Wie der Mond so wandelbar von Bint-Lilith ================================================================================ Kapitel 1: 1869, Spätsommer - MIREILLE -------------------------------------- »Mireille! Bist du noch bei Sinnen!?«, fuhr Madame Papillon das Mädchen wutentbrannt an, als diese einen Gast mit Bier überschüttete. »Aber er hat mich angefasst!«, erwiderte Mireille empört, konnte sich jedoch ein Grinsen nicht verkneifen, als sie Jean, den Sohn ihrer Arbeitsgeberin, lachen sah. Kopfschüttelnd entschuldigte sich Madame Papillon bei dem nassen Gast für das widerspenstige Mädchen. Zwar missbilligte sie es, wenn ihre Arbeiterinnen unschicklich angefasst wurden, doch Mireille begann ihr schon die Kunden zu vergraulen. Marie Papillon war eine, wie Mireille fand, noch immer hübsche, jedoch mittlerweile etwas stämmige Frau Anfang vierzig, die zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn Jean das Wirtshaus mit dem schmeichelnden Namen Grand Papillon führte. Sie hatten Mireille, die schon seit Jahren mit ihrem Sohn befreundet war, mit dreizehn als Helferin eingestellt und hegten für das Mädchen beinah familiäre Gefühle. »Heute lass' ich dich erst gehen, nachdem du den Boden gewischt hast«, Madame Marie warf dem Mädchen einen tadelnden Blick zu. Als diese lediglich mit einem Kichern antwortete, stemmte die Ältere die Hände in die Hüfte. »Das soll dir eine Lehre sein. Du kannst die Gäste nicht einfach mit ihrem Getränk überschütten. Wir leben von diesem Lokal, Mireille!« »Es tut mir ja leid, Madame Marie. Ich bemühe mich, dass es nicht wieder vor kommt.« »Wir könnten den Gästen auch einfach Manieren beibringen«, warf Jean mit ein, der an einem Hähnchenschenkel kauend hinter der Theke saß. »Der Herr des Hauses hat wohl gesprochen. Du kannst Mireille gleich mit helfen.« Jean sprang von seinem Hocker auf und wandte sich der Eingangstür zu. »Mireille, wenn du fertig bist, bring ich dich nach Hause. Ich warte so lange draußen.« Kaum hatte Mireille seine Worte vernommen, griff sie strahlend nach dem Feudel und begann eifrig den Boden zu wischen. Jean hatte sein Wort gehalten und wartete am Eingang auf sie. Auch wenn sich das Haus ihrer Tante, bei der Mireille wohnte, nur zwei Straßen vom Gasthaus entfernt befand, war sie doch froh darüber, dass Jean sie begleiten wollte. Es war Neumond und trotz der Straßenlaternen, war der Weg dürftig beleuchtet. Sie lebten nicht gerade im reichsten Viertel Paris‘, sondern in einem Viertel des 12. Arrondissements, nahe des Place de la Bastille und obwohl sich dort nicht unbedingt oft Übles ereignete, sollte keine Frau nachts einsam in den Straßen umherirren. Mireille kostete es viel Überwindung und Mühe sich zusammenzunehmen und sich nichts anmerken zu lassen, sondern kühl und distanziert neben Jean ihren Weg zurückzulegen. Sie wusste nicht wie und warum es passiert war, aber seit einigen Monaten begann sie stets närrisch zu grinsen, wenn sie Jean erblickte. Vor allem über das warum wunderte sie sich, da ihr Jeans allzu offensichtliche Makel bewusst waren. Sie war mit diesem Mann aufgewachsen, wie konnte sie sich aus heiterem Himmel in einen Freund verlieben? Jeden Tag betete sie aufs Neue es würde bald vergehen, es wäre nur eine Gefühlsduselei und Jean möge nichts von all dem bemerken, was in Mireille vorging. Sie konnte sich nur ausmalen, was für ein Albtraum sie dann erwarten würde. Doch bis auf Weiteres waren ihre Befürchtungen unbegründet, da Jean üblicherweise nur Augen für sich selbst hatte. Halbherzig hörte Mireille seiner selbst lobenden Rede zu, verabschiedete sich mit einem anerkennenden Nicken und als sie in das kleine Fachwerkhäuschen eintrat und die Tür hinter sich schloss, kam es ihr so vor als könnte sie nach einer Ewigkeit endlich wieder atmen. »Sei gegrüßt, Kind«, hieß Giselle sie willkommen ohne von ihrem Kochtopf aufzuschauen. Giselle blieb stets so lange wach und wartete mit dem Essen, bis Mireille vom Grand Papillon zurück war. Mireille hatte oft mit ihr darüber debattiert, aber ihre Tante wollte nicht einsehen, dass sie abends nicht für Mireille zu kochen brauchte und wenn sie doch Hunger hatte, sie sich selbst etwas zubereiten konnte. Aber es hatte zu nichts geführt. Mireille hatte es längst aufgegeben, gegen Giselles Sturheit anzukämpfen. Sie hatte es akzeptiert und mit der Zeit war auch ihr schlechtes Gewissen gegenüber dieser Sache verflogen. »Sei gegrüßt, Giselle«, entgegnete ihr Mireille mit einem müden Lächeln. Das Haus duftete nach Fischeintopf. Ein Eintopf aus gestampften Kartoffeln und Heilbutt. Giselles Spezialität. Es war eigentlich ein einfaches Gericht, aber die Gewürze, die Giselle hinzu gab, perfektionierten den Eintopf. Mireille liebte ihn. Sie könnte jedes Mal der Völlerei verfallen, wenn ihre Tante ihn zubereitete. »Wie war die Arbeit? «, fragte Giselle ihre Nichte hölzern, während sie das Essen auftrug. Sofort fiel Mireille über ihre Schale her und seufzte schmachtend. »Wie immer.«, entgegnete sie Giselle kauend. »Wann verrätst du mir endlich deine geheimen Zutaten?« Giselle hatte sie ihr bisher nie gesagt. Mireille rührte in ihrer Schale und versuchte zum unzähligsten Mal den Inhalt zu erraten. »Ingwer. Der Ingwer ist heute stark.« »Ich füge das Rezept meinem Testament bei.« Mireille schüttelte resigniert den Kopf. »Giselle, manchmal bist du selbst mir zu düster.