Drachenkind von maidlin ================================================================================ Kapitel 8: Die Monddrachen -------------------------- Entsetzen trat auf ihr Gesicht, als sie seine Worte vernahm und sie erstarrte. Immer wieder halten sie in ihrem Kopf nach, wie ein nie enden wollendes Echo. Seine Stimme zittrig und voller Angst, genauso wie ein Gesicht und seine Augen. Sein Körper war kalt und klamm. Wie ein verängstigtes kleines Kind wirkte er auf sie. Nichts war mehr von der Stärke zu spüren, die ihn sonst umgab. „Wa-Was meinst du damit?“, brachte sie schließlich hervor. Draco schien kurz zusammenzuzucken und seine Umarmung lockerte sich. Annie sah ihn an und sein Blick war... anders. Nicht so fest und klar, wie sie ihn kannte, sondern seltsam verschleiert. „Ich meine es so wie ich es sage. Dieser Mann wird mich töten.“, antwortete er ihr, doch seine Stimme klang bereits fester. „Woher willst du das wissen? Du kannst es nicht,...“ „Ich weiß es.“, unterbrach er sie. „Er wird nicht ruhen, bis er mich gefunden hat.“ Jetzt bekam auch sie Angst. Wie konnte er sich dessen so sicher sein? Als hätte sie diesen Gedanken laut ausgesprochen, sprach er weiter: „Es wäre ihm fast schon einmal gelungen und damals war ich noch... ich. Wenn du mich nicht gerettet hättest, hätte er mich bereits getötet. Ich bin jetzt ein Mensch, nur ein schwacher Mensch...“ Annie verstand langsam. Das war das erste Mal, dass sich Draco bedroht fühlte. Das erste Mal, dass er sich seiner Überlegenheit nicht sicher war, dass er das Gefühl hatte schwächer zu sein. Für ihn war dieser menschliche Körper sein größter Schwachpunkt. Ein Körper, den er niemals haben wollte und noch immer nicht richtig akzeptiert hatte. Er kannte diesen Körper nicht, wie seinen eigenen, wusste nicht was er vermochte. Noch einmal umarmte sie ihn. „Hab keine Angst.“, flüsterte sie beruhigend. „Ich werde dich beschützen. Ich werde nicht zulassen, dass er dir etwas antut. Dieser Mann weiß nicht, wo du bist und er weiß auch nicht, was du momentan bist. Er wird dich nicht finden.“ „Angst? Ist es das was ich empfinde?“ „Ja, ich glaube schon.“ Wieder sah sie ihn einen Moment an. „Draco, wenn du mir diesen Gedanken erlaubst, aber... Vielleichte wäre es besser, wenn du ein Mensch bliebest. Barrington sucht nach einem Drachen, nicht nach einem jungen Mann. Wenn du-“ „Auf keinen Fall!“, wiedersprach er sofort und erhob sich hastig. „Ich werde wieder zu dem, was ich wirklich bin. Ich bin kein Mensch und ich werde ganz gewiss nicht davon laufen. Wenn er mein Schicksal ist, dann soll es so sein. Wenn ich meine wahre Gestalt wieder habe, wird er es sein, der Angst verspürt.“ Annie senkte traurig den Kopf. Mit so einer Reaktion hatte sie gerechnet. Wenn sie ehrlich war, war dies nicht das erste Mal, dass sie an diese Möglichkeit gedacht hatte. Lange vor dem... Kuss, hatte sie es in Erwägung gezogen, doch bisher hatte sie es nicht gewagt es auszusprechen. „Natürlich, du hast recht.“, sagte sie deswegen leise. Sie erhob sich ebenfalls und als sie Draco nun in die Augen blickte, schien nichts mehr von der Angst übrig, die ihn vor wenigen Momenten noch beherrscht hatte. „Draco, kann ich dich noch etwas fragen?“, begann sie zaghaft. „Was?