Midnight Sun von Sitamun ================================================================================ Kapitel 1: Auf den ersten Blick ------------------------------- Es schien, als wäre ihre Ankunft schon seit Ewigkeiten vor Schuljahresbeginn bekannt, obwohl ich mir mehr als nur sicher war, dass Chief Swan während der letzten Tage des letzten Schuljahres nicht ein einziges Mal daran dachte oder gar davon träumte, dass seine einzige Tochter zu ihm nach Forks ziehen könnte. Vermutlich dachte er an nichts anderes als an den kommenden Sommer, den er mit ihr verbringen würde. Aus ihrer Sichtweise war ein Sommer in Forks, Washington, sicherlich nicht einmal im Ansatz das, was sie unter Sommer auch wirklich verstand. Die Tochter von Chief Swan lebte bisher in Phoenix, einem sonnigen Staat, in dem Regen an eine Seltenheit und Schnee an eine Sensation grenzte – ob sie überhaupt schon einmal welchen gesehen hatte? Und nun wurde sie oder war sie verdammt, nicht nur den Sommer, sondern den Rest der Zeit, den sie im Haus ihres Vaters leben wollte, in Forks zu verbringen. Regen, Regen und Regen. Wenn ich mich recht erinnere, und es war seit über 100 Jahren nicht mehr geschehen, dass ich falsch lag, dann gab es in dieser kleinen Stadt nur insgesamt 20 sonnige Tage, derer sie sich erfreuen konnte. Na, wenn das für sie nicht wirklich glückliche Aussichten sind … Dem ein oder anderen, der bereits frühzeitig zum Schulgebäude gefahren und damit in meiner „Reichweite“ war, stellte sich ähnliche Fragen, nebenbei verzweifelnd versuchen, sich an das Mädchen zu erinnern, das heute seinen ersten Tag an dieser Schule haben sollte. Wenn sie bisher jeden Sommer in Forks war, vielleicht hatte der ein oder andere sie bereits gesehen? Möglich wäre es sicherlich. Unterschiedliche Bilder entstanden in den Köpfen von Schülern, die von dem Neuankömmling vollkommen besessen zu sein schienen; erstaunlicherweise bildeten diese Besessenen die deutliche Mehrheit aller Schüler, die bereits da waren oder langsam dazukamen. Und immer mehr Bilder entstanden von diesem fremden Mädchen, die ungleicher nicht hätten sein können. Von hellblond, braungebrannt und verwöhnt bis hin zu einem kleinen schwarzhaarigen Mauerblümchen, das in Phoenix wahrscheinlich äußerlich kaum weiter aufgefallen ist, dafür aber in einer Kleinstadt wie der diesen einen Riesentumult verursachte. Welch sonderbares Verhalten der Menschen … Die Zeit bis Unterrichtsbeginn verstrich und noch immer wuchs die Spannung und in den Gedanken all der Schüler war immer noch kein eindeutiges Bild. Nicht, dass es mich interessieren würde, aber bei dieser Anzahl von Gedanken, die mit seltener Eindringlichkeit auf mich einstürmten, war es schwer, all diese Stimmen auszublocken. Was sollte mich auch schon ein einfaches Menschenmädchen, das nur auf Grund der geringen Einwohneranzahl und der Tatsache, dass in einer Kleinstadt nie lange etwas verborgen blieb, einen solchen Wirbel erregte, interessieren? Sie kam heute, ging in ein paar Jahren und war dann aus meinem Leben verschwunden bis sie schlussendlich starb. Mehr nicht. Mit einem neckenden Grinsen warf ich einen Blick zu meinem älteren Bruder Jasper, der natürlich sofort bemerkte, dass ich ihn ansah und seufzend genervt die Augen verdrehte. Danke auch. Mein anderer Bruder Emmet hörte Jaspers Seufzen und schaute sofort nach dem Grund dafür, sah mich grinsen und lachte selbst darüber. Jaspers Fähigkeit, Gefühle zu manipulieren, die ihn sowohl die Gefühle von anderen verändern als auch eben jene Gefühle Einfluss auf ihn nehmen lassen konnte, ließ ihn die Spannung all der Schüler spüren und ich hörte in seinen Gedanken, wie sehr er selbst davon beeinflusst wurde. Lauschte ich ihnen länger, fühlte ich mich sicherlich innerhalb der nächsten Minute so, als hätte ich ein Buch an der spannendsten Stelle weggelegt und könnte es gar nicht erwarten, es