Drachenkind von maidlin ================================================================================ Kapitel 34: Der letzte Tag -------------------------- Der Tag dämmerte und die ersten Sonnenstrahlen krochen über die Erde, um sie zu wärmen. Draco war die ganze Nacht ununterbrochen geritten. Er hatte Hera und sich selbst nur kleine Pausen gegönnt, eben nur so lange, wie wirklich nötig war. Immer hatte er es vermieden, sich nach dem Vollmond umzudrehen. Er wusste, dass er dessen Anblick nicht würde ertragen können, dass er ihn in seiner Entscheidung wankend machte. Denn auch wenn er den Mond nicht sah, so sehnte er sich doch danach. Je mehr er sich davon entfernte, desto heftiger wurde es. Er wusste nicht, wie weit es noch war, doch als er in den nächsten Wald hinein ritt, kamen in Bäume bekannt vor. Es war die Form ihres Stammes, die Reichweite ihrer Äste, die ihn merken ließen, dass er diesen Wald schon einmal betreten hatte. Es war jener Wald, in dem er sein erstes Jahr als Mensch verbracht hatte. Er war durch den Wald gestreift, gelaufen und gerannt, hatte wissen wollen, wie viel dieser neuer Körper vermochte, wie stark er war, wie ausdauernd. Oft war er enttäuscht worden. Seine erste Zeit als Mensch... er hatte Annie misstraut und sie für alles verantwortlich gemacht. Ihre Hütte war lange Zeit sein zu Hause gewesen, das einzige, welches er je gekannt hatte. Abrupt ließ Draco Hera anhalten. Ungläubig blinzelte er mit den Augen. Plötzlich verspürte er den Wunsch noch einmal zu der Hütte zurückzukehren. Noch nie zuvor hatte er so empfunden. Auf seinen unzähligen Ausritten mit Hera, war er nie in diesen Teil des Waldes gekommen. Er hatte es vermieden, aber er hatte auch nicht das Verlangen danach verspürt. Doch nun war es anders. Vielleicht musste er an seinen den Anfang zurückgehen, damit sein Ende beginnen konnte. Es fiel ihr leichter. Mit jedem Atemzug den sie machte, hatte Annie das Gefühl, dass es leichter für sie wurde. Der Schmerz ebbte ab, ihr Herzschlag wurde langsamer, in ihrem Kopf wurde es seltsam leicht und auch ihre Arme und Beine nahm sie kaum noch wahr. Es war alles besser. Es war alles einfacher. Ihre Sorgen verschwanden, lösten sich auf und schienen nicht mehr zu ihr zu gehören, sondern zu jemand anderem, einer Person, die sie nicht kannte. Leicht lächelte Annie. Sie hätte sich nicht vor dem Sterben fürchten brauchen, wenn sie gewusst hätte, dass es so leicht war. Draco saß einen Moment unschlüssig auf Hera, dann setzte er schließlich ab. Trotzdem blieb er neben dem Tier und vor der Hütte stehen. Die Hütte war in wenigen Monaten von Efeu bewachsen. Die Pflanze hatte sich an den Fenstern entlang geschlichen, bis auf das Dach und auf der anderen Seite herunter. Das Holz der Wände war gedehnt und Draco wusste, dass die Ranken so den Weg in das Innere gefunden hatte. Die Hütte lag verlassen da, ganz so als würde sie schon seit Jahren leer stehen. Dabei war es noch gar nicht so lange her, dass er gegangen war, um das richtige zu tun. Das Richtige... Abermals dachte Draco daran, was wohl geschehen wäre, wenn Annie und er davon gelaufen wären. Vielleicht hätte Alexander mit ihnen fliehen können und sie wären gemeinsam Barrington entgangen. Er würde es nie wissen. Vorsichtig ging Draco einen Schritt nach vorn. Das Efeu an der Tür sah merkwürdig aus, überlegte er. Als hätte jemand versucht es zu zerreißen. Auf dem Boden lagen Blätter und kleine Ranken und die Tür selbst, stand einen Spalt offen. Man hatte auf ihn