Midnight Sun von Sitamun ================================================================================ Kapitel 3: Frostiges Klima -------------------------- Selbst bis zum Abend dieses Tages, der für mich von so unglaublichem Erfolg gekrönt war, hatte ich es geschafft, den Fragen meiner Geschwister auszuweichen. Ich wollte nicht darüber reden und vor allen Dingen nicht dann, wenn sie mich davon überzeugen wollten, dass ich all dieses Leiden nicht ertragen musste. Ein kleiner Mord wäre nicht der Weltuntergang - aus ihrer Sicht. Um all das zu erfahren, musste ich nicht direkt mit ihnen reden, musste ihnen kein Stück meiner Aufmerksamkeit schenken. All das konnte ich auch problemlos so hören. Sie schrieen mich in ihren Gedanken geradezu an. Ich seufzte. In Momenten wie diesen wünschte ich mir, ich könnte meine Gabe einfach ausstellen, müsste nichts von all dem mitbekommen, dass sie mir zwar sagen, ich aber nicht hören wollte. Ich ignorierte ihr Drängen, endlich den Mund aufzumachen, auf dieselbe Weise, wenn sie versuchten, mich aus ihren Gedanken raus zu halten. Sie schienen sich wohl nie entscheiden zu können, ob sie meine Gabe als Fluch oder Segen sehen sollten. Aber dennoch. Mist, verdammter. Was dieses kleine Menschenmädchen (mit diesem unglaublich und fürchterlich süßen Blut) für ein Chaos in mir anrichten konnte, das ich meine Geschwister dermaßen zu ignorieren versuchte – ein Gedanke, der in meinem Kopf in der Repeatschleife zu laufen schien. Ich war fast schon erleichtert, nahezu höchsterfreut darüber, dass meine Gedanken immer nur allein mir gehörten. Gäbe es noch einen anderen Gedankenleser in der Familie – oh, was wäre er doch genervt von mir. Ständig und immer nur sie in meinem Kopf, das unerträgliche Brennen in meinem Hals und der Klang ihrer honigsüßen Stimme im Ohr, ihr Gesicht, so schön in seiner Form und seinen Proportionen, vor meinen Augen. Und wie schön sie war, wenn ihre Wangen von ihrem Blut rot angehaucht waren. Wie hatte ich es genannt? Genau. Absurd schön. Das passte perfekt. Ihre Schönheit schwankte in Bereichen, für die ich keine Worte mehr finden konnte; geblendet durch ihr Aussehen und ihrem Duft, mit dem sie die Luft in Brand setzte. Unbeschreiblich in jeder erdenklichen Form. Bezaubernd. Fesselnd. Und wie fesselnd! Egal, wie sehr ich mich zu Anfang auf etwas anderes zu konzentrieren versuchte, ich scheiterte mit jedem neuen Versuch auf ganzer Linie. Immer nur sie, sie sie. Und jetzt ließ ich es zu, bestaunte ihr Wesen in meinen Gedanken und versuchte mehr zu sehen, als ich es vorhin gekonnt hatte, zu abgelenkt durch die Versuchung. Versuchte mehr zu lesen, doch es war hoffnungslos. Wie sollte ich es schaffen, objektiv zu bleiben, wenn ich auf meine subjektive Deutung zurückgreifen musste, mit der ich doch so oder so danebenlag? Das hatte sie mir bewiesen. Sehr deutlich sogar. Immer und immer wieder tat sie nur das, was ich nicht erwartet hatte. So viel zu einem guten Menschenverständnis. Bei ihr kam ich mir vor wie ein kleiner, unwissender Junge, völlig auf sich selbst gestellt und ohne die übernatürlichen Fähigkeiten, die sein Leben seit über einem Jahrhundert sowohl erleichtern als auch erschwerten. Unheimlich erschwerten. Es grenzte fast ein Wunder, dass dieser kleine, unwissende Junge es geschafft hatte, sich nicht seinen Trieben hinzugeben, von denen ein Teil in ihm sich kontrollieren lassen wollte, und das Schulgebäude verlassen zu haben, ohne irgendjemanden – ohne sie – umgebracht zu haben. Nein. Es war ein Wunder. Ein Wunder, dass selbst der schlimmste Teufel aus seiner Hölle seinen Willen nicht bezwingen konnte. Ich schüttelte den Kopf bei diesen Gedanken. Sie war kein Teufel mehr. Bella war an diesem einen Tag zu einem Menschen geworden. Jemand, der meine Neugier geweckt hatte und den ich zu verstehen versuchte, den ich verstehen musste, weil die Neugier genauso unerträglich brannte wie der Durst. Doch blieb die Frage übrig, ob ich jeden Tag aufs Neue so stark sein konnte wie ich heute war. War es wirklich das Risiko wert, immer und immer wieder herauszufinden, wie stark ich war? Eine Stimme in mir schrie laut „Ja“. Alles war es wert, diesen Menschen näher kennen zu lernen. Dennoch könnte ich mich im selben Augenblick für diesen Gedanken selbst beißen – ich würde meine Familie nicht riskieren wollen. Nichts war es wert, meine Familie, besonders meine Eltern, so zu enttäuschen, wenn ich versagte. „Edward, verdammt! Beherrsch dich endlich! Deine Gefühle treiben mich noch in den Wahnsinn!“ Ich blinzelte, schüttelte abermals den Kopf, als könnte es meine Gedanken vertreiben. Wie angenommen blieb diese Aktion erfolglos, doch ich schaffte es zumindest, meine Umwelt deutlicher wahrzunehmen. Ich hatte erstaunlicherweise nicht das Alleinsein gesucht, als wir nach Hause kamen, sondern saß unten im Esszimmer, einem Raum, den meine Mutter Esme größtenteils für ihre Arbeiten gebrauchte, wenn Jazz und Em es mit ihren Spielereien im Wohnzimmer übertrieben, sie aber dennoch nicht eingreifen wollte. So wie jetzt. Aber vielleicht war sie auch einfach nur besorgt um mich und wollte deswegen in meiner Nähe sein. Liebevoll, wie sie war, wartete sie geduldig darauf, dass ich anfing zu reden, wenn ich etwas sagen wollte. Tat ich aber nicht. Ich las ein Buch, doch ich glaube, ich war nicht über eine Seite hinausgekommen – worum ging es doch gleich noch mal? Zu sehr war ich stundenlang versunken und beinahe ertrunken in den Gedanken an jenes Mädchen, das mich mit seinem ganzen Wesen zu kontrollieren schien. Auf so unterschiedliche Weisen. „Edward!