wieder in der Hand zu nehmen. Und in diesem Fall war die Hauptperson noch immer nicht angekommen, das Buch konnte noch nicht wieder in die Hand genommen werden, damit man das Ende erfuhr und die Spannung nachließ. Wie man für einen Menschen nur so einen Aufwand machen kann. Der Gedanke kam von Rosalie, meiner jüngeren Schwester, die kopfschüttelnd an mir und dem Rest unserer Geschwister Richtung Schulgebäude vorbeistolzierte. Im Gegensatz zu Jasper, Alice – meiner anderen Schwester – und mir besaß Rosalie keine besonderen Fähigkeiten, wie sie manche Vampire besaßen, aber sie hatte doch Alice und meiner Unterhaltung zugehört, in der wir mehr nebenbei als beabsichtigt über die Ankunft Swans sprachen. Alice sah die Zukunft, sobald sich jemand zu einer Tat entschied und kaum hatte das Großstadtmädchen die Entscheidung getroffen, sah Alice sie bereits zur selben Schule wie sie gehen. Sie hatte nicht auf eine solche Vision gewartet, doch es hatte sie nicht überrascht. Wir lebten in Forks bereits seit zwei Jahren und vielleicht würde dieses Mädchen ein wenig Abwechslung für die anderen Menschen in diese Stadt bringen. Und eben weil es um diese Stadt ging, hatte Alice die Vision gehabt. Fertig. Mehr Mühe diesen Umstand zu erklären machte sich keiner von uns. Alice hatte das Bild des Mädchens schnell wieder verdrängt und bisher auch nicht wieder dran gedacht; so blieb auch ich völlig ahnungslos über sein Erscheinungsbild. Kaum war Rosalie auch nur drei Schritte voraus, hatte sich Emmet, ihr Freund und Ehemann – von letzterem jedoch (und vor allen Dingen von der Anzahl ihrer Hochzeiten) war es besser, wenn es keiner wusste – von unserer Gruppe gelöst und sich ihr angeschlossen. Sobald er mit ihr auf gleicher Höhe war, ergriff sie seine große Hand und verschlang ihre Finger miteinander. Auch Jasper und Alice, für die seit vielen Jahren ebenfalls die Bezeichnung „verheiratet“ passend war, blickten kurz zu mir, nickten und gingen ihren Geschwistern hinterher. Und ich begab mich nun zu dem Haus, in dem für dieses Schuljahr meine erste Unterrichtstunde beginnen würde. Ich wusste natürlich, dass es notwendig war, dieses Theater jedes Jahr aufs Neue aufzuführen, wenn meine Familie und ich ein einigermaßen normales Leben unter Menschen führen wollten. Wie könnte ich das je vergessen? An das alltägliche Brennen in meinem Hals, das nie nachließ, selbst wenn ich an dem Tag zuvor erst jagen war, hatte ich mich zwar bereits stark gewöhnt und ihm zu widerstehen, es zu unterdrücken oder sonst was mit ihm zu machen, um es zu vergessen, wurde mit jedem Tag des Übens einfacher, auch wenn wir nie ein Risiko eingingen, doch es erinnerte mich daran, dass dies der einzige Preis dafür war, den es für dieses normales Leben zu bezahlen galt. Lieber dieses Brennen als jedes Jahr nur Nacht auf Nacht auf Nacht. Kein Vampir fürchtet sich im Dunkel, wie denn auch, wenn es für ihn keinen Unterschied macht, ob die Sonne hell scheint oder nicht einmal das Licht des Mondes die Nacht erhellt? Doch eben dieses Dunkel fängt nach gewisser Zeit an zu nerven. Ein Leben während des Tages, und regnete es noch so sehr, ist eine willkommene Abwechslung. Keiner meiner Familie hatte seit Jahrzehnten trotz dieses steten Brennens einen einzigen Menschen verletzt; ihn weder zu fest angefasst, weil es nicht einfach ist, unsere Kraft perfekt einzuschätzen, noch gar sein Blut getrunken. Die goldenen Augen, die unsere Familie zu etwas außergewöhnlichen machten, waren der Beweis dafür. Doch obwohl ich um diesen Preis wusste, verbunden mit meiner Bereitwilligkeit ihn zu zahlen, konnte ich nicht umhin, mich dennoch wie ein ganz normaler junger Mensch von 17 Jahren zu verhalten und die Zeit in der Schule als unglaublich langweilig zu empfinden. Einschläfernd wäre ein treffenderes Wort. Zumindest für all die anderen Schüler; ich und meine Geschwister mussten uns