gewartet! Nervös holte er tief Luft und versuchte seine Gedanken zu beruhigen. Es wäre nicht ausgeschlossen. Sicher hatte sie nach ihm gesucht und waren auch hier gewesen. Aber wenn sie noch in der Hütte wären und auf ihn gewartet hätten, dann wäre er jetzt schon längst tot, überlegte er sachlich. Vielleicht waren es auch nur wilde Tiere gewesen. Neugierig ging er einen weiteren Schritt nach vorn, bis er in der Tür stand. Seine Augen gewöhnten sich sofort an das Licht und er ließ seinen Blick durch den Raum gleiten. An einer Gestalt, die auf dem Boden lag, blieb er hängen und sein Herz schlug auf einmal dreimal so schnell. Es war eine Frau, die da lag. Noch ehe er sich dessen selbst gewahr wurde, hatte er den kleinen Raum schon betreten und stand vor der Frau. Sie hatte langes, schwarzes Haar, das wie sanfte Wellen über ihren Körper floss. Sie war in einem einfachen weißen Kleid gekleidet, das ihr bis zu den Füßen reichte. Doch darunter nahm er ihren Körper war. Es war ein Körper, der ihm beinah vertrauter war, als sein eigener. Starr vor Fassungslosigkeit sank er auf die Knie. Sie war es wirklich, dachte er dumpf: Annie. Aber, warum bemerkte sie ihn nicht? Warum drehte sie sich nicht um? Konnte sie so fest schlafen? Zögernd und auch ängstlich streckte er die Arme nach ihr aus fuhr mit den Händen unter ihren Körper. Er fühlte sich klamm und kalt an. Sein eigener Körper begann zu zittern. Als er sie bewegte, löste sich etwas aus ihren Armen und rollte auf den Boden. Draco achtete nicht weiter darauf. Er hatte nur Augen für sie. Ihre Haut war blass. Selbst ihre himbeerroten Lippen hatten an Farbe verloren. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe und Schweiß haftete an ihrer Haut. Vorsichtig strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hoffte auf eine Reaktion. Nichts geschah. Sie blieb reglos in seinen Armen liegen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Draco auf sie herab, während sein Verstand versucht zu verstehen. Was war mit ihr geschehen? Was geschah mit ihm? „Annie?“, flüsterte er und seine Stimme brach am Ende. „Annie?“, fragte er noch einmal und rüttelte ihren Körper. Wieder geschah nichts. Von Draco ergriff ein solch heftiges Gefühl besitzt, wie er es noch nicht kannte. Es wurde in seinem Herzen geboren und wuchs so rasend schnell, dass er schon bald sein gesamtes Inneres ausfüllte. Doch es war nicht rot, wie die Wut, die ihn schon oft zerrissen hatte. Nein, dieses Gefühl war dunkel, schwarz, bedrohlich und alles verschlingend. Es verschlang die Sonnenstrahlen, die Wärme, die Hütte, die Geräusche und Gerüche, bis nur noch er und Annie blieben. Dieses Gefühl nannte sich Verzweiflung. „Nein...“, flüsterte er ungläubig und wiederholte das Wort immer und immer. „Nein... Nein... Nein...“ Ganz so, als könnte er es somit ungeschehen machen. Hilflos strich er über ihre Stirn. Ihm hatte es schließlich auch geholfen, als es ihm schlecht gegangen war. Also musste es auch ihr helfen! Es musste! Seine Verzweiflung berührte etwas hinter seinen Augen. Sie begannen plötzlich zu brennen. Eine unbekannte Flüssigkeit sammelte sich darin. Draco bemerkte es nicht. War er wirklich bei ihr?, fragte sie sich müde und versuchte ihr Herz dazu zu bringen, noch ein wenig länger zu schlagen. War es wirklich seine Stimme, mit der diese verzweifelten Worte gesprochen wurden? Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Seine Stimme war doch sanfter gewesen, nicht so tief, nicht so rau, nicht so gebrochen. Oder nicht? Das Erinnern fiel ihr schwerer. Aber diese Nähe, dieser Geruch... Es fühlte sich wie ihr Geliebter an. Wie schön es wäre, wenn er bei ihr wäre, wie tröstend. Sie wollte die Augen öffnen, wollte ihn ansehen und ihm sagen, dass alles gut war. Doch ihre Lider waren so unendlich schwer. Plötzlich zuckte sie kurz zusammen, als sie etwas Nasses auf ihrer Wange spürte. Dann spürte sie die Wärme eines anderen Körpers. War er tatsächlich bei ihr? Aber warum dann... Mit flatternden Lidern öffnete sie die Augen. Draco spürte, wie sich ihre Wimpern bewegten und hob ungläubig den Kopf. Mühevoll öffnete sie die Augen. Ihr Blick wirkte blind und das Strahlen war aus ihren Augen verschwunden. Vielleicht sah sie ihn auch nicht richtig, denn sie fragte nach ihm. „Draco?“, wisperte sie so leise, dass er es kaum verstand. „Ja.“, antwortete er kurz und erneut brach seine Stimme. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und ihre Lippen rissen dabei. Abermals brach etwas in Draco. Wieder bewegte sie ihre Lippen, doch kein Laut drang zu ihm. Er beugte sich so weit zu ihr, dass ihre Lippen sein Ohr berührten. „Du weinst...“, sagte sie so leise, dass ein gewöhnlicher Mensch es wohl nicht verstanden hätte. „Jetzt ... du ... richtiger Mensch.“ Zitternde atmete sie ein und Draco konnte etwas in ihrem Körper rasseln hören. „...liebe dich...“, sprach sie weiter. Dann formten ihre Lippen zwar Worte, doch kein Ton entwich ihnen. Draco konnte erst wieder die Worte „Versprich es...“, hören. In ihm drehte sich alles. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Warum nur war er so schwach? Warum war er so hilflos? Warum konnte er nichts anderes tun als zuschauen? „Bitte...“, hauchte sie noch einmal. Ihre Stimme klang beinah flehend. „Ja.“, stieß Draco hastig aus, ohne zu wissen, was er ihr versprach. Es war ihm egal. Er würde ihr alles versprechen. „Ich verspreche es.“ Eine weitere Träne rollte seine Wange hinab. Dann beugte er sich erneut zu ihr herunter und küsste sie. Es war ein harter Kuss, ganz so als könnte er damit verhindern, dass das Leben aus ihr wich. Unter seinen Lippen formte sie ein Lächeln. Und dann, ganz sacht und leise, entschwand sie dieser Welt. Lange Zeit rührte sich Draco nicht. Annie hatte aufgehört zu sein. Alles hatte aufgehört zu sein. Sie lag noch immer in seinen Armen, die Augen friedlich geschlossen. Sie war für immer fort. Etwas Schweres klemmte seine Brust sein, machte ihm das Atmen schwer und ließ ihn vor Schmerz aufkeuchen. Er konnte sie nicht beschützen. Er konnte sie nicht retten. Warum sollte er noch zu Barrington gehen? Warum starb er nicht gleich neben ihr? Er wäre dort Stunden gesessen, hätte Heras Wiehern ihn nicht aufgeschreckt. Er nahm seine Umgebung wieder wahr. Doch im Gegensatz zu ihm, zu Annie, hatte sich nicht geändert. Die Hütte war noch immer von Efeu überwuchert, die Sonne schien noch immer durch Risse in der Wand und die Tiere des Waldes machten noch immer die gleichen Geräusche. Am deutlichsten hörte er Hera. Sie wurde unruhig und Draco wusste, dass sie ihn warnen wollte. Er musste gehen. Für einen winzigen Moment, hatte er den Wunsch nach Rache vergessen, doch jetzt brannte er nur umso heftiger in ihm. Wenn John Barrington nicht gewesen wäre, würde sie noch leben! Langsam legte er Annies toten Körper in das Stroh zurück. Ein letztes Mal strich er ihr durch die Haare. Er würde zu Alexander reiten und sein Schwert holen. Er musste einen klaren Verstand haben. Er musste verdrängen, was geschehen war. Jedes