“ Jazz knurrte jetzt, wütend darüber, dass ich nicht einmal versuchte, meine Gefühle im Zaun zu halten. Ein Empath als Bruder war vielleicht genauso nervig wie ein Gedankenleser. Von Neugier zum Blutdurst. Vom Blutdurst zur Neugier und immer wieder hin und her. Nervst du mich mit Absicht? Dieses Mal machte er sich nicht die Mühe, seine Gedanken laut auszusprechen, aber auf diese Weise waren seine Worte fast schon überzeugender. Leise lachend schlug ich das Buch zu, ließ es auf dem Tisch liegen und ging aus dem Haus. Die Straßen waren mit Glatteis überzogen, als meine Geschwister und ich am nächsten Morgen in meinem Auto zur Schule fuhren. Vielleicht aus Langeweile, vielleicht, weil Em es wollte, vielleicht auch einfach grundlos, fuhr ich extravaganter als sonst, ließ den Wagen über das Eis schlittern ohne auch nur im Ansatz es möglich zu machen, die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Es war nichts besonderes, aber Em freute sich trotzdem ungemein wie ein kleines Kind, wie ich einerseits in seinen eigenen als auch in Jaspers Gedanken hören konnte, der die Gefühle unseres Bruders aus erster Hand erfuhr. Doch hätte ich es trotz übermenschlicher Sinne und Kraft es geschafft, meinem Wagen auch nur einen einzigen Kratzer zuzufügen, hätte die Lautstärke von Ems Lachen uns noch mehr verraten als ich es jemals gekonnt hätte, wäre ich auf Bella an ihrem ersten Tag hier losgegangen. Allerdings hätte ich es mir selbst auch nie verzeihen können, würde ich selbst meinem Auto dermaßen schaden – selbst wenn Rosalie es innerhalb weniger Stunden wieder repariert hätte (innerhalb von Stunden, weil sie es liebte, an Autos in menschlicher Geschwindigkeit rumzubasteln). Als ich in viel zu hohem Tempo über den Parkplatz fuhr und den Wagen problemlos zum Stehen brachte, konnte ich mein für diese Stadt viel zu außergewöhnliches Fahrmanöver aus so vielen unterschiedlichen Perspektiven sehen. Beeindruckt und genervt. „Danke, Bruder – genau das, was ich wollte. Schau dir diese langen Gesichter an. Wer von ihnen ist neidisch?“ Ich verdrehte die Augen. Kleinkind. „Alle, Em. Und ganz besonders neidisch sind sie auf dein gutes Aussehen.“ Er lachte laut und stieg dann aus, blieb aber genauso wie wir alle beim Auto stehen. Warum sich beeilen, wenn man Ewigkeiten vor sich hatte? Das war sein Motto, wenn es um Schule ging. Bei allen anderen Aktivitäten, besonders die, an denen Rose beteiligt war, konnte er gar nicht schnell genug sein, wenn es darum ging, sie erst einmal anzufangen. Doch ich selbst hatte es auch nicht eilig. Sie war noch nicht da. In genug Gedanken konnte ich lesen, wie ungeduldig ihre Ankunft erwartet wurde und dazu konnte ich ihren alten Transporter nirgends entdecken und meinen Augen wäre er sicherlich nicht entgangen. Und wieder einmal schweiften meine Gedanken weg von meinem kindischen Bruder, weg von dem, was wir waren, und zurück zu ihr, die sie nicht da war. Noch nicht. Doch lange würde es nicht mehr dauern. Über all die Geräusche hinweg konnte ich bereits ihren alten und viel zu lauten Motor hören. Bei ihrer Kilometeranzahl pro Stunde dauerte es sicherlich noch Ewigkeiten für mich, bis sie endlich da war. Ich sie wieder sehen und in der Luft verbrennen konnte, die sie mit ihrem Geruch anzündete, ich sie mehr fragen und in ihrem Gesicht lesen konnte, was mir zu hören nicht vergönnt war. Ich wollte lernen, sie zu verstehen, mit jedem Herzschlag von ihr ein wenig mehr. Doch dafür müsste sie erst einmal ankommen und jede Sekunde, die sie nicht hier war, wuchs meine Ungeduld. Wie konnte nur innerhalb eines meine ganze Welt plötzlich sie als Mittelpunkt haben? So sehr wie ich jetzt auf sie fixiert war, war ich nicht einmal während meiner „rebellischen Phase“ auf … Ich ließ den Gedanken sein, nur ungern daran erinnert, und konzentrierte mich auf das näher kommende Geräusch ihres nahezu brüllenden Motors. In seinen Gedanken hörte ich, wie wütend Jasper schon wieder auf mich war, weil ich meine Gefühle offensichtlich nicht beherrschen konnte. Ich merkte gar nicht, wie schnell meine Stimmung zu schwanken schien, aber Jaspers Talent zeugte eindeutig von der Wirklichkeit. Er log mich nicht an, hoffte er doch, ich käme zur Vernunft, wenn ich die Wahrheit wüsste, über die ich anscheinend seit unserer Ankunft ganz bewusst hinweg sah. Ich versuchte ihm zuliebe meine Gefühle ein wenig zu beherrschen, auch für ihn eine Art Pokerface aufzulegen, war er doch mein Bruder, aber ich war nicht sonderlich erfolgreich. Seufzend und mit einem entschuldigenden Lächeln blickte ich kurz zu ihm, doch er schüttelte nur den Kopf und verdrehte die Augen. Du bist hoffnungslos, Edward. Ich lachte fast über seinen Kommentar. Wenn es um sie ging, war ich wirklich hoffnungslos, auf der einen Ebene mehr als auf der anderen. Doch das sagte ich nicht. Langsam gingen Rosalie und Emmet Richtung Schulgebäude, als sie ihren Transporter besonders vorsichtig auf den Parkplatz fuhr, an mir vorbei zu einer Parklücke auf der gegenüberliegenden Seite. Hat sie mich gesehen? Hat sie mich nicht gesehen? Ignorierte sie mich? Warum sollte sie? Warum sollte sie nicht? Ich glaubte es nicht. Unwahrscheinlich. Sie hielt ihren Wagen an, das laute Geräusch verstummte und der Motor erstarb. Es dauerte noch einige wenige kurze Augenblicke, bevor sie endlich ihren Wagen verließ, noch einmal auf den Sitz griff und ihre Tasche herausholte, sie über ihre Schulter hing und die Tür zustieß, sich aber dennoch weiter an ihr festhielt. War der Boden unter ihren Füßen gefroren? Niemand außer ihr schien besonders große Probleme zu haben. Stand sie an einer besonders glatten Stelle? Ihr Blick ruhte auf einem der vorderen Reifen, in ihm ein seltsam gerührter Ausdruck, als hätte die Schneekette auf eben jenem Reifen eine besondere Bedeutung für sie oder als führte sie gar eine Beziehung mit ihr. Ihre Augen so liebevoll und voller Zuneigung – an was sie wohl gerade dachte? Es war unmöglich zu erraten. Ich wollte es nicht versuchen, würde ich doch eh nur scheitern, aber dennoch gingen mir unzählige Möglichkeiten durch den Kopf, eine unwahrscheinlicher als die andere. Nichts ergab Sinn. Wie gerne würde ich jetzt ihre Gedanken lesen können! Doch im nächsten Moment wurden alle meine Fragen aus meinem Kopf verbannt. Alices Gedanken verdrängten meine eigenen, ein Bild einer Vision das einzige, was ich sah, ein Bild dessen, was noch nicht passiert war. Laut holte Alice Luft. Es klang, als würde sie schreien wollen. Wie hatte ich das nicht merken können? Ein blauer