damit zufrieden geben, wirklich einfach nur unendlich gelangweilt zu sein. Schlafen war uns seit dem Moment unserer Verwandlung in die toten Wesen, die wir jetzt sind, nicht mehr gestattet. Und obwohl ich jenes Buch von vorhin, dessen Spannung vor Schulbeginn an den Nerven aller zu zehren schien, wieder in die Hand nehmen konnte, war ich einfach nur enttäuscht vom weiteren Verlauf der Geschichte. Das Mädchen, das alle so ungeduldig erwarteten, war weder eine blonde, gut aussehende Strandschönheit noch ein kleines, hässliches Entlein. In keinem der beiden Fälle hätte sie mehr interessiert als sie es jetzt tut. Sowohl ihre Augen als auch ihre langen Haare waren von einem warmen, angenehmen Braunton, ihre Haut von einem zu blassen Teint für ihre lange Zeit in der Sonne, der die Schüler auf eine entfernte Verwandtschaft mit den Cullens, meiner Familie, schließen ließ. Ich hatte dieses Mädchen noch nie zuvor gesehen und nun, nachdem sie so viele erblickt hatten und ich mit ihnen und das aus fast jedem erdenklichen Winkel, hatte ich bereits mehr als genug von ihr. Scheinbar eine richtige Sensation. Wie ein ununterbrochenes Summen hörte ich nun Stimmen, die sie lobpreisten, ihr Aussehen anhimmelten oder ebenso wie meine Schwester den Aufruhr um sie einfach nicht verstanden. Sie stellte sich denjenigen, die sie ansprachen, als Bella Swan vor und verbesserte jeden von ihnen, der sie bei ihrem vollständigen Namen ansprach. Ihre Stimme stach nicht sonderlich aus denen der anderen hervor. Aus purer Langeweile hätte ich einfach versuchen können, ihren Gedanken zu lauschen, versuchen, für mich selbst ein wenig Abwechslung zu kreieren, auch wenn ich nicht das Gefühl hatte, dass ich irgendetwas Neues hören würde. Menschen im Allgemeinen und von denen besonders die, die ihr ganzes Leben in solchen Kleinstädten wie Forks verbrachten, hatten keine allzu unterschiedlichen Gedanken, sie ähnelten sich alle in der ein oder anderen Weise. Die Gedanken des neuen Mädchens würden sicherlich keine neuen Erkenntnisse bringen. Ebenso wenig wie ich irgendwas Neues im Unterricht lernen konnte. Ich wollte gar nicht so genau wissen, wie oft ich bereits das gehört hatte, was Lehrer Schüler beizubringen gedachten und wie sehr es sich hin und wieder voneinander unterschied. Die Gedanken meiner Familie waren da ein wenig abwechslungsreicher, aber durch ihre Vertrautheit auch nicht wirklich etwas völlig neues. Je länger das eigene Leben währte, desto weniger konnte man überrascht werden. Ich fragte mich bereits des Öfteren, wie mein Vater, Carlisle, wohl das menschliche Leben sehen würde, besäße er meine Gabe. Ob er immer noch so versessen auf seine Arbeit im Krankenhaus wäre oder ob sie seine Zuneigung für Menschen noch stärken würde? Wer wusste das schon? Ich nicht. Und jetzt, da die ersten Stunden vorbei waren und sich die Schüler in der Cafeteria versammelten, interessierte es mich nicht mehr allzu brennend. Ich würde für den Rest des Tages ein anderes Thema brauchen, über das ich mir den Kopf zerbrechen konnte. Hier in der Cafeteria wurde das stetige Hintergrundsummen der Gedanken von dem Gerede exakt derselben Schüler in seiner Lautstärke noch mal deutlich hervorgehoben; ich hörte nicht genau hin, aber die Unterschiede zwischen dem Gedachten und Gesagten waren so gravierend offensichtlich, dass ich nicht einmal genau hinhören musste. Edward Cullen. Mehr unbewusst als alles andere drehe ich meinen Kopf in die Richtung, aus der ich meinen Namen hörte. Egal, ob gedacht oder gesagt. Obwohl ich mich über die Zeit mit meinem Namen angefreundet habe und er mir nicht mehr so missfiel wie als kleines Kind, bin ich froh darüber, dass „Edward“ für die meisten Eltern nicht mehr als Name für ihr Kind in Frage kam. Gott sei Dank auch für keines der Elternpaare der Schüler. Meine reflexartige Bewegung führte meinen Blick zu Jessica Stanley, die