Midnight Sun von Sitamun ================================================================================ Kapitel 4: Nur Visionen ----------------------- Eigentlich hatte ich es nicht beabsichtigt, meinen Mitschülern gegenüber mich so abweisend zu verhalten. Noch weniger sollte ich es. Schadensbegrenzung war das wichtigste und beste, was ich hätte tun können, nachdem ich wieder zur Schule zurückgekehrt war, aber es fiel mir außerordentlich schwer, meine schlechte Laune unter der üblichen höflichen Maske der Schauspielerei zu verbergen. In unzähligen Gedanken hörte und sah ich, wie grauenhaft nahe mein Gesichtsausdruck an der Grenze zu unmenschlich war. Es war nicht gut. Doch ich konnte mich nicht beherrschen. Was tat ich da nur? Was hatte ich getan? Ich hatte sie vor dem sicheren Tod bewahrt und ich bereute es nicht. Lieber sie, die als einzige glaubte, unnatürliches gesehen zu haben als die ganze Schule, die mich dabei beobachtete, wie ich mich an ihrem frisch vergossenen und ach so süßen Blut labte. Das wäre sicherlich auffälliger gewesen. Aber ich hatte sie nicht gerettet, weil ich mich vor ihrem Blut retten wollte – an diese perfekte Ausrede hatte ich in jenem Augenblick nicht einmal gedacht. Ich hatte mich bereits einmal angelogen, wenn es um sie ging, auf ein zweites Mal wollte ich es nicht ankommen lassen. Nur was erzählte ich dann meiner Familie? Die Wahrheit? Dass ich riskiert hatte, unser Wesen zu offenbaren, weil mir das Leben dieses einen Menschen so viel bedeutete. Das würde ein lauter Streit werden; Rosalie und Jasper hießen mein vorheriges Verhalten schon nicht gut und jetzt hatte ich dem Ganzen wohl die Krone aufgesetzt. Sie behüteten ihre Gedanke, ließen mich nicht einblicken, doch das machte die Vorstellung der Auseinandersetzung mit ihnen nur noch schlimmer. Aber vielleicht war es genug, wenn meine Mutter auf meiner Seite stand. Carlisle wandte sich nie gegen sie und wenn er ebenfalls versuchte, mir zu helfen, dann standen die Chancen vielleicht besser, dass zumindest Rosalie mich in ihrem Zorn nicht nur mit Worten zerriss. Hoffentlich konnte sie sich zumindest beherrschen, bis wie zu Hause angekommen waren. Aber sicherlich würde sie das. Ihre offensichtliche Selbstbeherrschung, die ich nicht zu haben schien, war für sie schon der erste Schlag in unserem Streit. Ich seufzte innerlich. Die Gedanken änderten sich nicht; immer noch zeigten sie mich mit diesem fürchterlich grimmigen Gesichtsausdruck, mit diesen pechschwarzen Augen. Nein, nur fast schwarz, aber Menschen konnten den schwachen, goldenen Schimmer nicht erkennen. Ich hörte, dass Mr. Banner darüber nachdachte, mich zu fragen, wie es Bella ging, ob es ihr und Tyler bald wieder besser gehen würde, aber genau wie all die anderen schreckte er instinktiv vor mir zurück. Er würde nachher im Sekretariat nachfragen. Wir waren doch Monster. Die Stunden vergingen und ich achtete nicht im Geringsten auf das, was weiter geschah. Was sollte ich tun? Was meinen Geschwistern sagen? Was mit Bella tun? Bella versprach, nichts zu sagen. Woher sollte ich wissen, dass sie die Wahrheit sagte? Warum aber sollte sie lügen? Nichts ergab Sinn – sie ergab keinen Sinn. Niemand würde ihr glauben, dass ich den Van mit bloßen Händen aufgehalten hatte (das war