Van war auf den Parkplatz gefahren, in einem viel zu hohen Tempo, und er würde über die Stelle Eis fahren, die ich benutzt hatte, um schwungvoll auf meinem Parkplatz zu landen. Aber ich hatte hundert Mal bessere Reflexe als der Fahrer, hundert Mal bessere Augen und unter meiner Führung hätte der Wagen nie außer Kontrolle geraten können. Im Gegensatz zu diesem Menschen, der über das Eis direkt auf Bella, den neuen Mittelpunkt meiner Welt, zuschlitterte und sie zerschmettern würde. Alices hatte diese Vision nur Sekunden bevor sie in der Wirklichkeit passieren würde. Doch im selben Augenblick, in dem ich sie in meinen Gedanken sah, wusste ich auch, dass es nie passieren würde. Bella blickte auf, als sie das quietschende Geräusch vom Versagen der Bremsen hörte, sah den Van, sah mich, starrte mich an und schien dann erst viel zu langsam zu registrieren, welches Schicksal sie ereilen würde. Nein. Nein! Nicht sie! Alices Vision änderte sich, aber ich wartete nicht ab, worin die Veränderung lag. Ein Flimmern aus vielen Bildern war das einzige, was ich noch sehen konnte, bevor mich mein Körper zum Handeln zwang. Schneller als ich durfte und als Menschen wahrnehmen konnten, flog ich geradezu über den Parkplatz, über den Van hinweg und auf den Menschen zu, den ich auf jeden Fall vor der Kraft des Wagens schützen musste. Nicht sie! Nicht sie! Alles, nur nicht sie! Kräftiger als es für ihren zerbrechlichen Menschenkörper gut war, umschloss ich ihren Körper mit einem meiner Arme; es fühlte sich an, als hätte mein bereits totes Herz zum zweiten Mal zu schlagen aufgehört, als ihr Kopf wegen meiner unüberlegten und viel zu schnellen Handlung auf dem Eis aufschlug. Am liebsten hätte ich nach ihrem Kopf gesehen, ob es irgendwelche Wunden gab, ob es ihr gut ging, doch ich war mir noch zu deutlich des Vans bewusst, der nun auf uns zurutschte, am Heckflügel ihres Transporters abprallte und seinen Weg änderte. Verdammt. Warum musste sie wie ein Magnet auf diese Gefahr wirken? Ich ließ Bella los und griff an ihr vorbei, um den Wagen bei seinem nächsten Versuch abermals daran zu hindern, ihr das Leben zu nehmen. Die Kraft des Vans konkurrierte mit meiner, drückte meinen Rücken in den Wagen neben Bellas Truck. Das Metall gab nach, doch der Van kam zum Stillstand, direkt über Bellas Beinen schwebend. Verdammt! Verdammt! Verdammt! Ich konnte den Wagen nicht einfach fallen lassen, damit würde er direkt auf ihren Beinen landen und sie zerquetschen, ihr fürchterliche Schmerzen bereiten und meine ganze Rettung wäre umsonst. Als wäre ihre Kopfverletzung nicht schon genug Schaden. Doch ich konnte ihn auch genauso wenig so lange in der Luft halten, bis Rettung kam und Bella von jemandem befreit wurde. Und noch weniger konnte ich ihn einfach wegstoßen; ich durfte in all meiner Sorge um den Menschen vor mir nicht andere gefährden. Fluchend – und das war etwas, was ich nie in Gegenwart einer Dame tat – stieß ich den Wagen mit einem geringen Kraftaufwand nach oben und fing ihn mit einer Hand wieder auf, während ich um Bellas Taille griff und sie unter dem Van wegzog. Als ich sicher war, dass ihr gesamter Körper vollständig aus der Gefahrenzone war, ließ ich den Wagen vollständig los. Er fiel zu Boden, alle Fenster gleichzeitig zerbrechend, und blieb vollends stehen. Viel zu erleichtert wandte ich meine Aufmerksamkeit nun Bella zu. Nur um im selben Moment zu einer Statue zu erstarren. Die Erkenntnis war grauenhafter als die Erleichterung schön war. Was hatte ich getan? Selbst durch die Lagen von Stoff spürte ich deutlich ihre Körperwärme, ihren schnellen Herzschlag, ihren unregelmäßigen Atem. Wie verführerisch süß und quälend bitter diese Vorstellung, diese Nähe zu ihr noch heute Nacht gewesen sein mochte, wie sehr wünschte ich mir jetzt, ich stände wie noch vor zehn Sekunden auf der anderen Seite des Parkplatzes an der Seite meiner Geschwister. So sehr ich auch ihre Rettung gewollt hatte, wie konnte ich das riskieren? Wie viel hatte sie mitbekommen? Dieses Mädchen war mein absoluter Untergang, war doch der Teufel aus meiner persönlichen Hölle, egal, was ich mir vorher dachte. Wegen ihr hatte ich riskiert zu offenbaren, was wir waren. Was, wenn jemand gesehen hatte, wie ich bei meiner Familie stand? Mussten wir wegen mir schon wieder die Stadt verlassen? Schon wieder umziehen? Ich konnte jetzt schon in meinen Ohren das Streitgespräch hören, das heute Abend auf mich wartete. Was hatte ich nur getan? War es das wirklich wert gewesen? Bella atmete zitternd ein und all die Gedanken darüber, was ich getan hatte und für das ich die Verantwortung übernehmen musste, waren verschwunden. Ging es ihr gut? War sie mit ihrem Kopf zu fest aufgeschlagen? „Bella? Ist alles in Ordnung?“, fragte ich sie leise und ich konnte selbst die Verzweiflung aus meiner Stimme hören. „Mir geht’s gut“, antwortete sie wie automatisch mit rauer Stimme. Ich spürte ihren schwachen Versuch, sich aufzurichten, doch ich ließ sie nicht los. Sie war nicht äußerlich verletzt, zumindest konnte ich kein frisches Blut riechen – Gott sei Dank, – aber das hieß nicht, dass sie vollständig unverletzt war. Es war besser für den Augenblick, wenn ich sie an meiner Seite behielt. „Vorsicht. Ich glaube, du bist ziemlich hart mit dem Kopf aufgeschlagen.“ Ich glaubte nicht nur, ich wusste es, hatte es gehört. Es war meine Schuld. „Au.“ Hatte sie erst durch meine Aussage den Schmerz in ihrem Kopf bemerkt? War das möglich? „Hab ich’s mir doch gedacht.“ Erleichterung erfüllte mich erneut und vor Glück, dass ich sie anscheinend nicht allzu ernst verletzt hatte, hätte ich fast lachen können. „Wie zum …“, begann sie einen Satz, hielt dann aber inne. Was … „Wie bist du so schnell hier gewesen?