neben der neuen Schülerin saß; sie erwiderte meinen Blick, doch ich sah sofort wieder weg. Nichts Interessantes. Nichts Neues. Doch wir waren für sie alle interessanter als für sie gut war. Ein Raubtier, das seine Beute so sehr durch die eigene unnatürliche Schönheit aus der Fassung bringt, dass die Jagd zu einem Kinderspiel wurde. Ich musste mich nicht einmal genau auf Jessica konzentrieren, um zu hören, was sie antwortete, obwohl sie flüsterte. „Das sind Emmet und Edward Cullen, und Rosalie und Jasper Hale. Das Mädchen, das gegangen ist, war Alice Cullen; sie leben alle bei Doktor Cullen und seiner Frau.“ Das übliche. Die normale Vorstellung und gleich würde sie sicherlich den ganzen Rest der Cullen-Geschichte vor der neuen Schülerin ausbreiten, die für die meisten männlichen Schüler immer schöner zu werden schien. Na dann. Ich hörte ihr nicht weiter zu – zumindest versuchte ich, ihr penetrantes Gerede auszublenden –, dennoch erzählte ich meinen Geschwistern von Jessicas Vorhaben. Emmet lachte leise und für Menschen unhörbar, doch er sah mich nicht an, murmelte eine Antwort vor sich hin und auch das für Menschen unhörbar. „Und? Was denkt die Neue so von uns? Irgendwelche lustigen Theorien?“ Ein Punkt, auf den ich später erst geachtet hätte. Noch nicht jetzt. Sie war erst neu hier und sie würde vermutlich an nichts anderes denken als an die übernatürliche Schönheit, mit der unsere Familie gesegnet zu sein schien. So wie jeder andere auch. Aber da mein Bruder eine Antwort haben wollte, tat ich ihm den Gefallen und konzentrierte mich auf die Stelle neben Jessica. Doch nichts. Stille. Sollte sie etwa weggegangen sein ohne, dass ich es hörte? Nein. Unmöglich. Ich drehte den Kopf in ihre Richtung und sie saß immer noch da, genau wie vorher. Und als ich zu ihr sah, da waren ihre Augen auf mich gerichtet und für einen kurzen Moment waren unsere Blicke miteinander verbunden, dann schaute sie weg. „Wer ist der Junge mit den rötlichbraunen Haaren?“, fragte der Neuling seine Nachbarin und ich fühlte mich nicht im Geringsten geehrt durch ihr Interesse an mir. Das erste Mal, dass ich bewusst auf ihre Stimme achtete und sie entsprach keiner der psychischen Stimmen, die ich überall aus dem Raum hören konnte. Nichts. Leise, schüchtern. Vollkommen fremd. Ich konzentrierte mich noch mehr auf ihren Platz, wandte den Blick nicht von ihr ab. Es änderte nichts. Ihre Gedanken blieben stumm für mich. Und es ärgerte mich. Noch nie während meines gesamten Lebens und das dauerte insgesamt nun bereits seit mehr als 100 Jahren waren die Gedanken einer Person unlesbar für mich. Natürlich war diese Gabe zu meiner Zeit als Mensch nicht so gut ausgebildet wie sie es jetzt ist – damals musste ich eine Person mindestens sehen, um ihre Gedanken lesen zu können (und in manchen Fällen war es auch nur ein Erahnen, aber in mehr als 90 Prozent aller Fälle lag ich richtig). Deswegen waren diese unhörbaren Gedanken umso deprimierender für mich. Denn alle anderen Personen, die mit ihr am Tisch saßen, hörte ich genauso gut wie sonst auch. Nur sie bildete die Ausnahme, was sie letzten Endes dann auch für mich außergewöhnlich machte und es gefiel mir nicht im Geringsten. Ich sah weg und blickte wieder irgendwo ins Nichts, auf keinen bestimmten Punkt, obwohl meine Augen so viel mehr entdeckten als sich ein Mensch je zu träumen erwagte. So viele Stimmen, die ich hörte, und doch stach die Jessicas deutlich hervor, als sie auf die Antwort Swans antwortete. „Das ist Edward. Er ist supersüß, klar, aber mach dir keine Hoffnungen. Er ist an Mädchen nicht interessiert, zumindest nicht an den Mädchen hier. Scheinbar ist ihm keines hübsch genug.