Who's afraid of Bogeyman? von abgemeldet (Wer hat Angst vorm schwarzen Mann) ================================================================================ Prolog: Das Spiel ----------------- Who’s afraid of Bogeyman? Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Niemand. Und wenn er kommt? Dann rennen wir. Für andere mag es ein Spiel gewesen sein, doch für mich passt dieser Satz in mein Leben. Sie hatten alle Angst vor ihm. Und wenn er kam, dann rannten sie. Niemand hätte es zugegeben, natürlich nicht, aber sie hatten alle Angst vor Bogey. Als er damals in unsere Klasse gekommen war, hatte sich mein Leben schlagartig verändert. Ich war der Außenseiter der Klasse und grenzte mich von allen anderen ab, doch nicht so wie er. Denn Bogey hasste die Klasse noch mehr als ich es jemals vermocht hätte und die Klasse hasste und fürchtete ihn mehr als mich. Wann immer es möglich war, suchte er Streit mit allen und schon bald mieden wir ihn. Ja, wir. Ich auch, vor allem ich. Die anderen hielten sich von ihm fern und er suchte ihre Gesellschaft nicht, sodass sie einigermaßen nebeneinander existieren konnten. Es hätte alles an dieser Stelle enden können, aber so sollte es nicht sein. Wie gesagt, sie mieden ihn. Genau das war es, was auch ich versuchte. Doch irgendwie sollte es nicht so sein, denn seine Abneigung zu den anderen und zu mir waren irgendwie verschieden. Natürlich, er suchte den Streit mit jedem, doch vor allem mit mir. Ich wusste nie, warum, aber es gab für ihn nichts Wichtigeres als sich mit mir zu streiten. Und so stritten wir. Und dies ist unsere Geschichte. Kapitel 1: Ein guter Tag ------------------------ Es war ein kühler Morgen. Doch der strahlendblaue Himmel ließ vermuten, dass heute ein extrem heißer Tag werden würde, an dem sich nicht eine einzige Wolke vor sie Sonne schieben würde. Das würde eigentlich jeden glücklich machen, nicht wahr? Ein wunderschöner Tag um auf Klassenfahrt zu fahren! Ich dachte nicht so. Es kotzte mich jetzt schon an, dass ich unbedingt mitfahren musste. Eine ganze Woche mit meiner Klasse am Arsch der Welt und noch dazu so heiß. Ich mochte den Regen viel lieber, er passte wohl auch besser zu mir. „Shady?“ Ich sah müde auf. Mein kleiner Bruder sah mich aus seinen nussbraunen Augen an und grinste, als ich reagierte. Er grinste immer, wenn ich ihn ansah. Wahrscheinlich tat er es, weil ich es nicht tat, aber wer wusste das schon. „Was ist denn los, Monster?“ Jeder nannte ihn so, ich allen voran. Er war aufgeweckt, hilfsbereit und so ziemlich das genaue Gegenteil von mir. Ich hatte nie einen dreisteren Menschen gesehen als ihn, genau das hatte ihm diesen Spitznamen eingebracht. Dreist und frech. Auch den Lehrern schien es sehr entgegenzukommen, ihn Monster nennen zu können. Doch eigentlich war es mir egal. Am Anfang hatte ich mir einen Spaß daraus gemacht, ihn zu ärgern, auch mit Erfolg. Aber inzwischen war es einfach normal, beinahe so, als hätte er gar keinen anderen Namen mehr. „Du bist schon wieder zu spät!“, rief Monster jetzt und drückte mir meinen Rucksack in die Hand. Ich seufzte und setzte ihn auf, dann nahm ich meine Tasche, die er mir schon hinhielt. Manchmal konnte er sich ja schon ganz niedlich benehmen, der Kleine. Er reichte mir sogar meine Gitarrentasche. Meine E-Gitarre würde in meinem Zimmer auf mich warten, bis ich zurückkam, doch meine Akustik würde ich mitnehmen, ganz ohne Gitarre ging dann doch nicht. Nicht für mich. Ich strich ihm mit einer fahrigen Bewegung durchs Haar und seufzte noch einmal. „Stell dich nicht so an! Ich würde mich freuen, wenn ich mit meiner Klasse auf Klassenfahrt fahren könnte! Dann wäre ich nämlich nicht hier!“ Er zeigte auf den Boden auf dem er stand und ich wusste, dass er unser gemeinsames zu Hause meinte. Ich nickte verstehend. Um ehrlich zu sein, ich wollte auch nicht, dass er hier war. Ok, der Junge war 15, das ist das Alter, in dem ich nächtelang nicht mehr nach Hause gekommen war und mich mit meinen Kumpels herumgetrieben hatte. Inzwischen gab es aber zu diesen Leuten keinen Kontakt mehr und ich verbrachte so viel Zeit wie möglich zu Hause. „Lass dich nicht fertigmachen, Kleiner!“, riet ich ihm und kassierte dafür einen Schlag gegen den Hinterkopf. Wieder verfluchte ich innerlich die Tatsache, dass mein kleiner Bruder ganze 11cm größer war als ich. Damit hatte ich jegliche Autorität vor ihm verloren. Aber wozu sollte ich sie schon brauchen. Ich knurrte selten zurück, wenn er mich ärgerte. Ganz selten „Sag, Shady…“, sagte er gerade, während er mich aus dem Haus begleitete, „Du kommst doch zurück, nicht wahr?“ Er klang etwas verunsichert. Ich sah ihn an. Sein Blick war auf den Boden gerichtet und traurig. „Natürlich komme ich zurück, Kleiner!“, sagte ich leise, „Sehe ich so aus, als würde ich für immer an diesem verdammten See bleiben wollen?“ Monster sah auf und grinste mich an. „Und, vermisst du mich schon?“, knurrte ich trocken. Da lachte er los. Das war mein Ziel gewesen. Ihn ablenken von dem Thema, über das ich so ausführlich nachgedacht hatte. Ich hatte wirklich darüber nachgedacht, nicht wiederzukommen. Aber wäre das nicht unfair gewesen? „Dich vermissen? Wer würde schon einen so negativ eingestellten Emo vermissen!“ Ich nickte nur. Er hatte ja recht. Mit einer langsamen Bewegung zerrte ich die Kapuze meiner Seatjacke über meinen Kopf. Negativ eingestellter Emo? Das war ich, mit Leib und Seele… vielleicht. Mit der Selbsteinschätzung hatte ich es nicht so Ein Bus fuhr an uns vorbei, rief mich aus meinen Gedanken zurück und brachte Monster dazu fluchend zur Bushaltestelle zu sprinten. „Dir eine schöne Zeit!“, brüllte er mir zu und sprang dann in den Bus hinein. Ich hob zum Gruß die Hand, aber ich glaubte nicht, dass er es noch gesehen hatte. Hinter der Bushaltestelle, auf einem großen Parkplatz, wartete der Reisebus. Er würde mich und den Rest meiner Klasse, der nach und nach eintrudelte, an jenen abgelegenen See irgendwo im Grünen bringen. Ich freute mich nicht sonderlich auf diese Zeit, eher gesagt war ich schon total angepisst. Ich stiefelte auf die offenen Türen des Reisebusses zu. Dann schwenkte ich ab und ging zu der Lehrerin, Frau Wendiger, die neben dem Kofferraum stand. Wer wollte schon seine Tasche mit in den Bus schleppen, das machte alles nur unnötig enger. „Guten Morgen, Joel!“, sagte Frau Wendiger zu mir und am Liebsten hätte ich ihr jetzt schon auf die Füße gekotzt, „Ein Wunder, dass du pünktlich bist und nicht wie sonst immer eine Viertelstunde zu spät. Freust du dich etwa auch auf die Klassenfahrt?“ „Mindestens genauso sehr wie auf die nächste Mathearbeit!“, antwortete ich gleichgültig und warf meine Tasche zu den anderen. Dann ging ich an ihr vorbei und stieg in den Bus. Ich wusste, dass ihr Blick auf meinem Rücken ruhte und besorgt war. Ich war ihr Sorgenkind. Ich war eigentlich das Sorgenkind von allen. Immer nur am Scheißebauen und nie gut drauf. Na ja, was soll’s! So war ich eben. Es lag in meiner Natur nie das zu tun, was diese Frau sagte. Nein, das stimmt nicht ganz. Es lag in meiner Natur alles aus resignierten Augen zu sehen und einfach in einem apathischen Sein abzusitzen ohne irgendetwas zu tun. Dabei hatte ich eigentlich gar nichts gegen sie. Sie war eine gute Lehrerin und immer um das Wohl aller bewusst. Aber gerade deswegen mochte ich sie nicht. Sie erwartete von allen, so perfekt zu sein, wie das eben von einem Schüler verlangt wurde. Ich war es nicht. Im Bus war es dunkel und schon jetzt stickig. „Bleibt die Luft hier so schlecht?“, fragte ich den Fahrer ruhig. Er sah von seiner Zeitung auf und schüttelte dann nachsichtig lächelnd den Kopf. Beinahe als wäre ich ein kleines Kind. Vielleicht war ich das ja. „Wenn der Motor an ist, können wir auch die Klimaanlage einschalten!“, versprach er und ich nickte und ging weiter. Nach dem hellen Licht der aufgehenden Sonne war ich hier im Bus beinahe blind. „Shady! Hier, hier hinten!“ Ich hob den Kopf und konnte eine Gestalt ganz hinten im Bus wie wild mit den Armen fuchteln sehen. Das musste Cherry sein. Der einzige Mensch, der mich noch anstrahlte. Ich schlurfte durch den ganzen Bus, ohne die Schüler darin zu beachten. Seltsame Blicke trafen mich. Meine Güte, als wäre ich der einzige, der heute schlechte Laune hatte und trotz der Hitze in Kapuzenjacke herumrannte. Cherry grinste mich an. Sie war mal wieder wunderschön, wie eigentlich immer. Jedes Mal, wenn ich sie sah, verschlug es mir beinahe die Sprache. Aber das merkte sie nie, da ich eh nicht viel sagte. Ihre schwarzblonden Haare hatte sie ausnahmsweise in einem Pferdeschwanz gebändigt statt sie wie sonst immer frei über die Schultern fallen zu lassen und sie lächelte mich auf diese umwerfende Art und Weise an, wie es eben nur Cherry konnte. „Guten Morgen, Shady! Du siehst so aus, als hättest du mal wieder unglaublich gut geschlafen!“, meinte sie spöttisch und klopfte auf den Platz neben sich. „Ich hab mein Müsli verschüttet!“, erwiderte ich einsilbig und ließ mich brav in der letzten Reihe am Fenster nieder. Sie wusste, dass das mein Lieblingsplatz war und hatte ihn mir extra freigehalten. So ein guter Mensch! Ich dachte oft darüber nach, warum ich mich nie in sie verliebt hatte, wie es eigentlich alle Jungen taten. Doch ich fand einfach keine Antwort. Und so genoss ich ihre Anwesenheit eben einfach als die eines guten Freundes. „Bogey müsste auch gleich kommen!“, meinte Cherry und sofort sank meine Laune auf den bisherigen Tiefpunkt des heutigen Tages. „Bloß nicht!“, knurrte ich und seufzte entnervt. Bogey fehlte mir gerade noch, dabei war dieser Tag doch bisher auch schon scheiße gewesen, da musste der doch nicht auch noch kommen. Wieso tat er mir nicht einfach den Gefallen und brach sich mal ein Bein? Es war ja schon schlimm genug, dass ich hier war. „Jetzt sei nicht so!“, rief Cherry und lächelte hintergründig, „Er ist schließlich dein bester Freund!“ Ich widersprach nicht großartig. Warum sollte ich mit ihr diskutieren? Das war nun wirklich Ansichtssache! Ich persönlich konnte Bogey nicht ausstehen. Er hatte den Charakter einer giftigen Schlange und war so launenhaft, dass man sich nie sicher sein konnte, wie er reagieren würde. Auf was auch immer. Eigentlich reagierte er immer aggressiv und übellaunig, suchte ständig Streit. Sich streiten war insgesamt sein liebstes Hobby. Und Bogey und Shady -also ich- das war wie Tag und Nacht. Gut, vielleicht eher wie Nacht und noch tiefere Nacht. Ich gebe gerne zu, dass Bogey und ich und vom Charakter her eigentlich prima verstehen müssten. Beide waren wir launenhaft, ständig schlecht drauf und konnten eine ganze Menge Sachen überhaupt nicht ab. Aber wir eckten ständig aneinander an und stritten uns eigentlich ununterbrochen. Wenn mir denn auch nach Streit zumute war. Aber genau das machte uns zu so guten Freunden, dachte ich, da hatte Cherry schon recht. Mir würde halt etwas fehlen, könnte ich nicht ständig böse Blicke mit Bogey wechseln. Aber niemals würde ich auch nur daran denken das zuzugeben. „Bogey, komm hier her!“, brüllte in diesem Moment Cherry los und ich zuckte zusammen. Sie hatte wirkliche eine ganz brutale Art einen aus den Gedanken zu holen. Schon schlurfte Bogey durch den Gang und alle Köpfe beugten sich weg, wo er gerade entlangging. Man sah es ihm schon an, Bogey hatte miserable Laune, wahrscheinlich noch schlimmer als ich. Das machte ihn nur noch unberechenbarer und aggressiver. Eigentlich hatte jeder in dieser Klasse auch so schon verdammt Schiss vor ihm -wenn man Cherry und mich mal außen vorließ- aber heute schien er überhaupt nicht daran interessiert einen von ihnen auf seine aggressive Art fertig zu machen, wie er es sonst zuallererst tat, wenn er kam. Heute schlurfte er nur missmutig durch den Gang und ließ sich widerstandslos von Cherry neben sich auf einen Sitz zerren. Ich hatte es irgendwie am Liebsten, wenn er saß. Denn Bogey war größer als ich. Und es ließ sich recht schlecht streiten, wenn man, um dem anderen in die Augen zu sehen, nach oben schauen musste. „Guten Morgen, Bogey… deine Laune ist ja auch großartig!“, rief Cherry und grinste ihn an. Keine Ahnung, wie sie es mit uns beiden aushielt. Ihre Freude war unverwüstlich und wir schoben täglich schlechte Laune. Ich noch mehr als Bogey es tat. Bogey sah mich durch die Strähnen seines Ponys hindurch an, ohne auf Cherrys spitzen Kommentar einzugehen. „Hi!“, sagte er eisig, „Ich hatte gehofft, dass du stirbst anstatt mitzufahren!“ Cherry boxte ihn in die Seite und sah ihn wütend an. Ich hingegen sah ihn eher resigniert an. Manchmal fragte ich mich ernsthaft, warum ich ihm diesen Gefallen nicht schon längst getan hatte. Genügend Gründe hatte ich dazu ja. „Die Freude ist ganz meinerseits!“, murmelte ich dann und wandte meinen Blick meinem iPod zu, während ich die Kopfhörer in meine Ohren unter der Jacke und den Haaren steckte. „Meine Güte!“, stöhnte Cherry und sank in ihrem Sitz zurück, „Ihr seid einfach unfassbar! Seht euch doch mal an!“ Sie seufzte und musterte uns nacheinander. „Vans, Röhren, Sweatjacken, Kapuzen aufgesetzt und schwarze Haare über den Augen. Beide graue Augen und megaschlechte Laune. Man könnte meinen ihr seid Klone!“ „Wir sind von Grund auf unterschiedlich!