keinem Menschen möglich). Doch ein Gefühl in meinem Inneren sagte mir, dass sie wahrhaftig ehrlich zu mir war. Aus irgendeinem Grund würde sie für mich schweigen. Wie sehr wollte ich ihre Gedanken lesen können! Welch Folter, es nicht zu können! Es ersparte mir so viel fürchterlichen Ärger! All diese Fragen, die mich nicht losließen! Langsam, als es zum Ende der letzten Stunde klingelte, ging ich aus dem Gebäude in Richtung Parkplatz, einen Schritt nach dem anderen, die Unebenheiten des Bodens hatte ich noch sie so deutlich gespürt wie heute. All die kleinen Steinchen, die in meinem Weg lagen, zerbrachen unter meiner Kraft – das knirschende Geräusch, das dabei entstand, wurde von dem freudigen Gerede übertont: Endlich Schule aus! Endlich nach Hause! Endlich der Streit mit der Familie! Ich seufzte, war beim Wagen angekommen und schloss die Türen auf. Meine Geschwister sagten nichts, stiegen lautlos sein und ich verdrängte die Gedanken all der anderen, wollte sie nicht hören und es blieb nur ein leises Summen übrig, aus dem ich keine einzelne Stimme herauszuhören vermochte, mochte sie auch noch so vertraut sein. Ich ließ den Motor an, fuhr los, erst unter der Geschwindigkeitsbegrenzung, dann, auf dem Weg aus der Stadt heraus, bei weitem drüber. Die Zeit verstrich einigermaßen schweigend, stiller als zuvor, da sich das Summen auf einige wenige Stimmen beschränkte, doch je mehr ich versuchte, es zu ignorieren, desto lauter wurde Rosalie. Ich verzog das Gesicht bei den Ausmaßen und vor allen Dingen der Lautstärke, die die Parade von Schimpfwörtern in ihrem Kopf erreichte, während ihr Gesicht keinerlei Regung zeigte. Ich trat fester auf das Gaspedal und mein Volvo gehorchte problemlos – wie wütend auch immer sie auf mich sein mochte und das auch noch berechtigt, ihr Stolz für ihr makelloses Tuning an jedem von unserem Wangen drang dumpf durch ihre Schimpfwörter hindurch. Doch eben wegen ihres Tunings waren wir schneller zu Hause als mir lieb war, die zweite Verdammnis rückte im Millisekundentakt näher. Ich hielt in unserer Garage an, wir stiegen aus und dennoch blieb es stumm. Kein Wort wurde gesagt, nur ich seufzte ein weiteres Mal. Ein langer Abend, der mich erwartete. Ohne jegliche Hast ging ich meiner Familie in das Esszimmer hinterher, nur gebraucht für Diskussionen, weil kein einziger jemals zu Hause aß. Ich hatte den Raum gerade erst betreten, saß noch nicht einmal, als Rosalie ihre Kaskade an Beleidigungen in ihren Gedanken mit ihrem Mund zum Ausdruck brachte: „Edward, wie konntest du nur? Du gottverdammter, seelenloser Idiot!“ Au. Das war unter die Gürtellinie, aber ich sagte nichts. Sie hatte jedes Recht dazu, mich zu beschimpfen. „Warum hast du für einen Menschen – einem Wesen, das schon zu deiner Ernährung beitrug – unsere Aufdeckung riskiert? Was hast du dir dabei bloß gedacht?“ Nicht sie. Alles und jeder, nur nicht sie. Doch ich schwieg – hätte ich das gesagt, hätte sie mich vermutlich wirklich angegriffen. Rosalie beruhigte sich nicht durch mein Schweigen, ihre Blicke erstachen mich. Antworte, du billiger Abklatsch von einem Vampir! „Es tut mir leid, Rosalie. Ich wollte nicht die Aufdeckung unserer Familie riskieren durch mein unüberlegtes Handeln. Es tut mir aufrichtig leid. Ich habe nicht nachgedacht.