“ Dieser Idiot. Dabei hätte er doch schon längst eine Freundin haben können – mich! Die Bitterkeit, die in ihrer gedanklichen Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. Sie erinnerte sich an den Moment, in dem ich ihr höflich (es fiel mir schwer, höflich zu sein, hatte sie mich doch vorher mit ihrem Gelaber stundenlang genervt), aber deutlich verständlich machte, dass ich keinerlei Interesse an einer Beziehung und noch weniger an einer mit ihr hatte. Wochenlang danach durfte ich mir ihre deprimierten Gedanken anhören, wenn ich die Stimmen nicht alle ausblendete und zu spät darauf achtete, dass sie in der Nähe war. Jetzt schien sie sich einfach damit zufrieden zu geben, dass noch keine andere den Platz an meiner Seite bekommen hatte, den sie nur sich selbst zuschrieb. Diese besitzergreifende Seite von ihr wegen einer Person – und „Person“ setzte ich nicht gleich mit „Mensch“ –, vor der sie fliehen und die schlimmsten Albträume haben würde, wüsste sie die Wahrheit über sie. Sie kann sich glücklich schätzen, unwissend zu sein. Ebenso wie das neue Mädchen an ihrer Seite, doch ihre Neugier uns bezüglich schien noch lange nicht befriedigt. Ich sah in ihren Augen, dass dort noch unbeantwortete Fragen brannten, wenn auch nicht deutlich sichtbar; wahrscheinlich wollte sie nicht zu aufdringlich wirken und hielt sich deshalb zurück. Wir verließen die Cafeteria, während sie immer noch dort saß, den Blick auf ihre Mitschüler gerichtet, wenn auch nicht an den Gesprächen beteiligt. Ich hatte Emmets Frage nicht beantwortet und ich weiß, er hatte sie auch nicht vergessen, doch er wiederholte sie nicht, schien auch nicht wirklich an der Antwort interessiert. Wortlos trennten sich unsere Wege, dennoch blieb meine Aufmerksamkeit weiter bei ihnen. Es war bei Weitem interessanter, ihren Gedanken zu lauschen als denen der Menschen um mich herum – sie wiederholten sich nur und drehten sich immer noch nur um Swan. Zumindest fast interessanter. Rosalies Gedanken drehten sich ausschließlich um ihr neues „Baby“, einen Wagen, den sie erst vor kurzem neu erworben hatte, während Em ebenfalls an sein „Baby“ dachte – Rose. Jasper versuchte sich mit irgendetwas abzulenken, schwelgte in Erinnerungen, die nicht im Entferntesten irgendetwas mit Menschen oder ihrem Geruch zu tun hatten, und landete deswegen bei den Nächten, die er mit Alice verbrachte. Eindeutig unmenschlich. Schnell verschwand ich wieder aus seinem Kopf und lauschte Alice, die um Jaspers Zustand besorgt war und deswegen auf jeden möglichen Weg seiner Zukunft achtete. Und auch wenn kein einziger davon einen toten Menschen, umgebraucht und ausgesaugt von ihrem geliebten Gefährten, als Ergebnis hatte, wurde ihre Sorge nicht geringer. Im Gegenteil. Wir mussten heute Abend jagen gehen – ein Risiko einzugehen war etwas, das wir uns nicht leisten konnten. Wenn Jasper es nicht mehr aushielt, dem Drang, der Versuchung zu widerstehen, dann musste Abhilfe geleistet werden. Wir durften uns nicht den geringsten Fehler erlauben, wenn es darum ging, uns vor unserer Offenbahrung als das, was wir wirklich waren, zu offenbaren. Als blutsaugende Monster. Und dass wir selbst uns als „Vegetarier“ sahen, da menschliches Blut nicht auf unserem Speiseplan stand, machte im Fall eines Fehlers keinen Unterschied. Bei einem solchen Fehler waren wir eins mit all den anderen Vampiren, die dieses Land durchstreiften und genau das wollten wir und besonders Carlisle, unser Vater, so viel älter als wir alle, seit unserer Entscheidung für diese Lebensweise verhindern. Noch immer lauschte ich ihren Gedanken, als ich bereits in dem Raum saß, in dem meine nächste Unterrichtsstunde stattfinden würde und nur die Tatsache, dass die Gedanken der anderen Schüler im selben Raum sich plötzlich wieder um die Neue drehten, lenkte mich ein wenig ab. Sie betrat den Raum und ging direkt zum Lehrer. Die Arme. Neben mir war der einzig freie Platz im Raum und ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als für den Rest des Schuljahres in Biologie neben mir zu sitzen, einem Wesen, das Menschen, vertrauten sie ihren