. Oh, er hatte versucht, sie in bester Ordnung zu halten, aber Hose und Hemd waren dennoch abgetragen, verstaubt von den Straßen, die er bewandert und zerrissen vom Unterholz der Wälder, die er erforscht hatte. Geld hatte er keines, schon lange nicht mehr. Hatte es nie gebraucht. Wozu auch, fernab der Zivilisation? Und so verhieß das betreten dieser Stadt einen vollkommenen Neuanfang für ihn. Hinein in die Ungewissheit... neugierig darauf, was ihn erwarten würde. Die Stadtbewohner beäugten seine Erscheinung misstrauisch, während er seinen Weg fortsetzte, vorbei an geöffneten Läden, aus denen Stimmen zu hören waren, Gerüche von Gebäck und heißen Getränken herauswehten. Auf einem großen Platz erst blieb er stehen und sah sich um, ein Auge zusammengekniffen. Ja, dieser Ort war perfekt... Er störte sich nicht im Geringsten an den Marktschreiern, die lautstark ihre Ware anpriesen und steuerte den großen Brunnen in der Mitte des gepflasterten Platzes an. Dort stellte er sich auf die steinerne Ummauerung, das sanfte Geplätscher des Wassers im Rücken, und blickte auf die Menschen hinab, die geschäftig hin und her eilten. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Da waren sie... und wussten noch gar nichts von ihrer Ehre. So lauscht denn dem Klang eurer Rettung, dachte er amüsiert, bevor er sich aufrichtete und in seine Tasche griff. Heraus zog er eine lange, hölzerne Flöte, sorgsam gefertigt und abgeschliffen, mit filigranen Linien bemalt, die ihr ein mystisches Aussehen gaben. Ohne zu zögern setzte er sie an die Lippen und begann zu spielen. Die Augen hielt er geschlossen... er musste nicht sehen, wie die Menschen plötzlich inne hielten, die Marktschreier verstummten und sich schweigend um ihn versammelten. Wie ein fremdes Wesen mochte er gewirkt haben... einem Märchen entsprungen. Sein verblichener Wollmantel bauschte sich sanft im Wind und seine Haare flatterten wie Flügel, die sich um ihn herum ausbreiteten. Sein Gesicht war sanft geschnitten, beinahe feminin, doch markant durch die hohen Wangenknochen und die mandelförmigen Augen. Und seine Musik... eine sprunghafte, lebendige Melodie... wob eine Geschichte. Sie erzählte von fremden Welten, von Wundern und Wünschen, die sich dort erfüllten. Gefährlich vielleicht, doch so atemberaubend, dass man das Auge nicht mehr von all der Schönheit abwenden konnte. Eine Welt, die nur darauf wartete, entdeckt zu werden... und doch war es nur eines: ein Traum. Sanft trug der Wind die letzten Töne seines ungeschriebenen Liedes davon. Langsam, beinahe unwillig ließ er sein Instrument sinken und öffnete die Augen. Ihm blickte eine ergriffen schweigende Menge entgegen, manch einem seiner Zuhörer stand voll Staunen den Mund offen, doch sie fingen sich nach kurzer Zeit. Es ging ein Seufzen durch die Menge, als sich die Menschen zu regen begannen. Und dieser Laut, der so viel mehr sagte als Worte, war für den Musiker eine größere Belohnung als der Applaus und die bewundernden Rufe, die zaghaft zu ihm herauf schallten. Er lächelte, ebenso ergriffen wie sein Publikum. Viele der Menschen begegneten seinem Blick offen, ein anerkennendes Nicken hier, eine einsame Träne dort – was mochten die Klänge seines Liedes in ihnen geweckt haben? Er sah so verschiedene Ausdrücke auf den Gesichtern, dass er sich dessen nicht sicher war, doch eines wusste er mit Bestimmtheit: er hatte an ihren Herzen gerührt. Was mehr war, als er zu hoffen gewagt hatte. Noch einen Augenblick lang ließ er die Erinnerung an seine Melodie nachklingen, als würde der Wind noch immer einige Töne über den Platz tragen, dann verbeugte er sich tief. Strähnen seines Haar fielen ihm in die Augen... ob er deswegen so heftig blinzelte, oder weil ihm Freudentränen in die Augen traten? All diese Jahre in Einsamkeit, in denen er sich von Siedlungen fern gehalten hatte, sie hatten sich gelohnt... Als er sich wieder aufrichtete, drängte sich die Menge dichter um ihn, murmelnd, tuschelnd. „Wie heißt du, Junge?“, wollte ein älterer Herr wissen. „Wo kommst du her?