Gefühl würde ihn nur an seiner Aufgabe hindern, ihn einschränken. Das hatte Alexander ihm oft genug gesagt und auch spüren lassen. Wut konnte ein mächtiger Antrieb sein, aber auch das größte Hindernis. Als Draco endlich den Blick von ihr löste, nahm er das Stoffbündel war. Annie hatte es fest in den Armen gehalten. Warum? Vielleicht sollte er es ihr wieder in die Arme legen? Er tat es. Dann streckte er noch einmal eine Hand danach aus und löste den Stoff ein wenig. Was war ihr so wichtig? Zuerst sah er nur etwas kleines, graues, was einer Hand ähnlich war. Als er den Stoff weiter löste, erkannte er einen Körper und einen Kopf. Die Leiche eines Kindes. Vor Schreck zog Draco die Hand zurück. Doch er begriff schnell, was er da sah. Zum zweiten Mal zersprang etwas in ihm. Hastig sprang er auf und stolperte aus der Hütte. Nach Atem ringend blieb er stehen und stützte die Hände auf die Knie. Bis zu jenem Moment hatte er nicht mehr an das Kind gedacht. Aber jetzt... sein Kind... ebenfalls tot, mit ihr gestorben. Es war... Er hatte geglaubt, er wäre mit ihm verbunden. Er hatte sich geirrt. Sein Kind war tot. Annie war tot. Sie alle... Ihm wurde schwarz vor Augen. Er wollte sich übergeben. Er wollte weinen. Er wollte schreien. Er wollte jemanden dafür bluten lassen. Er wollte alles zur gleichen Zeit. Doch nichts davon geschah. Draco richtete sich auf und jetzt konnte auch er es hören: Reiter, die sich näherten. Er nahm Hera bei den Zügeln und führte sie in den Wald hinein. Kurz blickte er hinter sich, ob er ihre Spuren verwischen müsste, aber es hatte nicht geregnet und die Erde war trocken. Außerdem wuchs Gras und Moos um die Hütte herum. Es würde niemand bemerken, dass er da gewesen war. Obwohl Draco ahnte, wer sich näherte, blieb er dennoch stehen. Er wählte eine breite Eiche, hinter der er sich und Hera versteckte und von der er aus die Hütte noch gut sehen konnte. So beobachtete er, wie John Barrington mit zwei anderen Männern vor der Hütte hielt. Sein Blut fing an zu kochen und machte ihm das Atmen abermals schwer. Barrington stieg von seinem Pferd und betrat die Hütte. Draco ballte die linke Hand zur Faust, so dass ein stechender Schmerz seinen Arm hinaufschoss. Es war alles, was ihn davon abhielt, sich nicht sofort auf diesen Mann zu stürzen. Erst brauchte er sein Schwert. Dann würde er seine Rache bekommen. Plötzlich ertönte ein Schrei und Draco wusste, dass Barrington entdeckt hatte, dass beide tot waren. Gleich darauf kam er mit wutverzehrten Gesicht heraus und schwang sich wieder auf sein Pferd. „Sie sind tot! Beide sind tot! Wir hätten gleich hierher kommen sollen!“, schrie er wütend. „Sollen wir zurückkommen und die Hütte niederbrennen?“, fragte einer der Männer, neben ihm. „Nein.“, bellte John Barrington kurz. „Sollen doch die Maden ihr hübsches Gesicht zerfressen und sich damit vergiften.“, spie er aus und gab seinem Pferd die Sporen. Die anderen folgten ihm. Nachdem sie fort waren, setzte auch Draco auf und ritt in Richtung von Alexanders Anwesen. Nicht wissend, was ihn dort erwarten würde. Als er Alexanders Hof erreichte, ging zielstrebig auf die Tür zu. Er klopfte nicht, sondern betrat das Haus, wie er es schon so viele Male zuvor getan hatte. Niemand war im unteren Bereich und er stieß erleichtert den Atem aus. So musste er nichts erklären. Draco ging in das Zimmer, welches er einige Monate bewohnt hatte. Es sah durcheinander aus. Decke waren achtlos an die Seite geworfen worden, die Strohmatratze war aufgeschlitzt, der