“ „Er nannte dich... Monddrache oder so ähnlich. Warum? Ich meine, warum habt ihr gerade diesen Namen?“, fragte sie und hoffte ihn somit endgültig von Barrington ablenkten zu können. Draco legte den Kopf ein wenige schief und musterte sie. Annie wusste nur zu gut, dass er überlegte, warum er ihr antworten sollte und wenn, dann überlegte er bereits, wie viel er ihr erzählen wollte. „Ich erkläre es dir heute Nacht.“, sagte er kurz, doch gleich darauf fuhr sein Kopf herum. Er schien bereits ein Geräusch zu hören, was Annie noch verborgen blieb. Doch wenige Sekunden später konnte auch sie es wahrnehmen. Es war erneut der Klang von Pferdehufen und Annie dachte für eine Schreckenssekunde, dass Barrington noch einmal zurückkehrte. Erleichtert atmete sie auf, als sie erkannte, dass es sich nur um ein Pferd handelte. Sie trat vor die Tür und war überrascht ihren Bruder auf den Rücken seines braunen Pferdes zu sehen. „Alexander, was...“, fragte sie verwundert. Er hatte zwar gesagt, dass er nun häufiger vorbeischauen würde, aber diese Häufigkeit überraschte Annie dann doch. Denn ‚öfters‘ hatte bei ihrem Bruder meist eine ganz andere Bedeutung, als es gewöhnlich der Fall war. „Annie, hör zu, ich muss dich warnen.“, sagte ihr Bruder gleich, kaum dass er vom Pferd gestiegen war. „Warum und wovor?“, fragte Annie irritiert und war sofort besorgt. Sie bemerkte nicht einmal, dass Draco hinter sie trat. „Es kann sein, dass du bald besuch bekommen wirst. Von einem gewissen John Barrington. Er sucht... Was ist?“, hielt er inne, als er Annies Gesichtsausdruck bemerkte. „Er war schon da. Gerade eben, kurz vor dir.“, sagte sie und war noch eine Spur blasser geworden. Wenn sogar ihr Bruder sie vor diesem Menschen warnen wollte, dann war mit ihm wirklich nicht zu spaßen. „Verdammt! Ich bin also schon zu spät?“, stieß Alexander aus. „Haben sie ihn gesehen?“, fragte er und zeigte auf Draco. „Was? Nein haben sie nicht. Alexander, was ist denn eigentlich los?“ „Wenigstens etwas.“, erwiderte er ein wenig erleichtert. „Annie, hör zu. Barrington ist sehr einflussreich. Es heißt er würde beim König ein und ausgehen, wie es ihm beliebt. Er hat die Aufgabe dieses Land hier zu verwalten.“ „Aber gehört es denn nicht uns?“, fragte sie verwirrt. „Ja, schon. Aber auch wir müssen uns ihm beugen. Wenn er Zugang zu unseren Land begehrt, müssen wir ihm das gewähren, wenn er ein Teil davon kaufen will, müssen wir es ihm verkaufen.“ „Warum? Er hat doch kein Anrecht darauf. Wir müssen nicht tun, was dieser Mann vielleicht verlangt.“ „Wenn man nicht auf dem Schafott oder dem Scheiterhaufen landen will, dann schon.“, sagte Alexander und rieb sich über das Gesicht. Erst jetzt viel ihr auf, wie Müde ihr Bruder wirkte. „Alexander, ich verstehe nicht. Was hat das alles zu bedeuten?“ „Ich sagte doch, dass Barrington sehr einflussreich ist. Das und äußerst grausam. Er nimmt sich, was er will. Ganz egal mit welchen Mitteln und Methoden. Du hast keine Ahnung, was für Verurteilungen es bereits gegeben hat, nur weil es jemand gewagt hatte, sich im zu wiedersetzen und sich ihm nicht zu beugen. Tagtäglich finden Anklagen unter Scheingründen statt und die Verurteilungen stehen bereits vorher schon fest.“ „Deswegen hast du dich mit ihm eingelassen? Aber wieso? Können wir nicht...