« Giselle war als junge Frau nach Paris gezogen, wo sie den Handwerker Louis geheiratet hatte, der sich jedoch nur wenige Jahre später eine Blutvergiftung zugezogen hatte und an deren Folgen gestorben war. Die Ehe war kinderlos geblieben und Giselle hatte nicht erneut geheiratet. Dementsprechend war Giselle sehr glücklich darüber, dass Mireille ihr Mündel wurde. Für sie war es ein Trost und auch Mireille war sehr glücklich mit Giselle als Ziehmutter. Ihre Tante war zwar stets von einer gewissen Melancholie umgeben, aber sie war gebildet. Sie hatte Mireille Lesen und Schreiben, sowie die Liebe zur Literatur gelehrt. Den Kopf in der Hand gestützt, betrachtete Mireille ihre Tante eingehend. Giselle war alt geworden. Sie war nur wenige Jahre älter als Marie Papillon, aber im Gegensatz zu ihr wirkte Giselle fast greisern. Ihr Haar war gänzlich ergraut, Krähenfüße hatten sich um ihre Augenwinkel gebildet, der Blick der graublauen Augen war glasig, eine Falte auf ihrer Stirn ließ sie stets argwöhnend aussehen, ihre Lippen waren von vielen kleinen Fältchen umgeben und ihre Wangen waren erschlafft. Sie wirkten beinah wie die Wangen dieser eigentümlichen Hunde, dachte sich Mireille und verkniff sich ein spitzbübisches Grinsen. »Sag mir wie es sich wirklich zugetragen hat. Warum hat uns Mutter damals verlassen?« Bevor Giselle Mireille im Alter von sechs Jahren aufgenommen hatte, lebte das Mädchen mit ihren Eltern und drei Geschwistern in einer kleinen Burg in der Provence. Die Familie ihres Vaters stammte von einem verarmten Adelsgeschlecht ab, das alles außer ihr Heim verloren hatte. So war es vielen Adligen nach der Revolution vor rund achtzig Jahren ergangen. Als Mireilles Mutter jedoch eines Nachts mit ihrem Geliebten durchgebrannt war und Gemahl und vier Kinder zurückgelassen hatte, endete Mireilles Leben in der Provence. Ihr Vater war damals schwer krank gewesen und aufgrund der Taten seiner Gemahlin dem Alkohol verfallen. Mireille und ihre drei Geschwister wurden daraufhin auf die nahen Verwandten verteilt. Zumindest war dies die Geschichte, die sie seit dem Kindesalter zu hören bekam. Mireille fand, es hätte sie schlimmer treffen können. Sie mochte Giselle und hatte sich gleich zu Anfang mit den Kindern in der Nachbarschaft verstanden, allen voran mit Jean, der nun seit zwölf Jahren ihr bester Freund war. Giselle runzelte die Stirn, schaute ihre Nichte an und ließ einige Augenblicke vergehen, ehe sie den Blick abwandte und ihr entgegnete: »Du kennst die Antwort. Deine Mutter hat sich in einen anderen verliebt, mit dem sie eines Nachts verschwunden ist, ohne sich je wieder blicken zu lassen.« »Unsinn. Ich weiß, dass du nur das nachsprichst, was die anderen beteuern. Du bist die einzige, die ohne Häme und Abscheu über Aliénor spricht.« »Ich habe dir gesagt, du sollst deine Mutter nicht so nennen.« Giselle zog ihr Tuch fester um die Schultern. »Ich werde nun zu Bett gehen. Gute Nacht, mein Kind.« Mit diesen Worten ging Giselle in ihre Kammer und ließ Mireille wie jedes Mal unzufrieden und einer Antwort schuldig zurück. Aber Mireille hatte sich auch daran längst gewöhnt. Sie räumte die Küche auf und setzte sich nochmals an den Tisch, um in der Zeitung, die neben Giselles Nähutensilien lag, zu blättern. Giselle verdiente ihr Geld als eine Art Gelegenheitsschneiderin. Sie erledigte Aufträge, die beispielsweise aus Hosen flicken oder Gewänder enger nähen bestanden. Es reichte zum Leben, da sie das Häuschen von Louis geerbt hatte und keine Schulden hatte. Durch Mireilles zusätzliche Arbeit konnten sie sich vieles leisten um das Leben lebenswerter zu gestalten. So zum Beispiel die verhältnismäßig vornehmen Gewürze für den Eintopf. Nachdem Mireille eingehend die Todesanzeigen studiert hatte, überflog sie gelangweilt den politischen Teil der Zeitung. Über einem Artikel prangerte die Überschrift Rache für Sadowa. Zwar interessierte sie sich nur mäßig für Politik, aber ihr war bewusst, dass zwischen Frankreich und Preußen ein Konflikt bestand. Der nach Rache lechzende Artikel sollte das französische Volk gegen die Preußen aufhetzen und das Vertrauen in Napoleon III. stärken. Er stärkte jedoch weder Mireilles Vertrauen in den Kaiser Frankreichs, noch schürte er in ihr Hass gegen die Preußen. Sie fragte sich lediglich ob ihnen ein Krieg drohen könnte und ob sie diesen Krieg auch in Paris spüren würden. Während sie über die Folgen eines Krieges nachdachte, spürte sie plötzlich einen Schmerz in ihrem rechten Zeigefinger. Unbewusst hatte Mireille nebenbei mit Giselles Nähutensilien gespielt und sich mit einer Nadel in den Finger gestochen. Mireille drückte auf die Fingerkuppe, sodass ein kleiner Tropfen Blut hervorquoll und führte den Finger zum Mund. Plötzlich musste sie daran denken, wie viel Blut ein Krieg doch fordern würde. Als Mireille am nächsten Morgen erwachte, fehlte ihre Tante. Auf dem Küchentisch hatte sie eine Nachricht zurückgelassen, in der sie ihre Nichte wissen ließ, dass sie zur Kirche gegangen war. Mireille las in den Zeilen einen subtilen Vorwurf, dass sie für Giselles Geschmack zu selten das Gotteshaus besuchte. Giselle war der gläubigste Mensch, den Mireille bisher kennengelernt hatte. Zwar hatte ihre Tante sie gläubig erzogen, aber diese bedingungslose Demut, die Giselle zu Tage legte, hatte sich Mireille nie angeeignet. Wäre es nicht dazu gekommen, dass Giselle ihre Nichte adoptiert hatte, wäre sie womöglich in ein Kloster gegangen. Kirchen reizten Mireille, insbesondere wenn es sich um alte Bauwerke handelte. Sie liebte jene beinah unantastbare Atmosphäre, die sie boten. Und manchmal verspürte sie eine Art inneren Drang, der sie so lange rastlos machte, bis sie in einem Gotteshaus saß und das pater noster betete. Meistens saß sie in der Notre Dame und betrachtete immer wieder von neuem fasziniert, die detailreich bemalten Fenster, oder rätselte etwa wie viele Generationen schon vor ihr auf diesen Bänken gesessen