“, ein anderer. Er erwehrte sich den Fragen mit einem verlegenen Lächeln, das die Tiefen seiner dunklen Augen zum leuchten brachte. Seinen Namen hatte der Wind längst mit sich fortgetragen, seine Heimat waren die Straßen und Felder, Bäche und Wälder, Täler und Berge... doch würden sie das verstehen, wenn er es sagte? Schließlich gebot er den Fragen Einhalt, indem er eine Hand halb erhob. Seine Finger waren feingliedrig, wie die eines Gelehrten, nicht von den Schwielen körperlicher Arbeit gezeichnet, doch bei weitem nicht so gepflegt. Er antwortete mit den Worte, die er sich auf dem Weg hierher zurechtgelegt hatte: „Ich komme von weit her, gehe, wohin die Straße mich führt...“ Seine Stimme hallte leise, doch klar verständlich über den Marktplatz. „Mein einziger Begleiter ist die Musik...“, dabei hob er seine kunstvolle Flöte an. „...und mein Name...“ Er stockte, rettete sich in ein Lächeln und fuhr fort: „Verloren, vergessen.“ Und jetzt kam der schwierige Teil. Wieder hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit der Menschen, doch konnte er schon das aufkeimende Misstrauen in den Blicken erkennen. Nur einige wenige würden seine Musik wie einen heiligen Schatz in ihrem Inneren hüten... der Gedanke stimmte ihn traurig, machte ihn gleichzeitig wütend, obwohl er sich dessen schon im Voraus bewusst gewesen war. Selbst starke Gefühle waren so vergänglich wie eine vorübergehende Laune... Er schien noch leiser zu werden, und hätte ihn einer der Anwesenden gekannt, hätte er sagen können, dass ein Ausdruck der Unsicherheit über sein Gesicht huschte. „Gibt es unter Euch guten Bürgern einen Menschen, der einem umherziehenden Künstler Unterkunft gewährt? Geld habe ich keines, doch soll meine Musik die Bezahlung sein.“ Ein Murren durchlief die Menschenmasse, genau, wie er es erwartet, gefürchtet hatte. Er ließ seine Augen wandern und wenn er dem Blick einer der Anwesenden begegnete, so wurde dieser rasch abgewandt. Hier und da hörte er gemurmelte Entschuldigungen, die durch die Gesichter derer, die sie sagten, Lügen gestraft wurden, und nach und nach löste sich der Kreis um ihn herum auf. Seine Züge wurden mit jedem, der ging, ein kleines Stück trübsinniger. Mutloser. Sollten sich seine Ängste hier verwirklichen? War die Erinnerung an seine Musik so kurzlebig? Hatte er zuviel erhofft? Noch einmal sah er sich um, blickte über den Platz, der sich so plötzlich geleert hatte, sah all denen hinterher, die jetzt wieder ihren Geschäften nachgingen. Doch halt! Da stand noch jemand, der sich nicht abgewandt hatte. Für einen Moment hellte sich sein Gesicht auf. Es war eine junge Frau, nicht viel älter als er selbst, und ein Mann , der dem Aussehen nach ihr Vater war. Sie selbst starrte ihn voller Faszination an, mit einem so intensiven Blick ihrer goldgesprenkelten Augen, dass er nicht wusste, ob er sich unwohl fühlen sollte oder aber geschmeichelt. Der alte Mann allerdings war es, der seine Hoffnung schnell wieder verblassen ließ. Hochgewachsen, stattlich, das ergraute Haar zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden, der Blick voll skeptischem Misstrauen auf ihn gerichtet. Er schluckte und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, als ob es über seine... abgerissene Erscheinung hinwegzutäuschen vermochte. Doch zumindest verlieh es ihm etwas Würde. Nein, bitten und betteln würde er nicht – er hatte gesagt, was er zu sagen hatte. Jetzt galt es, das letzte Urteil zu erwarten, das seine Hoffnung erfüllen oder seinen Weg hier und jetzt vor ein plötzliches Ende stellen würde. Trotz dieser Einstellung wurde er unter dem Blick seiner letzten beiden Zuhörer immer unruhiger, bis die Frau endlich das Schweigen brach. „Eure Musik... erzählt von so viel. Von Schönheit und Geheimnissen, Melancholie und Sehnsucht...“ Ihre Stimme war hell und klar, doch so leise, dass der Wind sie hinfort zu tragen drohte. Dennoch erfüllten sie sein Herz mit Wärme. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er setzte schon zu einer Antwort an, als der alte Herr neben ihr schnaubte. „Genug der schönen Worte, Rhyanna.“ Obwohl er es nicht aussprach, klang in diesen Worten etwas abfälliges mit, bei dem sich der Blick des Träumers unwillkürlich senkte. Ohne eine Miene zu regen, kam der alte Mann auf ihn zu, kramte einige Münzen aus seinem Beutel hervor und hielt sie ihm vor die Nase. „Nehmt das für Eure Vorstellung und dann verschwindet. Hier ist kein Platz für Spielleute.“ Er presste die Lippen aufeinander und mied den Blick des Alten, starrte statt dessen auf die Münzen. Kein Platz für Spielleute... bin ich nicht mehr als das?, fragte er sich. Ein Spielmann? „Vater, wie kannst du so etwas sagen?