Stuhl und der Tisch umgeworfen. Als hätte jemand etwas gesucht. Mit klopfenden Herzen näherte sich Draco dem Bett. Er kniete sich davor und tastete mit der Hand unter das Holzgestell, auf dem die Matratze lag. Seine Finger berührten kaltes Metall. Erleichtert atmete er auf. Sie hatten es nicht gefunden, dachte er. Mit einer Hand hob Draco die Matratze an und Stroh folg herum. Mit der anderen Hand zog er sein Schwer aus dem Versteck. Zwischen das Holzgestell und die Matratze hatte er es immer geklemmt. Er hatte darauf geschlafen, damit es ihn immer an sein Ziel erinnern sollte. Mit festem Griff um das Leder zog er es hervor und Sonnenstrahlen fielen darauf. Die Mondsteine schimmerten lila und die Inschrift auf dem Metall blitze auf. Schon bald, würde an dieser Klinge Blut kleben, dachte er und ein Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus. Er verließ das Zimmer und hielt einen Moment in der Küche inne. Sollte er nicht Alexander wegen Annie Bescheid geben?, haderte er mit sich selbst. Doch jede Erklärung würde ihn nur aufhalten. Entschlossen ging er weiter und wollte die Tür gerade öffnen, als von der oberen Etage eine Stimme ertönte. „Du verabschiedest dich gar nicht?“, hörte Draco Alexanders Stimme fragen. Er blieb stehen und sah unschlüssig zwischen der Tür und Alexander hin und her. Er sollte gehen, doch irgendetwas hielt ihn fest. Annies Bruder kam die Treppe nach unten und musterte ihn. „Es überrascht mich nicht dich hier zu sehen.“, sagte er und schüttelte den Kopf. Dann wurde sein Gesichtsausdruck etwas ungläubig und er trat näher an Draco heran. „Hast du geweint?“, fragte er ihn. Ohne zu Antworten sah Draco ihn immer noch an. Er hoffte, dass dieser so verstehen würde – ohne Worte. Und tatsächlich war dem so. „Annie?“, fragte Alexander leise und mit schwacher Stimme. Kurz nickte Draco. Barrington würde noch ein wenig warten können, entschied er. „Sie ist in der Hütte im Wald.“, antwortete er flüsternd. „Zusammen mit... dem Kind. Lass... lass sie nicht dort. ... Alle beide.“, fügte Draco hinzu und schluckte heftig. „Gott...“, stieß Alexander aus und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Dann ging er zu einem der Stühle und setzte sich. Sein Kopf war noch immer in seine Hände gestützt und er schüttelte ihn immer wieder. Zum ersten Mal glaubte Draco Alexander wirklich verstehen zu können. „Hab Dank, Alexander.“, sagte Draco und meinte jedes Wort. „Für alles.“ Dann wandte er sich erneut zum Gehen. „Warte.“, rief Alexander im nach. Noch einmal drehte Draco sich um und erwartete, dass Alexander ihm Vorwürfe machen würde. Er hätte mit allem recht. „Das Kind...“, sagte Annies Bruder langsam und leise. „Es ist... nicht eures gewesen.“ Einen Moment herrschte Schweigen. Draco hatte Alexanders Worte gut verstanden, aber er verstand die Bedeutung nicht. Was sollte das heißen? „Es war meines und Susans.“ Endlich blickte Alexander ihn aus geröteten Augen an. „Du solltest dich vielleicht setzen.“, sagte er und wies mit der Hand zu den Stühlen. Gleichzeitig stand er aber auf und ging in die Vorratskammer. Von dort kam er mit zwei Bechern und einem Tonkrug zurück, den Draco nur zu gut kannte. Augenblicklich zog sich alles in ihm zusammen. Doch, wenn Alexander diesen Whiskey hervorholte, musste etwas Schreckliches geschehen sein. Alexander stellte die Becher ab und füllte sie mit dem starken Alkohol. „Trink.