“, widersprach Bogey und ich lehnte mich zurück und überließ ihm die Diskussion mit Cherry. Aber ich musste schon zugeben, in diesem Punkt hatte Bogey vollkommen Recht. Wir WAREN unterschiedlich, mehr als das. Da Cherry den äußerlichen Aspekt genannt hatte, ging Bogey auch sofort darauf ein. „Shady ist blass wie ne Leiche und ich nicht, er hat rechts nen Lippenpiercing, ich links, er hat noch ne Cappy auf. Und äußerliches ist eh nicht alles! Ich bin das Böse in Person und Shady ist einfach nur…langweilig!“ Wieder einmal hatte er den negativsten Begriff für mein Verhalten herausgesucht. Depressiv hätte es vielleicht eher getroffen. Langsam streckten die anderen Schüler ihre Köpfe in den Gang und sahen zu uns nach hinten. Es war immer wieder faszinierend zuzusehen, wie Bogey ausflippte. Und wenn er sich über Cherry aufregte, blieben seine Wutausbrüche immer im geregelten Ausmaß, sodass man es sich getrost ansehen konnte. „Ach was!“, meinte Cherry gerade lächelnd und tätschelte Bogey über die Kapuze, was sich nie jemand außer ihr getraut hätte, „Ihr seid gleich störrisch und seht nie das positive. Und ihr liebt alle beide eure kleineren Geschwister abgöttisch, außerdem seid ihr alle beide mir Sicherheit absolut schwul!“ Ich fuhr hoch. „Bitte was?“, brüllte Bogey und sprang auf. Es wurde totenstill im Bus. Eine solche Bemerkung hatte sich noch keiner geleistet. Selbst Cherry nicht. Doch bevor die Situation eskalieren konnte, hatte sich unsere Lehrerin vorne im Bus des Mikros bemächtigt und rief nun ihre Befehle: „Hinsetzen, Mund halten, anschnallen, leise sein! Wenn wir auf der Autobahn sind könnt ihr euer… Gespräch weiterführen!“ Bogey setzte sich widerwillig hin und schnallte sich an, aber sein Blick sprach Bände. Cherry machte es ihm nach, mit einem feinen Lächeln auf den Lippen. Immerzu lächelte sie, als hätte ihr Mund noch nie Trauer gesehen. Ich schnallte mich nicht an, ich hatte da keine Lust zu und starrte nun schweigend aus dem Fenster. In diesem Moment ging die Tür noch einmal auf und ein helles Klingen erklang, als ein schwarzhaariger Junge in den Bus sprang. „Ok, hört mal alle her!“, rief unsere Lehrerin, „Wie ich bereits angekündigt habe, fährt auf die Klassenfahrt der neue Schüler mit, damit ihr ihn gleich alle kennenlernen könnt!“ Ohne großes Federlesen nahm der Neue ihr das Mikro aus der Hand und grinste in die Runde. „Hallo Leute, mein Name ist Kevin Hermans. Ich freue mich natürlich auf ne geile Zeit mit euch!“ Er reichte der Lehrerin das Mikro zurück und hielt Ausschau nach einem freien Platz. Es war nur noch ein einziger frei, ein Raunen ging durch die Klasse. Der Platz neben Bogey. Manch einer bemitleidete den Neuen jetzt schon. Andere waren einfach nur froh, dass es so immer unwahrscheinlicher wurde, dass sie das Ziel seines Hasses wurden. Ich musterte ihn, während er durch den Bus auf uns zukam und sich zielstrebig auf den freien Platz neben Bogey setzte, völlig ahnungslos natürlich. An beiden Chucks, die der Neue trug, hingen kleine Glöckchen, die bei jedem Schritt hell klingelten. Er trug graue Röhrenjeans und ein schwarzes Bandshirt, außerdem hatte er zwei Piercings in der Lippe. Er war viel größer als ich, auch größer als mein Bruder. Und zu meinem Erstaunen auch größer als Bogey. Irgendwie tat es mir gut, das zu wissen. Trotzdem ging mir Junge mit seinem ständigen Gebimmel irgendwie jetzt schon voll auf die Nerven. Ich wandte meinen Blick aus dem Fenster und beobachtete, wie der Bus langsam anfuhr und den Parkplatz verließ. „Hey!“, sagte der Neue gerade ahnungslos wie er war zu Bogey. Der ließ ihn gar nicht erst anfangen irgendetwas zu sagen, sondern fuhr ihn direkt an: „Halt die Schnauze, Tinkerbell, ich bin gerade nicht in der Stimmung dich fertig zu machen! Aber Gnade dir Gott, wenn du mich noch einmal ansprichst!“ Tinkerbell, Glöckchen. Ein treffender Name für diesen Jungen, ich würde ihn ab jetzt auch so nennen. Cherry knuffte Bogey in die Seite und schnallte sich und ihn ab. Dann schob sie ihn zu mir rüber und setzte sich selbst neben Tinkerbell. „Lass dich davon nicht stören, er ist schlecht drauf!“, sagte sie und lächelte, „Man kann sich dran gewöhnen! Wo kommst du denn her?“ Schon hatten die beiden sich in ein Gespräch verwickelt und ich sah gelangweilt zu Bogey hinüber. „Was gibt’s da so dumm zu schauen?“, knurrte er und sah mich Streit suchend an. Aber mit mir wollte er sich also streiten, ja? Es würde eine lange Fahrt werden. Genug Zeit, um noch lange die Schweigenummer durchzuziehen. Ich war nicht sehr erpicht darauf, mich mit Bogey zu streiten. Aber ich würde ihm wohl diesen einen Gefallen tun. „Na ja… ich denke, du bist außer Form!“, sagte ich und zog den Reißverschluss meiner Gitarrentasche extra langsam auf. „Außer Form?“, fragte Bogey fassungslos nach. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich auf eine so plumpe Provokation so bereitwillig einging. Es brauchte normalerweise viel mehr, um mich zu reizen. Ich war auch nicht gereizt, also nickte ich ruhig auf seine Frage. „Du verschaffst dir keinen Respekt mehr, früher warst du noch nicht so… so… mir fehlt das richtige Wort dafür! So nachgiebig?“ „Ich und nachgiebig?“, ging Bogey direkt an die Decke, er war in seinem Element, „Vergiss es! Jeder ist mal angepisst, du bist doch das beste Beispiel dafür! Du…“ Weiter kam er nicht, denn Cherry zwickte ihn. „Bogey! Die Fahrt hat gerade erst angefangen, streitet euch später!“ „Vergiss es!“, knurrte Bogey. Wenn er ihr jetzt nachgab, war das eine Blöße vor mir, das konnte er sich nicht leisten, irgendwie erfüllte mich dieser Gedanke mit grimmiger Genugtuung. Also wandte der übelgelaunte 17jährige seine Aufmerksamkeit zu Cherry und stritt sich mit ihr. Tinkerbell lehnte sich zurück und sah hinter den beiden her zu mir. „Seid ihr immer so?“, fragte er und zog die Augenbrauen hoch. Ich nickte. Wäre ja auch irgendwie nicht ganz richtig, wenn ich abstreiten würde, dass wir uns eigentlich immer zofften. Oder besser gesagt, dass Cherry und Bogey sich immer stritten und ich immer schlecht gelaunt war. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder der Gitarre zu. „He, willst du mich jetzt ignorieren?“, rief Tinkerbell mir entrüstet zu. Ich sah wieder zu ihm hinüber. „Nur weil du neu bist bedeutet das noch lange nicht, dass ich an einem Gespräch mit dir interessiert bin!“, fauchte ich. Mussten mich eigentlich heute alle nerven? Erst Bogey, jetzt Tinkerbell und da kam auch schon Frau Wendiger auf uns zugesteuert. Wirklich nicht mein Tag! „Hör mal, keine Ahnung wie du heißt und was dein Problem ist… eigentlich das Problem von euch allen! Aber ich hab dir gar nichts getan, klar! Also sei nicht gleich so eingeschnappt!“ Da hatte ich mir wohl mal wieder einen neuen Feind gemacht. Tja, war mir eh egal. Eigentlich kommunizierte ich nur mit Cherry und notgedrungen auch Bogey. Ich hatte aufgehört, mich in die Gesellschaft zu integrieren und Freunde zu suchen und zu finden. Und wie es aussah, vermisste mich auch keiner. Ich zerrte einen zerknüllten Zettel aus der Tasche und pinnte ihn mit einer Sicherheitsnadel an den Sitz vor mir. Es war ein Lied von mir, mein Lieblingslied. Dann suchte ich mir ein Plektron und begann zu spielen. Einen kurzen Moment lang zog ich die Aufmerksamkeit von Tinkerbell, Bogey und Cherry auf mich, dann wandten sie sich wieder ab. Aus mir unerfindlichen Gründen hatten Cherry und Bogey aufgehört zu diskutieren. Bogey starrte nur missmutig auf seine Hände. Das wunderte mich ein wenig. Bogey starrte nie irgendwo hin und tat nichts! Seine Augen standen nur äußerst selten still. Und Cherrys siegessicherer Blick ließ mich vermuten, dass Bogey aufgegeben hatte. Das passte so gar nicht zu ihm. Bogey liebte es, sich zu streiten. Es war für ihn ungefähr so, wie andere Leute Basketball spielten oder Bilder malten. Ein Hobby. Ich hätte ihn gerne gefragt, das ihn bedrückte. Denn das war meine erste Vermutung. Leider war ich sein liebster Streitpartner und konnte es mir nicht leisten, ihn zu fragen. Es würde ihn… enttäuschen. Außerdem hatte ich mir das Image aufgebaut, mir wäre eh alles egal. Eigentlich schade. Ich wandte mich wieder meinen Noten zu. Cherry erklärte Tinkerbell gerade, dass er sich von uns beiden nicht stören lassen sollte, da unser Lieblingssport der Streit war. Ich sagte nichts dazu. Sie wusste ebenso gut wie ich, dass ich mich nur Bogey zuliebe stritt. Ich mochte es nicht, mich zu streiten, aber auch ich kam nicht darum herum, wenn er mich immer wieder mit irgendetwas konfrontierte. Anders konnte man mit Bogey nun mal nicht in Kontakt treten. Sein liebstes Argument, um mich zu reizen, war, dass mein Bruder nicht auf sich selbst aufpassen konnte und ich das tun musste. Ich seufzte leise. Keine Ahnung, warum mich das so wütend machte. Monster war um einiges selbstständiger als ich. Vielleicht regte es mich so auf, weil es genau umgekehrt war? Weil ich nicht auf mich aufpassen konnte? In diesem Moment hätte ich wirklich gerne eine geraucht. Aber dann hätte mich Frau Wendiger einfach mitten auf der Autobahn aus dem Bus schmeißen lassen und da hatte ich jetzt wirklich keine Lust drauf. In diesem Moment knackte es und etwas knallte gegen meine Hand. Mir war eine Gitarrenseite gerissen und sie hatte sich wie eine Peitsche gegen meine Hand geschlagen und einen roten Streifen hinterlassen, der zu allem Überfluss auch noch zu bluten begann. Eigentlich ein ziemlich gutes Gefühl. Wenn man sich verletzte wurde man von seinen kreisenden Gedanken abgelenkt. Aber ich hatte keine Ersatzsaiten mit. Wieder seufzte ich und packte die Gitarre wieder weg. Heute war definitiv ein Scheißtag. Kapitel 2: Geheimnisse und Zimmer --------------------------------- „Es ist immer das Gleiche mit dir!“ Ich nickte ergeben, während Cherry mich hinter ihr herzerrte. Nach etwa einer Stunde hatte sie bemerkt, dass ich blutete und Frau Wendiger nach einer kurzen Pause gebeten. Nun hatten wir hier gehalten und sie zerrte mich zur Tankstelle. In ihren Augen war ein leicht panischer Blick zu erkennen. Ich lächelte. Natürlich. Sie machte sich Sorgen um mich, wie immer. Schließlich war ich das Sorgenkind. „War ein Versehen!“, murrte ich, während sie mir Desinfektionsmittel und ein riesiges Pflaster besorgte. „Sicher?“ Sie klang schon wieder so unglaublich besorgt. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie sich immer und überall um mich sorgte wie um ein Kleinkind. „Ja, sicher!“, erwiderte ich genervt und ließ mich von ihr verarzten. Immer wieder sah sie zu meinen Augen, um einen Hinweis auf etwas Ungewöhnliches zu entdecken. „Machst du dir Sorgen?“, fragte sie dann leise. Scheiße, sie kannte mich einfach zu gut! „Nein!“, knurrte ich. „Verarsch mich nicht!“, sagte sie sofort und sah mich wütend und fragend an, „Sag schon!“ „Bogey streitet sich nicht gescheit, das wundert mich, aber es besorgt mich nicht, es ist ziemlich erholsam!“, grummelte ich weiter und entzog ihr meine Hand. „Also machst du dir Sorgen um ihn?“ Wäre ja noch schöner! Ich sah sie mit dem Todesblick an. Ich hatte ihn mir von Bogey abgeguckt, der konnte so was eh am Besten. Dann ließ ich sie stehen und ging zurück zum Bus. Ja, verdammt, ich machte mir Sorgen um ihn! Aber musste man das gleich so breit treten? Sie war eben die einzige, der ich das sagte, brauchte sie sich auch nichts drauf einbilden. Ich ließ mich seufzend auf eine Bank fallen und kramte eine Zigarette aus der Tasche meines Mantels, um sie mir anzuzünden. Irgendwie musste ich an meinen kleinen Bruder denken, schon wieder. Monster hasste es tierisch, wenn ich rauchte, auch wenn er es nicht sagte. Dann nahm ich einen tiefen Zug und lehnte mich erleichtert zurück. Das hatte ich jetzt gebraucht. Der Gedanke an Monster verschwand. „Warum hängst du eigentlich immer noch mit ihm herum?“ Ich sah auf. Cherry hatte sich ausnahmsweise mal zu ihren Freundinnen aus unserer Klasse gesellt, die sie nun gespannt ansahen. Mich sahen sie nicht. Aber es war eh schon klar, dass es in diesem Gespräch um mich ging. Sie hätten es auch geführt, wenn sie gewusst hätten, dass ich hier in Hörweite auf einer Bank saß und wie ein Schlot rauchte. Über Bogey sprach man nicht in der Öffentlichkeit -das war un¬ge¬schriebenes Gesetz- und sonst gab es keinen Jungen in Cherrys Leben. „Weil er mein bester Freund ist!“, meinte Cherry, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, dass wir zusammen herumhingen. Eigentlich war es ziemlich seltsam ausgerechnet mit mir zusammen rumzuhängen. „Aber… sie ihn doch mal an! Er ist dir nur eine Last!“ „Vielleicht!