hatten. Die Kapelle ihres Viertels war eine schlichte, kleine Kirche, deren Messen hauptsächlich ältere Damen und Witwen besuchten. Die Messen langweilten Mireille furchtbar, und Mireille mochte den fassrunden, kleinen Priester mit seiner anstrengend hohen Stimme nicht. Aber sie kam nicht umhin Sonntags abwesend zu sein, zumal sie keinesfalls wollte, dass Giselle ihr zürnte. Es war stets dasselbe Martyrium. Nach spätestens einer halben Stunde begann sie mit den Gedanken abzuschweifen und musterte gähnend die anderen Gläubigen, während Giselle sie immer wieder stupste und sie mit Gesten darauf hinwies, dass sie sich bekreuzigen musste oder ehrfürchtig die Hände in ihrem Schoß gefaltet halten sollte. Sobald sie schließlich zu Hause waren, folgte jedes Mal eine Standpauke in der Giselle ihrer Nichte erklärte, dass sie ihr blasphemisches Verhalten nicht billigte. Wahrscheinlich würde sie auch dieses Mal solch eine Rede erwarten. Mireille hörte Giselle schon wüten Ich sage dir, das ist dieser Flegel Jean, der dir diese Flausen in den Kopf setzt! Ich kenne seinen Vater, der ist genauso ein Ketzer. Aber Mireille nahm es immer gelassen, denn es waren einzig diese kleinen Ausbrüche, die die sonst so lethargische Giselle menschlich wirken ließen. Seufzend begann Mireille sich umzuziehen und ihre Stimmung hellte sich auf, als sie sich auf den Weg zur Arbeit machte. »Ich sage dir, so große Augen hat sie dann gemacht, als ich behauptete, in mir flösse königliches Blut«, erzählte Jean lachend. »Sie hat es mir ohne Argwohn geglaubt. Und dann bekam ich das Brot ganz umsonst.« Mireille hing an Jeans Lippen, als dieser von seinen Erlebnissen auf dem Markt erzählte. Er hätte ihr jeglichen Unsinn erzählen können, sie hätte ihm dennoch begeistert gelauscht und schwärmend drein geblickt. Der Abend war schon vorüber und Mireille schrubbte die Tische, während Jean an der Theke lehnte. Mireille war es den ganzen Tag schon schwer gefallen, den Blick von Jean abzuwenden. Ehe sie sich versah, ertappte sie sich, wie sie Jean ansah und lächelte. Sie verspürte bisweilen sogar Verärgerung, wenn Jean mit einem weiblichen Gast sprach. Sie merkte, dass sie sich immer stärker nach Jean verzehrte und sie fragte sich, wie sie dieses Gefühl abschalten könnte. So konnte es schließlich nicht weiter gehen. Jean war das einzige Kind des Ehepaares Papillon und dementsprechend hatten die beiden ihren Sohn verhätschelt. Insbesondere Marie Papillon behandelte ihren Sohn von Zeit zu Zeit wie einen Heiligen. Jean war eine gelungene Mischung der beiden. Sein Selbstvertrauen und den Charme hatte er von seiner Mutter und das gute Aussehen zum größten Teil von seinem Vater Robert. Sie hatten die gleichen dunklen Locken und die gleichen kantigen Gesichtszüge. Jean hatte jedoch die graugrünen Augen seiner Mutter geerbt. Lediglich eine leichte Lücke zwischen seinen Schneidezähnen brach die Perfektion, durch die er aber auf Mireille um so interessanter wirkte. Mireille beneidete ihn. Er hatte keinen äußerlichen Makel der beiden angenommen. Er war weder klein und füllig wie seine Mutter, noch hatte er die überdurchschnittliche Größe und das Arbeiterkreuz wie sein Vater. Er war gescheit, wortgewandt, brachte Mireille zum Lachen. Ihr fielen unzählige Attribute ein, die Jean beschrieben. Es war beinah so, als ob er von adeliger Abstammung sei und nicht etwa sie. Letztendlich hatte aber auch Jean seine Fehler. Er war sich seiner selbst zu sehr bewusst. Er war eitel, arrogant und egoistisch. Seit jeher nannte Mireille ihn Narziss, was Jean aber nicht verletzte, sondern irrsinnigerweise stolz machte. Sie selbst war die hoffnungslos verliebte Echo, der Narziss‘ Gunst nie zu Teil werden sollte, sondern die einem schrecklichen Schicksal begegnen würde. Auf seine Selbstverliebtheit folgte seine abwertende Behandlung von Frauen. Jean wusste, dass er Menschen, insbesondere Frauen, mit seinem Aussehen und seiner Art regelrecht verzaubern konnte. Er musste weibliche Gäste nur anlächeln um ihnen weiche Knie und sich selbst mehr Trinkgeld zu verschaffen. Es war seine größte Freude ein Mädchen nach dem anderen zu verführen und danach wie Abfall zu behandeln. Mireille hasste es. Zunächst hatten ihr diese Mädchen Leid getan, aber mit jeder neuen Errungenschaft Jeans wuchs ihre Eifersucht. Nur mit ihr verhielt er sich anders. Jean hatte nie versucht Mireille zu verführen. Sie wusste, dass Jean sie als Mensch schätzte. Insbesondere was ihre Klugheit anging, denn sie stand ihm, was dies anging in nichts nach. Seit jeher hatten sie fast jeden Tag miteinander verbracht. Sie hatten sich Geheimnisse geteilt, Sehnsüchte und Träume. Mireille kannte ihn wahrscheinlich besser als jeder andere. Neben Giselle war er der wichtigste Mensch in ihrem Leben und sie fürchtete ein Liebesgeständnis würde ihr freundschaftliches Bündnis zerstören. Aber sie konnte die Hoffnung, die in ihr aufkeimte nicht verleugnen. Sie wollte wissen, warum Jean sie anders behandelte, als er es sonst mit Frauen tat. Sie wollte wissen, was es war, dass ihn dazu veranlasste, sie fast rührselig vor trunkenen, lüsternen Männern, die ihre Hände nicht bei sich behalten konnten, zu bewahren. Vielleicht handelte es sich bei ihm ja auch um mehr, als bloße Zuneigung. Es gab Tage, an dem alles seine ursprüngliche Ordnung wiederfand und Mireille Jean bloß als ihren besten Freund ansah. Aber das war die Seltenheit. Meistens kostete es Mireille viel Mühe, ihre Gefühle zu unterdrücken. Manchmal stimmte sie die kleinste Aufmerksamkeit Jeans so froh, dass sie befürchtete, er würde sie durchschauen. Kurz vor Sonnenuntergang war Mireille fertig mit ihrer Arbeit. Das Gasthaus