“, sagte er dann und es klang fast wie ein Befehl. Wiederstrebend nahm Draco den Becher und schnupperte kurz daran. Dann verzog er das Gesicht. Nie wieder würde er dieses Gebräu trinken. Alexander hingegen setzte den Becher an und trank ihn in einem Zug leer. Verwunderte sah Draco ihm zu, während die Anspannung in seinem Inneren nur noch mehr wuchs. Doch noch bevor er Alexander fragen konnte, was genau geschehen war und was seine Worte bedeutete, begann dieser schon zu erzählen. „Annie war hier, gestern Nacht. Sie... die Wehen hatten eingesetzt und das Kind... Sie wollte mir erzählen, was geschehen war, aber dann... Ich habe mir erst heute das Meise zusammengereimt.“, begann Alexander wirr zu erzählen. „Semerloy muss uns wohl gesehen haben, als wir dich aus der Burg schafften. Er bedrohte Annie daraufhin und sie... sie wollte sich und das Kind schützen und stieß ihn ausversehen die Treppe herunter. Er war tot. Es muss ein Unfall gewesen sein, aber sie machte sich schreckliche Vorwürfe. Sie war vollkommen durcheinander. Annie bekam Angst und lief davon. Ich weiß nicht, was dann geschah. Am Abend des nächsten Tages stand sie mit drei fremden Männern vor meiner Tür. Inzwischen hatten die Wehen eingesetzt, dass Kind war bereit geboren zu werden. Das Kind kam noch vor Mitternacht. Sie wollte es hierlassen und für ihren Mord die Verantwortung übernehmen. Dann entschied sie sich wieder anders. Sie wollte davon laufen, ohne das Kind und wir vereinbarten uns in ein paar Jahren wieder zu treffen. Wir tauschten die Kinder und Annie verschwand. Ich dachte sie würden wirklich gehen. Dabei hätte ich wissen müssen, dass sie der Hütte zurückkehrt.“, sagte Alexander und schenkte sich noch einmal nach. Wieder leerte er den Becher schnell. Draco verstand immer noch nicht alles. Was sollte das heißen, sie tauschen die Kinder? Er sprach seine Frage laut aus. „Welche Kinder habt ihr getauscht? Warum? Wieso?“ Draco verbot es sich weiter über die anderen Dinge nachzudenken, die Alexander ihm erzählte hatte. Sie würden ihn nur ablenken. „Wir tauschten eures und unseres aus.“, wisperte Alexander und schenkte sich noch einmal nach. „Wir tauschten euer lebendes Kind, gegen unseres, das tot geboren wurde.“ Auch den dritten Becher trank er zügig. Dann beherrschte Schweigen den Raum. Stumm starrte Draco ihn an. Er schluckte einmal, dann ein zweites Mal, um diese Neuigkeiten zu verarbeiten. Dann griff er wie von selbst zu dem Becher, der vor ihm stand und trank daraus. Der Alkohol brannte in seinem Hals und trieb ihn abermals Tränen in die Augen. Doch er riss ihn auch aus seiner Starre. In seinem Kopf begann es zu arbeiten. Annies und sein Kind lebte noch. Susans und Alexanders war tot. Sie hatten sie getauscht. Das Kind im Wald. Es war nicht seines gewesen. Es war Alexanders. Es war tot. Seines lebte. Kurz dachte Draco an Susan und wie sehr sie sich auf das Kind in ihrem Bauch gefreut hatte. Jetzt war es tot, während seines lebte. „Es ist ein Junge. Willst du ihn sehen?“, sagte Alexander plötzlich. Erschrocken hob Draco den Kopf Doch Alexanders Blick hielt ihn einen Moment von seiner Antwort zurück. Draco erkannte, dass es Alexander nicht recht war. Er hatte Angst, dass er ja sagen könnte. Warum? Doch ganz gleich, Draco hatte seine Antwort bereits gewählt. „Nein.“, erwiderte Draco schließlich. Alexander atmete hörbar erleichtert auf. „Warum bist du so erleichtert?“, fragte er Annies Bruder nun doch. „Ich hatte die Befürchtung, dass du ihn mitnehmen würdest.“, gestand Alexander und wich seinem Blick aus. „Wohin?“, erwiderte Draco und ein bissiger Unterton war aus seiner Stimme zu hören. „Es gibt keinen Ort an den ich mit ihm gehen könnte.