“ Ich beobachtete Cherry wie sie da stand und die anderen fest ansah. Ihre Freundinnen hatten recht, das wusste ich genauso gut wie sie. Ich stand ihr wirklich nur im Weg. Alle geilen Jungs dachten, ich wäre ihr Freund, und alle Mädchen sahen sie nur abschätzend an, weil sie mich nicht ausstehen konnten. Einen Moment lang dachte ich darüber nach, meine Freundschaft mir ihr zu kündigen, weil es das Beste für sie wäre, aber dann verwarf ich den Gedanken. Nach allem, was wir miteinander erlebt hatten, würde sie das nur verletzen. Und ich zwang sie ja nicht, meine Freundin zu sein. Zumindest nicht direkt… wütend drückte ich meine Kippe aus und zerrte mit einer energischen Bewegung meine Kapuze über meine schwarzen Haare. Wieder dachte ich an jene Zeit zurück. Ich sollte es lassen! Es machte nichts als Ärger zurückzudenken. Langsam drehte ich die Musik meines iPods etwas lauter und stiefelte zurück zum Bus. Bogey saß davor und warf mit Steinchen nach einem Mülleimer. Ich ignorierte ihn und stieg ein. Ganz hinten saß nur noch Tinkerbell und las in einem Buch. Wenigstens bewegte er dabei seine Füße nicht und das nervige Gebimmel war nicht zu hören. Ich setzte mich in meine Ecke und starrte aus dem Fenster, in der Hoffnung, er würde einfach weiterlesen und mich nicht beachten. Doch leider erfüllte er mir diesen Wunsch nicht. „Sag mal… wie heißt du?“, fragte er mich nach einer Weile und legte sein Buch beiseite. Ich unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Wieso wollte er sich mit mir unterhalten? Sah er denn nicht, dass ich dazu keine Lust hatte? „Shady!“, sagte ich dennoch, „So nennen mich eigentlich alle. Wenn sie mich überhaupt kennen!“ Er nickte. Dann fiel sein Blick auf meine Hand und das übergroße Pflaster. „Lass mal sehen!“, meinte er kurz entschlossen und zog meine Hand zu sich hinüber. Ich reagierte zu spät. Meine Jacke rutschte hoch und er starrte meinen Arm an. Mit einer wütenden Bewegung entzog ich mich ihm, stand auf und flüchtete aus dem Bus. Die Fahrt fing ja wirklich gut an! Eigentlich hatte ich gehofft, dass es niemals zu einer solchen Gegebenheit kommen würde. An der Tür kam mir Cherry entgegen. Ich stieß sie beiseite und stürmte über den Parkplatz zu einer Gruppe Eichen. Hier hoffte ich, allein zu sein und Ruhe zu finden. Ich wollte einfach nicht ständig mit irgendwem zusammen sein. Warum ließen sie mich nicht einfach ganz allein da sitzen? „Shady?“, rief Cherry mir besorgt nach, doch ich ignorierte sie. Sollte sie doch rufen. Sie wusste, dass ich lieber alleine war, und Tinkerbell konnte ihr ja erzählen, was er gesehen hatte. Er würde es ja eh gleich allen erzählen, da war es ja egal, von wem sie es erfuhr. Ich ließ mich zwischen den Bäumen zu Boden sinken. Dann machte ich den iPod aus und warf ihn auf den Boden vor mich. Irgendwie hatte ich beim Aufstehen schon so eine Ahnung gehabt, dass der heutige Tag nicht meiner sein würde. Wenn man sein Müsli verschüttete, war das schon ein schlechtes Zeichen. Es klang vielleicht lächerlich, aber ich glaubte, dass das wahr war. Schließlich war es auch wirklich jedes Mal ein beschissener Tag geworden, wenn das passiert war. Aber sonst eigentlich auch… Na egal. Wieder zündete ich mir eine Zigarette an. Ich wusste nichts Besseres zu tun in so einer Situation. Hinsetzen und rauchen. Nach einer Weile hörte ich Schritte und dann setzte sich Cherry neben mich. Es war klar gewesen, dass sie irgendwann kommen würde. „Was war?“, fragte sie leise und legte mir federleicht eine Hand auf die Schulter. Ich sah sie nicht an. „Ach… nichts!“, murmelte ich, obwohl ich wusste, dass sie mir nicht glauben würde. „Lüg nicht!“, sagte sie auch sofort. „Er hat sie gesehen!“, murmelte ich seufzend und legte meinen Arm in ihre freie Hand. Es hatte eh keinen Sinn, sie anzulügen. Teilweise kannte Cherry mich besser als ich selber. Ich wusste selbst nicht, was für ein Teufel mich geritten hatte, ihr diese Last aufzubürden. Sie schob sanft den Ärmel nach oben und entblößte zwei längliche Narben, die sich von meinem Handgelenk bis beinahe eine Handbreit auf meinen Ellenbogen zuzogen. Darüber waren unzählige kleinere Längsnarben zu sehen. Ja, Tinkerbell hatte einen Blick auf meine Vergangenheit geworfen, den nicht einmal Bogey je gewagt hätte. Der Neue hatte etwas gesehen, von dem niemand wissen sollte. Monster wusste es, natürlich. Schließlich hatte er sie als Allererster gesehen. Als sie noch offen gewesen waren und ich wie tot in der Ecke gelegen hatte. Und dann später Cherry. Aber sonst niemand. Und ich wollte es auch nicht. Ich lief nicht grundlos in langen Sachen herum. „Er verrät nichts, Shady!“, sagte sie leise, „Als ich ihn gefragt habe, was los sei, meinte er, er hätte keine Ahnung. Vielleicht… solltest du mit ihm reden?“ Ich musterte sie von der Seite. „Ich hab keinen Bock jeden dahergelaufenen Idioten von meinem Leben zu erzählen!“, fauchte ich, „Was bildet er sich eigentlich ein, mich anzufassen!“ Ich wusste, dass meine wütenden Worte nutzlos waren. Cherry hatte mal wieder recht, wie so oft. Außerdem war es ungerecht, meine Wut an ihr auszulassen. Sie konnte ja nun mal wirklich gar nichts für meine Dummheit. In diesem Moment rief Frau Wendiger uns zurück in den Bus. Cherry stand auf und nahm mir meine Zigarette weg. Sie gehörte auch zu den Menschen, die es hassten, dass ich rauchte. Aber es war eben das kleinste Übel an mir, denke ich. Lächelnd hielt sie mir die Hand hin. Seufzend griff ich zu und ließ mich von ihr hochziehen. Wenigstens verkniff sie sich eine spitze Bemerkung über das Rauchen! Eine Strafpredigt wäre jetzt wirklich das Letzte. Wir stiegen als Letzte in den Bus ein, direkt nach Bogey. Tinkerbell saß noch immer auf seinem Platz. Als ich kam, sah er mir direkt in die Augen. Dieser wissende Blick machte mich absolut fertig. Ich sah zur Seite und setzte mich auf meinen Platz, wo ich mich den Rest der Fahrt in Schweigen hüllte und von niemandem ansprechen ließ. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Tinkerbell mir manchmal Blicke zuwarf. Wozu? Es konnte ihm ja eigentlich egal sein! Missmutig vergrub ich mich noch ein wenig tiefer in meinen Sitz und holte wieder meinen iPod hervor. Zum Glück hatte Cherry ihn mitgenommen, sonst läge er jetzt glatt noch zwischen den Bäumen an der Tanke. Bald würden wir endlich da sein, auf den Moment freute ich mich schon. Denn je schneller wir da waren, desto schneller konnten wir auch wieder wegkommen. Und ich hatte wirklich keine Lust auf diese Fahrt. Cherry unterhielt sich gerade mit den Mädchen, die vor uns saßen und Bogey war ganz woanders und tyrannisierte einen Schüler irgendwo in der Mitte des Busses. Tinkerbell sah mich an. Mehr tat er nicht, sein Blick ruhte einfach nur ruhig auf mir. Auch wenn ich ihn erst wenige Stunden kannte wusste ich, dass das ungewöhnlich für ihn war. Er war ein lauter, fröhlicher Mensch. Aber er wartete. Wahrscheinlich sollte ich den Anfang des Gesprächs machen. Doch warum? Warum sollte ich mit ihm sprechen wollen? Ich wollte es nicht, also tat ich es nicht. Und so verlief die restliche Fahrt schweigend. Langsam stieg ich aus dem Bus. Meine Klasse redete wild durcheinander, ergatterte ihre Taschen und bestaunte den See, der direkt neben dem Gebäude lag. Zugegeben, wirklich hübsch. Aber nicht einsam genug. Mit unglaublicher Energie hatte Cherry sich zu dem Kofferraum durchgekämpft und kam nun beladen mit ihrer und Tinkerbells Tasche zurück. Er bedankte sich tausendfach und ich lehnte mich neben der Tür an den Bus. „Na, dir bringt sie ja wohl auch nicht mehr die Tasche!“, stichelte Bogey mich und grinste fies. „Mach du’s doch!“, flüsterte ich und sah auf meine Füße. Er konnte reden so viel er wollte. So etwas würde ihm nicht zu dem Streit verhelfen, den er haben wollte. Es dauerte den ganzen restlichen Tag, bis die Zimmer verteilt waren und alle Betten bezogen waren. Dabei war es gerade mal vier Uhr gewesen, als sie angekommen waren. Für mich und Bogey war es leicht gewesen. Mit ihm und mir wollte eh keiner auf ein Zimmer, deswegen waren wir zusammen gezogen. Und zu meinem Ärger war Tinkerbell auch dazugekommen. Ich hätte lieber Cherry dabeigehabt, aber das ging nicht, schließlich war es eine Schulveranstaltung und sie ein Mädchen bla, bla, bla- Also bezog ich mit diesen beiden aufdringlichen Gestalten ein Zimmer. Aber schon nach wenigen Sekunden verschwand ich wieder, zielstrebig an das Ufer des Sees. Ich hatte mir dieses Ziel gesucht, weil ich allein sein und Ruhe finden wollte. Aber das mit der Ruhe wollte nicht so recht funktionieren. Mitten auf dem See war eine Gruppe mit einem Floß unterwegs, ihre lauten Stimmen klangen weit über das Wasser und vertrieben jede mögliche Stille. Ein Hundebesitzer wurde den Weg von einem riesigen, laut hechelnden Wolfshund entlang geschleift. Zwei Walker krochen wie tot den Weg entlang. Dabei schleiften sie ihre Stöcke geräuschvoll hinter sich her über den Boden. Stille konnte ich hier also vergessen. Keine Ahnung, wie ich das aushalten sollte! Obwohl ich die Lautstärke beinahe unerträglich fand, setzte ich mich an das Ufer auf einen Baumstamm und starrte auf das Wasser hinaus. In dieser Haltung verweilte ich, bis Cherry mich zum Essen holte. Als ich abends in meinem Bett lag -ich schlief unten, Bogey über mir- hatte Tinkerbell gerade das Fenster aufgerissen. Nun diskutierte er deswegen mit Bogey, der immer ein Opfer von Mücken wurde und das Fenster deswegen geschlossen haben wollte. Und Tinkerbell zog den Kürzeren. War ja auch klar gewesen. Bogey war angepisst, weil er den ganzen Tag lang niemanden wirklich fertig gemacht hatte, der eine Herausforderung gewesen wäre. Und nun musste Tinkerbell herhalten, dafür aber richtig. Mit jedem Wort, dass Bogey ausspukte -es waren wirklich gemeine Worte-, wich Tinkerbell einen Schritt zurück. „Bogey, lass das, such dir nen anderen, der ist neu!“, knurrte ich. Zugleich war ich von mir selbst überrascht. Ausgerechnet ICH ergriff Partei für jemanden? Auch Bogey schien überrascht zu sein, doch nun wandte er sich mir zu. „Was ist denn mit dir? Wieso ergreifst du Partei für den, du hasst Menschen doch eh im Allgemeinen!“ Es versetzte mir einen leisen Stich. Irgendwo hatte er ja schon recht, ich konnte Gesellschaft tatsächlich nicht ausstehen, aber musste er das so sagen? Ich hasste Menschen nicht. „Ich hasse nicht mal dich, du lebende Leiche, also Fresse!“, fauchte ich ihn an. In diesem Moment kam Cherry rein. Sie schien richtig perplex, dass ich so emotional sein konnte. War ich ja normalerweise auch nicht, ich war immer relativ ruhig, beinahe unerträglich gelassen. Keine Ahnung, wie ich das schaffte. Klar war, dass ich Bogey bei Laune halten musste, wenn ich die nächste Woche in einem Zimmer mit ihm überleben wollte. So war nun mal das Leben, etwas anderes blieb mir nicht. Und Tinkerbell sah mich unglaublich dankbar an. Wahrscheinlich wäre er mit dem nächsten Schritt, den er rückwärts gemacht hätte, aus dem Fenster gefallen. „…bieten!“ Ich sah auf. Bogey hatte gerade seine lange Ansprache über mich und mein ignorantes Verhalten beendet und wandte sich jetzt Cherry zu. Die verteidigte mich prompt und ich stand auf und stellte mich zu Tinkerbell ans Fenster. An meinem Bett war es nun zu laut. „Warum streitet ihr euch bloß immer?“ Ich sah auf. Konnte er nicht einmal die Fresse halten und mich in Ruhe lassen? Warum suchten Menschen nur immer die Kommunikation, warum konnten sie das Schweigen nicht einfach akzeptieren? „Weil es unsere einzige Möglichkeit ist, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Bogey kann nun mal nur streiten und wir haben das von ihm gelernt!“, hörte ich mich sagen. Eigentlich hatte ich ja nicht antworten wollen. Doch nun hatte ich es getan, auch egal. Mein Blick wanderte zu Cherry. Wie immer, wenn sie mit Bogey stritt, stand sie gerade, als wollte sie sich auch körperlich der Herausforderung stellen. Ich bewunderte sie. Es war schwer, sich mit Bogey zu diskutieren, man zog immer den Kürzeren, denn Bogey konnte sich von allen Menschen auf dieser Welt am Besten streiten. Und gerade deswegen kommunizierte ich auch mit ihm. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nie wieder mit einem Menschen zu sprechen, außer mit Cherry und Monster. Doch dann war Bogey in unsere Klasse gekommen. Er war mit seiner Familie hergezogen, von einem Ort, den ich nicht kannte, den sie niemandem sagten. Bogey und Cassis, seine kleine Schwester. Der am meisten gefürchtete Junge und das schönste Mädchen, die jemals unsere Schule betreten hatten. Und genau so, wie Bogey gefürchtet wurde, wurde Cassis begehrt. Ohne Blicke. Denn jeder, der sie auch nur sehnsüchtig ansah, zog Bogeys Zorn auf sich. Und Bogeys Zorn war schrecklich, das wusste ich. Schließlich umschlich Bogey mich ständig, um einen Grund zu finden, genau diesen Zorn auf mich zu entladen. Ich wusste nicht wieso. Es war halt so. Er war in die Klasse gekommen und versuchte seitdem permanent Streit mit mir. Und das war nun schon zwei Jahre her. „Und seitdem streitet ihr euch? Verrückt!“ Ich schrak zusammen. Anscheinend hatte ich all das laut gesagt, laut genug für Tinkerbell. Der lächelte mich nun freundlich an. Nicht abschätzend, nicht falsch, nicht höhnisch. Einfach nur freundlich. Dann schob er sich etwas zwischen die Zähne und hielt mir eine Tüte unter die Nase. „Chips?“ Kapitel 3: Ein Tag mit Bogey ---------------------------- „Alle schön zusammenbleiben!“ Frau Wendiger umkreiste ihre Klasse wie ein Hirtenhund eine Herde Schafe und trieb sie auf der Hauptstraße Richtung Bahnhof. „Los, Joel! Leg einen Gang zu!