Instinkten mehr als ihrem Verstand, fürchten sollten. Ein Schuljahr voller Angst. Und jetzt ärgerte es mich wieder, dass ich ihre Gedanken nicht hören konnte, ich nur auf ihren Atem und ihren Herzschlag achten konnte, der mir ungefähr verriet, was sie empfand. Sie ging durch die Tischreihen und in den Gedanken der anderen sah ich, wie ihr Blick auf mir hing; ich konnte ihn förmlich spüren. Nichts besonderes, immer noch. Nur … Als sie direkt neben meinem Tisch war und nachdem sie ihre Unterschrift abgeholt hat, auch ihrem Tisch, erfüllte ihr Geruch den Gang und danach den ganzen Raum. Er traf mich unerwartet und ich zuckte zusammen. Diese Macht, die von ihm ausging – nein, vielmehr die Verführung – war unbeschreiblich. Seine Süße, sein Zauber war beispiellos, unrealistisch und in meiner Kehle entfachte ein unglaubliches Feuer. Mein Hals brannte vor Schmerz. Vor Verlangen nach seinem Ursprung. Dem Blut des Mädchens, das jetzt stolperte und sich an einem Tisch klammerte um nicht zu fallen. Ich hatte ihre Augen auf meine gerichtet gesehen und ihre weiteten sich vor Angst, vor was auch immer sie in meinen gesehen hatte. Ich versteifte und verkrampfte mich geradezu, wollte mich nicht bewegen und diesem Verlangen nachgeben. Aber das Brennen war so unerträglich! Ich müsste doch nur ein bisschen geduldig sein … nur bis zum Ende der Stunde … und dann ein paar kurze, nette Worte – das war alles, was nötig war. Ich bin ein Raubtier, das seine Beute ohne Gewalt verzaubern kann. Widerstandslos und ohne Ängste würde sie mir folgen, wohin auch immer … in eine kleine, dunkle Ecke. Irgendwohin, wo uns niemand sehen könnte … vollständig um den Verstand gebracht von meinen süßen Worten, meinem für sie alle schönen Aussehen, von der Tatsache, dass ich allein ihr meine Aufmerksamkeit schenkte, würde sie nichts von meiner Absicht merken. Wenn meine Lippen die ihren berührten, nur ein schwacher Hauch, würde sie meinen Namen murmeln, zu mehr nicht fähig, und dann würden mein Mund ihre Lippen verlassen, ihren Kiefer und ihren Hals verwöhnen und dann, wenn er schlussendlich bei ihrer Halsbeuge angekommen ist, sich öffnen und … Leise und bei der momentanen Lautstärke für den Lehrer nicht hörbar vibriert mein Handy in meiner Hosentasche und die kleine Ablenkung reißt mich aus meinen Träumereien heraus, macht den brennenden Schmerz in meinem Hals auf einmal wieder unerträglich realistisch. Ich musste nicht auf das Display schauen, um zu wissen, dass es meine Schwester Alice war, die mich rettete – ihre Gedanken konnte ich bis hierhin hören, vorwurfs- und zugleich verständnisvoll. Mein Blick löst sich nicht von diesem fremden Mädchen, während sie sich wieder umdreht und zu meinem Tisch kommt. So weit, wie es der Tisch erlaubte, rückte ich von ihr weg, hielt den Atem an – ich brauchte ihn nicht. Und schon gar nicht, wenn die reine Versuchung nun für den Rest des Schuljahres in Biologie neben mir saß und dieses unglaubliche Brennen sich immer und immer wieder wiederholen würde. Der Schmerz wurde schlimmer, ich konnte ihren Geruch um mich herum geradezu spüren, wie er die Luft erfüllte, scheinbar mit jeder Sekunde erschwerender werdend, nur um mich zu foltern. Diese persönliche Pein wurde mit jeder weiteren ewigen Minute unerträglicher und dann bewegte sie auch noch ihre Hand, richtete ihre Haare so, dass sie ihr Gesicht verdeckten und wehte die mit ihrem Duft geschwängerte Luft zu mir rüber. Das Feuer in meinem Hals brachte mich um. Selbst der Schmerz meiner Verwandlung vor Jahrzehnten verblasste auf einmal verglichen mit dem, was dieses Mädchen mit mir tat. Dabei reichten doch nur ein paar Worte – das war alles … oder noch nicht einmal das. Es war genug, wenn ich ihr nach Schulschluss nach Hause folgte. Ihr Vater würde dann noch nicht da sein und von ihr unbemerkt würde ich mich ins Haus schleichen und wenn sie mir den Rücken zuwendet