“ Mein Blick wanderte über jedes Familienmitglied und ich blieb bei meinem Vater hängen. Zog er vor, dass ich auf diese Weise gehandelt hatte? Das hatte er zumindest im Krankenhaus gesagt. Er konnte unmöglich wollen, dass ich lieber ihr Blut getrunken hätte. „Das hättest du mal lieber gemacht, als du noch die Möglichkeit dazu hattest!“, fauchte sie und unterlegte ihre Worte unbewusst mit einem Knurren. Wie sehr unser Wesen doch von dem Raubtier, das wir sind, beherrscht wurde. „Es tut mir leid“, wiederholte ich. „Von ganzem Herzen. Ich werde die volle Verantwortung für mein Handeln übernehmen.“ „Von ganzem Herzen? Dein Herz schlägt seit 100 Jahren nicht mehr!“ „Deins genauso wenig!“ Mein Ton war schärfer als beabsichtigt, doch sie ging nicht darauf ein: „Und wie willst du das machen? Wieder weglaufen?“ In ihren Gedanken sah ich, dass es in ihren Augen so etwas wie „Verantwortung übernehmen“ für meine Tat nicht gab. Kein Verzeihen. Immer mit dieser Schuld leben und selbst das war ihr nicht genug. „Vor einem Menschen? Du bist so unglaublich feige, Edward.“ „Rosalie, lass das“, mischte sich Carlisle mit fester Stimme ein, gebietend, aber nicht parteiisch. „Ich ziehe jede Lösung vor, die beinhaltet, dass Edward bei uns bleiben kann.“ Es schmerzte ihn, mich wieder gehen zu lassen – ein drittes Mal. Ich war sein Sohn, mehr als alle anderen, auch wenn er für jeden von uns sein Leben lassen würde. „Aber wenn Edward bleibt, dann ziehen wir alle um und ich will nicht schon wieder von vorne anfangen. Wir haben uns gerade erst eingelebt“, jammerte sie und sah unseren Vater flehend an. Ihre Blicke sagten genau das, was ich in ihren Gedanken hörte: Trenn dich von ihm – nur für ein paar Jahre. Dann müssten wir eh wieder umziehen. Warte bitte. Doch selbst wenn Carlisle ihre Gedanken wirklich wüsste und nicht seiner eigenen Interpretation vertraute, würde er ihr nicht zustimmen. Dieser Mann war zu gut zu mir. „Und wenn wir alle bleiben – woher sollen wir wissen, dass dieser Mensch den Mund hält? Wir sind alle gefährdet durch seine Dummheit!“ Jetzt war ihre Stimme wieder voller Wut auf mich. „Bella wird nichts sagen.“ Weiß der Geier warum, aber ich glaubte ihren Worten, die sie mir im Krankenhaus gesagt hat. Es war ein reines Gefühl, dem ich ganz vertraute. „Du kennst ihre Gedanken nicht. Woher willst du das wissen?“ „Da hat sie leider Recht, Edward“, murmelte Emmet. „Woher wollt ihr wissen, dass sie etwas sagt?“ „Es wäre nur natürlich – wer würde so etwas schon für sich behalten?“ Es wäre nur natürlich … ich lachte fast. Selbstverständlich wäre es nur natürlich, aber Bella war nun mal nicht natürlich. Sie handelte nicht nach normalen menschlichen Trieben. Bis jetzt. Wenn sie jetzt etwas sagte, auch wenn ihr keiner glauben würde, könnte ich es ihr nicht vorhalten – es wäre nur verständlich. „Und wir müssen zum Schutz unsere Familie dafür sorgen, dass sie nichts sagt.“ Zum ersten Mal sprach Jasper, doch seine Gedanken trafen mich schlimmer als seine Worte. Wie viele Möglichkeiten er durchging, dieses Mädchen zu töten! Und jede war fürchterlich effektiv in jeder erdenklichen Weise! Und kaum, dass er zu Ende gesprochen hatte, hörte ich dazu parallel exakt denselben Gedankengang – von Rosalie. Sie beide planten den perfekten Mord an meinem neuen Mittelpunkt, weder blutig noch schmerzhaft. Einfach. Schmerzlos. Schnell. Unnachweisbar. Und wenn sie zusammenarbeiten würden, wäre es noch… „Hört auf! Ihr könnt doch nicht einfach einen Menschen umbringen!