“ Ich beschleunigte meine Schritte ein wenig, was nicht völlig korrekt war. Eigentlich beschleunigte Cherry meine Schritte, indem sie mich hinter sich herschleifte und so meinen gemächlichen Gang etwas auf Trab brachte. Mein persönlicher Motor! Hatte ich schon erwähnt, dass sie der beste Mensch war, den ich kannte? Mit klingenden Glöckchen lief Tinkerbell neben ihr her und war mit ihr in ein Gespräch verwickelt. Sie schien sich prächtig zu amüsieren, das freute mich. Mit Bogey und mir hatte sie wirklich nur Ärger, das musste nicht sein, sie hatte auch mal etwas Besseres verdient. Bogey war nicht zu sehen, er hatte sich gleich als wir losgegangen waren - übrigens waren wir auf dem Weg in ein absolut interessantes Museum, dessen Namen ich mir nicht merken konnte - in die vorderen Reihen verschwunden, um Schülern das Leben zur Hölle zu machen. Damit hatte er es nicht sonderlich schwer. Und Frau Wendiger konnte eh nicht mit ihm umgehen und ihn von den anderen abhalten. An ihrem Blick sah man, wie sehr ihr das missfiel. „Los, alle in den Zug!“ Wir betraten das Abteil und suchten uns Plätze. Da saß ich nun, hatte schlecht geschlafen und mal wieder eine Laune, als hätte mir mein eigener Schatten eins mit der Bratpfanne übergezogen. Und auf das tolle Museum hatte ich auch keine Lust. Bogey lief durch mein Blickfeld, unsere Blicke streiften sich kurz. Es lag etwas Unberechenbares in seinem Blick. Wild und unzähmbar. Hasserfüllt. Ich kannte keinen, der so schauen konnte, wie Bogey. Niemand konnte ihn bändigen, nicht einmal seine Schwester. Obwohl sie den meisten Einfluss auf ihn hatte. Und ich musste gestehen, dass ich dieses Unabhängige an ihm sehr bewunderte. Von niemandem ließ er sich etwas sagen. Ich nickte ihm zu. Und Bogey erwiderte das mit einem Lächeln. Dann war er schon vorbei und in einem anderen Abteil. Ich starrte grübelnd auf die Tür. Was war das nur wieder? Erstens: Ich hatte ihm zugenickt. Das tat ich selten, ich konnte ihn ja noch nicht einmal leiden. Zweitens: Er hatte zurückgelächelt. Wieso machte er mich nicht für mein Verhalten fertig, es war der perfekte Anfang für einen Streit!? Wir fuhren lange mit dem Zug, irgendwann döste ich ein und bekam nichts mehr mit. Dann weckte Cherry mich irgendwann. „Wir steigen aus!“, sagte sie, „Hast du Bogey gesehen?“ Ich knurrte nur und deutete auf die Abteiltür. „Beeilt euch, Leute!“, hörte ich Frau Wendigers Stimme durch das Abteil schallen. „Ich hol ihn!“, bot ich an und schlurfte in das nächste Abteil. Da saß er, ganz hinten. Die Augen geschlossen und die Musik so laut, dass ich sie sogar aus dieser Entfernung hören konnte. Wahrscheinlich hätte neben ihm eine Bombe einschlagen können und er hätte nichts davon mitbekommen. Seufzend machte ich mich auf den Weg durch den Gang. Die Leute musterten mich genervt, während ich mich zwischen ausgestreckten Füßen und Taschen hindurchschlängelte. Endlich hatte ich Bogey erreicht. „He, Bogey! Wir steigen aus!“ Bogey öffnete verschlafen die Augen und sah mich verwirrt an. In diesem Moment fuhr der Zug wieder an. Bald wurde Bogey etwas wacher und nahm die Kopfhörer aus den Ohren. „Was ist?“, fragte er und sah aus dem Fenster. Da stand Cherry und sah uns ungläubig an, während der Zug langsam anfuhr und sie und den Rest der Klasse zurückließ. Bogey schien auch langsam zu verstehen, was passiert war. „Verdammt!“, knurrte er, „Das ist alles scheiße!“ Das traf es ziemlich genau, also nickte ich. Wir sahen noch eine Weile dem Bahnhof zu, wie er am Fenster verschwand, dann sprang Bogey auf und wir gingen zur Tür. „Nächster Bahnhof ist unsere Endstation!“, sagte Bogey und ich nickte wieder. „Lass uns da ein Eis essen oder so!“, schlug ich vor. Ich konnte kaum glauben, dass der schwarzhaarige Junge vor mir Bogey war. Er war ruhig und ausgeglichen. Er wirkte… normal. Vielleicht nicht freundlich, aber dennoch normal. Da standen wir nun. Verloren zwischen lauter ankommenden und abfahrenden Menschen am Bahnhof und sahen uns um. „Keine Ahnung wo wir sind und wie wir hier wieder wegkommen“, kommentierte ich und Bogey nickte. Dann gingen wir einfach los. Von dem Gleis hinunter in die Haupthalle und direkt zur Eisdiele. Ich fühlte mich seltsam, so alleine mit Bogey. Natürlich hingen wir in der Schule immer miteinander herum, allein schon, weil Cherry uns zusammenhielt, aber so ganz alleine war ich noch nie mit ihm gewesen. „Ich geb’ dir eins aus, was willst du?“ Einen Moment lang war ich überrascht. Bogey gab mir ein Eis aus. Dass ich das noch erleben durfte! Dann sagte ich ihm meine Lieblingseissorte und warf ihm ein Lächeln zu. Er nickte und wandte sich an den Verkäufer. Ich sah zu, wie der mein Zitroneneis in eine Waffel schaufelte. Es war sehr lange her, dass ich ein Eis gegessen hatte, aber noch länger, dass ich jemanden angelächelt hatte. Ich tat es einfach nicht. Ich sah keinen Grund zum Lächeln, wo mir doch eh nicht danach war. Bogey lächelte ständig. Aber das war ein grausames Lächeln, das einem das Blut in den Adern gefrieren und das Herz höher schlagen ließ. Ja, ich gebe es zu. Wenn Bogey mich auf seine ganz bestimmte Art anlächelte, bekam ich Angst, wurde aufgeregt und empfand so etwas… wie Glück. „Hier, Shady!“ Bogey drückte mir das Eis in die Hand und ich lief ihm nach zu einer Bank, wo wir uns erstmal niederließen. Es war ein wirklich schöner Morgen. Kaum zu glauben, dass dieser Ausflug hier nicht geplant war. Als mein Handy zu vibrieren begann, zuckte ich erschrocken zusammen. Bogey warf einen wütenden Blick auf das Gerät, als ich es aus der Tasche zerrte. Als wäre er sauer, dass es uns gestört hatte. Doch wobei hätte es schon stören können? Beim Schweigen? „Was?“, meldete ich mich reichlich unfreundlich. „Shady? Ist Bogey bei dir? Wo seid ihr nur? Wie kann man nur so dumm sein, warum habt ihr nicht aufgepasst?“ „Schön von dir zu hören, Cherry!“ Bogey verdrehte neben mir die Augen. Manchmal würde ich echt gerne wissen, was er von Cherry dachte. Er war so… umgänglich, wenn sie mit ihm sprach. Zwar nie ohne Wut, aber im Vergleich zu anderen beinahe freundschaftlich. Als hätte sie den Löwen gezähmt. Doch das hatte sie nicht, das wusste ich. Niemand konnte ihn bändigen. „…hörst du mir überhaupt zu?“ Jetzt schien sie sauer zu sein. Aber ich muss zu ihrer Frage sagen: Nein, ich hörte nicht wirklich zu. „Sag das bitte noch mal!“ „Ich sagte, dass ihr eure Ärsche irgendwie direkt zum Museum schaffen sollt!“ Freundlich, wirklich. Ich sah Bogey an. Der zuckte mit den Schultern und nahm mir das Handy aus der Hand. „Hör mal zu, Cherry!“, sagte er dann und grinste fies, „Wir kommen nicht, macht euch ’nen schönen Tag, wir sind heute Abend um Punkt sieben Uhr wieder an der Herberge!“ Ich sah Bogey erstaunt von der Seite an. Was hatte er nur wieder vor? Ohne sich verabschiedet zu haben, klappte der Schwarzhaarige mein Handy wieder zu und reichte es mir zurück. „Und was machen wir bis heute Abend um Punkt sieben Uhr?“, fragte ich. Es interessierte mich wirklich. Wieso wollte Bogey so viel Zeit mit mir verbringen? Es war jetzt ungefähr acht Uhr. Das waren elf Stunden. Zu viel Zeit. „Komm, wir gehen jetzt erstmal in die Stadt, vielleicht gibt’s da irgendwas zu sehen!“ Ich nickte und folgte Bogey, der sich gezielt aus dem Bahnhof und auf die Fußgängerzone zu bewegte. Ich konnte nur wieder staunen. Er überraschte mich immer wieder! Ob er wohl gute Laune hatte? In diesem Moment knurrte Bogey einen Hund, der ihn ankläffte, so hasserfüllt an, dass der sich winselnd hinter die Beine seines Herrchens verzog. Er war wohl immer noch ganz derselbe Bogey, den ich kannte. Aber irgendwas war anders. Wir wanderten eine zeitlang durch die Stadt, während Bogey sich einen Überblick verschaffte und ich brav hinter ihm hertrottete. Ich hatte keinen Bock zu laufen, keinen Bock ins Museum zu gehen und zu reden… eigentlich hatte ich gar keinen Bock. Auf nichts. Ich hätte mich hinlegen und nichts tun können, aber nicht mal darauf hatte ich Lust. Zum Verzweifeln. In diesem Moment hörte ich eine lachende Stimme: „Bo, hier her!“ Bogey wandte sich in die Richtung und nun sah ich auch ein junges Mädchen, das dem Schwarzhaarigen wie verrückt zuwinkte und übers ganze Gesicht strahlte. „Wer ist das, Bogey?“, fragte ich ruhig, während ich ihm hinterher auf das Mädchen zuging. „Cassis!“, sagte er und eine ungeahnte Zufriedenheit schwang in seiner Stimme mit. Cassis. Bogeys Schwester. Ich musterte sie kurz und unauffällig. Egal was die anderen sagten und wie die Gerüchte waren, Cassis hatte allen Grund, das schönste Mädchen der Schule genannt zu werden. Ihr Lächeln war so strahlend wie die Sonne und jede ihrer Bewegungen hätte die eines Engels sein können. „Hey, Bo! Bist du nicht auf Klassenfahrt?“, rief sie mit ihrer sanften melodischen Stimme und umarmte Bogey. Das hätte ich mich nie getraut. Wollte ich auch gar nicht, wozu sollte ich Bogey umarmen. Ich kannte auch sonst niemanden, der sich das trauen würde. „Hey, Shady!“ Ich sah wieder auf. Neben Cassis stand Monster und grinste mich an. Hinter ihm erkannte ich einige bekannte Gesichter, seine Klasse. Manchmal waren sie bei uns zu Hause, ich zog mich dann immer in mein Zimmer zurück. „Monster!“ Er nickte grinsend. „Was macht ihr denn hier?“, fragte Bogey und bedachte Monster mit einem misstrauischen Blick. Doch als er sah, dass er wegen mir gekommen war und nicht wegen seiner kleinen Schwester, wurde sein Blick friedlicher. Ein klein wenig. „Klassenfahrt! Na ja… eigentlich shoppen, unsere Lehrerin haben wir unterwegs irgendwie abgehängt!“, meinte Cassis und kicherte zuckersüß. Monster lächelte mich an. „Und was macht ihr hier?“, fragte er dann, „Ich dachte ihr seid auf Klassenfahrt und schön weit weg!“ „Wir sind auf Klassenfahrt… aber unsere Klasse ist irgendwie ohne uns aus dem Zug gestiegen!“, meinte ich und Bogey nickte. „Wollt ihr nicht mit uns kommen?“, fragte Cassis und schenkte mir ein Lächeln, das mit der Sonne konkurrieren könnte. Bogey sah mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern und nickte. Wieso auch nicht, konnte ja nur besser werden! „Bist du ein Freund von Cassis?“, fragte ich Monster, während ich mit ihm hinter Bogey und seiner wunderschönen Schwester herging. Wir hatten uns kurzerhand von der Klasse abgekapselt und gingen nun zu viert ins Kino. „Kein Junge auf dieser Welt könnte ein Freund von Cassis sein!“, meinte Monster grinsend, „Dazu hat sie einen viel zu coolen Bruder! Aber wir verstehen uns eigentlich ganz gut!“ Ich nickte. Also war er ein Kumpel von ihr. Das war gut für ihn, für sie und für Bogey. Denn Monster war verantwortungsbewusst und zuvorkommend, er würde nichts tun, was Cassis gefährden würde. Bogey drehte sich zu uns um. „Hab ich gerade richtig erfahren, dass ihr eigentlich ständig miteinander herumhängt?“, fragte er meinen Bruder und warf ihm einen der berüchtigten Todesblicke zu. Monster zuckte kurz zusammen, zeigte aber sonst keinerlei Einschüchterung. „Trifft es schon!“, meinte er grinsend, „Wir verstehen uns schon irgendwie, nicht wahr?“ Cassis nickte. „Er ist mein allerbester Kumpel!“, bestätigte sie Bogeys schlimmsten Verdacht. Aber er sagte nichts dazu. Es passte ihm wahrscheinlich gar nicht, dass ein Junge der beste Freund von seiner kleinen Schwester war. Doch anscheinend redete er ihr auch nicht in ihr Leben. Während wir über einen Marktplatz schlenderten und Cassis und Monster sich über irgendein Ereignis unterhielten, was wohl in ihrer Klasse passiert war, ging ich ruhig neben Bogey her und rauchte. Bogey sagte dazu nichts, doch ich wusste, dass er es überhaupt nicht leiden konnte, wenn ich das tat. Wie eigentlich alle war er ein Gegner des Rauches. Doch es interessierte mich nicht. „Weißt du was, Shady?“, sagte er auf einmal und ich sah auf. „Hm?“ „Es regt mich tierisch auf, dass man mit dir nicht streiten kann!“ Ich sah ihn erstaunt an. Das stimmte wohl, ich war nicht sehr leicht zu provozieren. Eigentlich gar nicht. Ich stritt mich nur mit Bogey, wenn ich das selber wollte. „Es gibt immer jemanden, der nicht das tut, was man von ihm will!“, meinte ich schulterzuckend, „In deinem Fall bin wohl ich das!“ „Und bei dir?“ Ich dachte nach. Es gab viele Menschen, die nicht so waren, wie ich sie gerne hätte. Sehr viele. Aber musste ich das so sagen? Musste ich ihm sagen, dass jeder Mensch, der mich ansah nicht das tat, was ich wollte. „Vor allem mein Vater!“, sagte ich leise. „Dein Vater?“ Ich nickte und schmiss meine Zigarette achtlos hinter mich. Bevor Bogey weiter fragen konnte, kamen Cassis und Monster angerannt und zerrten uns mit ins Kino. Ich war ihnen sehr dankbar dafür. Während wir im Kino saßen und einen Film guckten, der mich nicht interessierte, beobachtete ich Cassis und Monster. Sie saßen nebeneinander und tuschelten. Zwischendrin konnte man das leise Kichern von Cassis hören. Beide nahmen die Umwelt schon gar nicht mehr wahr. Ich warf einen besorgten Blick zu Bogey. Doch der saß total entspannt neben mir und schaute sich den Film an. Zumindest sah er so aus. Oder er grübelte, wer diesen furchtbar kitschigen Film gemacht hatte und wie er ihn höchstpersönlich umbringen konnte. Aber wer konnte es ihm verübeln, bei diesem Film… Irgendwann nickte ich weg. Das Kino war leer, denn es war erst Mittag und die erste Vorstellung. Nur wir vier saßen dort. Mit halb geschlossenen Augen starrte ich auf die Decke und räkelte mich ein wenig. Eine Weile versuchte ich noch wach zu bleiben, dann schlief ich ein. Dieser Film war wirklich einfach nur langweilig! Und meine Träume wandten sich in eine Zeit zurück, die schon lange vergangen war… „Lauf nicht zu weit weg, Joel!