“ Alexander schüttelte den Kopf, noch bevor sie ausgesprochen hatte. „Nein, wir können nichts tun, egal ob wir unsere magischen Kräfte einsetzen oder nicht. Ich habe eine Familie zu versorgen, meine Frau und ich möchten gern Kinder. Ihm jetzt zu wiedersprechen oder in ihm auch nur den Verdacht aufkommen zu lassen, wer wir sind oder was wir können, ist unser sicherer Tod. Es wurden schon viele wegen Hexerei und Teufelei verbrannt und die wenigsten davon beherrschten die Magie überhaupt. Außerdem weißt du sehr genau, dass wir unser Kräfte nicht gegen Menschen richten können.“, sagte er mit Bitterkeit in der Stimme. „Ich bin gekommen, um dich vor ihm zu warnen. Er erzählte mir, dass er einen Drachen suchte und unseren Wald durchsuchen wollte. Anscheinend ist er sich gar nicht sicher, wo er diesen Drachen aus den Augen verloren hat. Ich wusste, dass er früher oder später dabei auf dich treffen würde. Also habe ich ihm gleich von dir erzählt, allerdings nicht von Draco.“, ergänzte er, als er ihren Gesichtsausdruck sah. „Er wollte plötzlich alles von dir wissen und beschloss dann dich aufzusuchen. „Ich wollte schon früher kommen, dir sagen, dass du in nächster Zeit auf keinen Fall deine Magie gebrauchen sollst und vor allem, dass sie Draco nicht sehen sollen. Aber ich bin wirklich zu spät. Ich konnte nicht ahnen, dass er seine Worte schon so bald umsetzen würde.“ Annie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte gespürt, dass von diesem Mann eine Gefahr ausging, aber dass sie so groß war, hätte sie nicht für möglich gehalten. Wenn sogar schon ihr Bruder ihm nicht zu wiedersprechen drohte, dann musste dieser Barrington sehr gefährlich sein. Sie dachte mit Schrecken daran, wie sie gestern so leichtfertig ihre Magie gebraucht hatte. Was, wenn er sie gesehen hätte? „Nein, du kannst beruhigt sein. Ich habe heute keine Magie benutz und Draco haben sie auch nicht gesehen.“ „Ich bin froh, dass zu hören. Aber Annie, er sollte so schnell wie möglich von hier verschwinden, er bringt dich nur noch mehr in Gefahr.“ „Aber das kann ich nicht-“ „Warum? Warum soll ich gehen?“ Annie blieb das Herz stehen, als sie Dracos Stimme hörte. Warum sprach er denn ausgerechnet jetzt? Alexander war weit mehr überrascht, als seine Schwester. Das erste Mal an diesem Tag sah er den blondhaarigen Mann genau an. Noch immer hatte er dieses Blitzen in den eisigen Augen, was ihn bereits das letzte Mal erschaudern lassen hat und doch... irgendetwas schien sich verändert zu haben. Nicht in seinem Gesicht, das war noch genauso makellos und schön, wie er verärgert feststellte, aber war da nicht noch etwas anderen in seinen Augen? Etwas was beim letzten Mal noch nicht da gewesen war oder irrte er nur? „Er kann ja doch sprechen.“, sagte Alexander schließlich und sah dabei aber seine Schwester eindringlich an. „Das... uhm... ist... Er... ähm...“, stotterte Annie zurecht. „Ich sagte ja auch nicht direkt, dass er nicht spricht. Er... sprich nur nicht... mit Fremden.“ Alexander musterte seine Schwester noch einmal scharf und sah dann zu Draco. Er machte einen Schritt auf diesen zu, bis er vor ihm stand. Wie auch schon beim ersten Mal, wich Draco nicht einen Schritt zurück, sondern erwiderte seinen Blick unerschrocken. Doch dieses Mal wollte Annie nicht warten, bis Alexander ihm abermals drohte und ging gleich dazwischen. „Alexander, ist schon gut. Ich sagte dir doch, dass er Menschen nicht sehr vertraut und fremden anscheinend schon gar nicht. Mit mir hat er ja auch lange Zeit nicht gesprochen.