“ Ich seufzte innerlich. Dieses Mädchen war viel zu aufmerksam. Sie hatte viel mehr bemerkt als gut für sie war. „Ich stand direkt neben dir“, sagte ich ihr, meine Stimme angefüllt mit all der Seriosität, die ich aufbringen konnte. Ich war ein ausgezeichneter Lügner und ich wusste, wie ich eine Lüge überzeugender als die Wahrheit erzählen konnte. Erneut versuchte sie, sich von mir zu lösen und dieses Mal ließ ich es zu. Vielleicht war ein wenig Abstand gar nicht so schlecht. Dann sah sie in mein Gesicht, löste den Blick nicht, bis auch sie die Stimmen hörte, die sich uns näherten und helfen wollten. Bildete ich es mir nur ein, oder schlug ihr Herz wahrhaftig noch schneller? Sicherlich die Aufregung. Was anderes wäre in einer solchen Situation einfach nur unmöglich. Außerdem konnte sie jetzt auch die Stimmen all derer vernehmen, die sich dem Unfallort näherten, jede einzelne mit Panik unterlegt. Ich achtete nicht sehr auf sie, sondern viel mehr auf das Mädchen in meinen Armen, das sich jetzt vollkommen von mir zu befreien versuchte. Ich hielt sie fest: „Bleib erst mal sitzen.“ „Aber es ist kalt.“ Natürlich. Es war kalt. Ihr war kalt. In diesem Moment, nur Augenblicke, nachdem sie dem sicheren Tod entrungen war, war ihr kalt. Innerlich lachte ich laut auf über diesen Umstand – was war mit diesem Mädchen los? Das war nicht normal, – aber über meine Lippen kam nur ein kurzes, nervöses Lachen. Ich antwortete ihr nicht. „Du wart dort drüben. Bei deinem Auto.“ Mein Lachen erstarb, während sie sprach. Das konnte nicht wahr sein. „Nein, war ich nicht.“ „Ich hab dich gesehen.“ Aber warum bloß? Hätte sie nicht träumen können? Oder mir einfach glauben? „Bella, ich stand neben dir, und ich hab dich zur Seite gezogen.“ Wie es sich für einen überzeugenden Lügner gehörte, sah ich ihr direkt in die Augen, unterbrach den Blickkontakt nicht und versuchte, sie allein mit meinem Blick zu überzeugen. „Nein.“ Das funktionierte nie im Leben. Doch ich sah nicht weg. „Bella, bitte.“ „Warum?“ „Vertrau mir“, bat ich sie leise. Sie musste mir einfach vertrauen. Ich brauchte zumindest ihr Wort, wenn ich schon nicht ihre Gedanken kannte, um wenigstens etwas zu haben, auf dass ich bauen konnte. Aber das war nicht alles. Nebenbei wünschte ich mir auch, dass sie mir vertraute. Ich wollte ihr Vertrauen. „Versprichst du, mir später alles zu erklären?“ Dieser Teufel ließ nicht locker, trieb mich in den Ruin und brachte mich um den Verstand. Womit hatte ich das verdient, dass der einzige Mensch, dessen Gedanken ich nicht kannte, auch gleichzeitig noch der aufmerksamste von allen sein musste? Und als wäre es noch nicht schlimm genug, dass als das in einer Person vereint sein musste, nein, es kam auch noch dazu, dass genau dieselbe Person fürchterliche Neugier in mir auf sie weckte, die mit meinem Durst um die Oberhand konkurrierte? Mist. War mein Leben als seelenlose Kreatur bisher so gottlos gewesen, dass ich eine solche Bestrafung verdiente? Vielleicht. „Schön, wie du willst“, antwortete ich ihr und klang in meiner Verzweiflung gereizter als ich es eigentlich wollte. „Schön“, sagte sie in demselben Tonfall. Ihre Imitation von meinem Klang war fast schon wieder lustig. Mehr ungeduldig als alles andere wartete ich darauf, dass die herbeigeeilten Rettungskräfte den Van aus dem Weg hievten, damit sie zu uns gelangen konnten. Am liebsten hätte ich ihnen geholfen, nur ein ganz klein wenig, damit es schneller ging, aber das hätte sie gesehen und ich wollte meinem Teufel nicht noch ein Folterwerkzeug in die Hand drücken. Er war so schon gefährlich genug. Also wartete ich. Bella und ich sagten kein Wort mehr und als wir endlich befreit waren, stürzten sich sofort zwei Rettungshelfer auf uns, zwei anderen kümmerten sich bereits um den unglücklichen Fahrer. Er blutete. Sofort erzählte ich ihnen, dass mein Teufel sich den Kopf angestoßen hatte, als ich ihn aus dem Weg ziehen wollte, und der Mann nickte kurz, bevor er sich ihr zuwandte. Flüchtig blickte sie mich zornig an, aber sie sagte nichts. Ich war nahe an der Grenze zu lächerlich beruhigt, dass der Sanitäter, der mich überprüfen wollte, mir mühelos abnahm, dass mir nicht das Geringste fehlte. Jeder Patient behauptete das und eigentlich gehörte es zu seinen Pflichten, ihn dennoch zu untersuchen, aber dieser Mann schien sie nach meinen Worten völlig vergessen zu haben. Ich sagte, mir ginge es gut und ich würde meinen Vater im Krankenhaus einen Blick auf mich werfen lassen, und er glaubte mir vorbehaltlos. Braver Mensch. Bella versuchte dasselbe, doch ihre verzweifelten Versuche verfehlten ihre Wirkung völlig. Ihre Wangen brannten in einem fürchterlichen Rot, als ihr eine Halskrause angelegt wurde. Ich musste ihre Gedanken nicht lesen können um zu wissen, dass sie vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre. Sie war wütend auf mich, doch sie schwieg weiterhin. Hielt sie sich an meine Version der Geschichte? Ich wusste es nicht, ich konnte sie nicht einschätzen. Das Verhalten dieses Menschen ging gegen jede Form von Vernunft. Warum tat sie mir das an? Meine Verzweiflung von gerade wuchs erneut, gemischt mit der Erleichterung, dass ihr nichts Ernsthaftes fehlte. Diese beiden Gefühle in Kombination zu fühlen war nahezu ekelhaft und es war schwer, meinen inneren Kampf von meinem Gesicht fernzuhalten. Die Verzweiflung erinnerte mich an meine Geschwister, die nach dieser Ewigkeit von Ereignissen, die sich in der Realität in nur fünf Minuten abgespielt hatte, immer noch auf der anderen Seite des Parkplatzes standen, ihr Blick ununterbrochen auf mich gerichtet. Sie konnte keine genauen Gedanken fassen, sie waren sprachlos und ihre Augen waren genauso leer wie ihre Gedanken. Doch kaum, dass sie meinen Blick spürte, brach in Rosalies Kopf eine Scharade von Gedanken los, die zusammenhängend keinen Sinn ergaben. Aber ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass es auf den Punkt gebracht so heißen würde: Was hast du gemacht? Sie trieb meine Verzweiflung nur noch höher. Es half nicht, dass sie mir trotz ihrer eigenen Sprachlosigkeit versprachen, alle Beweise übermenschlichen Handels zu beseitigen. Ich fuhr im Krankenwagen mit zum Krankenhaus und dort angekommen ging ich, so schnell wie es die menschliche Geschwindigkeit im Schritttempo erlaubte, in Carlisles Büro, doch ein Teil meiner Gedanken blieb immer bei Bella hängen, meinem