“ Lachend nickte der elfjährige, schwarzhaarige Junge und grinste seine Mutter breit an. Die grinste zurück und warf ihrem Mann einen verliebten Blick zu. Sie saßen zusammen auf einer Wiese und entspannten sich nach einem Picknick. Der Jüngste, der neunjährige Marcel war eingeschlafen. Alles war sonnig und wunderbar. Im Schatten eines Baumes lehnte ich am Stamm und sah ihnen zu. Sie sahen mich und machten weiter Witze und lachten. Es war das perfekte Familienglück Langsam ging ich auf sie zu. Nach wenigen Schritten stand ich vor ihnen und sah auf den elfjährigen Joel hinunter. Ich sah hinunter auf mich selbst, wie ich früher gewesen war. Joel grinste ständig, eigentlich immer, und wenn er lachte, bewegte er seinen Oberkörper verlegen hin und her. Seine Augen strahlten. So war ich früher gewesen, das wusste ich. Marcel wachte wieder auf. „Komm, lass uns spielen!“, rief der kleine Joel und die beiden sprangen auf und nahmen ihren Ball. Ich schüttelte stumm den Kopf. Es war jener Ball. Jener blaurote Ball, den ich immer noch besaß. Es war ein Softball, nur knapp so groß wie zwei zusammengelegte Fäuste. Und doch hatte er eine solche Bedeutung für mein Leben. „Ihr solltet nicht damit spielen!“, flüsterte ich. „Lauft nicht zur Straße!“, rief der Vater den beiden Kindern nach. Ich wusste, dass sie nicht hören würden. Wir hatten nie auf das gehört, was er uns gesagt hatte. „Ich hole sie!“, meinte die Mutter, stand auf und lief auf die Kinder zu, die schon sehr nahe an der Straße waren. Mit einem Lachen winkte sie ihrem Mann noch zu, dann rannte sie zu den Kindern. „Es war alles so gut!“, sagte eine leise Stimme hinter mir, „Alles war so gut, bis du es getan hast!“ „Ich habe nichts getan!“, flüsterte ich. „Doch! Du hast es getan!“, murmelte die Stimme wieder. Ich drehte mich um. „Ich habe nichts getan!“, fuhr ich die Gestalt an, die hinter mir stand. Ein gebeugter Mann mit tiefen Augenringen und einem unklaren Blick der so viel zu alt für seine Lebenszeit schien. Ich kannte ihn so gut und doch so schlecht. „Du warst es!“, sagte er und sein Mund war vor Zorn und Verachtung verzerrt. „Ich habe nichts getan!“, rief ich wieder. „Komm, wach auf!“ Wieder eine andere Stimme, ich wandte mich um. „So versteht es doch, ich habe nichts getan!“, bat ich wieder leise, „Wirklich nicht!“ „Shady, wach auf!“ Ich blinzelte. Bogey tippte mich wieder an. Ich sah mich erstaunt um. Wir saßen noch immer im Kino und auf der Leinwand fielen sich gerade ein Typ und eine rosa gekleidete Frau in die Arme. „Du hast geschlafen!“, erklärte Bogey, „Und dann hast du angefangen mich überzeugen zu wollen, dass du nichts getan hast!“ Ich blinzelte noch einmal. Nun konnte ich die Situation genauer erfassen. Ich war eingepennt und im Schlaf gegen Bogey gesunken. Der sah aber nicht so aus, als wollte er mich deswegen zur Sau machen. „Sorry!“, murmelte ich und setzte mich wieder auf. Er sagte nichts dazu, sondern sah zu Cassis und Monster hinüber. Die beiden waren noch immer in ihr Gespräch vertieft und bekamen nichts von alldem mit. Richtig süß. Leider war Bogey da anderer Meinung, er sah eher sehr misstrauisch aus. Der gönnte seiner Schwester aber auch wirklich nichts. Ich seufzte leise. Das konnte ja noch was werden! Kapitel 4: Wo ist Cassis? ------------------------- Wir liefen durch den Wald. Und das schon ziemlich lange, wenn ich mich recht erinnerte. Nachdem wir aus dem Kino gekommen waren und uns noch einige Zeit mit Taubenjagen vergnügt hatten, hatte die Lehrerin von Monsters und Cassis’ Klasse uns gefunden. Also hatten wir uns wieder getrennt. Ich erinnerte mich noch genau an Cassis’ Blick. Sie hatte mich zur Seite genommen und mich wieder so eindeutig angestrahlt. „Ich bin der glücklichste Mensch auf der Erde!“, hatte sie geflüstert, „Weil du der Mensch bist, der meinen Bruder rettet!“ Ich hatte sie verständnislos angestarrt und ihr erklärt, dass er mich hasste. Aber das schien ihr klar gewesen zu sein. „Hass ist ein leidenschaftliches Gefühl. Er ist so stark, so tief in einem verwurzelt und von Hass ist es nur ein kleiner Schritt zur Liebe. Bo redet über jeden schlecht, doch von dir habe ich noch nichts Schlechtes gehört. Du musst ihm sehr wichtig sein!“ Diese Worte hallten in der Leere meines Kopfes wieder und wieder. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Bogey mich mögen könnte, das war so… bizarr. Ich starrte auf Bogeys Rücken, wie er sich vor mir her über den Weg bewegte. Heute war ein guter Tag gewesen. Und schuld daran war Bogey. Er hatte mich vor einem langweiligen Dahinvegetieren bewahrt und den Tag zu einer guten Sache gemacht. „Wir sind gleich da!“, sagte er gerade. „Sag mal, Bogey?“, murmelte ich und er drehte sich halb zu mir um. Sein Blick war genauso undeutbar wie immer. „Was?“, fragte er ziemlich unfreundlich. „Kannst du… kannst du mich eigentlich leiden?“ Ich hasste mich dafür, ihn das zu fragen. Doch ich musste es einfach wissen, um heute Nacht schlafen zu können. Einen Moment lang sah er mich einfach nur an, dann drehte er sich um und legte beide Hände auf meine Schultern. Ganz langsam kam er mir immer näher, bis nur noch wenige Zentimeter unsere Gesichter voneinander trennten. Ich wich nicht zurück, sondern sah nur mit klopfendem Herzen zu ihm auf. Als könnte mein Körper sich nicht entscheiden, ob er Angst vor Bogey hatte, oder sich von ihm angezogen fühlte. Dann sagte er ganz leise und mit kalter Stimme: „Ich hasse dich, Shady!“ Mir lief ein angenehmer Schauer den Rücken hinunter. Hätte Cherry das gesagt, wäre ich traurig gewesen und hätte mich gefragt, was ich falsch gemacht hatte, doch bei Bogey… Es lag so viel Emotion in seiner Stimme. Es klang so von Herzen, wie er das sagte! Bogey sah mich noch einen Moment lang an, dann ging er weiter und ich folgte ihm. Seltsamerweise musste ich feststellen, dass ich glücklich war. So glücklich wie schon lange nicht mehr. Um Punkt sieben Uhr standen wir vor der Jugendherberge. Genau wie er es gesagt hatte. Frau Wendiger stand da, in der Hand eine Uhr und sah uns überrascht an, als wir so unglaublich pünktlich auf sie zukamen. Doch das milderte nicht ihre Wut. Cherry stand neben ihr und trat nervös von einem Bein auf das andere. Tinkerbell stand neben ihr und hatte einen Arm um sie gelegt. Bogeys Blick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Auch Frau Wendiger schien allen Mut aufzubringen, um ihre Strafrede zu schmettern. „Wie könnt ihr das wagen!“, rief sie dennoch laut und wütend, „Das ist eine Schulveranstaltung, ich sollte euch direkt wieder nach Hause schicken. Das ist eine Unverschämtheit, haben eure Eltern euch nicht erzogen? Die Verantwortung für euch liegt bei mir…“ Und so weiter. Ich seufzte leise und sah Bogey an. Er sah zurück und dann lächelte er. Ich lächelte zurück. Ich wusste nicht, was so lustig war, aber irgendwie konnte ich mich nicht beherrschen. Mein Mund öffnete sich, wie von alleine, zu einem befreienden Lachen. Frau Wendiger verstummte, Cherry starrte mich fassungslos an und Bogey fiel in mein Lachen ein. Da standen wir nun, kurz davor von der Schule verwiesen zu werden, und lachten. „Ich…“ Frau Wendiger unterbrach sich noch einmal. In den ganzen vier Jahren, die sie nun schon meine Lehrerin gewesen war, hatte ich nicht ein einziges Mal Freude gezeigt. Und nun lachte ich. Es fühlte sich gut an, irgendwie richtig. Nicht so falsch wie das Lachen, was die anderen lachten, es war freier. „Sie können uns ruhig nach Hause schicken!“, meinte Bogey und grinste breit und zufrieden, „Aber das war es wert!“ Er zwinkerte mir zu und ging dann hinein. Langsam hörte ich auf zu lachen und ein seliges Lächeln blieb zurück, was sich nach und nach verflüchtigte. „Oh Shady!“, quietschte Cherry auf einmal und fiel mir um den Hals. Doch der Moment war vorbei. Irgendwie war ich wieder ruhig. „Schon gut, Cherry! Ist ja alles in Ordnung!“, murmelte ich und sah zu Tinkerbell hinüber. Der grinste mich auch an. „Endlich, ich dachte schon du wärst die Depression in Person!“ „Bin ich auch!“, knurrte ich. Dann gingen wir hinein zum Essen. Während alle am Tisch saßen und Suppe in sich hineinschaufelten, starrte ich abwesend aus dem Fenster. Hunger hatte ich nicht, mein Essen kühlte unberührt vor sich hin. Ich dachte nach. Die Hauptbeschäftigung meines Lebens, denke ich. Immer und immer wieder nachdenken. „Ich hasse dich…“ „Hast du was gesagt?“, fragte Cherry neben mir und ich zuckte zusammen. „Nein… ich war nur in Gedanken!“, meinte ich und sah zu ihr hinüber. „Dann aber ziemlich weit weg!“, kommentierte Tinkerbell und Cherry und er grinsten sich an. Ich sah zwischen ihnen hin und her. „Ich gehe schon mal!“, meinte ich dann und ließ die beiden alleine. Nun saßen sie zu zweit am Tisch. Ich hätte ja blind sein müssen, hätte ich diese Blicke nicht gesehen. Auf dem Zimmer saß Bogey auf seinem Bett und hörte mit geschlossenen Augen Musik. Ich tat es ihm nach und ließ mich auf mein Bett fallen. Dann starrte ich auf die Latten des oberen Bettes. Überall standen Sprüche, die Leute geschrieben hatten, die es für wichtig gehalten hatten, sich im Holz zu verewigen. Wenn sie meinten, dass das der einzige Weg war, sich bemerkbar zu machen, bitte! Langsam fielen mir die Augen zu. Alles, was ich jetzt noch hören konnte, waren die sanften Klänge der Musik in meinen Ohren. Normalerweise hörte ich Metal. Aber irgendwie war heute nicht der richtige Tag dafür. „Hallo, jemand zu Hause?“ Ich zuckte zusammen. Wer es wohl diesmal geschafft hatte, mich zu erschrecken? Ich war einfach zu abwesend. Tinkerbell legte den Kopf schief und sah mich an. „Jetzt schon!“, meinte ich und sah zu ihm und Cherry, die den Blick abwandte und rot wurde. Langsam hob ich eine Augenbraue. Sie hielt seine Hand und sah ziemlich verlegen aus. „Sag schon, Tinkerbell!“ Sag es schon, damit ich wieder meine Ruhe habe. Tinkerbell grinste. „Wir sind zusammen!“, sagte er dann feierlich. „Meine Glückwünsche!“, nuschelte ich und strubbelte dem Schwarzhaarigen durch die Haare, weil sie gerade in Reichweite waren. Dass er sich darüber lautstark beschwerte, war mir egal. Darum ging es ja auch nicht. Ich musste nur irgendwie zeigen, dass ich mich freute, ohne zu Lächeln. Ich wollte nicht schon wieder Lächeln, das hatte ich heute doch schon gemacht. „Bist du jetzt sauer?“, platzte Cherry besorgt heraus. Ich sah sie erstaunt an. „Wieso?“, fragte ich verwirrt. Sie wurde wieder rot. „Na, weil ich jetzt in den Pausen mit Tinkerbell abhängen und viel mehr mit ihm machen will als mit dir!“ Sie sah zu Boden. Einen Moment lang war ich überrascht, dann widersprach ich ihr. „Ich bin nicht sauer, wird ja eh mal Zeit, dass du glücklich wirst!“ „Ich BIN glücklich!“, sagte sie heftig. Ich nickte. „Eben!“ Und dann zwang ich mich zu einem Lächeln. Das Lächeln war eben doch ein fester Bestandteil der Kommunikation von Menschen. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, das würde sich wohl niemals ändern. Hoffentlich verstand sie das. „Ihr seid zu laut!“, knurrte Bogey in diesem Moment und warf Cherry und Tinkerbell einen Todesblick zu. Dann sah er, dass sie Händchen hielten und die rötliche Färbung von Cherrys Gesicht. „Aha!“ Ein hinterhältiges Grinsen zog sich über seine Lippen. Cherry sah ihn verlegen an, dann lächelte sie. Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück. Es war gut, dass Cherry endlich mal mehr mit jemandem zu tun hatte, der weder so komisch wie ich oder bösartig wie Bogey war. Es tat ihr einfach gut, ihr als Person. Mit diesem Gedanken schlief ich dann viel später auch ein. Es geschah mitten in der Nacht. Denn mitten in der Nacht begann mein Handy zu klingeln. Mit einem wütenden Knurren wurde Bogey wach und brummte irgendetwas Unverständliches, während er mit einer Hand fahrlässig unter sich in meine ungefähre Richtung schlug. Tinkerbell bewegte sich unruhig und stieß dabei einen Chuck mit Glöckchen um, welcher natürlich sofort bimmelte. Verschlafen griff ich in die ungefähre Richtung meines Handys und schmiss es natürlich prompt ebenfalls vom Nachttisch. „Scheiße…“ Knurrend tastete ich den Boden nach dem munter weiterklingelnden Gerät ab. „Shady!“, rief Bogey genervt, „Mach das weg!“ „Bin dabei!“, brummte ich und fand endlich das Handy. Meine Güte! Es war noch nicht einmal Morgen und meine Laune war jetzt schon im Arsch. Ich klappte das Handy auf und meldete mich: „Wenn das jetzt nicht wichtig ist, bring ich dich um!“ „Shady, bist du das?“ Meine schlechte Laune machte Unbehagen platz. Monster. „Was ist den los?“, fragte ich und gähnte, „Es ist vier Uhr!“ „Cassis ist abgehauen!“ Sofort verflog das schläfrige Gefühl. „Was?“, fragte ich und setzte mich auf, wobei ich mir den Kopf unsanft am Bett stieß. „Ihre Eltern haben mich angerufen!“, erklärte mein kleiner Bruder schnell, „Sie können sie nicht finden und Bogey ist auch nicht zu erreichen!“ „Wie ist das passiert?