“ Bei diesem Worten warf sie Draco einen bösen Blick zu. Das hatte sie ihm immer noch nicht ganz verziehen. „Aber ich möchte es auch gern wissen. Warum soll er gehen? Du weißt, dass seine Schuld erst nach einem Jahr beglichen ist.“ „Ist dass denn nicht offensichtlich? Er ist ein Mann und er-“ „Ich sagte dir doch, dass du dir deswegen keine Sorgen machen brauchst.“, unterbrauch ihn Annie gleich. Gleichzeitig musste sie aber an das Ereignis vom Vortag denken. Ihr Bruder hatte vielleicht doch keine schlechte Intuition. „Auch, wenn du das vielleicht sagst und glauben willst, so kann ich es nicht und Barrington schon gar nicht, wenn er ihn sieht.“ Jetzt war Annie noch verwirrter. „Barrington ist sehr gläubig, zumindest was das Verhalten von anderen betrifft. Bei sich selbst macht er gern eine ziemliche Ausnahme. Wenn eine Frau mit einem Mann zusammenlebt, der nicht zu ihrer Familie gehört und sie nicht verheiratet sind, kommt das für ihn einem Packt mit dem Teufel gleich. Das wäre für ihn die größte Sünde. Eine Frau hat keusch und rein zu sein, sich dem Mann zu unterwerfen und nur nach seinen Wünschen zu leben. Sollte Barrington herausfinden, dass du mit einem Mann zusammenlebst – aus welchen Gründen auch immer – und ihr nicht verheiratet seid, würde er dich sofort in den Kerker werfen lassen und so lange foltern, bis du von deinen Sünden gereinigt bist. Das wäre noch eine milde Strafe für dich. Ich will dir gar nicht erst erzählen, was sie mit ihm machen würden.“ Entsetzt sah Annie ihren Bruder an. Ihr war es eiskalt den Rücken hinuntergelaufen und das atmen fiel ihr schwer. Was für ein Monster war dieser Barrington eigentlich? Woher nahm er sich das Recht, so über die Menschen bestimmen zu können? Warum hielt ihn niemand auf? Sie sah kurz zu Draco, doch sein Gesicht war verschlossen. Wahrscheinlich verstand er all diese Worte gar nicht und vielleicht war das sogar besser so, sagte sie sich. „Wie... Wie kommt es, dass ich von all dem nichts weiß?“, fragte sie mit zitternder Stimme. Alexander atmete einmal resignierend aus. „Ich wollte es dir nicht sagen. Ich wollte dich nicht beunruhigen. Ich dachte, dass du hier in deiner Abgeschiedenheit sowieso niemals damit in Berührung kommen wirst. Es tut mir leid, ich hätte es dir doch früher erzählen sollen.“ Annie schüttelte leicht mit dem Kopf. „Ist schon in Ordnung. Du wolltest das Beste für mich. Danke für deine Warnung, aber ich... ich kann Draco nicht einfach wegschicken.“ Allein schon der Gedanken daran, sich jetzt schon von ihm zu trennen, ließ ihr Herz schmerzen. Am liebsten wollte sie ihn nie mehr gehen lassen, auch wenn sie wusste, dass er ein Leben als Mensch wohl niemals akzeptieren würde. „Warum denn nicht?“, fragte ihr Bruder sofort. „Er... ist fremd hier und kennt sich nicht aus und... seine Verletzungen sind noch immer nicht vollständig geheilt.