“ Die Frau tauchte neben ihm auf, gleich einem stürmischen Engel, das schwarze, lockige Haar gebauscht, die Wangen vor Empörung gerötet, eine Hand in die Falten ihres Kleides gegraben. Er ertappte sich dabei, wie er sie bewundernd, doch nicht allzu höflich anstarrte, und wandte schnell den Blick ab. Der Alte hatte die Hand mit den Münzen gesenkt und sah zwischen ihm und seiner Tochter hin und her. „Rhyanna... du willst doch wohl nicht-“ „Doch, genau das will ich!“ Sie fuhr energisch herum und kehrte ihrem Vater den Rücken zu. Elegant warf sie sich ihre Locken über die Schulter und deutete noch in der gleichen Bewegung einen Knicks an. „Es wird mir eine Ehre sein, Euch in unserem Hause begrüßen zu dürfen. Seid unser Gast, Musiker.“ In diesem Moment glich sich der Ausdruck auf den Gesichtern von ihm und dem Alten, doch entlockte so viel Dreistigkeit Letzterem schließlich ein resignierendes Seufzen, dem Musiker aber ein „Habt Dank, edle Dame.“ So kam es also, dass der Träumer ein Zimmer im Hause der Familie Noraine bezog, eine reiche Bürgerfamilie mit einem eigenen Anwesen am Rande der Stadt. Man brachte ihm neue Kleidung, die ihm beinahe übertrieben edel vorkam, und ihn deswegen nur umso mehr beeindruckte. Schon an diesem ersten Abend, bei Wein, Geschichten und seiner Musik ließ sich der Vater Rhyannas erweichen und stellte sich zwar als strenger, doch ebenso freundlicher Herr heraus, der seiner einzigen Tochter kaum einen Wunsch abschlagen konnte. Der Träumer genoss den Abend. Hatte er zuvor noch an seinem Vorhaben gezweifelt so kostete er jetzt die Freude eines ersten Erfolges aus. Die Melodien, mit denen er die Familie und den Haushalt unterhielt, spiegelten seine Seele wieder, waren fröhlich und unbefangen. Das Zimmer, das ihm zugewiesen wurde, übertraf schließlich sogar seine kühnsten Träume. Ein Bett, so weich und anschmiegsam, wie er es noch nie erlebt hatte, erwartete ihn, direkt unter dem Fenster mit Blick über die Stadt. Er ließ sich in die Kissen fallen und genoss das Gefühl der wohlverdienten Müdigkeit, das ihn ergriff. Beinahe wäre er eingedöst, noch voll angekleidet, doch ein Klopfen an der Tür riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Rhyanna betrat das Zimmer, sah sich kurz um und richtete dann den Blick ihrer ungewöhnlichen Augen auf ihn, von einem Lächeln erfüllt, das ebenso auf ihren Lippen lag. „Ich hoffe, all das hier ist nach Eurer Zufriedenheit“, sprach sie ihn an. Er lachte leise, ein amüsiertes Funkeln im Blick. Oh, er hätte doch selbst auf einer alten Holzpritsche geschlafen. „Das ist es“, nickte er höflich, seine überschwängliche Begeisterung unterdrückend. Er betrachtete die Frau neugierig. Er konnte ihr geradezu ansehen, dass es etwas gab, dass ihr auf der Zunge lag. Und er musste nicht lange warten. „Träumer... ein schöner Name, der Eurer Musik mehr als gerecht wird.“, sagte sie leise und hob eine Hand auf ihr Herz, gleichsam unsicher wie auch ein Ausdruck ihrer eigenen Verträumtheit, die der seinen ähnlich war. „Aber... sagt... würdet Ihr mir Euren richtigen Namen verraten?“ Das Lächeln verließ seine Lippen nicht. Er zögerte – sollte er nach dem Warum fragen? - doch der Wunsch, ihr ein Stück seiner alten Geschichte wie ein Fragment eines Puzzels in die Hand zu drücken, war groß. „Norael“, antwortete er schließlich und beobachtete, wie ihre Lippen den Namen nachformten, als wolle sie ihn sich auf der Zunge zergehen lassen, ehe... Mitten im Satz brach Elly ab und richtete sich auf ihre Ellbogen gestützt auf. Fynn blinzelte in das helle Sonnenlicht, dass er während der Geschichte schon gar nicht mehr wahrgenommen hatte. „Was ist?“, fragte er, ein wenig verärgert über die unerwartete Unterbrechung. Elly antwortete nicht, legte statt dessen den Kopf schräg und schien zu lauschen, dann sprang sie auf, so plötzlich, dass er überrascht zusammen zuckte. „Ich glaube, wir sollten das ein Andermal fortsetzen“, erklärte sie. Empört richtete sich auch Fynn auf. „Aber... du kannst doch deine Geschichte nicht einfach...“ Da hörte er, was sie gehört hatte. Ein Ruf aus der Richtung des Dorfes, leise, doch vom Wind zu ihnen getragen. Waren fremde Geschichten es wert, eine angefangene unbeendet zu lassen, wenn man nur eine Gelegenheit bekam, sie zu hören? „Der Geschichtenerzähler! Der Geschichtenerzähler ist da!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)