“ Ich stand auf und suchte meine Hose auf dem dunklen Zimmerboden, wo ich sie am letzten Abend zurück gelassen hatte. Inzwischen schienen auch Tinkerbell und Bogey bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte und setzten sich verschlafen auf. „Sie haben gerade erst einen Abschiedsbrief gefunden und Cassis ist noch nicht allzu lange verschwunden!“, erklärte Monster und ich zog meine Hose an und suchte nun die Schuhe. „Wo kann sie denn hingegangen sein?“, fragte ich weiter, während ich mir die Vans über die nackten Füße zerrte und nach einem Shirt angelte. „Steh auf, Bogey!“, sagte ich dann und hörte wieder Monster zu, welcher Wortreich beteuerte, dass er nicht die geringste Ahnung hatte. „Ich geh mit Bogey los und helfe suchen!“, sagte ich und Bogey kletterte verwirrt von seinem Bett und zog sich an. „Das ist toll von dir, Shady!“, meinte Monster, er klang total aufgelöst. „Wo bist du?“, fragte ich und zerrte mir die Sweatjacke über das T-Shirt. Dabei behinderten mich die Verbände an meinem Arm etwas, die ich nach der unangenehmen Situation im Bus umgebunden hatte, doch schließlich klappte es und nun musste ich nur noch auf Bogey warten. „Zu Hause!“, schniefte Monster. Ich zerrte Bogey hinter mir her aus dem Zimmer. „Was soll das, Shady!“, zischte der und funkelte mich böse an. Ich beachtete ihn nicht. „Ist dein Vater zu Hause, Monster?“, fragte ich und ein dumpfes Gefühl der Angst umschloss mein Herz. „Nein!“, murmelte Monster. „Dann ist es ja gut! Suchst du mit ihren Eltern auch?“, sagte ich müde, „Wir suchen die Buslinien zur Fähre ab!“ „Ok!“, meinte Monster, „Ich sag’s ihren Eltern, wir sehen uns!“ Ich legte ohne ein weiteres Wort auf und schlich mit Bogey durch den Gang. Mir war klar, dass, wenn Frau Wendiger uns jetzt erwischte, uns nichts mehr vor dem Verweis retten konnte. „Cassis ist verschwunden, wir suchen sie jetzt!“, erklärte ich Bogey, während ich versuchte, die Tür nach draußen aufzumachen. „Lass mich mal!“, murmelte Bogey, in seinem Blick sah ich Sorge und Verwirrung. Mit einigen geschickten Bewegungen brach er das Schloss auf und wir rannten zum Wald. Ich wollte gar nicht wissen, woher er so gut Schlösser knacken konnte. War ja auch egal. Das einzige, was jetzt zählte, war, Cassis wiederzufinden. Ich konnte mir nicht erklären, wieso sie weglaufen sollte und auch in Bogeys Gesicht stand Ratlosigkeit. Ich stolperte hinter ihm her den Weg entlang. Dabei erzählte ich ihm das wenige, was ich wusste. Noch war es dunkel, es würde erst in frühestens einer Stunde hell werden, ich lief wie blind hinter Bogey her. Scheiße, warum war ich nur nachtblind? Alles sah schwarz aus, nur Bogeys Lieblingspulli - das einzige, das er besaß, was nicht schwarz war - war ein wenig zu sehen. In diesem Moment übersah ich eine Wurzel… eigentlich hatte ich sie gar nicht gesehen. Tatsache war, dass ich mich hinlegte. Bogey hielt an und drehte sich genervt aufseufzend um. Ich knickte mit dem Bein um, doch ich unterdrückte jegliches Schmerzensgeräusch und rappelte mich wieder auf. Ich fluchte und humpelte auf Bogey zu. Es tat schrecklich weh, mehr noch als ich erwartet hatte. Wieder sank ich zur Seite, doch ich nahm mich zusammen. Sie war Bogeys Schwester! Was zählte da schon mein dummer Fuß! „Los, weiter!“, drängte Bogey und nahm mein Handgelenk, um mich weiterzuzerren. Ich stolperte ihm klaglos nach. Der Wald schien kein Ende nehmen zu wollen. Der schnellste Weg war querfeldein und genau den nahmen wir. Bogey schob die Äste beiseite und stürmte zwischen den Stämmen her, ich folgte ihm blind wie ich war. Kaum zu glauben, dass ich diesem Jungen einmal so sehr vertrauen musste. Ich hatte nicht geglaubt, dass das passieren konnte. Doch so war es. Als endlich ein schwaches Licht zwischen den Ästen leuchtete, hätte ich vor Erleichterung am Liebsten geheult. Vor uns lag die Bushaltestelle. Mit schnellen Blicken überflog Bogey den Fahrplan. „Es fahren heute nur zwei Busse zu dieser Zeit. Glaubst du, dass sie in einem von denen ist?“ Er sah mich fragend an. Ich sah mir die Fahrpläne auch an und schob mir die Kapuze meiner Sweatjacke über die zerstrubbelten Haare, während ich nachdachte. „Ich weiß es nicht, aber wir werden es wohl probieren müssen, oder?“ Bogey zuckte mit den Schultern und nickte. „Der eine kommt jetzt, der andere in einer Stunde!“, sagte er, „Beide fahren nach Norden, bis zum Meer!“ „Wenn sie nach Norden will, muss sie so oder so zur Fähre wollen!“, murmelte ich schulterzuckend. Entweder sie war schon gefahren, oder sie war in einem Bus; in diesem oder dem nächsten… Oder in dem vor einer Stunde? „Da kommt der Bus!“ „Willst du mitfahren? Dann warte ich hier?“, schlug ich vor und sah Bogey dabei an, als hätte ich Zahnschmerzen. „Nee, du fährst und ich warte!“ Es war wirklich schwer, meine Erleichterung zu verbergen. Dann nickte ich Bogey noch zu und stieg möglichst ohne zu sehr zu humpeln in den Bus ein. Hier war es wenigstens nicht dunkel und ich war auch nicht alleine. Ganz vorne im Bus saß eine ältere Dame und las in einem Buch. Irgendwo in der Mitte lag ein Penner über zwei Sitzen und schnarchte laut. Schweigend ging ich nach ganz hinten und setzte mich ans Fenster. In diesem Bus war Cassis schon mal nicht. Aber vielleicht stieg sie noch zu, so unwahrscheinlich es auch war. Auf jeden Fall wollte ich bis zur Fähre fahren und da auf Bogey warten. Vielleicht schafften wir es ja, bis acht Uhr wieder zurück in der Jugendherberge zu sein, wenn nicht mussten wir eh die Schule wechseln. Ich seufzte leise. Was war das nur für eine Klassenfahrt? Anscheinend war es diesmal unmöglich einfach die Zeit abzusitzen und zu warten, bis man wieder zu Hause war. Wenn man da überhaupt wieder hinwollte. Ich wollte es eigentlich nicht. Ich verband nichts außer Monster mit dem Haus, in dem wir zusammen mit unserem Vater lebten. Mit diesem selbst am allerwenigsten. Wie lange hatten wir schon kein Wort mehr miteinander gewechselt? Ich wusste es nicht mehr wirklich. Bestimmt drei Jahre lang war ich ihm ausgewichen und hatte es geschafft im selben Haus zu leben, ohne ihn auch nur anzusehen. Manchmal begegneten wir uns auf dem Flur. Dann quetschte ich mich an ihm vorbei und lief schnell in mein Zimmer. Ich seufzte leise. Wieso kamen gerade jetzt diese Erinnerungen hoch? Langsam schlug ich den Kopf gegen die Scheibe. Weg! Geht weg und nervt mich nicht länger! Nach einiger Zeit, genau genommen einer Stunde und einigen Minuten, hatte der Bus endlich seinen Bestimmungsort - die Fährendocks - erreicht. Langsam stieg ich aus und ließ mich auf die nächste Mauer fallen. Es wurde nun allmählich hell, es war bereits fünf Uhr. Möwen flogen bereits jetzt über die Kais und riefen nach den anderen. Es lag keine Fähre im Hafen, sie würde erst um sechs Uhr fahren. Das stand zumindest auf dem Schild, dass neben der Bushaltestelle stand. Langsam erhob ich mich wieder und ging auf den nächstbesten Kai und ganz nach draußen. Vor mir lag das Meer und der Wind riss an meinen Haaren. Dort irgendwo auf der anderen Seite sprach man kein Deutsch mehr und das gar nicht so weit entfernt. Wenn Cassis da rüber kam… Ich drehte mich seufzend um. Sie konnte hier überall sein, es war schließlich eine große Stadt mit einem großen Hafen. Doch nur dieser eine Bus fuhr von unserem zu Hause bis zum Hafen durch. Vielleicht war sie ja doch noch irgendwo in der Nähe. Während ich das Dock entlanglief, erwachte der Hafen zum Leben. Alle möglichen Leute schienen hier zu nachtschlafender Zeit aufzustehen und ihre Arbeit zu beginnen. Kein Beruf, den ich wählen würde. Aber ich musste das ja auch nicht, vielleicht war es ja ihr Lebensinhalt. „So finde ich sie nie!“, knurrte ich. „He, Junge!“ Ich sah auf. Ein freundlich aussehender Mann stand da über die Reling seiner Yacht gebeugt und sah zu mir hinunter. Es musste wohl das größte Schiff hier sein, wenn man die Fähre und die ganzen Tanker mal außer Acht ließ. Eben das größte Privatboot. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich. Er zog an seiner Zigarette und grinste. „Die Frage ist eher, ob ich dir helfen kann!“, stellte er richtig, „Du siehst so aus, als würdest du etwas suchen!“ Ich nickte. „Ich suche ein Mädchen! Sie müsste hier irgendwo herumlaufen! Aber ich kann nicht aufs Fährengelände gehen, um nachzusehen, ob sie da ist, ich habe kein Geld dabei!“ Der Mann grinste noch ein wenig breiter. „Komm zu mir auf die Yacht! Wenn du dich auf die Fahrerkabine setzt, kannst du das Gelände sehen, ich habe auch ein Fernglas hier!“ Ich stieg zu ihm auf das Boot und er führte mich zu einer kleinen Leiter, die auf die Fahrerkabine führte. Er stieg hinauf und ich folgte ihm. Tatsächlich konnte man das Fährengelände von hier aus sehen. Eine ganze Reihe Autos wartete bereits auf die Fähre, die allerdings nicht sehr bald kommen würde. „Das sind die armen Reisenden, die die letzte Fähre gestern verpasst haben!“, erklärte der Mann und setzte sich. Ich ließ mich neben ihm nieder. Er war ziemlich alt, ich schätze ihn auf siebzig, vielleicht älter. „Hier, Junge, nimm das Fernglas!“ Ich dankte ihm und nahm das Fernglas. Dann begann ich sorgfältig das Gelände abzusuchen. „Die Jugend von heute ist rastlos!“, sagte er nebenbei und rauchte vor sich hin, „Wenn sie an einem Ort ist, will sie sofort wo anders hin. Sie weiß nicht, was Ruhe bedeutet!“ Ich nickte, das stimmte. Wahrscheinlich kamen hier jedes Jahr viele Jugendliche und Kinder vorbei, die von zu Hause davongelaufen waren, um für ein neues Leben überzusetzen. Ich suchte die Leute ab und der Alte neben mir wartete geduldig. Dann sah ich sie. Da stand Cassis, mitten zwischen all den Leuten. Sie sah so verloren aus, ihr hübsches Gesicht war müde und traurig. „Ich hab sie!“, sagte ich leise, „Aber keine Ahnung, wie ich da hinkommen soll!“ Wie nebenbei holte ich meine eigenen Zigaretten hervor und zündete mir eine an. „Du solltest nicht rauchen!“, riet mir der Alte, „Es macht nicht glücklich!“ „Aber abhängig!“ Er nickte. Dann lächelte er mir zu, ich zwang mich, sein Lächeln zu erwidern. „Weißt du was? Ich fahre dich hinüber!“ Ich sah ihn erstaunt an. Der Alte gluckste vergnügt und zog mich hinter sich her in die Fahrerkabine. Dann ließ er den Motor an. Ich wurde unruhig. Was hatte er nur vor? „Dürfen sie denn überhaupt auf das Fährgelände fahren?“, fragte ich misstrauisch. „Ich bin oft in den umliegenden Orten und hole dort Briefe ab, die mit der Fähre hinüber sollen!“, erklärte er und die Lachfalten in seinem Gesicht wurden ein wenig tiefer, als er lächelte, „Gestern habe ich es nicht mehr geschafft, aber ich habe noch ziemlich viele Briefe! Wenn du mir hilfst, sie von Bord zu tragen, kannst du gerne mit hinüberfahren! Und dann nehmen wir deine Freundin mit zurück!“ Ich nickte und bedankte mich überschwänglich. Kaum zu glauben, was ich wieder für ein Glück hatte! Langsam dockte die Yacht an einen kleinen Seitenhafen des großen Fährgeländes. Mit mehreren Kisten voller Briefe beladen folgte ich dem Alten von der Yacht. Der lachte vergnügt, während er mir den Weg zeigte. „Kann man dich einstellen? Du bist wirklich gut!“ „Ich komme nicht von hier!“, erklärte ich, „Sonst eigentlich gerne!“ „Ach, James! Ein neuer Haussklave, oder was?“, rief irgendjemand meinem Retter zu, der grinste nur heiter. „So!“, meinte er dann und drehte sich zu mir um, „Hier kannst du die Kisten hinstellen! Und jetzt hol dein Mädchen, ich warte solange. Lass dir ruhig Zeit, wenn man so alt ist, wie ich, hat man nicht mehr so viel zu tun!“ Ich dankte ihm noch einmal und lief dann in die Richtung, in der ich Cassis gesehen hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Bogey wohl gerade mit dem Bus an der Haltestelle ankam. Da sah ich sie. Cassis! Sie stand mit dem Rücken zu mir und mit hängenden Schultern da und starrte vor sich hin. Ich lief auf sie zu. Am Horizont war schon die Fähre zu sehen. Das war nun egal, ich konnte nicht zulassen, dass Cassis mit dieser Fähre fuhr! Nicht jetzt! Ich griff nach ihrer Hand. Erschrocken fuhr sie herum und starrte mich ungläubig an. „Shady? Aber… was…?“ „Glaubst du, ich schaue zu, wie du einfach abhaust?“ Ich sah sie ruhig an. Sie konnte jetzt nicht gehen. Ich hatte Monsters Blicke gesehen, dies war das Mädchen. Es war wohl die schlechteste Wahl, die er hatte treffen können, Bogey würde rasen. Aber wenn er Cassis liebte, dann konnte sie nicht einfach verschwinden. „Komm wieder mit!“, bat ich leise. „Aber…“, sie sah zu Boden, „Ich bin verliebt… Bogey wird mich niemals loslassen, wenn ich bleibe!“ „Und deine Liebe willst du deswegen einfach alleine zurücklassen? Denkst du überhaupt nicht an ihn?“ Sie sah wieder auf. „Ich…“ Diesmal war ich es, der sie unterbrach. „Komm nach Hause und ich rede mit Bogey… du kannst doch auch mit ihm reden, ihr seid doch sonst auch unzertrennlich!“ Wieder wanderte ihr Blick auf den Boden. Ich ließ sie los und hob ihre Tasche auf meine Schulter. „Wieso… bist du hier und nicht… Monster?“ „Monster sucht woanders. Wir haben uns das Gebiet aufgeteilt!“ „Aber du bist doch auf Klassenfahrt… was ist, wenn du fliegst?“ „Dann fliege ich eben! Bogey sucht dich doch auch! Und Monster, deine Eltern… selbst Cherry und der Neue würden dich suchen, wenn ich sie geweckt hätte!“ Sie sah mich mit großen Augen an, dann nickte sie und sah beschämt zu Boden. „Es ist feige, einfach wegzulaufen!