“, log sie ihn an. Sie bemerkte Dracos Blick in ihrem Rücken, doch diesen versuchte sie zu ignorieren. Alexander aber bemerkte die Lüge seiner Schwester. Aufmerksam sah er von Draco zu Annie und wieder zurück. Warum sollte seiner Schwester ihn wegen jemandem wie IHN belügen? Hatte sie dafür einen besonderen Grund? Bisher hatte es doch nichts gegeben, was sich zwischen sie gestellt hatte, was sie vor ihm verheimlicht hatte und dieser Mann sollte jetzt der Auslöser sein? Warum? War es wirklich so, wie Annie sagte oder gab es noch einen anderen Grund? Er sah, wie Dracos Blick auf Annie ruhte und ihm kam etwas in den Sinn, was ihm ganz und gar nicht gefiel. Gleich darauf verwarf der den Gedanken auch schon wieder. Das war einfach absurd. Seine Schwester, die sich so sehr gegen die Ehe gesträubt hatte, würde doch nicht.... Nicht mit so einem dahergelaufenen... „Verstehe.“, erwiderte Alexander und seine Stimme war kälter geworden. „Wie du meinst. Trotzdem ist es besser, wenn er verschwindet. … Bevor noch etwas anderes passiert.“ Mit diesen Worten sattelte er wieder auf. „Was meinst du damit?“, fragte Annie verwirrt. „Denk an meine Worte, Annie. Er ist nicht gut für dich. Bis bald.“, verabschiedete er sich knapp und ritt davon. „Alexander!“, rief Annie, doch er hörte sie schon lange nicht mehr. Warum war er plötzlich so abweisend? Das war kein Abschied, wie sie ihn gewohnt war. Er würde nicht gut für sie sein? Was sollte das heißen? Hatte Alexander etwas erkannt, was Draco für sie war? Nein, dass war eigentlich ausgeschlossen. Woher sollte er das bemerkte haben? Sie hatte sich nichts anmerken lassen. „Ich bin eine Gefahr für dich?“, hörte sie Draco fragen und sie drehte sich zu ihm um. „Ähm... Nein,... nur, wenn Barrington dich bei mir findet. Aber das wird er nicht, sei also unbesorgt.“ Bei ihren Worten wurde ihr selbst mulmig zu mute. Konnte sie das wirklich garantieren? Ja. Es würde schon alles gut gehen. Es musste einfach. „Was meinte er mit all den anderen Dingen, von denen er gesprochen hat? Warum wäre es so schlimm, wenn Barrington herausfindet, dass ein... Mann bei dir lebt?“ Es war das erste Mal, dass er das Wort Mann benutzt und sich selbst damit meinte. Es fühlte sich seltsam für ihn an. „Lass uns rein gehen, dort erkläre ich dir alles. Es ist vielleicht besser, wenn wir von jetzt an vorsichtiger sind. Vielleicht kommt er ja doch noch einmal zurück, auch wenn ich es nicht hoffe.“, murmelte sie und ging voraus. Draco folgte ihr und warf noch einmal einen Blick zurück. Er zweifelte nicht mehr daran. Dieser Barrington würde sein Schicksal besiegeln. „Gleich wird die Sonne untergehen, aber es ist noch immer sehr bewölkt.“, sagte Annie, als sie vor der Hütte saßen. Sie war aufgeregt. Als die Sonne langsam begonnen hatte unterzugehen, war Draco nach draußen gegangen und hatte sie gefragt, ob sie noch immer wissen wolle, woher die Monddrachen stammen. Natürlich hat sie nicht einen Moment gezögert. Allein die Vorstellung seiner Stimme beim Erzählen zu zuhören, bereitete ihr unglaubliche Vorfreude. Vor allem, weil er es freiwillig tat und nicht, weil er sich dazu verpflichtet fühlte oder eine Gegenleistung erwartete. Woher dieser plötzliche Sinneswandel bei ihm führte, konnte sie sich nicht erklären, aber sie würde ihn auf keinen Fall danach fragen. „Das macht nichts.