Teufel, der sich als Märtyrer herausstellte, der es vorzog, schweigend unterzugehen. Auch ihrem Vater gegenüber, den ich vollkommen anders eingeschätzt hatte als die Person, die zu ihrer Tochter gestürzt kam und deren Gedanken mich mit dieser Panik um seinen Lebensgrund überfielen (und die in gewisser Weise meiner Einschätzung von Bella entsprachen), sagte sie nichts, was ihrer Wahrheit entsprach. Sie log für mich. Was ich noch weniger verstand als den ganzen Rest zuvor. Sie glaubte nicht daran, warum um alles in der Welt tat sie das? Ich beobachtete sie weiter, während ich durch das Krankenhaus in das Büro meines Vaters ging – ich hatte zuvor nach seinen vertrauten Gedanken gesucht und ich war ungemein erfreut darüber, ihn wirklich in seinem Büro vorzufinden. Ich wüsste nicht, welche Ausrede ich hätte gebrauchen können, wenn er bei einem Patienten wäre. Ich musste noch um eine Kurve und dann den Flur, der ihr folgte, entlang gehen, doch ich murmelte bereits leise seinen Namen. Ich sah, wie er aufblickte, aufstand und fast erschrocken auf die Tür blickte, die ich nur wenige Augenblicke später öffnete. „Edward, was ist …“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, viel zu sehr besorgt um das, was möglicherweise passiert sein konnte. Du hast doch nicht – „Nein, es ist nichts dergleichen.“ Wie konnte ich es ihm vorhalten, dass er ausgerechnet zuerst zu dieser Schlussfolgerung sprang? Ja, du hast Recht. Es tut mir Leid. Deine Augen sind noch … Er ließ den Satz unvollendet. „Doch es ist fast genauso schlimm. Ich war – ich hätte nicht … ich wollte wirklich nicht. Es hab nicht nachgedacht. Es tut mir fürchterlich leid, Vater. Ich hätte nachdenken sollen, jetzt –“ Beruhige dich, mein Sohn. Und jetzt noch einmal von vorne: Was ist passiert? Ich atmete tief durch, sah tief in meinen Gedanken Bella, durch die Augen irgendeines Menschen in ihrer Nähe. „Vor Schulbeginn ist ein Van auf dem Parkplatz übers Eis gerutscht. Der Fahrer verlor die Kontrolle über den Wagen und rutschte über den Asphalt auf sie zu. Es tut mir leid. Ich konnte sie nicht sterben lassen. Kein Mensch hat gesehen, wie ich über den Parkplatz gerannt bin, um ihr zu helfen … keiner außer ihr. Ich stieß sie zur Seite und musste den Wagen aufhalten – auch das hat nur sie gesehen. Wirklich … es tut mir so schrecklich Leid, Carlisle. Ich wollte nicht …“ Ich flüsterte nur, den Blick auf den Boden gerichtet. Ich konnte ihn nicht ansehen, zu groß die Schuld, die ich empfand. Mein Vater kam um seinen Schreibtisch herum, auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Nein. Es war gut so, Edward. Du hast das Richtige getan.“ Er sprach die Worte, dachte sie nicht und seine ruhige und klare Stimme dämpfte meine Schuldgefühle ein wenig. „Aber sie weiß, dass etwas nicht mit mir stimmt … sie hat noch nichts gesagt, aber …“ Noch nicht? „Bisher hält sie sich an meine Version der Geschichte, aber sie will wissen, was passiert ist.“ Und auf einmal wirkte er nicht mehr so ruhig, doch er versuchte, es sich kaum anmerken zu lassen – weder körperlich noch in seinen Gedanken. „Es ist nicht schlimm, Edward. Wenn uns keine andere Möglichkeit bleibt, ziehen wir wieder um.“ Er nickte mir zu, wie um seine Worte zu bestätigen, aber die beruhigende Wirkung war verflogen. Es tat mir so unglaublich Leid … Bellas Bild drängte sich plötzlich wieder in den Vordergrund und ich fuhr mit meiner Geschichte fort: „Sie hat sich den Kopf angeschlagen … genau genommen ist es meine Schuld. Ich hab sie zu fest auf den Boden gestoßen. Vielleicht ist das Ausrede genug, um ihre Glaubhaftigkeit ein wenig zu beschränken …“ Das wäre es in der Tat, aber Carlisle hielt – im Moment – nicht viel davon; er hörte, wie sehr es mir gegen den Strich ging, irgendjemanden an ihrem Verstand zweifeln zu lassen. Denn genau dessen Schärfe brachte sie ja in solche Schwierigkeiten. Wir werden sehen. Ich werde sie untersuchen. Doch vielleicht solltest du erst mit ihr reden. Nicht, dass ich die anderen Ärzte nicht für kompetent genug hielt, aber das Wissen, das mein Vater sich Bella ansehen würde, vertrieb zumindest die Schuldgefühle bezüglich Bella. In seinen Händen wusste ich sie in der besten Behandlung, die sie bekommen konnte; er würde sich so um sie kümmern, dass später nichts zurückblieb als die Erinnerung an den Schmerz. Physisch gesehen. „Danke. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe …“ Er lächelte mich an, strich mir in einer sehr väterlichen und menschlichen Geste über das Haar, zersauste es ein wenig mehr, als es eh schon war und ging dann voraus. Vor einer Woche wolltest du sie noch umbringen und heute beschützt du sie gleich zweimal vor dem Tod. Vom Mörder zum Beschützer – ein wunderschöner Wechsel, mein Sohn. Ich bin stolz auf dich. Ich blieb noch eine Weile in seinem Büro, atmete tief durch, versuchte mich zu beruhigen. Ein. Aus. Ein. Aus. Es verwunderte mich nicht im Geringsten, dass es nichts brachte. Ich konzentrierte mich stattdessen wieder auf Bella, die ich in diesem Augenblick aus den Augen Tyler Crowleys sah, der Fahrer des Vans, vor dem ich Bella gerettet hatte. Er entschuldigte sich in diesem Moment bei ihr für seine Unachtsamkeit, doch winkte ab, fragte nach seinem Befinden. Natürlich. Immer besorgt um andere, sie selbst war sehr weit unten auf der Liste. Während sie sprachen, behandelte eine Schwester Tyler und seine Gedanken füllten sich mit stechendem Schmerz wegen der Wunden, die unter den Verbänden zum Vorschein kamen, doch er versuchte, ihn weitgehend zu ignorieren. Den Starken vor Bella zu spielen. So hormongesteuert … doch seine Maskerade brach für einen Augenblick, als die Schwester ihm das Gesicht abtupfte und der Schmerz zunahm. „Mach dir keine Sorge; wie du siehst, hast du mich verfehlt.“ Schon wieder. „Wie bist du so schnell ausgewichen? Du warst direkt vor mir, und dann warst du auf einmal weg …“ Ich hatte die Frage bereits in seinen Gedanken gehört – dieses kleine Mysterium beschäftige ihn unterbewusst schon für ein paar Minuten, – aber ich nahm ihr volles Ausmaß erst wahr, als er sie aussprach, Bella sie wirklich hören konnte. Was würde sie jetzt antworten? Würde sie sich an meine Bitte halten? Wirklich den Mund halten und ihm meine Geschichte erzählen? Doch warum sollte sie das? „Ähm … Edward hat mich beiseite gezogen.