ihren Oberkörper mit meinen Armen umfassen und nahezu sanft und liebevoll meine Zähne in ihr sanftes Fleisch drücken und dann – oh Gott – welch zuckersüße Erlösung würde mich durchrieseln! Welch angenehm kühles Wasser würde das Feuer in meiner Kehle löschen und mich vor dem Feuertod erretten! Das Mädchen würde nichts merken, nicht viel und bevor es überhaupt nur daran denken konnte, was genau mit ihr geschieht, wäre sie bereits tot. Wie Schade, dass ich ihre Gedanken nicht lesen konnte … Und wieder vibrierte das Telefon in meiner Hosentasche. Das stetig gleiche Summen schien genauso empört wie Alices Gedanken, die mich nahezu anschrieen. Die Sorge um Jasper war verschwindend gering verglichen mit dem, was ich tun könnte und würde, nur um das Blut dieses einen Mädchens zu kosten. Ich würde unzählige Menschen töten, wie ich es bereits vor vielen Jahren tat – die Kinder hier im Klassenzimmer waren kein Hindernis. Sie wären schnell tot. Einem geübten Jäger wie mir entkommt keiner. Edward! Hör auf! Innerlich seufzte ich und die Luft schien fürchterlich in meiner Luftröhre zu kratzen, als ich sie aus meinem Körper entweichen ließ, schien dieses zerstörerische Feuer nur noch mehr anzustacheln. Meine Hand ballte ich zur Faust über dem Handy, nahm den minimalen Widerstand, den ich spürte, als Erinnerung an das, was ich fast getan hätte. Vielleicht war es ja genug, mich von einem fatalen Fehler abzuhalten. Vor einer Minute erst dachte ich darüber nach, dass wir heute jagen müssten, Jasper zuliebe. Und nun war ich derjenige, der eine Jagd, eine Ablenkung von dieser Versuchung, am nötigsten hatte – dieses Mädchen, Isabella Swan, war mein Untergang. Ein Dämon aus meiner eigenen Hölle, um meine Existenz zu verraten und zu vernichten. Jede einzelne Sekunde, jede weitere Minute tat ich nichts anderes, als einfach nur durchzuhalten. Nichts anderes zu tun als das. Nur noch bis zum Ende der Stunde. Dann war ich frei von ihr. Mehr brauchte ich nicht zu schaffen. Und das schaffte ich. Sicherlich. Das wusste ich. Nahm ich zumindest an. Verdammt! Zischend atmete ich durch die Zähne ein, wollte meinem Zorn Luft machen und bereute es sofort. Nein, nicht nur ein Dämon aus meiner Hölle – der Teufel persönlich und er war gekommen, um mich zu vernichten. Und dazu brauchte es nicht mehr als seine pure Anwesenheit. Ein bösartiger Teufel mit glänzenden roten Augen, der – Ich schreckte geradezu zurück vor der Vorstellung, die sich nun in meinen Gedanken breit machte. In ihr sah ich mich selbst und mir gegenüber meinen Vater Carlisle; in seinen goldenen Augen konnte ich mein Spiegelbild deutlich sehen: Schuldig und beschämt erwiderte ich seinen Blick aus eben jenen roten Augen eines Teufels. Meine Augen sollten genauso golden sein. Von derselben Angst, das Monster, das wir waren, wirklich zu sein, zeugen. Doch mit diesem furchterregenden Rot taten sie das nicht. Das Rot war ein eindeutiger Beweis dafür, dass ich nicht anders war als all die anderen Vampire, von denen wir uns so deutlich distanzierten und worauf wir so unglaublich stolz waren. Ich wollte meinen Vater nicht so dermaßen enttäuschen. Kaum klingelte es zum Ende der Stunde, hatte ich das Zimmer nur Sekunden danach verlassen. Es war mir egal, wen auch immer meine Geschwindigkeit nun verschreckt haben mochte – sie war noch menschenmöglich und das war das einzige, was zählte. Ich hatte seit meinem letzten kleinen Fehler nicht mehr geatmet, hatte die Stunde über einfach nur still dagesessen und das Bild von mir und Carlisle in meinem Kopf gesehen. Meine Schuld, meine Scham und seine unglaubliche Enttäuschung von seinem eigenen Sohn. Und mit noch immer demselben Bild ging ich so schnell wie möglich ohne von meinen Vampirkräften Gebrauch zu machen zum Sekretariat. Ich würde alles daran setzen, dieser Versuchung zu entkommen. Doch ich wurde bitter enttäuscht und es wurde auch