“, antwortete er ihr. „Der Mond ist immer da, auch wenn man ihn nicht sieht. Er leuchtet hell und unerreichbar. Es ist beruhigend das zu wissen, auch wenn wir ihn mit den Augen nicht sehen können“ Verwunderte sah sie ihn an. Woher kam diese starke Bindung zum Mond? Sollte das wirklich nur den Namen verschuldet sein? Sie hoffte in dieser Nacht eine Antwort zu finden. Schweigend beobachteten sie, wie sich der Himmel von brennendem Rot zu Lila und schließlich Schwarz verfärbte. Annie sah nach oben und versuchte den hellen Schein des Mondes auszumachen. Würden sie ihn wirklich nicht sehen können? Sie richtete ihren Blick nach links, weil sie glaubte dort den Mond immer zuerst gesehen zu haben, nachdem es dunkel geworden war. „Wo siehst du hin?“, hörte sie Draco leise fragen und sie zuckte überrascht zusammen. „Ich suche den Mond.“, antwortete sie etwas bissig. Das war doch nun offensichtlich. „So wirst du ihn nie finden.“ „Was?“ „Annie, sieh nach oben und durch die Wolken hindurch.“ Verwirrte folgte Annie seinem Blick. Er sah direkt nach oben, also tat sie es ihm gleich. Aber wie sollte sie durch die Wolken sehen? Sie starrte wie gebannt, auf die Stelle im Himmel auf die auch er sah und wünschte sich doch nichts mehr, als dass die Wolken sich verziehen würden. Auch wenn sie wusste, dass der Mond immer da war, so fiel es ihr schwer, ihn anzusehen, wenn er hinter Wolken versteckt war. „Kannst du ihn sehen?“, fragte er sie leise. „Nein.“, antwortete sie ehrlich. „Er ist nicht mehr so voll, aber immer noch in seiner schönsten Pracht. Du musst genau hinsehen.“ Annie warf Draco noch einmal einen kurzen Blick zu und dieser schien noch immer gebannt, von dem was er sah. Sie richtete die Augen wieder nach oben und weitere Sekunden verstrichen, ohne das sie etwas von dem Mond sehen konnte. Sie wollte es auch sehen! Aber sie sah nur eine schwarze Wolkendecke. Doch plötzlich traute sie ihren Augen nicht richtig. Die Wolken schienen irgendwie heller zu werden. Sie sah kurz nach rechts im Himmel und dort waren die Wolken noch immer dick und undurchdringlich. Als sie dann wieder auf die Stelle sah, kam sie ihr noch heller vor. Staunend beobachtete sie, wie sich die Wolken langsam teilten und nach rechts und links schwebten, um schließlich den hell erleuchteten Mond preiszugeben. Majestätisch stand er über der Nacht. Er war genau an der Stelle zu sehen, die Draco die ganze Zeit beobachtete hatte. Hatte er ihn wirklich bereits hinter den Wolken gesehen? Annie ließ den Anblick auf sich wirken und nur Draco Stimme, die sie leise erzählen hörte, fesselte sie noch mehr. „Wir wurden geboren in der tiefsten Finsternis der Erde, weit weg von Tag und Sonnenlicht. Es gab nur Dunkelheit und das glühende Gestein. So wie die Umgebung war, in der wir lebten, so waren auch wir: dunkel und schwarz. Jahrhunderte lang lebten wir unter der Erde, geschützt und sicher. Nie verließen wir diesen Ort, denn selbst wenn wir uns der Oberfläche näherten, gab es dort nichts, als die gleiche Dunkelheit. Niemals sahen wir den Tag. „Doch dann,... eines nachts sahen wir ihn, den Mond. Er leuchtete so hell, dass wir unseren Blick nicht von ihm nehmen konnten. Sein kühles Licht war angenehm, im Gegensatz zu dem Feuer, welches uns sonst umgab. Die Sterne im Himmel bemerkten wir nicht einmal. Doch jedes Mal verschwand