“ „Es ist mutig, in ein fremdes Land gehen zu wollen, um seine Liebe nicht zu verlieren!“ Wir wussten beide, dass das nicht stimmte, doch sie antwortete nichts mehr, sondern ging mir still nach zu der Yacht. Die musterte sie mit großen Augen. „Wie kommst du dazu, mich mit einer Yacht zu suchen?“, fragte sie, als wir auf der Fahrerkabine saßen und Wind und Sonne genossen, während James uns auf einer kostenlosen Rundfahrt einmal um den ganzen Hafen und zurück ans Dock schipperte. „Ich sah wohl ziemlich verzweifelt aus!“, meinte ich schulterzuckend. Dann nahm ich mein Handy und rief Bogey an. Der hatte inzwischen den gesamten Hafen auf den Kopf gestellt, war in das Fährgelände eingebrochen und fauchte mich total wütend an, weil ich ihm nicht früher Bescheid gesagt hatte. Ich hörte ihm nicht zu, sondern warf einen Blick auf meine Uhr. Zehn nach sechs. Bis wir wieder in der Herberge waren, war es bestimmt viertel vor acht. Schule ade! Ich seufzte leise. „Danke, dass du mich gesucht hast!“ Ich sah Cassis von der Seite an. „Ich könnte es Monster doch nicht antun, dass du einfach verschwindest!“, murmelte ich, „Schließlich betet er dich mehr an, als je einen anderen Menschen zuvor!“ Kapitel 5: Besuch von zu Hause ------------------------------ Als Bogey, der an der Haltestelle schon auf uns wartete, Cassis sah, konnte man meinen, dass er ein ganz normaler Junge wäre. Er lachte vollkommen erleichtert drauflos und umarmte sie so glücklich, dass ich meinem konnte, er hätte sie jahrelang nicht gesehen. Ich kam mir ein wenig überflüssig vor, bis Bogey mich auch plötzlich umarmte und mir dankte, dass ich sie gefunden hatte. Ich wollte mir beinahe selbst nicht eingestehen, wie sehr ich diese Umarmung genoss. Nie umarmte mich jemand. Natürlich, Cherry tat das ständig, aber… Cherry war eben Cherry! Und nicht Bogey. Ich schob den Gedanken beiseite, denn in diesem Moment ließ Bogey mich wieder los und zerrte mich und Cassis hinter sich her in den Bus. Ich vergaß, dass mein Fuß irgendwie kaputt war und knickte natürlich gleich wieder um. Doch diesmal hielt der Fuß mein Gewicht nicht und ich sank zusammen. Bogey drehte sich zu mir um, dann schlang er kurzerhand einen Arm um meine Taille und hob mich in den Bus. Nun wäre es mir lieber gewesen, er hätte es nicht getan. Ich hatte nicht erwartet, dass ich noch so sehr etwas fühlen konnte, was ich nicht kannte. Bogey platzierte mich auf einem Sitz und setzte sich neben mich Cassis setzte sich uns gegenüber. „Was hast du denn gemacht?“, fragte er dann. „Ach... nur die Wurzel vorhin. Du weißt schon, du hast mich doch danach durch den Wald gezerrt wie bescheuert!“ „Oh… das tut mir Leid!“ Ich winkte ab. „Du hast dich heute noch gar nicht mit mir gestritten!“, fiel mir dann auf und ich grinste ihn an, was ihn perplex zurückgrinsen ließ. Cassis begann zu lachen. Keine Ahnung worüber. Wahrscheinlich über Bogey und mich. Das lag nahe, da wir erstens die einzigen im Bus waren und uns zweitens gerade ziemlich komisch benahmen. Seit wann war Bogey so freundlich zu mir? „Bild dir darauf nichts ein!“, knurrte er und sah mich so böse an, dass ich wünschte, ihn nie darauf aufmerksam gemacht zu haben, „Ich streite mich nicht vor sieben Uhr!“ „Pech, Bo!“, rief Cassis grinsend, „Es ist gerade sieben geworden!“ Bogey sah mich an und ich schluckte. Sieben Uhr. Weckzeit in der Jugendherberge. „Verdammt, so kommen wir nicht weiter!“ Ich seufzte und nickte. Ich war einfach zu langsam, da ich, obwohl Bogey mich stützte, nur sehr vorsichtig bis gar nicht auftreten konnte und humpelte. „Tut mir Leid!“, murmelte ich. „Ach was!“, knurrte Bogey und nahm mich kurzerhand Huckepack. „Was wird das denn!“, schrie ich erschrocken, als er auf einmal lossprintete. „Siehst du doch!“, rief er zurück, „Ich trag dich! Du bist so leicht, das würdest du mir gar nicht glauben!“ Erschrocken krallte ich mich an seine breiten Schultern fest. Irgendwie hatte er ja recht, so waren wir schneller, aber… Ich konnte diese Nähe kaum mit den Gefühlen vereinbaren, die in mir keimten und sprossen. Wo sollte das nur enden? Hatte ich mich tatsächlich in Bogey verliebt? Ausgerechnet in Bogey! Ich schloss die Augen und ließ die Stirn an seine Schulter sinken, die sich im Takt seiner Schritte bewegte. Irgendwann hielt er an und drehte den Kopf in meine Richtung. „Und, war das schlimm?“ „Geht!“, presste ich zwischen den zusammengebissenen Zähnen heraus und ließ mich von ihm auf den Boden setzen. Frau Wendiger, die an der Eingangstür der Herberge vor uns stand, sah uns fassungslos an. „Wir waren joggen!“, erklärte Bogey, „Und Shady hat sich dabei lang gemacht… und da irgendwas mit seinem Fuß nicht stimmt, hab ich ihn getragen!“ Schlaue Ausrede. „Wir wollten ihnen Bescheid sagen, aber sie waren nicht wach!“, ergänzte ich geistesgegenwärtig, „Und unseren Zettel haben sie -wie ich aus ihrem Gesichtsausdruck interpretiere- nicht gefunden!“ „Äh… nein! Wir wollen jetzt frühstücken! Kommt ihr nach?“, brachte die perplexe Lehrerin hervor. Wir nickten. Dann stützte Bogey mich und schleppte mich die Treppe hinauf. In unserem Zimmer ließ er mich auf mein Bett fallen und setzte sich neben mich. Dann sahen wir uns an. Schließlich lächelte ich. „Danke!“, sagte ich, „Irgendwie waren gestern und heute wirklich gute Tage! Das ist deine Schuld!“ Bogey grinste fies. „Glaub nicht, dass das ab jetzt immer so ist!“, drohte er und ich glaube ihm jedes Wort. Anscheinend war mein Blick sehr verschreckt gewesen, denn seine Gesichtszüge wurden wieder sanfter und er wandte seinen Blick von mir ab. „Ich fand es auch cool!“, gestand er dann, während er das Fenster musterte, als wäre es etwas ganz besonderes, „Hatte selten so viel Spaß, wir sollten so was öfter machen!“ Ich sah ihn erstaunt an, dann nickte ich. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und ich zuckte so sehr zusammen, dass ich mir wieder den Kopf an den Latten über mir stieß. „Holla, die Waldfee!“, knurrte ich, rieb meine Stirn und bedachte Cherry und Tinkerbell, die hereingekommen waren, mit einem wütenden Blick. „Tut uns Leid!“, meinte Cherry lachend und ließ sich von Tinkerbell in seine Arme ziehen. „Dein Handy macht Stress!“, meinte der und warf mir mein Handy zu. Anscheinend hatte ich es irgendwo liegengelassen. Ich warf einen Blick auf das Display. Eine Sms von Monster. Während Bogey die beiden Störenfriede zur Sau machte, las ich die Sms. Im ersten Moment dachte ich, ich träumte. Ich las sie noch einmal. Cherry hatte sich gerade an mich gewand, ich ignorierte sie. „Shady, was ist denn, du wirst ganz blass!“ Ich setzte mich langsam auf, der Blick immer noch wie gebannt auf die Sms gerichtet. Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Dabei war heute doch so ein guter Tag gewesen, es war der erste Tag seit langem gewesen, den ich nicht als schlecht bezeichnete. Verzeihung, bezeichnet hatte. Denn genau das war er wohl doch. Ich stand auf, immer noch den Blick starr auf die Buchstaben der Sms gerichtet. „Shady?“ Cherry legte eine Hand auf meine Schulter, doch ich schob sie geistesabwesend zur Seite. „Was ist passiert?“, fragte sie und linste über meine Schulter. „Monster…“, murmelte ich und klappte das Handy zu. Nun sahen sie mich alle besorgt an. „Ich… muss zu ihm!“, sagte ich leise. Als ich einen Schritt auf die Tür zumachte, knickte ich wieder um. Der Fluch, den ich ausstieß, als Tinkerbell mich auffing, sei an dieser Stelle nicht erwähnt. „Nein, du kannst nicht gehen!“ Wütend starrte ich Frau Wendiger an, die Cherry geholt hatte, weil sie nichts anderes wusste, um mich aufzuhalten. „Aber ich muss!“, widersprach ich wieder. Ich sah in die Gesichter der um mir stehenden. Tinkerbell hielt Cherry im Arm, Bogey lehnte an der Wand. Einige schaulustige andere Schüler hatten sich um Frau Wendiger geschart. Jetzt viel mir auf, dass ich nicht einmal ihre Namen kannte. Doch das war egal. „Hör doch zu, Joel, wir müssen…“ Mir reichte es. „Hören sie mir zu!“, zischte ich wütend und richtete mich auf, „Mein kleiner Bruder liegt im Krankenhaus und sie wissen nicht, was er hat. Glauben sie allen Ernstes, dass mich diese beschissene Klassenfahrt noch interessiert?“ Denn genau das war passiert. Sie hatten Monster in einem Straßengraben nicht weit von unserem Haus gefunden. Er war einfach nicht mehr zu sich gekommen, doch es sah ganz danach aus, als hätte irgendjemand ihn beinahe erschlagen. Und mir fiel auf die Schnelle nur eine Person ein, die so etwas tun würde. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Das durfte einfach nicht sein! „Ich… ich…“, stotterte ich. Wirklich keine Ahnung, was ich hätte sagen sollen! Langsam ging ich an ihnen allen vorbei und aus dem Zimmer. „Shady!“ Ich spürte, wie Cherry meine Hand ergriff und mich festhielt. „Hier, lies!“ Cherry nahm mein Handy und las die Narchicht. „O mein Gott!“, flüsterte sie, „Wieso sagst du das erst jetzt?“ „Ich sag doch die ganze Zeit, dass keiner weiß, was er hat!“ „Aber hier steht, dass er in Lebensgefahr schwebt!“ Ich riss mich von ihr los und ging weiter. „Lasst mich einfach allein!“, knurrte ich und schloss mich in der Gemeinschaftsdusche ein. Das ist, wenn man nicht weiter denken kann immer der sicherste Ort. Schließlich hatte er ein Schloss! Und denken ging im Moment einfach nicht. Langsam ließ ich mich gegen die kalten Kacheln einer Dusche sinken und starrte auf meine Füße. Doch schon nach wenigen Sekunden sprang ich wieder auf und streifte ruhelos durch den kleinen Vorraum. Dabei humpelte ich immer noch. Habe ich schon erwähnt, wie sehr ich diese Wurzel hasste? Es klopfte an der Tür. Erst hörte ich Cherrys Stimme, dann die von Tinkerbell. Auch Bogey und einige Mädchen der Klasse, die immer auf die schleimerische Art kamen, versuchten mich zum Aufschließen zu Bewegen. Doch ich nahm ihre Stimmen nur am Rande wahr. In mir rollte eine Welle der Angst nach der anderen gegen meine Festung aus Gelassenheit und brachte ihre Mauern zum Wanken. Und mit dieser Unsicherheit kam meine Verzweiflung auf. So lange hatte ich Monster vor ihm beschützt und jede Nacht im Halbschlaf verbracht, um bei jedem noch so kleinen Geräusch aufzuschrecken. Doch was hatte es genutzt? Nichts. „Shady, jetzt komm da raus!“, rief Cherry von draußen. Seufzend stand ich auf und ging zum Fenster. Die Duschen waren im zweiten Stock und hatten ein ganz normales Fenster. Eigentlich störte mich so etwas tierisch, aber diesmal war es ganz nützlich, denn so konnte ich hinaussteigen und mich zu Boden fallen lassen. Der Aufprall war nicht ganz angenehm, aber immerhin war ich draußen. Ich sah mich um. Die ersten Walker hasteten den Waldweg vor dem See entlang und der Parkplatz war mit Autos zugestellt. Eine neue Klasse kam gerade an. Doch dann sah ich das Auto, dass ich von allen am wenigsten erwartet hätte. Ich konnte es im ersten Moment gar nicht glauben. Da parkte tatsächlich der silberne Passat meines Vaters gerade ein Stück weit von mir entfernt ein. „Shady?“ Ich sah nach oben. Cherry streckte den Kopf aus dem Fenster. Natürlich, sie hatten die Tür aufgebrochen. Irgendwie war das klar gewesen. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Auto meines Vaters zu, welcher gerade aus eben diesem ausstieg und sich umsah. Mein Herz setzte einen Moment lang aus. „Da ist er… Shady! Schau hier hoch!“ Ich sah nicht zu Cherry hinauf, mein Blick klebte noch immer an jenem Menschen, der sich mein Vater nannte. Plötzlich sah er zu mir hinüber und unsere Blicke trafen sich. Ich wich einen Schritt zurück und starrte ihn weiter wie hypnotisiert an. „Das kann nicht sein, das kann nicht sein!“, hämmerte es in meinem Kopf immer und immer wieder, ich konnte wirklich nicht glauben, dass er wirklich hier war. Er warf die Autotür zu und lief auf mich zu. „Joel!“ Seine Stimme brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich drehte mich um und flüchtete. Weg von meinem Vater, weg von Cherry, weg von all dem, was ich nicht verstehen konnte und wollte. Ich lief in den Wald und dann so schnell ich konnte zwischen den Stämmen und Ästen hindurch immer weiter weg. Hinter mir hörte ich die Stimme meines Vaters durch den Wald schreien, ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn ich sie hörte. Als ich eine Viertelstunde wie bescheuert durch den Wald gesprintet war, konnte ich einfach nicht mehr. Mein Fuß pochte schon wie wild und wegen meiner Angst konnte ich auch nicht mehr gleichmäßig genug atmen, um noch lange zu laufen. Schließlich ließ ich mich einfach fallen. Leider war gerade da ein Hang und ich rollte hinunter in die Kuhle und zwischen lauter Brombeerranken, die mir die Arme und das Gesicht zerkratzten. Na toll! Ich blieb einfach zwischen den Ranken liegen und versuchte meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Langsam schloss ich die Augen. Wie konnte eine einzige Klassenfahrt mein ganzes Leben nur so aus dem Ruder heben? Nun gut, ich hatte es auch vorher nicht unter Kontrolle gehabt, aber ich hatte wenigstens geglaubt, das alles irgendwie lenken zu können. Nun lag mein kleiner Bruder im Krankenhaus und mein Vater tauchte hier auf. Ich hatte es jahrelang geschafft, ihm einfach aus dem Weg zu gehen, sogar in der kleinen Dreizimmerwohnung, in der wir wohnten. Nach einiger Zeit hörte ich Schritte. Ich ließ die Augen geschlossen und hoffte irgendwie, dass man mich übersehen würde. Aber das war wohl ein Wunschtraum, denn schon raschelte das Laub am Hang und selbige Person schlitterte zu mir hinunter. Schon spürte ich Hände, die mich hochzogen. „Scheiße, Shady!