nicht im geringsten besser, als jenes Mädchen dann auch noch in den kleinen warmen Raum kam, der ihren Duft schnell und bis in die letzte Ecke erfüllte, als eine weitere Person die Tür öffnete und einen Windstoß hereinließ. Ich drehte mich um, sah sie, Gänsehaut auf ihrer Haut und erfüllt von Angst. Genau wie in meiner Vision von Carlisle und mir sah ich auch jetzt mein Spiegelbild in ihren braunen Augen und die meinen waren pechschwarz; wie mein verzweifelter Gesichtsausdruck wohl für sie aussah? Für nur eine Sekunde verlor ich mich in ihren Augen, in meinem eigenen Spiegelbild und wurde an den Teufel mit den roten Augen erinnert. Ich wandte mich von dem Teufel mit den braunen Augen ab und blickte wieder zur Sekretärin. „Okay. Ich verstehe, dass es unmöglich ist. Haben Sie vielen Dank für ihre Mühe.“ Das klang höflicher und meine Stimme samtener, als ich mich wirklich fühlte. Das Herz der Sekretärin, das ich zum Rasen brachte, ihr Blut, das schneller durch ihren Körper gepumpt wurde, wirkte geradezu ranzig und ungenießbar im Vergleich mit dem, was ich hinter mir vernaschen könnte und es wäre nur eine weitere Zeugin zu beseitigen – keine sonderlich große Schwierigkeit. Die Frau nickte, beendete das Gespräch somit und ich verließ fluchtartig den kleinen Raum, sah das Mädchen nicht an, drehte mich nicht um, ging einfach direkt auf mein Auto zu, mit dem meine Geschwister und ich jeden Morgen zur Schule fuhren. Noch war keiner von ihnen da und jede Sekunde schien sich ewig hinzuziehen, bis sie endlich überhaupt mein Sichtfeld betraten. Hier in meinem Volvo roch nichts nach ihr, nur der Gedanke an ihren Geruch raubte mir den Verstand; ich atmete tief ein – nichts. Nur mein Geruch, der den meiner Geschwister nur schwach überlagerte. Dennoch beruhigte ich mich nur ein wenig, ungeduldig auf sie wartend, bis sie endlich kamen. Die letzte Tür war noch nicht einmal geschlossen, da trat ich bereits aufs Gaspedal und brachte und den Wagen herzloser als sonst aus der Parklücke und fuhr los, schneller als sonst. Das Tempo beunruhigte keinen; einen Unfall würden wir im Gegensatz zu meinem Volvo unbeschadet überstehen, doch in ihren Gedanken hörte ich eindeutig ihre Sorge um mich. Besonders bei Jasper. „Du gehst?“ „Tue ich das?“ Meine Worte waren nicht mehr als ein Gemurmel, erfüllt von Zorn, der sich gegen diesen Dämon mit den roten Augen richtete. Gegen mich selbst. „Wann kommst du wieder?“ Wann hatte ich denn gesagt, dass ich gehe? Mit diesen Augen voller Zorn, der ihr nicht galt, sah ich meine Schwester Alice an, die sich auf den Beifahrersitz gesetzt hatte, ihre Augenbrauen in einer sorgenvollen Linie zusammengezogen. In ihren Gedanken erinnerte sie sich an die Visionen von vorhin, in denen ich das Mädchen Isabella in eine dunkle Ecke lockte, sie verführte mit Stimme und Aussehen, um an ihr gottgleiches Blut heranzukommen. „Hör auf!“ Meine Worte waren begleitet von einem leisen, aber doch deutlichen Knurren. Es jagte ihr keine Angst ein, aber dennoch wandte sie den Blick ab und entschuldigte sich in ihren Gedanken. „Was ist los? Edward?“ Ich ignorierte Emmet. „Edward!“ Und auch Rose beachtete ich nicht weiter. Wenn du es nicht aushältst, solltest du wirklich gehen … Das waren Jaspers Gedanken und wäre ich nicht so von meiner Wut auf mich selbst besessen, von dem Brennen in meinem Hals, das nur langsam abnahm, hätte ich Dankbarkeit gegenüber seinem Verständnis empfunden. Doch jetzt achtete ich nicht drauf, als hätte ich es nicht gehört. „Ich werde dich vermissen, Bruder …komm bitte schnell zurück …“ Es war nur ein Flüstern und noch immer sah sie mich nicht an. Wir waren nur noch wenige Kilometer von unserem Haus entfernt. Ich hielt den Wagen an der Seite an, riss die Tür auf, und rannte davon, ohne mich auch nur ein einziges Mal nach meinen Geschwistern umzudrehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)