“ Ich sprach aus, was sich bereits in den Gedanken Carlisles als Bild geformt hatte – als Bild, weil er trotz seines messerscharfen Verstandes sprachlos war wegen des greuelhaften Verbrechens, das seine Kinder planten. „Aber wenn sie –“ „Dann ziehen wir um.“ Carlisle tadelte sie nicht mit Worten, aber sein Blick war deutlich genug. Rosalie und Jasper schwiegen, doch ihre Gedanken verrieten sie. Sie gaben ihren Plan nicht auf. „Alice, kannst du nicht sehen, ob sie etwas sagen wird? Wir müssen nicht sofort wegziehen; wir können abwarten“, fragte Esme, ihre Stimme getränkt mit all ihrer Sorge um ihre Kinder und das Menschenmädchen. „Was bringt das? Bei der nächsten Gelegenheit wird Ed–“, begann Rosalie und nur mit einem minimalen Bereich ihres Gehirns bemerkte sie, dass sie ihren Zorn auf mich an ihrer Mutter ausließ, doch Esme reagierte nicht darauf. Oder kam nicht dazu, weil Alice Rosalie unterbrach: „Ich kann gar nichts sehen! Nicht das Geringste! Denn jede Vision von Bella endet mit ihrem Tod, herbeigeführt nicht durch Edward!“ Sie ließ keinen Zweifel daran, wen genau sie meinte; ihre Blicke waren niederschmetternd. Ich schaute in ihren Gedanken nach Visionen und tatsächlich – da war immer wieder Bella am Boden, immer wieder Jasper und Rosalie. Doch noch während ich die Visionen sah, änderten sie sich und Belas lebloser Körper lag nicht mehr auf dem Boden (dieses Bild brannte sich schmerzlich in meine Erinnerungen und in meinem Herzen spürte ich einen scharfen Stich), sondern an meiner Seite, geschützt vor Angriffen meiner Geschwister. Egal, welche Taktik Jasper sich ausdachte, ich reagierte auf jede und brachte sie zum Scheitern. „Das gefällt mir schon eher“, murmelte Alice, die Augen verloren auf irgendeinen Punkt gerichtet, ihre Augenbrauen dennoch weiterhin missfallend zusammengezogen, aber ihre Visionen änderten sich nicht. „Jasper, bitte“, bat sie nach einigen Minuten mit einem entnervten Seufzen. „Gib ihr eine Chance. Vertrau mir bitte. Und du auch, Rosalie. Für einen einzigen Augenblick“, fügte sie an ihre Schwester hinzu, doch die schien im Gegensatz zu Jasper nicht bereit von ihrem Vorhaben abzulassen. Ich musste nicht Gedanken lesen können, um auf ihrem Gesicht ihren inneren Kampf zu sehen; Rosalie widerte es gerade zu an, ihr problemloses Fortbestehen in Forks einem Menschen anzuvertrauen, über den ich nichts weiter wusste als dass ich seinem Sirenengesang kaum widerstehen konnte. „Ich verbiete euch, diesem Kind grundlos etwas anzutun. Sie hat uns nichts getan und wir haben kein Recht, einem Menschen sein Leben zu nehmen“, sprach Esme leise. Sie sah auch niemanden dabei an; ich spürte durch Jaspers Fähigkeiten, wie unwohl sie sich fühlte, wenn sie ihre Autorität in dieser Weise gebrauchte, dennoch wagte Rosalie es nicht, sich zu widersetzen. Widerwillig gab sie es auf, Bella aus dem Weg räumen zu wollen. Jaspers Kapitulation folgte ihrer nur nach wenigen Augenblicken, eingeschüchtert unter dem mütterlichen Verbot und Alices Blicken. „Danke“, sagte Alice, sowohl an