blieb meistens bis in die Nacht geöffnet, aber Mireille durfte oftmals früher gehen. Sie genoss zwar jeden Augenblick, den sie mit Jean verbringen durfte, aber sie freute sich auch auf die gemeinsamen Stunden mit ihrer Tante, die zu Hause wahrscheinlich mit einem kleinen Festmahl auf sie warten würde. Die Haustür war abgeschlossen und es brannte auch kein Licht als Mireille eintrat. Jede von beiden hatte ihren eigenen Schlüssel, da es manches Mal vorkam, dass Giselle kurzfristig einer Dame ihrer Arbeit wegen einen Besuch abstattete oder Mireille erst so spät nach Hause kam, dass Giselle resigniert zu Bett gegangen war. Normalerweise hinterließ Giselle ihrer Nichte stets eine Notiz über ihren Verbleib, wie auch an jenem Morgen, aber Mireille konnte diesmal keine Nachricht ausfindig machen. Als sie schließlich feststellte, dass die Küche immer noch genauso unberührt war, wie am morgen zuvor, begann Mireille zu argwöhnen. Unruhig setzte sie sich an den Esstisch, blätterte in gestrigen Zeitung und wartete. Die Dämmerung war längst angebrochen und Giselle war noch immer nicht zurückgekehrt. Mireille beschloss zurück zum Gasthaus zu gehen, ehe die Nacht käme und alles in Dunkelheit hüllte. Das Wirtshaus war schon geschlossen, als Mireille angekommen war. Die Papillons wohnten in einer kleinen Wohnung über ihrem Wirtshaus, welches über eine Außentreppe zu erreichen war. Mireille war es unangenehm die Papillons zu stören, aber ihre Besorgnis war so groß, dass sie beschloss, Marie dennoch zu Hause aufzusuchen. Marie Papillon wollte gerade das aufgewärmte Essen auftragen, als sie jemanden die Treppen hochpoltern hörte und es an der Haustür klopfte. »Erwartest du jemanden?« fragte ihr Mann Robert sie. »Keineswegs...« antwortete sie stirnrunzelnd und als sie die Eingangstür öffnete, kam ihr eine aufgebrachte Mireille entgegen. »Madame Marie! Ist Jean hier? Er muss mit mir Giselle suchen. Sie ist seit heute Morgen nicht mehr nach Hause gekehrt.« »Aber woher willst du das wissen? Du warst doch den ganzen Tag unten im Gasthaus. « Nein, ich bin mir sicher. Ich mach mir solche Sorgen. Was, wenn ihr etwas passiert ist? Was, wenn es schon zu spät ist? Vielleicht wissen sie in der Kapelle Bescheid. Ich… « »Beruhige dich endlich!« Mireille schrak bei Maries herrschendem Ton zurück und setzte sich auf den Stuhl den ihr Robert anbot. Soweit Marie wusste, waren sowohl Giselle, als auch Mireille vertrauenswürdige Personen und sie verstand, dass Mireille sich nicht einfach so sorgte. Sie bot dem verängstigten Mädchen eine Schale der Hühnersuppe an, aber diese verschmähte sie und blickte sich voller Ungeduld in der Stube um. »Jean ist noch nicht hier. Ich weiß nicht wo er sich umher treibt. Iss erst mal. Du hast doch sicher noch kein Abendbrot gehabt. Vielleicht besteht ja gar kein Grund zur Sorge. Auf jeden Fall können wir besser überlegen, wenn du wieder bei klarem Verstand bist.« Widerwillig stimmte Mireille ihr zu. Sie hatte bisher nur gefrühstückt und nachdem sie den ersten Löffel der Suppe verspeist hatte, merkte sie, wie groß ihr Hunger doch eigentlich war. Kurz nachdem sie aufgegessen hatte und sich erneut Unmut in ihr ausbreitete, kehrte Jean zurück. »Was machst du denn hier?« fragte er Mireille verwundert. Als die beiden noch Kinder waren, war Mireille beinah jeden Tag bei ihm zu Hause gewesen, aber das hatte die letzten Jahre nachgelassen. Ihr Besuch schien ihm demnach überraschend. Als seine Mutter ihm die Lage erklärte, willigte er ein, zusammen mit Mireille nach ihrer Tante zu suchen. Mittlerweile war die Nacht längst gekommen und auf den Straßen befanden sich kaum mehr Menschen. Die Kapelle war geschlossen. Niemand war da, der ihr Auskunft geben konnte. Verzweiflung wuchs in Mireille. Sie gingen an einer kleinen Kneipe in der Nähe der Kapelle vorbei. Es war der einzige Ort in dem Viertel, der wach zu sein schien. Vor dem Eingang befanden sich zwei trunkene Männer mittleren Alters, die in einem Konflikt zu stecken schienen, sowie eine Bedienung, welche den Streit zu schlichten versuchte. Mireille kannte die Frau vom Sehen. Jedes Mal wenn sie mit Giselle in die Kirche ging, kamen sie an jener Kneipe vorbei und jedes Mal stand dieselbe Frau draußen und grüßte sie, während sie ihre dreckigen Hände an der Schürze abwischte. »He! Bist du nicht das kleine Mündel der Chevalier?« Chevalier war nicht Mireilles richtiger Name. Er war der Name von Giselles verstorbenem Gatten Louis. Als Giselle Mireille aufgenommen hatte, hatte Mireille ebenfalls den Namen Chevalier angenommen. Sie tat es nicht nur aus Dankbarkeit gegenüber Giselle, sondern weil sie sich für ihre Familie schämte und vergessen wollte. »Ja, das bin ich. Weißt du wo sie ist?« »Hast du’s etwa noch nicht gehört, armes Ding?« sie spie aus und wischte wieder ihre vom Schmutz beinah schwarzen Hände, an der Schürze ab. Die zwei Streitenden hatten nun zu schreien und zu schubsen begonnen. »Die ist vom Pferd getroffen worden, als sie aus der Kirche kam. Hat ihr die Brust völlig zerschmettert. Ich hab mich geekelt, sag' ich dir.« »Was?« Mireille spürte ihre Knie weich werden und verlor den Halt. Jean fing sie auf, ehe sie hinfiel. »Das ist nicht möglich. Du verwechselst sie bestimmt«, brachte des Mädchen mit bebender Stimme hervor. Jean spürte, wie sie am ganzen Leib zitterte »Na, ich weiß doch wie die Chevalier aussieht. Hier war vielleicht ein Aufruhr. Sie haben sie ins Morgue gebracht. Dass dir niemand Bescheid gegeben hat.« »Seid ihr euch sicher?«, fragte Jean. »Im Viertel wissen doch alle, dass Mireille zu Madame Chevalier gehört und im Grand Papillon arbeitet. Wieso ist keiner vorbei gekommen?