“ Ihre Stimme hatte einen nervösen Unterton, doch Tyler hörte ihn nicht, war abgelenkt von seinen eindeutigen Gedanken über Bella, die in eine für den Moment viel zu unpassende Richtung ging. Doch ich sollte mich nicht beschweren. Ich hatte meinen Namen schon so oft gehört, gesprochen von so unterschiedlichen Stimmen in so unterschiedlichen Tonlagen, doch aus ihrem Mund klang er wie … etwas besonderes. Und nicht nur das – sie hielt sich wahrhaftig an das, worum ich sie gebeten hatte. Unglaubliche Erleichterung durchströmte mich. Wieder einmal. „Wer?“, fragte Tyler überrascht, seine Erinnerungen danach absuchend, mich neben Bella gesehen zu haben. Doch da war nur seine Panik um sich und Bella, seine Verzweiflung, als er sich bewusst wurde, dass er den Wagen nicht mehr unter seine Kontrolle bekommen würde, dass er Bella gleich … „Edward Cullen – er stand neben mir.“ Und schon wieder war da dieser besondere Klang, den ich nicht einzuordnen vermochte. Aber dennoch mochte ich es ungemein. Ich musste sie irgendwie dazu bringen, meinen Namen öfters zu sagen. Bella wirkte nervös, als sie sprach; sie war eindeutig keine gute Lügnerin und fast hätte ich gelacht, weil Tyler ihr dennoch glaubte, wenn auch widerstrebend: „Cullen? Den hab ich gar nicht gesehen … Wow, ich nehm an, das ging einfach alles zu schnell. Geht’s ihm gut?“ Bis zum Augenblick, in dem Bella zu Ende sprach, fühlte er auch Schuldgefühle mir gegenüber, einer weiteren Person, dessen Tod, so glaubte er zumindest, er beinahe verursacht hätte: „Ich glaub schon. Er muss hier irgendwo sein.“ Innerlich atmete Tyler erleichtert aus, nun wissend, dass mir nichts passiert war. Er sah nicht, wie Bellas Blick sich auf einem nicht existenten Punkt verlor und sein störrischer Ausdruck verriet, dass sie anderes glaubte. Ich wusste, sie würde nicht nachgeben. Sie würde weiterhin an dem festhalten, was sie gesehen hatte. Doch warum um alles in der Welt log sie dann für mich? Ich verstand sie nicht. Langsam verließ ich Carlisles Büro, als Bella zum Röntgen gebracht wurde, ging in Richtung der Notaufnahme und kam dort an, als sie wieder längst wieder zurück war. Sie lag auf ihrem Bett, die Augen geschlossen und Tyler ignorierend, der sich beinahe ununterbrochen bei ihr entschuldigte und sein Vergehen heute bei ihr wieder gutmachen wollte. Er überlegte, während er sprach, wie er das anstellen sollte, aber er konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen. Bella schien nicht zu hören, dass ich den Raum betrat. Sie tat weiter so, als würde sie schlafen, um nicht mehr auf Tylers Entschuldigungen reagieren zu müssen. Am Fußende ihres Bettes blieb ich stehen und fragte Tyler: „Schläft sie?“ Innerlich lächelte ich, als Bella sofort ihre Augen öffnete und mich wütend ansah. Zumindest schien zu versuchen, wütend zu sein. Es schien ihr ein wenig schwer zu fallen, doch das lag sicherlich an dem, was sie heute hatte durchmachen müssen. Auch wenn die bisherigen Ärzte sagten, ihr ginge es gut, glaubte ich ihnen erst, wenn mein Vater es mir bestätigte. „Hey, Edward, tut mir wirklich –“, begann Tyler, um sich auch bei mir zu entschuldigen, doch ich hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. „Nichts passiert“, sagte ich und grinste dabei, setzte mich an den Rand von Tylers Bett. Ich hatte schon genug angerichtet für einen Tag; ich wollte durch Bellas Nähe nicht unbedingt noch mehr riskieren. Doch eben durch sie ... es war wirklich lachhaft. Hinter mir lag Tyler, bedeckt in seinem eigenen Blut, dessen Duft den Raum erfüllte, aber allein der Geruch von Bellas Blut, das sich vollständig unter ihrer Haut verbarg, überdeckte ihn. Es war wie im Sekretariat in der Schule am ersten Tag: War Bella im selben Raum, wirkte jedes andere Blut ranzig und unappetitlich. „Also, wie lautet der Richterspruch?“, fragte ich sie, um den Schein zu wahren. Als normaler Mensch hätte ich nicht wissen können, was die Ärzte ihr gesagt hatten. „Mir fehlt nicht das Geringste, aber sie lassen mich nicht gehen. Wieso bist du nicht an eine Bahre geschnallt wie alle anderen Beteiligten?“, jammerte sie und es war offensichtlich, dass sie im liebsten sofort aus dem Krankenhaus verschwunden wäre. Und gleichzeitig mit ihren Worten, als wäre es sein Sprichwort gewesen, hörte ich Carlisles Gedanken auf dem Flur, der auf dem Weg hierher war. „Alles eine Frage von Beziehungen“, antwortete ich und lustigerweise entsprach das genau der Wahrheit. Zumindest teilweise. „Aber keine Sorge, ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen.“ Dann trat Carlisle in ihr Sichtfeld und ihr Mund öffnete sich, als sie meinen Vater anstarrte. Ich sah ihr an, dass sie gewisse Ähnlichkeiten, die nichts mit familiären Banden auf biologischer Ebene zu tun hatten, zwischen ihm und mir erkannte. Was sie wohl dachte? „Also, Miss Swan“, begrüßte Carlisle sie, „Wie fühlen Sie sich?“ „Mir geht es gut“, antwortete sie und ich wusste, dass sie diese Antwort heute schon für ihren Geschmack viel zu oft gegeben hatte. Keiner schien ihr recht glauben zu wollen. Carlisle warf einen Blick auf die Röntgenbilder und er bestätigte, was die anderen Ärzte vor ihm ebenfalls bereits gesagt hatten, doch dies aus seinem Mund zu hören (oder in seinen Gedanken) war für mich erst vollauf befriedigend: „Die Aufnahmen sehen gut aus. Tut Ihr Kopf weh? Edward sagt, Sie seien ziemlich hart aufgeschlagen.