ihren Mann als auch an Rosalie und Esme gerichtet; Carlisle und Emmet sahen schweigend zu, als Alices Augen sich wieder in der Zukunft verloren. „Schon viel besser“, murmelte sie für sich, ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen. „Nein, sie wird nichts sagen …“ Alice hatte Recht. Ihre Visionen wandelten sich, Jasper und Rosalie wurden in den Hintergrund gedrängt, verschwanden vollständig. Die dunkle Gasse ward eine sonnengetränkte Lichtung, strahlend in ihrer Blütenpracht, doch all ihre Schönheit verblasste im Angesicht der zwei Personen in ihrer Mitte. Ein junger Mann und eine junge Frau. Ihre Hände miteinander verschlungen. Ein Bild völliger Harmonie und des Verliebtseins, das laut klirrend zerbrach, als ich Bella in der jungen Frau erkannte. Auf ihrer Haut und ihrem Haar tanzten bunten Lichter, die das Sonnenlicht warf, gebrochen auf der Haut des jungen Mannes. Meiner Haut. Ich, ein Vampir, gefoltert durch den scheußlichsten Teufel aus seiner eigenen Hölle, zusammen mit eben diesem Teufel in einem Moment süßester Liebe. In den Augen Bellas – oder überhaupt in ihrer ganzen Körperhaltung – lag Wissen. Ich schauderte. Natürlich wusste sie, was ich war, wenn ich mich ihr im Sonnenlicht zeigte; es war genauso offensichtlich, als hätte ich vor ihren Augen das Blut eines Menschen getrunken (als würde ich das je vor ihr machen. Jedes Blut würde mit dem Geruch von ihrem in der Nase einfach schrecklich schmecken). Doch Bella fürchtete mein Wesen nicht und ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, ihre braunen Augen strahlten mit der Sonne um die Wette. „Und so verliebte sich der Löwe in das Lamm …“ Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, was meine Stimme da sagte, während mein zukünftiges Ich wie gebannt in Bellas Augen sah und sich einfach nicht losreißen konnte. Es fühlte sich an, als würde es mir körperliche Schmerzen bereiten, wegzusehen – sogar jetzt, da es noch gar nicht geschehen war. Ich liebte Bella? Bella liebte mich? Ich liebte Bella. Egal, wie rum ich es drehte, es klang dennoch absurd. Ein Menschenmädchen sollte es nach mehreren Dekaden endlich geschafft haben, mein Herz zu erreichen? Unlogisch. Unmöglich. Ich widerte mich selbst an, dass ich Rosalie innerlich in diesem Punkt zustimmte. Was hatte dieses Mädchen, was andere nicht hatten? Was gab es an ihr, was mich mit dieser offensichtlichen Liebe an sie band? Das Bild verschwand nicht, schweißte sich unabänderlich in meine Erinnerungen. Ich sah es immer länger an und Ewigkeiten verstrichen dabei, obwohl ich genau wusste, dass bisher nicht einmal eine Sekunde vergangen war. Ich sah es, und ergab immer mehr Sinn. Ich kannte ihre Gedanken nicht, ihr Blut war die reinste Verführung, aber sie war ein lieber Mensch, herzensgut. Wer konnte sie nicht lieben? Warum sollte ich sie nicht lieben? Doch ihre roten Wangen in dem süßen Bild waren Grund genug. Ein Mensch war in meinen Armen nicht sicher. Und von allen am wenigsten sie. Sie war diejenige, die am meisten vor mir geschützt werden musste – am sichersten war sie weit, weit weg von mir und wenn nicht das, dann sollte sie mich nicht leiden können. Das Beste … „Nein. Das ist nicht möglich!