« »Du lügst!« fauchte Mireille die Frau an. »Wieso sollt‘ ich lügen? Geh dich doch im Leichenschauhaus bezeugen. Da haben sie sie sicher ausgestellt.« Mit diesen Worten drehte sich die Frau um und ging zurück in ihre Kneipe. »Sie lügt. Das stimmt nicht. Hab ich recht, Jean?« Mireille lächelte ihn erwartungsvoll an. Jean fragte sich, ob dies erste Anzeichen des Wahnsinns sein könnten. »Komm. Wir gehen nach Hause.« Er hielt sie fest und versuchte beruhigend auf sie einzusprechen, aber sie folgte ihm willenlos. »Bestimmt hat sie einer Kundin einen Besuch abgestattet«, Mireilles stimme klang fast sorglos. »Ich erinnere mich, sie hatte sowas erwähnt.« Sie gingen weiter. Die wütenden Rufe der Streitenden waren verstummt. Irgendwann fiel Mireille wieder weinend auf die Knie. Jean wusste, dass eine Katastrophe über Mireille eingebrochen war, dennoch begann er ungeduldig zu werden. Mireille schluchzte und weinte heftiger. Die Tränen flossen ihre Wangen hinab. Mireille fing an zu schreien. Sie krallte ihre Hände in den Boden und schrie. »Schh… Ich bin bei dir«, versuchte Jean ihr zuzusprechen, obgleich er von ihrem Anblick erschrocken war. »Du musst noch ein wenig weitergehen. Steh auf. Ich bitte dich, Mireille.« Aber es war als spräche er zu Stein. Mireille wimmerte und jammerte, beinah wie ein kleines Kind. Jean wusste nicht was er tun sollte. Sie machte ihm Angst. Er wollte seine Mutter holen gehen, aber dann erschien ihm Mireille einfach dort verharren zu lassen, als keine gute Idee. Schließlich beruhigte sich das Mädchen von selbst und stand schwerfällig auf. »Ich will nach Hause. Bitte bring mich Heim, Jean«, sagte sie schluchzend. Jean atmete erleichtert auf und brachte sie zu ihrem Haus. Den Weg verbrachten sie schweigend. »Bist du sicher, dass du über Nacht hier sein willst? Willst du zu uns? Oder soll ich bei dir bleiben?« »Nein. Was sollen die Leute denken? Gute Nacht.« Ohne sich umzudrehen schloss sie die Tür und verschwand in der Dunkelheit. Jean blieb noch einige Augenblicke vor ihrem Haus stehen, beschloss dann aber nach Hause zu gehen und seiner Mutter das Geschehene zu berichten. Er wusste, dass er selbstsüchtig dachte und er hatte Mitleid mit dem leidenden Mädchen, aber seine größte Sorge galt dem Wirtshaus. Der Vorfall würde bedeuten, dass Mireille zunächst nicht mehr arbeiten würde und er selbst ihre Stunden übernehmen müsste. Die Nacht hatte ihn angestrengt und Mireilles Reaktion hatte ihn aufgewühlt. Er war bisher nie Zeuge eines solchen Gefühlsausbruches gewesen und er vermutete, dass das Verhältnis der beiden nach dieser Nacht nicht mehr so unbeschwert sein würde. Mireille konnte in der Nacht kein Auge zu tun. Sie lag wach in ihrem Bett, wälzte sich hin und her, stand auf, blickte aus dem Fenster, lief rastlos in dem Haus auf und ab. Giselle war noch immer nicht gekommen. Dennoch wollte sie nicht wahrhaben, was sie gehört hatte. Giselle lebte noch. Bald waren die Vögel zu hören. Die Dämmerung brach ein. Das Mädchen zog sich an und wartete bis der Tag erhellt war, um sich zu Madame Marie zu begeben. »Hast du's schon gehört?« »Was meinst du? Von der Chevalier? Ja, mein Mann hat es sogar gesehen!« »Und sie sollte mir doch heute das Kleid schneidern.« »Was ist mit ihrem Mündel? Sie ist nicht einmal verheiratet.« Mireille blieb wortlos vor den beiden Frauen stehen. Es war das Gespräch zweier Frauen aus der Nachbarschaft, Damen, für die Giselle arbeitete. Als die Frauen das Mädchen sahen, zogen sie scharf die Luft ein. »Die kleine Chevalier. Ach, Liebes, Gott habe sie selig. So eine gute Frau. Bist du auf dem Weg zur Kirche?« Mireille blickte teilnahmslos zur Seite. Sie schüttelte langsam den Kopf und ging weiter. Marie war selber den Tränen nahe, als sie das Mädchen zur Tür hereinließ. Sie war froh, dass Mireille beschlossen hatte, von selbst zu kommen. Sie umarmte Mireille und als diese gleich wieder zu weinen begann, stimmte Marie leise mit ein. Als Jean ihr letzte Nacht erzählt hatte, was sich zugetragen hatte, war sie ehrlich schockiert gewesen. Sie kannte Giselle zwar nicht gut, aber sie wusste, was für eine Schwäche Mireille für diese hatte und Marie wiederum, hatte eine Schwäche für Mireille. Sie litt mit ihr, als handelte es sich um ihre eigene Tochter. »Madame Marie, alle sprechen darüber. Nur ich weiß es nicht. Es ist so furchtbar«, brachte sie schluchzend hervor. Marie Papillon hatte in ihrem Leben nicht viel Verlust kennen gelernt. Es hat Zeiten gegeben, da sie und ihr Ehemann Krisen überwältigen mussten. Ihre ersten beiden Schwangerschaften waren Fehlgeburten und erst als sie Jean bekam, war ihr Leben erfüllt und Robert ihr wieder wohlgesonnen. Nach Jean war eine weitere Fehlgeburt gefolgt und seitdem war Jean ihr ein und alles. Sie konnte sich nur ausmalen, wie es für sie wäre, würde sie Jean verlieren. »Ich weiß, mein Kind.« »Ich gehe jetzt zum Morgue. Sie sagen, sie sei dort. Ich muss sie sehen, Madame Marie. Vielleicht ist es ein Irrtum.« »Möchtest du, dass ich dich begleite?« Mireille nickte zaghaft. Das Morgue war ein Leichenhaus am quai de l’Archevêché nahe der Notre Dame. Es war eines der ersten Leichenhäuser, das eröffnet hatte. Tote, deren Namen unbekannt waren, wurden dort aufbewahrt. Mireille mochte das Morgue nicht. Es war ein morbider Sammelort der Schaulustigen, da die Toten für jedermann zu sehen waren. Einige nahmen sogar ihre Kinder zu diesem Schauspiel mit. Ihr wurde schlecht beim Gedanken daran, dass womöglich Giselle ebenfalls zur Attraktion geworden war. Im Viertel hatte sich herumgesprochen, dass auch Giselle hier lag. Sie hoffte, es war nur Gerede. Anders als die Toten im Morgue, war Giselle war doch keine Unbekannte. Hinter einer Glaswand lag sie. Madame Marie entdeckte die Frau auf einer Bahre liegend. Bis zum Kinn war sie von einem dunklen Laken bedeckt. Sie fasste Mireilles Hand. »Oh, Mireille...