“ Ja. Wegen mir. „Meinem Kopf geht es auch gut“, sagte sie und sie seufzte. Ihre Reaktion unterstützte meine Annahme nur noch weiter, dass sie es langsam satt hatte, jedem aufs Neue zu versichern, dass es ihr gut ging. Sie mochte keine Aufmerksamkeit, selbst wenn sie wie in diesem Fall berechtigt war. Bella sah mich böse an und ich lächelte innerlich. Als wäre er nicht dieses unnatürliche Wesen, das wir, seine Familie, nun mal waren, stellte er sich vor und seine Finger glitten über ihre Kopfhaut und tasteten nach dem, was durch die Röntgenaufnahmen vielleicht nicht sichtbar wurde. Ich beobachtete ihn und empfand stillen Neid und gleichzeitig Bewunderung für meinen Vater. Es sah überhaupt nicht schwer aus. Tyler in seinem Blut bedeckt hinter ihm, Bella mit ihrer süßen Versuchung vor ihm, doch nichts davon schien ihn irgendwie zu berühren. Seine letzte Jagd war anderthalb Wochen her und man sah es seinen Augen an, trotzdem war es, als wäre es nichts. Als wäre er kein Vampir. Mit geringem Druck berührten seine Finger ihre Kopfhaut und meine Gefühle beschränkten sich nicht nur auf seine absolute Selbstkontrolle. Wie gerne würde ich Bella auch so berühren können wie er. So leicht, so ohne Probleme und inneren Kampf. Seine Gedanken drehten sich einzig und allein um sein medizinisches Wissen. Bella zuckte unter seiner Berührung zusammen. Warum? „Empfindlich?“, fragte mein Vater auf ihre Reaktion, doch sie verneinte. Alles in Ordnung, Edward. Ihr Fall hat keine physischen Folgen hinterlassen. Ich konnte nicht anders: Weitere Erleichterung durchströmte mich. Sie war so groß, dass ich leise lachte und Bella sah mich erneut finster an. „Gut. Ihr Vater wartet draußen, Sie können jetzt mit ihm nach Hause fahren. Aber kommen Sie wieder her, wenn Ihnen schwindelig wird oder wenn Sie irgendwelche Probleme beim Sehen bekommen“, wies er sie sachlich an und Bellas Gesicht nahm einen undefinierbaren Ausdruck an. „Kann ich nicht wieder in die Schule?“, fragte sie. Ah. Natürlich. Wie ich mir schon zuvor gedacht hatte, sie wollte nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig haben. „Vielleicht sollten Sie es für heute ruhig angehen lassen.“ Definitiv. Dann sah sie zu mir: „Darf er in die Schule?“ Die Art, wie sie dieses kleine Pronomen betonte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie es mir immer noch übel nahm, dass sie dieses ganze Prozedere durchmachen musste während ich ungeschoren davon kam. Wenn sie wüsste. „Irgendjemand muss schließlich die Nachricht überbringen, dass wir überlebt haben“, sagte ich ihr und grinste dabei. „Um ehrlich zu sein“, sagte Carlisle und während er sich daran erinnerte, fiel auch mir die viel zu große Menge an Gedanken auf im Eingangsbereich des Krankenhaus und die ungewöhnliche Lautstärke des steten Hintergrundsummens in meinem Kopf auf, „sieht es so aus, als säße der größte Teil der Schule im Wartezimmer.“ „Auch das noch“, jammerte sie und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Ha! Ich lag also richtig – bisher hatte ich meine Vermutung einfach so als Tatsache hingenommen und auf Bestätigung gehofft. Sie mochte wirklich keine Form von unnötiger – oder überhaupt in irgendeiner Form – Aufmerksamkeit. „Möchten Sie lieber noch bleiben?“, fragte Carlisle, ihr gewissermaßen damit eine kleine Ausrede anbietend, doch sie lehnte vehement ab, schwang wie zur Bekräftigung ihrer Worte ihre Beine über den Bettrand und stand auf. Doch sie schien viel zu viel Schwung für ihre Verhältnisse dabei zu haben; sie schwankte und Carlisle griff automatisch nach ihr, um sie zu stützen. Hatten selbst seine Untersuchungen etwas ausgelassen? Was war mit ihr? Irgendetwas musste mit ihr sein, wenn sie solche Gleichgewichtsstörungen hatte. Sie sah seinen besorgten Gesichtsausdruck und versicherte sofort wieder, es ginge ihr gut. Er empfahl ihr trotzdem ein Schmerzmittel, das sie ablehnte. „Es scheint, als hätten Sie großes Glück gehabt“, sagte er und unterschrieb ihre Krankenakte. Oder einen guten Beschützer. „Ich hatte Glück, dass er zufällig neben mir stand“, sagte sie und die Art und Weise, wie sie mich ansah, machte deutlich, dass sie meiner Geschichte immer noch keinen Glauben schenkte. Sie hielt an dem fest, was sie gesehen hatte (und ich hatte keine Ahnung, was das die Ausmaße davon waren), und erzählte die Lüge nur aus irgendwelchen, für sie relevanten Gründen. „Oh – ja, stimmt“, sagte Carlisle. Er hatte diesen einen Unterton in ihrer Stimme ebenfalls gehört, doch er würde nicht weiter darauf eingehen. Sie scheint wirklich mehr zu wissen, als uns lieb sein könnte … wenn sie eine Erklärung von dir haben möchte, pass auf, was du ihr sagst. Vielleicht kannst du sie ja trotzdem überzeugen. Viel Glück. Er glaubte daran, sie könnte mehr wissen, aber er glaubte nicht, dass sie gefährlich werden könnte. Wenn sie bisher an ihrer Geschichte festhielt, dann nur für sich. Aber sicher zu gehen konnte nie schaden. Doch ich wusste nicht, ob man damit die Sache einfach so zu den Akten legen konnte. Ich beobachtete Bella, während ihr Blick auf Carlisle hing, der sich nun Tyler zuwandte und auch hier wieder lag etwas in ihren Augen, das mir sagte, dass sie mehr wusste als gut für sie war. Kaum war mein Vater ganz in seine Arbeit versunken – scheinbar, – wandte sich Bella zu mir und kam auf mich zu. „Ich möchte mit dir unter vier Augen reden, wenn du nichts dagegen hast“, sagte sie und ich seufzte innerlich – warum konnte sie sich einfach nicht mit der Lüge zufrieden geben? Warum wollte sie unbedingt die Wahrheit erfahren? Ich hatte ihr das Leben gerettet – die Wahrheit würde es ihr wieder nehmen. Ich wollte sie nicht verlieren. Und kaum, dass ich diese Worte vollkommen verstanden hatte, hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt. Dieser Teufel, für den ich heute morgen noch so unendlich begeistert war, ihn nicht mehr als Teufel sehen wollte, weil er so besonders war, zog mich noch weiter in seinen Bann als gut für mich war. War es nicht schlimm genug, dass diese Nähe zu ihr mich vollkommen um den Verstand brachte? Dass ihr lieblicher Atem und ihr süßes, süßes Blut, gemischt mit ihrer Körperwärme, das appetitlichste war, was ich je in meinem Leben gerochen hatte? Dass ich diesem Getränk kaum widerstehen konnte? Dass ich alles dafür geben würde, um nur einmal zu … Abrupt, um mich von der Versuchung zu retten oder zumindest abzulenken, drehte ich mich um und ging aus dem Zimmer; ich hörte noch Carlisle mir ein wenig Mut zusprechen, doch es war allein die Vertrautheit seiner Stimme, die sie in diesem Moment aus dem Hintergrundsummen hervortreten ließ. Ich achtete nicht darauf, konzentrierte mich nur darauf, das fürchterliche Brennen zu beherrschen. Was sollte ich ihr sagen? Wie, vor allen Dingen, wenn sie viel zu dickköpfig war um einer überzeugenden Lüge zu glauben? Und wie sollte ich ihr widerstehen, wenn uns kein Meter trennte und sie mir so fesselnd in die Augen sah? Mir wurde allein bei der Vorstellung ganz anders … Da war nicht nur dieses Brennen, sondern auch … Nein! Nein! Nein! Weder das eine noch das andere! Edward, beherrsch dich! Ich blieb genauso plötzlich stehen, wie ich losgegangen war und als ich mich umdrehte, merkte ich, dass ich vielleicht ein wenig zu schnell gegangen war; Bella schien ziemliche Probleme damit zu haben, mit mir Schritt zu halten. „Was willst du?