“ „Das sehe ich anders“, sagte Alice und lächelte dabei wissend. Natürlich sah sie es anders, obgleich sie genau wusste, dass ihre Visionen rein subjektiv waren; sie glaubte dennoch fest daran. Edward, siehst du denn nicht? Sie weiß – oder wird wissen –, was du bist und sie liebt dich trotzdem so sehr. Warum lässt du es nicht zu? „Nein, das kann ich nicht …“ Das konnte ich ihr nicht antun. Was ist daran falsch? „Alles! Das ist nicht möglich!“ Das durfte nicht geschehen, doch dieses Bild verschwand einfach nicht. Ich sah es immer noch und es wurde immer schöner, die Vorstellung immer süßer, ihren zerbrechlichen Körper trotz meines grausamen Seins in den Armen zu halten. Wie konnte ich ihr nur so etwas antun wollen? Wie konnte sie so etwas nur wollen?! Ich hatte gedacht, Bella heute ein wenig besser verstanden zu haben, doch das war jetzt alles dahin. Ich schreckte aus meinen Gedanken auf, als Alice erneut eine Vision hatte. Dieses Mal zeigte sie nicht mich, sondern Alice selbst, neben ihr Bella und sich lachten beide herzlich. „Was? Was soll das?“ Sie antwortete nicht. Ihr Glück schien noch zu wachsen, als ihre Vision sich leicht änderte. Bellas Wangen, gerade noch so lieblich rot angehaucht, waren jetzt weiß wie meine, ihre Augen genauso golden und das Sonnenlicht auf ihrer und Alices Haut warf tanzende Lichter auf ihre Umgebung. „Nein! Das darf nicht passieren! Nie!“ Ich schüttelte den Kopf, als würde es irgendetwas bringen, als könnte es meine zukünftige Entscheidung für dieses Mädchen beeinflussen. Du kannst nichts dagegen tun. Es ist unabänderlich. „Nein. Ist es nicht –“ „Um was geht es hier eigentlich?“ „ – dann gehe ich eben wieder. In ein paar Jahren ist sie mit der Schule fertig und dann –“ „Um was geht’s? Alice!“ „ – kann ich wieder zu euch zurückkommen. Wir müssten dann eh wieder umziehen. Ich –“ „Edward! Sag endlich was!“ Doch stattdessen minutenlanges Schweigen, das Emmet vermutlich noch mehr störte als das Gespräch seiner Geschwister, das nur zur Hälfte gesprochen war. Ich glaube nicht, dass du gehen kannst. „Ich muss es versuchen.“ „Nein, Edward. Das kannst du nicht“, sagte sie sanft und lächelte für einen Augenblick, dann waren ihre Augen hart und durchbohrten mich geradezu. Und wehe dir – nimm sie mir nicht weg. Ich werde sie auch so sehr lieben … wir „Auch lieben?“ Ich flüsterte nur – ich liebte sie? Sie war so ein liebes Mädchen und verdiente besseres als mich. Auch lieben. Alice liebte Bella. Und Bella würde auch Alice lieben. So sehr, dass sie keine Angst vor ihrem Wesen hatte, sogar gerne in ihrer Nähe war. Und mich würde sie so sehr lieben, dass sie ihr Leben für mich aufgeben würde. Sie liebte mich mehr als sich selbst. Wie konnte ich so etwas nur verdient haben? Schweigend versuchte ich zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Oder offensichtlich nur ich nicht begreifen konnte, denn Rosalie lachte laut auf, als sie verstand, worum es ging. Ein harter, erschrockener Laut, kein Stückchen amüsiert: „Edward liebt Bella? Er wird sich in dieses Mädchen verlieben? In einen Menschen?