« »Was ist, Madame Marie?« Marie Papillon umarmte das Mädchen und strich mit der Hand über deren Rücken. »Meine arme Mireille. Mein armes Mädchen.« Mireille begann zu weinen. »Sie liegt dort, stimmt's?« Sie krallte die Finger in die Klamotten der älteren Frau. »Meine Giselle liegt dort. Meine Giselle ist tot.« Sie schluchzte. »Ich will zu ihr« Ihre Haut war weiß und wirkte wie Wachs. Ihre Wangen waren so eingefallen, als schien Giselle sie einzuziehen. »Giselle«, wimmerte das Mädchen. »Wie kann das sein? Warum? Wie kannst du mich allein lassen?« Mireille spürte einen Schwindel und ihre Knie weich werden. Sie hielt sich an Madame Papillon fest und begann erneut bitterlich zu weinen. »Bitte, Mireille, lass uns wieder gehen. Ich rede mit dem Arzt und wir werden bald die Beerdigung organisieren. Sie soll hier nicht weiter liegen.« »Warum haben sie sie hier hergebracht? In diesen kalten, stinkenden Raum. Wie ein ausgestopftes Tier wird sie hier angegafft. Schaut weg!«, schrie sie die Menschen an, die hinter dem großen Glasfenster standen. »Geht weg von uns! Habt ihr denn keine Rücksicht?« »Ruhig jetzt, Mireille!«, ermahnte sie Madame Papillon. Sie stützte das Mädchen und leitete sie zu dem Mediziner, der ebenfalls in dem Leichensaal stand und das Ereignis beobachtet hatte. »Seid Ihr Angehörige der Verstorbenen?«, fragte der Arzt die beiden Frauen. »Das ist ihre Nichte«, entgegnete ihm Marie. »Sie hat bei ihr gelebt. Sie ist ihre einzige Angehörige.« »Wieso liegt sie hier?«, fuhr es aus Mireille heraus. »Ich war doch da. Wieso hat man sie hierher gebracht?« »Ich bedauere Euren Verlust, Mademoiselle,« begann er. »Ihr müsst jedoch verstehen, dass Verstorbene im Sommer sehr schnell und ohne Umwege weggebracht werden müssen.« »Und weil es Sommer ist, müsst ihr sie ausstellen?« Mireille begann die Fassung zu verlieren. »Sie wird umgehend abgedeckt. Es wird sie niemand mehr sehen können. Das versichere ich Euch.« »Wir danken Euch.«, wandte Marie ein. »Mireille, wir sollten gehen. Ich werde zu unserer Kapelle gehen und mit dem Priester über die Beisetzung sprechen. Einverstanden?« Mireille schnaubte. Sie wollte noch mehr schreien und wüten. Sie wollte sogar Madame Marie anschreien. Aber sie wusste, dass es nicht richtig war. Sie versuchte sich zu beruhigen und nüchtern zu denken. Es fiel ihr schwer, wollte sie doch lieber wieder zusammenbrechen und schreien. »Ja, Madame Marie. Das wird das Beste sein. Aber ich will mich noch einmal von ihr verabschieden.« Mireille hatte sich in ihrem Bett zusammengekauert, die Arme um die Beine geschlungen und Stunden lang geweint. Sie atmete schwer und ihr eigenes Wimmern erinnerte sie an einen geschundenen Hund. Zu Beginn war ihr Klagen laut und wütend gewesen, schlug dann aber in Schuldgefühle um. Sie fühlte sich schuldig, dass sie nicht dabei gewesen war. Dass diese vulgäre Frau und nicht sie in Giselles letztem Moment da war. Dass sie nicht Abschied genommen hatte. Und sie fühlte sich schuldig, dass Giselle gestorben war. Sie sprach mit sich selbst und fragte sich, ob Giselle Angst hatte, ob sie Schmerzen hatte und wo sie nun sein könnte. Sie fragte sich. ob es Himmel und Hölle gab und begann schließlich mit Gott zu hadern. Wie konnte ein Gott so grausam sein, so eine treue Jüngerin wie Giselle es war, dem Leben zu entreißen? Oder war es etwa Mireille, die von ihm bestraft wurde, da sie nicht demütig genug war? War es eine Prüfung, die ihr auferlegt worden war? Letztlich litt sie noch eine Weile stumm und schlief endlich ein. Das Bild von Giselles Anblick im Morgue begleitete sie auch im Schlaf. Wenige Stunden später erwachte sie und wünschte sich, Giselles Tod wäre ein Albtraum gewesen. Aber ihr wurde schnell klar, dass es sich um die Wahrheit handelte. Solange sie auch weinend liegen bliebe, Giselle würde nicht mehr zurück kommen. Giselles Häuschen war klein aber hatte zwei Etagen. In der oberen Etage war nur ein Zimmer, in dem Mireille lebte. In der unteren Etage befand sich Giselles Zimmer, ein winziger Waschraum und die Eingangshalle, die zugleich die Küche war. Mireille ging die Holztreppe hinab in die Eingangshalle. Ihr Körper fühlte sich wie betäubt an. Sie hatte das Gefühl, es war ein fremder und nicht ihr eigener Leib, der dort wandelte. Sobald sie sich an den Esstisch gesetzt hatte, kamen ihr erneut die Tränen und sie fuhr mit dem Weinen fort. So vergingen wieder einige Stunden bis der Morgen eingebrochen war. Als sie die Einsamkeit als zu schmerzlich zu empfinden begann, ging sie hinüber zu den Papillons, um mit Madame Marie über die Bestattung zu sprechen. Sie blickte vorher in den Spiegel und erschrak bei dem Bild, das sich ihr bot. Ihre Augen waren vom Weinen rot, auf ihren Wangen hatten die Tränen Spuren wie Rinnsale gebildet, die dunklen Haare waren ungekämmt und die Lippen spröde. Sie überlegte, sich zurecht zu machen, doch sie merkte, dass sie dafür keine Kraft hatte. Es war ihr gleichgültig, wie sie aussah. Ihr schien alles gleichgültig. Sie wusste nicht einmal, ob sie weiterhin leben wollte. Sie überlegte, ob es nicht die beste Entscheidung wäre, sich das Leben zu nehmen. Was blieb ihr denn noch, außer ein trostloses, einsames Dasein? Sie war unverheiratet und allein. Die meisten Mädchen in ihrem Alter waren längst verheiratet und sie selbst hatte nicht einmal ein Handwerk gelernt. Das einzige was ihr blieb, war jenes Fachwerkhäuschen von dem sie wusste, dass Giselle es ihr vermachen würde, denn sie hatte es das ein oder andere Mal erwähnt. Sie entsann sich schließlich, dass sie nicht einfach so sterben konnte. Giselle hätte das nie gewollt, sie hätte sie getadelt und einen Sünder geschimpft. Die Selbsttötung war schließlich eine schwere Sünde. Und es schien ihr feige. Es wäre, als würde sie vor dem Leben, vor dem Alltag fliehen. Sie hatte außerdem Arbeit zu erledigen. Jemand musste sich um Giselles Beerdigung und Testament kümmern. Also verdrängte sie ihre finsteren Gedanken und wagte sich endlich hinaus, hinüber zu den Papillons. Auf dem Weg dorthin spürte sie die mitleidvollen und neugierigen Blicke der Bewohner des Viertels. Mireille wollte die Menschen am liebsten anschreien und verfluchen, aber sie beschritt schweigend den Weg zum Wirtshaus. »Was soll ich jetzt tun, Madame Marie?