“, knurrte eine Stimme, die ich sehr gut kannte, aber im Moment nicht wirklich zuordnen konnte, „Lebst du noch?“ Langsam machte ich die Augen wieder auf und sah direkt in das Gesicht von Bogey. „Bist du bescheuert, dass du einfach so verschwindest!“, knurrte er. Er zog mich hoch und rücksichtslos aus den Dornen. „Wer war dieser Typ, der da brüllend hinter dir her gerannt ist?“, fragte Bogey und sah mich an. „Mein Vater!“, murmelte ich und schob ihn mit einer mutlosen Bewegung beiseite. Einen Moment lang schwiegen wir. „Er ist weg!“, sagte Bogey dann zu meiner Überraschung, „Frau Wendiger hat sich zwischen dich und ihn geworfen wie eine mutige Löwin und ihm erst mal klar gemacht, dass du ihr Schüler bist und er deswegen hier nichts zu suchen hat… hat mich schon gewundert, dass sie ihn nicht erkannt hat, sie kennt doch die Eltern von allen!“ „Meine nicht, weil sie nie da waren!“, sagte ich leise und humpelte los in Richtung Bushaltestelle. „Die Herberge ist in der anderen Richtung!“, rief Bogey mir nach. „Ja, aber ich muss zu Monster!“, rief ich zurück und sah ihn an, „Er hat doch sonst niemanden, der ihn besuchen würde!“ Ich hörte den Schwarzhaarigen hinter mir seufzen. „Cassis hat ihn besucht, es geht ihm schon besser und er lässt dich grüßen!“ Ich sah ihn erstaunt an. „Und du lässt Cassis einfach so zu ihm?“, fragte ich fassungslos. Bogey zuckte mit den Schultern und sah zu Boden. „Wieso sagst du mir nicht, wie schwach und dumm ich doch bin?“, fragte ich leise und sah ihn an. Das fragte ich mich wirklich, schließlich war das ja Bogey und seit wann war Bogey so freundlich und vor allem ruhig? „Du hast jetzt echt anderes zu tun, als dich mit mir zu streiten, oder? Und jetzt komm!“ Er griff nach meinem handgelenk und zerrte mich hinter sich her zur Herberge. Kapitel 6: Sorge und Sorglosigkeit ---------------------------------- „Was ist jetzt?“ „Er ist immer noch da drin und hat abgeschlossen!“ Langsam machte ich die Augen auf. Im ersten Moment war ich verwirrt und wusste nicht mehr, wo ich war und was passiert war, doch dann erinnerte ich mich wieder und setzte mich auf. Kurz nachdem Bogey mich wieder in der Herberge abgeliefert und sich gleich darauf einen wirklich heftigen Streit mit Cherry geliefert hatte, war ich hier her gekommen und hatte mich eingeschlossen. Diesmal war für den Ort meines Rückzugs eine Toilette erwählt worden. Die Türen waren fester und nicht so einfach aufzubrechen. Und hier saß ich nun. Irgendwie war mein Verstand benebelt. Ich fühlte mich schlecht. Besonders seit der Sms meines Vaters, die ich noch nicht einmal gelesen hatte, war es noch schlimmer. Irgendwer werkelte an der Tür herum. Gleich wäre sie offen und da wären wieder alle. Konnten sie mich nicht einmal alleine lassen? Natürlich machten sie sich Sorgen um mich und so weiter, aber ich wollte sie nicht sehen und erst recht nicht mit ihnen sprechen. Am liebsten wäre ich gestorben. Der Himmel musste ein wundervoller Ort sein, wenn man da keine Sorgen hatte. Schon ging die Tür auf, Cherry stürzte herein und fiel mir um den Hals. „Ich mache mir solche Sorgen um dich, immer!“, heulte sie drauflos, „Was tust du nur immer, Shady!“ Dann versuchte sie wieder sich zu fassen, ließ mich wieder los und musterte mich ganz genau. Selten unterzog sie mich einer so genauen Kontrolle. „Hast du es wieder getan? Sag schon?“, fragte sie mich und ihre Stimme zitterte. Natürlich. Sie hatte schon wieder Angst um mich. „Ich hab nichts gemacht, Cherry!“, knurrte ich und sah sie trotzig an, „Ich will nur meine Ruhe haben!“ Aber natürlich glaubte sie mir das nicht einfach so. Langsam schob die Schwarzblonde meinen Ärmel hoch und inspizierte den zernarbten Arm. Und wie es bei meinem sagenhaften Glück auch sein musste, betrat genau in diesem Moment Bogey den Raum. Nichts wollte ich weniger, als dass er einen Blick auf meine Vergangenheit warf! Aber genau das tat er. Seine Augen richteten sich auf meinen Unterarm und er lehnte sich an den Türrahmen. Ich konnte diesen Blick nicht deuten, der in seinen Augen lag. Aber seine Hände zitterten. Dann lenkte Cherry meine Aufmerksamkeit von Bogey auf sie. Sie zog den Ärmel wieder runter und seufzte befreit. „Keine neuen Schnitte!“, sagte sie und lächelte erleichtert, dann sah sie mich wieder an, „Das ist gut, wie geht es Monster?“ Ich sah sie an und hätte am liebsten losgeheult. Natürlich wusste sie das, Cherry kannte mich einfach zu gut. „Er lebt und ist wach“, murmelte ich leise, „Sie wissen nicht, wer es war, aber er muss wohl schon zu Hause zusammengeschlagen worden sein!“ Cherry nickte verstehend und Bogey sah nur verständnislos von ihr zu mir und wieder zurück, während er sich hinhockte. Natürlich, er hatte keine Ahnung. Beinahe so viel, wie Cherry. Sie konnten es gar nicht verstehen, ich hatte es ihnen nie erzählt, auch Cherry nicht. Immerhin wusste sie, dass bei mir zu Hause nichts so war, wie es sein sollte. „Was ist denn jetzt, wo kommt das her?“, knurrte Bogey aggressiv und deutete wütend auf meinen Arm. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er seine Unsicherheit in Wut umwandelte. Eigentlich verrückt, ich hatte keine Ahnung wieso er so etwas tun sollte, aber es schien definitiv das einzige, was mir zu seiner Reaktion einfiel. Cherry nahm mir die Unannehmlichkeit einer Antwort ab und beugte sich zu Bogey herüber, um ihm schnell und leise zuzuflüstern: „Ich weiß auch nichts genaues, aber soweit ich das verstanden habe, hat sein Vater, als seine Mutter gestorben ist, angefangen zu trinken und sein kleiner Bruder ist abgehauen, deswegen wollte er sich… na, du weißt schon!“ Sie sah mich nervös an, als würde ich sofort aufspringen und mich aus dem Fenster stürzen oder so. Bogey richtete seinen Blick auf mich, doch ich sah nicht in seine Augen. Ich wusste, dass sowohl seine Wut als auch seine Gleichgültigkeit mir gegenüber nicht ganz unberührt bleiben konnten. Immerhin hatte er immer, wenn wir uns gesehen hatten, mich mit seinem Bedauern begrüßt, dass ich mich noch nicht umgebracht hatte. Das war genau gesehen auch der Grund, warum ich es ihm nie gesagt hatte. Dass ich ihm nie gesagt hatte, wie nahe er mit seinem Bedauern an der Wirklichkeit gelegen hatte. Irgendwie hatte es mir immer gut getan zu wissen, dass ich seinem Wunsch immer widerstehen konnte und nicht nach seiner Pfeife tanzte. Auf einmal sprang der Schwarzhaarige auf und verließ den Raum. Ich sah ihm einen Moment lang erstaunt nach, dann senkte ich beschämt den Blick auf den Boden. Ja, ich schämte mich dafür, dass ich ihm das zumutete. Bogey war böse, er war aggressiv und zeigte keinerlei Gefühle. Das war sein Ruf, ein hart erarbeiteter Ruf, muss ich gestehen. Es wäre ungerecht von mir, ihn einfach so kaputt zu machen. Auf Dauer würde es dieser Ruf sein, der ihn zerstörte, doch das war seine Entscheidung und eine langfristigere Sache. Diese ganze Sache regte mich tierisch auf. Dabei hatten wir gerade begonnen uns irgendwie zu verstehen. Und ich hatte gerade begonnen zu begreifen, was er mir bedeutete. „Shady?“ Ich sah wieder auf und nahm Cherry wieder vollkommen wahr, wie sie so neben mir saß und mich ansah. „Es ist schon gut, Cherry!“, murmelte ich, „Lass mich bitte einfach einen Moment alleine, ich muss nachdenken!“ Sie nickte und stand auf, dann ließ sie mich mit einem letzten besorgten Blick alleine. Doch bevor sie dazu kam, die Tür zu schließen, zwängte sich Tinkerbell mit klingenden Glöckchen in den Raum. „Ich bin sofort wieder weg!“, versprach er Cherry mit einem kecken Kuss auf den Mund und wandte sich dann an mich. Doch er begann erst zu sprechen, als seine Freundin die Tür ganz zu gemacht hatte. Dann setzte er sich gelassen neben mich und sein Grinsen wich einem ernsten Blick. „Weißt du, Shady…“, murmelte er und griff nach meinem Arm, „Wir kennen uns noch nicht sehr lange, aber ich denke, dass es lange genug ist. Vielleicht kannst du sie mit deinem Schweigen beruhigen und ihre Angst nehmen… aber lass mich dich verarzten, ja?“ Er grinste mich keck an und schob den Ärmel meiner Schreibhand hoch. Dann warf er einen Blick darauf und seufzte leise. Regungslos betrachtete ich die frischen Wunden auf meinem Arm und grübelte darüber nach, wie er das bemerkt haben konnte. An diesem Tag hatte ich nicht ernsthaft über einen Selbstmord nachgedacht, aber irgendwie hatte ich es nicht lassen können, mich daran zu erinnern. Es tat so gut, Schmerz zu spüren. Einen Schmerz, der nicht seelisch war und real wehtat. „Ich glaube, du musst deine Jacke waschen!“, meinte Tinkerbell ungerührt und wusch das Blut beiseite, dass sich auch in den Ärmel meiner Jacke gesogen hatte. Ohne zu antworten, sah ich zu, wie er meinen Arm desinfizierte und verband. Seine Bewegungen waren geübt und schnell, beinahe so, als wäre das alles für ihn Routine, als mache er das nicht zum ersten Mal, sondern immer wieder. Aber das Zittern seiner Finger sagte etwas anderes. Etwas ganz anderes. Wenn man etwas regelmäßig macht, gewöhnt man sich mit der Zeit daran, egal, was es ist. Doch Tinkerbell war es nicht gewohnt. Dennoch wurde er schnell fertig. Gerade, als er den Verband irgendwie festmachte, hörte ich vor der Tür Schritte und dann Frau Wendigers Stimme. „Geht es Joel gut? Was ist denn passiert?“ „Sie wissen doch, die Sache mit seinem kleinen Bruder!“, antwortete Cherry ihr, „Und dann taucht auch noch dieser Typ auf… das muss ihn ziemlich fertig machen!“ Ich war ihr dankbar, dass sie nicht erwähnte, dass ‚dieser Typ’ mein Vater war. „Er macht sich bestimmt große Sorgen um seinen Bruder, nach diesem schrecklichen Unfall!“, meinte Frau Wendiger mitfühlend und Tinkerbell zog seufzend den Ärmel meiner Jacke über den verbundenen Arm. Dann sah er mir in die Augen und fragte leise: „War es denn ein Unfall oder hast du einen Grund so überzureagieren?“ Ich sah ihn einen Moment lang einfach nur an. „Unfall?“, nuschelte ich dann, „Interpretierungsfrage!“ Warum wusste er das, wie kam er darauf? Die Welt hatte wohl beschlossen, mich nicht mehr in ihre Rätsel einzuweihen. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Frau Wendiger schob vorsichtig den Kopf herein. Sie sah sehr besorgt aus. Kein Wunder, ich hatte die ganze schöne Klassenfahrt mal wieder gründlich verdorben. „Joel?“, fragte sie und in ihrer Stimme lag etwas mütterliches, was ich nicht mehr so gut kannte. Dazu war meine Mutter viel zu früh gestorben. „Alles in Ordnung!“, meinte Tinkerbell und grinste sie an, „Ich rufe jetzt im Krankenhaus an und Shady geht schlafen!“ Mit diesen Worten zerrte er mich aus der Toilette und in unser gemeinsames Zimmer, wo Bogey bereits war. Bogey. Mein bester Freund und zugleich größter Feind lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Schon knallte die Tür hinter Tinkerbell und wir waren allein. Langsam ging ich auf ihn zu. Er schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen. Er starrte nur immer weiter an die uninteressante Decke und war mit den Gedanken ganz woanders. Vorsichtig berührte ich ihn. Sofort lag sein Blick auf mir. „Geht es dir gut, Bogey?“, fragte ich leise und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme ein wenig zitterte. Ich hatte keine Ahnung, wie er nun auf mich reagieren würde. Doch seine Reaktion war vollkommen anders, als ich erwartet hatte. Bogey sprang vom Bett, packte meine Schultern und brüllte mich an: „Du fragst mich, ob es mir gut geht? Verdammt, Shady! Du bist so unglaublich dumm, warum hast du das nie gesagt!“ Seine Stimme wurde immer leiser, doch das wütende Glitzern in seinen Augen blieb. „Warum hast du mir nie davon erzählt?“, fuhr er nun ganz leise fort und nickte zu meinem Arm hinüber, „Wieso hast du zugelassen, dass ich mich darüber lustig mache?“ „Ich…“ Ich brach ab. Noch nie hatte er mir solche Angst eingejagt, wie in diesem Moment. Ja, ich hatte Angst vor Bogey. Bisher hatten wir immer irgendwie freundschaftlich gestritten, auch wenn keiner von uns das zugegeben hätte. Aber nun war Bogey sauer auf mich und nun hatte er auch einen Grund dazu. Allerdings brauchte er eine Antwort, das war sogar mir klar. Schließlich hatte er gefragt. Mein Blick sank wieder gen Boden. „Du hattest immer so einen Spaß daran, dich mit mir zu streiten… Ich wollte ihn dir nicht verderben!“, nuschelte ich. Sein Griff um meine Schultern wurde etwas fester, während er mich näher zu sich heranzog. „Ich hätte auch einen anderen Grund gefunden dich fertig zu machen, Idiot!“, knurrte er. Ich nickte, er hatte ja recht. Wie immer hatte Bogey vollkommen recht… okay, er hatte nicht immer Recht, aber bei allem, was wichtig war, konnte niemand etwas gegen seine Logik sagen. Während ich da so auf den Boden starrend stand, ließ Bogey mich los und kletterte wieder auf sein Bett. Ich konnte kaum noch klar denken. Das einzige, was in meinem Kopf noch ganz klar zu hören war, war: Scheiße, jetzt ist Bogey wirklich sauer auf mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)