“ „Du willst es wirklich tun?“ Fest blickte Draco sein Gegenüber in die Augen. „Natürlich.“, erwiderte er knapp. Jetzt würde er Barrington erst recht töten. Er musste sterben, damit Alexander, Susan und sein Kind in Frieden leben konnten. Draco erhob sich und ging zur Tür. Es war höchste Zeit zu gehen. „Draco... Ich...“, sagte Alexander zögerlich und Draco hörte ihm kaum noch zu. In Gedanken stand er bereits vor Barringtons Burg. „Auch Worte können eine mächtige Waffe sein.“, hörte er Alexander doch noch sagen. Als Erwiderung nickte Draco knapp. Er hatte verstanden. „Das solltest du nicht tun.“, hörte er nun noch eine weibliche Stimme. Leicht verärgert atmete Draco noch einmal aus und blickte zur Treppe auf der Susan stand. Sie war in ein weißes Nachthemd gekleidet und hielt sich mit einer Hand am Geländer fest. Sie war blass und ihre Wangen eingefallen. Unter ihren Augen zeichneten sich schwarze Ringe ab. „Er wird sterben.“. sagte Draco festentschlossen und mit kalter Stimme. Er war davon ausgegangen, dass sie über Barringtons sprach. Doch zu seiner Überraschung schüttelte Susan den Kopf. „Das meinte ich nicht. Du solltest nicht gehen, ohne dein Kind, deinen Sohn, gesehen zu haben. Alexander holst du ihn bitte.“, wandte sie sich an ihren Mann. Während sie gesprochen hatte, war sie die Treppe herunter gekommen und stand nun vor ihnen beiden. „Susan, du solltest wieder nach oben gehen.“, mahnte Alexander sie. „Du brauchst Ruhe!“ „Das mache ich auch, wenn diese Sache hier beendet ist. Holst du ihn nun oder soll ich es selbst tun?“, fragte sie ihren Gatten und zog dabei eine Augenbraue nach oben. Mit einem leichten Knurren ging Alexander an seiner Frau vorbei, die Treppen nach oben. Währenddessen kam Susan Draco entgegen. Ohne ein Wort zu sagen, legte sie ihre Hände auf seine Wangen und sah ihm in die Augen. „Es ist richtig was du tust. Es genügt schon, wenn du davon überzeugt bist und dieser Mensch hat es ohne jeden Zweifel verdient.“, sprach sie und ihre Blick wurde hart. „Dennoch wünsche ich gleichzeitig, du würdest es nicht tun. Ein Kind gehört zu seinen Eltern, auch wenn die Mutter vielleicht fehlt.“ Sie lächelte traurig und fuhr fort: „Aber du sollst versichert sein, dass es ihm gut gehen wird. Wir werden ihn lieben, wie wir auch unser eigenes Kind geliebt hätten. Darum musst du dir keine Gedanken machen, wenn du ihm gegenüber trittst. Denke daran, wenn John Barrington stirbt, kann dein Kind ohne Angst aufwachsen.“ Nie zuvor hatte Draco Susan so reden gehört. Er hätte nicht einmal geglaubt, dass sie so reden konnte, dass ihre Stimme so hart sein konnte. Sie hatte ihm gerade gesagt, dass er Barrington töten sollte. Im nächsten Augenblick kam Alexander die Treppen wieder herunter. Auf seinen Armen trug er ein kleines Bündel Stoff, dem nicht unähnlich, welches auch Annie in den Armen gehalten hatte. Sofort blitzte das Bild des toten und entstellten Babys hinter seinen Augen auf. Draco schüttelte den Kopf und somit das Bild ab. „Streck die Arme vor.“, sagte Alexander kurz und Draco tat wie geheißen. Dann legte Alexander ihm das Stoffbündel in die Arme. „Sein Name ist Luan“ Draco blickte in das kleine Gesicht eines Menschenkindes. Seine Haut war rosig und ein sehr angenehmer Geruch ging von ihm aus. Noch nie zuvor hatte er so etwas gerochen, auch als Drache nicht. Und nie würde er es vergessen. Es roch nach Unschuld und Anfang. Das Kind schlief ruhig in seinen Armen und schien friedlich vor sich hin zu träumen. „Seine Augen sind blau und er hat auch schon die ersten blonden Haare.