« Es war noch früh und im Wirtshaus war nicht viel zu tun. Madame Marie und Mireille hatten sich an einen Tisch gesetzt. »Ich habe doch kein Geld. Ich habe nichts, nur das Haus. Ich weiß nicht einmal wo Giselles Testament ist. Ich...«, wieder liefen Tränen ihre Wangen herunter. »Ich kann ihr nicht einmal eine Beerdigung zahlen.« Madame Marie strich Mireille über die Haare. »Mach du dir keine Sorgen, dafür kommen wir schon auf. Ich war heute früh schon in der Kapelle. Morgen früh wird die Beisetzung stattfinden.« »Das kann ich nicht annehmen.« »Hast du denn die Anschrift deiner Familie? Du solltest ihnen einen Brief schreiben, dass ihre Angehörige verschieden ist.« Mireille begann zu weinen. »Es ist nicht fassbar. Ich kann es nicht verstehen, ich kann es nicht glauben.« »Es ist zu frisch.« »Frisch oder alt, dies wird niemals vergehen. Es tut so weh, Madame Marie. Es fühlt sich an, als sei ich zerrissen, verloren, alleine gelassen.« »Ich weiß. Hör zu, du musst da durch. Du kannst dich jetzt nicht hängen lassen.« »Ja, das sagen sie immer. Das habe ich auch immer gesagt, aber es ist so schwer wenn es wirklich passiert. Ich versteh das nicht. Ich will Giselle zurück…«, der Rest wurde von ihrem eigenen Schluchzen übertönt. Madame Marie nahm das Mädchen in den Arm und wiegte sie, in der Hoffnung sie zu beruhigen. »Mireille, denk immer daran, dass du uns hast. Du bist nicht alleine. Du bist für mich auch wie ein Mündel. Es tut mir leid, für deinen Verlust. Aber wir werden Giselle eine fromme Andacht halten und sie bestatten, so wie sie es gewollt hätte. Und ich bin mir sicher, dass sie nun einen Platz beim Herren hat.« Sie küsste den Scheitel des Mädchens und hielt sie weiter in ihrer Umarmung. »Wenn du dich beruhigt hast, schaust du nach, ob du nicht die Anschrift deiner Tanten oder deiner Mutter finden kannst, um sie zu benachrichtigen.« »Meine Mutter...« »Heute Nacht kannst du auch hier bleiben, falls du nicht alleine bleiben möchtest. Mein Haus ist stets für dich offen, mein Kind.« »Danke, Madame Marie.« Jean stocherte in seinem Eintopf und blickte Mireille an, die ihm gegenüber saß und mit leerem Blick auf den Tisch starrte. Sie hatte ihre Schale nicht angerührt. Den ganzen Abend saß sie schon so da und sprach kaum ein Wort. Seit dem Vorfall hatte Jean sie nicht essen sehen. »Du schläfst also heute hier?«, versuchte Jean das Schweigen am Tisch zu brechen. »Ja. Eure Mutter und Vater sind sehr gütig zu mir«, sie blickte nicht auf, als sie sprach. »Ich weiß nicht, wie ich das vergelten soll.« »Teilen wir ein Bett?«, er grinste. Seine Mutter warf ihm einen verärgerten Blick zu. Mireille antwortete nicht. »Hast du keinen Hunger, Mireille?«, wandte sich nun Marie an das Mädchen. Mireille blickte verwirrt auf. Als hatte sie vergessen, wo sie sich befand. »Ich... Es tut mir leid. Ich werde aufessen.« »Du musst dich nicht zwingen, mein Liebes.«, Marie erhob sich. »Iss, wann es dir bekommt. Ich werde nun aufräumen und zu Bett gehen. Robert und Jean werden sich ein Zimmer teilen. Du schläfst mit mir in einem Bett.« Marie räumte die leeren Schalen vom Tisch. Sie ließ Mireilles Eintopf stehen, in der Hoffnung, das Mädchen würde doch noch Appetit bekommen. Schließlich ging sie in ihr Schlafgemach und auch Robert verabschiedete sich und verließ den Raum. »Es tut mir sehr leid, was passiert ist«, sprach Jean sie nach einer Weile wieder an. »Danke«, antwortete Mireille leise. »Du wirst wohl erstmal nicht arbeiten, oder?« Mireille schaute ihn ungläubig an. »Ich schätze, die Frage war unangemessen. Verzeih. Es ist nur so, dass du viel zum Gasthaus beiträgst. Ohne dich, ist es nicht dasselbe. Du gehörst zur Familie Mireille.« »Danke.« Jean ging um den Tisch und setzte sich neben sie. Er nahm ihre Hand und legt sie in seinen Schoß. Mireille schrak zusammen. »Es kann sich wohl keiner in dich hinein versetzen und deinen Schmerz verstehen. Aber dennoch bist du nicht alleine. Du hast meine Eltern. Und du hast mich.« Mireille drückte seine Hand. »Ich will, dass du wieder fröhlich bist. Ich will, dass du wieder lachst. Ich weiß, das wird noch seine Weile dauern. Aber für den Anfang kannst du wenigstens etwas essen. Bitte.« Mireille schaute ihm in die Augen. Er lächelte. »In Ordnung«, antwortete sie und ließ den Blick wieder fallen. Jean küsste sie auf die Stirn und schob die Schale näher zu ihr. »Ich werde das Haus noch mal verlassen.« Er stand auf und schlüpfte in seine Schuhe. »Es wird spät sein, wenn ich wieder komme. Gute Nacht, Mireille.