“ Wütend auf mich selbst und genervt von meiner eigenen Unfähigkeit klang meine Stimme härter und kälter als beabsichtigt und ich sah Bella an, dass ihre Entschlossenheit nachließ. Ich hatte sie nicht einschüchtern wollen, beschränkte sich doch mein Zorn allein auf mich, aber ich konnte mich auch nicht dafür entschuldigen. „Du bist mir eine Erklärung schuldig“, sagte sie, vielleicht leiser als beabsichtigt. „Ich hab dir das Leben gerettet – ich bin dir gar nichts schuldig.“ Die Art, wie sie vor meiner Unfreundlichkeit zurückgeschreckt war, verschreckte mich selbst und es war schwer, denselben Tonfall zu behalten. „Du hast es versprochen“, beharrte sie und wieder traf sie meine Schroffheit, als würde sie es sich wirklich persönlich nehmen. Hatte ich, in der Tat, aber ich konnte an diesem Versprechen doch nicht festhalten. „Bella, du hast dir den Kopf gestoßen, du weißt nicht, was du redest.“ „Mit meinem Kopf ist alles okay“, antwortete sie fast schon zickig; jetzt war sie wütend und das machte es leichter für mich, an meiner eigenen Wut festzuhalten – auf mich selbst. „Ich will die Wahrheit wissen. Ich will wissen, warum ich für dich lüge.“ Verdammt. Was sie wollte, war nur gerecht. Ich würde an ihrer Stelle auch die Wahrheit wissen wollen, wenn ich für jemanden, den ich kaum kannte, lügen musste. Doch Wahrheit war das einzige, was ich ihr nicht geben konnte. „Was ist denn deiner Meinung nach passiert?“ Fast hätte ich sie angeknurrt. „Ich weiß nur, dass du nicht in meiner Nähe warst“, begann sie und bereits jetzt sprach sie schneller als sonst, „und Tyler hat dich auch nicht gesehen, also erzähl mir gefälligst nicht, dass mein Kopf was abbekommen hat. Der Van hätte uns beide getötet – hat er aber nicht und dann hatte er plötzlich Dellen, wo deine Hände waren – und das andere Auto auch, aber du bist überhaupt nicht verletzt – und der Van hätte eigentlich meine Beine zerquetschen müssen, aber du hast ihn hochgehalten …“ Ihre Stimme verlor sich; vielleicht klang dieser Punkt für sie einfach zu abstrakt. Ich hatte gehofft, sie hätte, obwohl selbst Carlisle sagte, es wäre alles in Ordnung, wirklich leichte Probleme gehabt, sich zu erinnern, und ich hatte gehofft, dass all das auf dem Parkplatz für sie zu schnell gewesen war, als dass sie es hätte sehen können. Aber sie hatte wirklich alles gesehen. Ungläubig sah ich sie an – wie war das möglich? Es dauerte einen für mich langen Augenblick, bis ich mich einigermaßen wieder gefasst hatte und die übliche Maske aufsetzen konnte. „Du bist also der Meinung, ich hätte einen Van angehoben?“ Kein Mensch konnte das. Und genauso musste ich auch klingen. Jeder vernünftige Mensch würde nach so einer Erklärung an dem gesunden Geisteszustand seines Gegenübers zweifeln. Doch sie war anderer Meinung. Sie nickte einmal und es war eindeutig, dass sie immer noch an ihrer Geschichte festhielt, ganz egal, wie verrückt ich sie halten könnte. „Das wird dir niemand glauben, das ist dir klar, oder?“, fragte ich sie spottend. Kein Mensch konnte das. Keiner. Ich wiederholte diesen Satz immer und immer wieder. Das musste sie doch wissen. Warum wollte sie sich der Lächerlichkeit preisgeben? „Ich hab nicht vor, es irgendjemanden zu erzählen.“ Was? Wieder dauerte es ein wenig, bis ich den Schock geschluckt hatte. Ich sah ihr an, dass sie es wirklich ehrlich meinte, auch wenn ich mir natürlich nicht vollständig sicher sein könnte. Aber warum sollte sie das? „Warum ist es dann so wichtig?“ Warum beließ sie es nicht einfach dabei? Warum ihre Welt dafür auf dem Kopf stellen, wenn sie eh die Wahrheit nicht erzählen wollte? „Es ist mir wichtig. Ich lüge nicht gerne, und wenn ich es tue, will ich einen guten Grund dafür haben“, erklärte sie. Schon wieder: Es ergab völlig Sinn und wäre wirklich gerecht, wenn sie die Wahrheit wüsste. Vielleicht würde sie ja sogar Verständnis zeigen. Nein. Nie. Unmöglich. „Kannst du mir nicht einfach danken und die Sache vergessen?“ „Danke.“ Doch dann kam nichts weiter. Sie wartete immer noch. „Du lässt nicht locker, oder?“ „Nein.“ „Dann hoffe ich, dass du mit Enttäuschungen umgehen kannst.“ Lieber Enttäuschungen als das, was dich erwartet, wenn du wirklich wüsstest, was passiert war. Enttäuschungen nahmen einem nicht das Leben. So wie das Monster, das ich war. Wir starrten uns böse an – es war irgendwie lachhaft, dass sie gegen mich lebenden Albtraum zu bestehen hoffte. „Warum hast du dir überhaupt die Mühe gemacht?“ Ich hatte mit der Frage nicht gerechnet und sie traf mich überraschend. Ja, warum hatte ich das? Warum war ich plötzlich nur von diesem einen einzigen Gedanken beherrscht? Warum hatte ich alles dafür tun wollen, damit gerade sie überlebt? Was machte sie so fürchterlich besonders aus ihrem fürchterlich süßen Blut? Was hatte sie so dermaßen zu meinem persönlichen Mittelpunkt gemacht? „Ich weiß es nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß und merkte nicht, dass ich mit dieser Version ihre Version des Geschehens vielleicht ein wenig bestätigen könnte. Seufzend wandte ich mich ab und ging davon, ließ meinen persönlichen Teufel allein dort stehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)