“, sagte Susan und Draco hörte die Liebe aus ihrer Stimme, die sie dem Kind bereits entgegenbrachte. Als er ihr in die Augen sah, konnte er es ebenso dort erkennen. Die Gefühle, die sich seiner bemächtigten, wurden immer heftiger. Sie wurden zu etwas weitaus Größerem und Unaufhaltbarerem. Er durfte ihn nicht länger in den Händen halten, dachte er. Sein Vorhaben würde sonst ins Wanken geraden und stürzen. Er konnte es bereits spüren, wie der kleine und noch schwache Wunsch in ihm wuchs, das Kind zu nehmen und mit ihm zu verschwinden. Mit dem Kind hätte er immer noch etwas von Annie bei sich. „Nimm ihn.“, sagte Draco auf einmal so hastig, als hätte er sich daran verbrannt. Ohne auf eine Antwort zu warten, legte er Luan in Alexanders Arme. Dieser sah etwas verdutzt aus, griff das Kind aber sicher. „Nein.“, sagte Susan entschieden. Sie nahm Luan aus Alexanders Armen und gab ihn wieder Draco. „Lass es zu und verabschiede dich richtig. Es wird dich stärker machen und er kann dich spüren.“, Dann nahm sie Alexander bei der Hand und ging mit ihm in den Raum, in dem Draco zuvor gelebt hatte. Unsicher hielt Draco das Kind in der Hand. Er wollte das nicht tun. Aber vielleicht hatte Susan auch recht. Vielleicht würde es ihm weitere Kraft für seinen Kampf geben. Noch einmal sah Draco das Kind, sein Kind, an. Vorsichtig hob er eine Hand und strich Luan mit zitternden Fingern über die Wange. Sie war weich und warm. Sein Sohn regte sich leicht. Behutsam nahm Draco eine kleine Hand zwischen seine Finger und streichelte sie. Sie war winzig im Vergleich zu seiner eigenen. Luans öffnete langsam die Augen. Er blinzelte und gab dann ein glucksendes Geräusch von sich. Ganz so, als wüsste er wirklich genau, wer ihn in den Armen hielt. Seine Augen waren wirklich blau, strahlend, ganz so wie seine eigenen, dachte Draco. Noch einmal atmete Draco tief durch. Dann ließ er den Gedanken zu, der sich leise in sein Bewusstsein geschlichen hatte: Er liebte dieses Kind. Er liebte es genauso sehr, wie er Annie geliebt hatte. Er verstand das Gefühl nicht, aber es musste wohl Liebe sein. Annie hatte davon gesprochen. Aber er hatte es ihr nie gesagt. „Ich liebe dich.“, flüsterte er und küsste seinen Sohn auf die Stirn. Abermals gluckste das Kind und schloss dann wieder die Augen. Es wirkte zufrieden auf Draco. Gleich darauf öffnete sich die Tür des Nebenzimmers. Susan und Alexander kamen zurück. Draco übergab das Kind wieder an Annies Bruder. Seine Gefühle beruhigten sich hingegen nur langsam. Draco verschloss sie tief in seinem Herzen. „Luan, was bedeutet der Name?“, fragte er dennoch. „Es ist eine andere Form von Luna und bedeutet Mond.“, erwiderte Alexander und blickte Luan liebevoll an. Trotz allem spürte er einen Funken Freude in sich. „Du solltest es Susan sagen.“, sagte Draco auf einmal und sah Alexander fest an. „Er ist wie ich. Er wird sich an alles erinnern können. Er wird wissen, was geschehen ist, bis zu meinem Tod.“, warnte er ihn. Alexander sah ihn erschrocken an, nickte aber unsicher. „Was meint er?“, fragte Susan gleich an ihrem Mann gewandt. Dieser schüttelte den Kopf. „Später.“, fügte er an. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, wandte sich Draco dieses Mal zur Tür und öffnete sie mit einem Ruck. Wenn der Tag sich seinem Ende neigte, würde auch John Barringtons Leben ein Ende finden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)