« Sobald Jean die Tür hinter sich geschlossen hatte, begann sie zu zittern. Jeans Berührung hatte ihr zunächst gut getan, doch als er gegangen war, fühlte sie sich wieder verloren. Sie schluchzte und beobachtete die Tränen, die in ihren Eintopf fielen. *** Es schien, als hätte sich das gesamte Viertel zur Beerdigung versammelt. Sie standen um das offene Grab und tuschelten, während der Priester die Gebete sprach. Mireille beobachtete die Anwesenden angewidert. Die meisten waren Schaulustige. Nachbarn, ehemalige Kunden. Etliche, die Giselle kaum kannten. Es machte sie zornig, aber sie versuchte, besonnen zu bleiben. Am frühen Morgen war Giselle mit einer Kutsche zu ihrem Haus gebracht worden, wo die Trauerfeier eröffnet worden war. Von dort wurde sie für die heilige Messe in die Kapelle gebracht. Es war schon Mittag, als die Beisetzung begann. Die Papillons hatten für diesen Anlass ihr Gasthaus den Tag über geschlossen und jegliche Vorbereitungen für die Trauerfeier getroffen. Mireille trug ein Kleid, das Giselle ihr vor Jahren geschenkt hatte. Es hatte Giselle nicht mehr gepasst. Das Kleid war ein Trauerkleid und dementsprechend schwarz. Dennoch war es wahrscheinlich das edelste Kleid, das Mireille je besessen hatte. Es war modisch, mit Mieder und überweitem Rock. Der Rock war mit Volants verziert und Ärmel und Kragen mit dunkelblauen Stickereien geschmückt. Zum Kleid gehörte eine kurze Jacke, eine Mantille, die Mireille über ihre Schultern trug, Handschuhe und ein Kapotthut mit dunkelblauem Band, in dem sie ihre Haare hochgesteckt hatte. Mireille fragte sich, ob Giselle geahnt hatte, dass Mireille diese Kleider am Tag ihrer Beisetzung tragen würde. Womöglich war das sogar Giselles Absicht gewesen. Es war ein warmer, sonniger Tag. Giselles Sarg wurde schon in das Grab gelegt, als der Priester begann, das Dies Irae vorzutragen. Lacrimosa dies illa, qua resurget ex favilla judicandus homo reus. Huic ergo parce, Deus. Mireille hatte das Gefühl, dass sie nicht atmen konnte. Ihr war heiß und sie hatte schrecklichen Durst. Sie versuchte nicht an ihr Unwohlsein zu denken, sondern sich auf die Beisetzung zu konzentrieren. Sie fühlte sich schuldig, dass sie angesichts dieser Situation, solch irdische Bedürfnisse verspürte. Ein Schweißtropfen rannte von ihrer Schläfe ihre Wange hinab. Sie atmete laut ein und aus. Pie Jesu Domine, dona eis requiem. Ihr wurde langsam schwarz vor den Augen. Jean hatte sie bemerkt und packte Mireille am Oberarm, ehe sie zu Boden fiel. »Fühlst du dich nicht gut?«, flüsterte er ihr zu. »Danke, Jean. Mir ist nur etwas schwindelig.« »Das kommt davon, wenn man nichts isst.« »Sei leise jetzt«, zischte sie. »Du solltest so schnell es geht nach Hause«, Jean blickte sie besorgt an. Er wunderte sich, dass sie überhaupt noch stehen konnte. »Ich kann nicht einfach gehen.« Ich bin die Auferstehung und das Leben, las der Priester schließlich und es wurde begonnen, das Grab mit Erde zu füllen. Mireille starrte wie gebannt auf den Vorgang. Es schien, als würde Giselle mit jeder Schaufel Erde unerreichbarer werden. Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Es flossen keine Tränen mehr. Sie wusste, die Leute würden auch darüber reden. Schließlich war das Grab gefüllt und mit Blumen geschmückt. Die Menge lichtete sich. »Sollen wir gehen?«, vernahm sie Jeans Stimme. »Ich begleite dich zu dir nach Hause.« »Giselle...« »Komm, Liebes. Gehen wir«, hörte sie nun Madame Marie sprechen. »Wir können später noch einmal kommen, wenn du dich ausgeruht hast.« Widerwillig drehte sich Mireille um, doch insgeheim war sie froh zu gehen. Jean legte den Arm um ihre Taille, um sie zu stützen. »Jean, die Leute werden reden«, sagte sie mit matter Stimme. Sie spürte wieder, wie erschöpft sie war. Es war gut, dass er sie hielt. »Du siehst übrigens bezaubernd aus, Mireille.« Sie ertappte sich beim Lächeln und setzte schnell wieder eine ernste Miene auf. Als sie vor Mireilles Haus angekommen waren, bot Marie ihr an, mit hinein zu kommen und ihr etwas zu Essen zuzubereiten. Mireille hatte dankend abgelehnt. Jean aber hatte darauf bestanden, mit hinein zu gehen. Er setzte sich auf einen Stuhl am Esstisch und blätterte in der alten Zeitung. »Was willst du hier, Jean?« Mireille war verärgert, hatte sie ihm doch erklärt, dass sie allein sein wollte. Sie nahm den Hut ab und öffnete ihr Haar. Die Handschuhe streifte sie von den Händen und begann ihr Mieder zu öffnen. »Entblößt du dich jetzt vor mir?«, Jean grinste sie an. »Wie kannst du nur ständig scherzen?«, Mireille begann wieder zu schluchzen, obschon sie keine Kraft mehr zum weinen hatte. Jean stand seufzend auf und ging auf sie zu. »Ich wollte dich nicht verärgern«, er nahm sie in den Arm. »Ich wollte nur, dass du lachst.« Mireille schlang ihre Arme um seinen Körper und drückte ihn an sich. Sie vergrub ihr Gesicht in seine Brust und schluchzte. Er streichelte ihr über das Haar. Es vergingen einige Momente, bis Mireille die Umarmung etwas löste und ihn ansah. Jean wusste nicht, wie er den Blick deuten sollte, als Mireille sein Gesicht schon in ihre Hände genommen hatte und ihre Lippen auf seine presste. Jean riss die Augen auf und drückte sie von sich. »Was tust du da?«, er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Was machst du?« Mireille wirkte nicht weniger ungläubig. Sie ging einige Schritte zurück und stütze sich auf die Kommode. Sie schaute ihn entsetzt an, als wäre er derjenige gewesen, der sie geküsst hätte. »Raus!«, befahl sie ihm. »Wie bitte?« »Jean, geh bitte.« »Aber, was sollte das gerade?« »Geh weg, sag ich!«, schrie sie ihn nun mit schriller Stimme an. »Verstehst du nicht? Ich bin nicht ich selbst.« »Ich mache mir doch nur Sorgen.« Sie griff ein Buch und warf nach ihm, verfehlte ihn jedoch. Jean resignierte und ging hinaus. Hinter ihm hörte er, wie Mireille die Tür abschloss. Verwirrt stand er noch einige Minuten da, bis er nach Hause ging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)