“ Es passierte plötzlich so viel auf einmal. Als Rosalie die Worte aussprach, hörte ich so viele Fragen auf einmal, gesprochen und gedacht, und für einen Moment schloss ich meine Augen, um ihre Stimmen auseinander zuhalten. Die Stimme Esmes war die lauteste, übertönte Rosalies Beleidigungen und Carlisles schreiende Sprachlosigkeit. Ihre Freunde, ihr Glück, darüber, was mir widerfahren würde, schien für sie alles Negative aus der Welt zu drängen. So viele unterschiedliche Gedanken, so unterschiedliche Lautstärken. Diese wenigen, ach so vertrauten stimmen waren ein Klang und dann doch wieder nicht. Meine eigene Verwirrung war fast schlimmer als der Rest. Ich flüchtete aus dem Haus. Mit meiner Familie sprach ich an diesem Tag nicht mehr; ich kam nicht einmal mehr vor der üblichen Zeit, zu der wir zur Schule fuhren, nach Hause, sondern rannte unablässig durch die Wälder und jagte. Doch meinen Durst, den einzigen Bestandteil meines Lebens, der nie verschwinden würde, vermochte ich nicht zu stillen. Es war bereits nach Mitternacht, als ich merkte, dass ich noch wochenlang weiter Tierblut – oder sogar Menschenblut – trinken könnte und mein Durst einfach nicht nachlassen würde. Es war nicht Blut, nach dem mein Wesen dürstete, sondern sie. Ihr ganzes Wesen, ihr Geruch, ihr Aussehen, ihre Stimme, ihr Charakter selbst, einfach alles von ihr war es, das ich sehen wollte, bei mir haben wollte, das Bild jener Vision immer vor Augen in unnatürlich grellen Farben. Doch obschon ich das verstand und auch einsah, schreckte ich dadurch noch mehr vor der Erfüllung der Vision zurück. Ich würde nie jemanden meine Lebensweise aufzwingen, selbst oder gar erst recht nicht wenn nach ihr verlangt werden würde. Selbst, wenn dieser jemand dem Tode nahe war. Nie. Dieses Schicksal verdiente niemand. Noch weniger sie. Aber wie sollte ich es verhindern, wenn sie doch eine so starke Wirkung auf mich hatte? Mich fesselte, obwohl ich mich mit meiner übermenschlichen Kraft dagegen wehrte und doch auf ganzer Linie scheiterte? Ich konnte nicht wieder weglaufen und meinen Eltern wieder Sorgen bereiten, wusste ich doch, dass sie es zu sehr an damals erinnerte, als ich … Wie sonst auch ließ ich den Gedanken fallen und schüttelte innerlich den Kopf. Was auch immer war, ich würde nicht weglaufen. Ich blieb hier, bis sie mit der Schule fertig war. Dann würden wir in einen anderen verregneten Teil der Erde umziehen und sie in einen sonnigen Ort, wo der Regen und die Kälte ihr nicht die Stimmung verderben konnten. Wir würden einander nie mehr wieder sehen. Sie würde alt werden und sterben und ich lebte weiter wie bisher, vollkommen unberührt von ihrer Macht, sie nur noch existent in meinen Erinnerungen. Nichts weiter als das Leben eines Unsterblichen führen. Doch für den Augenblick war ich noch hier, würde noch einige Jahre bis zum besagten Schulabschluss von ihr mit ihr hier sein. Eine Zeit, die es zu überstehen galt, in der ich ihr nicht zu nahe kommen durfte. Es bedurfte doch nur einer allzu schwachen Bewegung und ihr Leben war beendet. Wie sollte das gut gehen? Das konnte nicht gut gehen. Gab sie sich mir hin, wäre sie verdammt bis in alle Ewigkeiten. So durfte es mir ergehen – ich hatte es mehr als nur verdient –, aber doch nicht ihr. Ein Leben als Mensch mit all seinen Höhen und Tiefen wartete auf sie und sie sollte es auch leben, so, wie es das Schicksal vorschrieb. Wer war ich, dass ich mir das Recht anmaßte, über ihr Leben derart zu bestimmen? Wie konnte ich nur? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)