der Mond irgendwann aus unseren Augen. Wir wussten nicht warum, aber von da an warteten wir Nacht für Nacht darauf, ihn von neuem sehen zu können, uns von seinem kalten Licht kühlen zu lassen. Wir merkten, dass der Mond sich veränderte, dass er mit jeder Nacht anders aussah. Wir bewunderten ihn so sehr, dass unsere Faszination zu Sehnsucht wurde. „Es genügte uns schon bald nicht mehr den Mond aus der Sicherheit der Erde heraus zu sehen. Wir wollten ihm näher sein. Also verließen wir des Nachts den Ort unserer Geburt und beobachtete den Mond. Immer von der gleichen Stelle aus und wenn der Mond weiter gezogen war, kehrten wir in die Erde zurück und warten voller Ungeduld auf seine Rückkehr. Aber auch das reichte uns schon bald nicht mehr. Je länger wir ihn beobachteten, desto näher wollten wir ihm sein. Einer von uns wagte es. Das erste Mal gebrauchte er seine Schwingen oberhalb der Erdoberfläche und er flog höher und höher in den Nachthimmel hinein. Doch egal, wie hoch oder wie lange er flog, der Mond schien in immer weitere Ferne zu rücken und wurde immer unerreichbarer. „Dennoch wollte er nicht aufgeben. Zu groß war das Verlangen dem hellen und klaren Licht näher zu kommen, einzutauchen und darin zu versinken. Aber er erreichte sein Ziel nie. Er starb vor Erschöpfung und fiel zur Erde zurück. Während seines Falls, wurde er in das Licht des Mondes getaucht und als es ihn traf, wandelte sich sein Aussehen. Mit einem heftigen Schlag fiel er auf die Erde. „Als wir anderen ihn sahen, war da nicht mehr die Schwärze, die sie bis dahin gezeichnet hatte. Er hatte die Farbe des Mondes und seine toten Augen strahlten die gleiche Kälte aus, wie der Mond selbst. Voller Neid standen wir vor ihm. Jeder von uns wollt ebenso ein Teil des Mondes haben. Wir wollten so aussehen wie er. Wir glaubten somit, dem Mond näher sein zu können.“ Draco brach ab und sah gedankenversunken zum Mond. Annie ging es nicht anders. Wie war es möglich, dass sich die Farbe der Schuppen geändert hatte? War es wirklich durch den Mond geschehen? Sie wusste es nicht und sie würde wohl nie eine Antwort erhalten, doch der Mond besaß viele Kräfte. Er beeinflusste das Leben auf der Erde in jedem Augenblick. Wenn ihre Sehnsucht wirklich so groß gewesen war... „Was haben sie getan?“, wisperte Annie leise. Draco wandte den Blick vom Mond ab und sah ihr in die Augen. Sein Blick war kalt und sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie der Blick des Drachens gewesen sein musste, der für seine Sehnsucht mit dem Leben bezahlt hat. „Wir haben ihn gefressen.“ Voller Entsetzen sah sie ihn an und zog scharf die Luft ein. Sofort sah sie Bilder in ihrem Kopf, wie große schwarze Drachen, Ungeheuern gleich, den ersten wirklichen Monddrachen zerrissen und voller Gier sein Fleisch fraßen. Ein Schauer durchlief sie und die feinen Härchen auf ihrem Köper stellten sich auf. „Ha-Haben sie bekommen was sie wollten?“, fragte sie mit erstickter Stimme. „Du hast mich gesehen. Du kennst die Antwort.“, antwortet er und die Intensität seines Blickes ließ sie schwindelig werden. Abermals durchlief sie ein Schauer. Ja, sie kannte die Antwort. Aber dass sich so eine Geschichte dahinter verbarg, hätte sie sich nie vorstellen können. Wahrscheinlich war die Farbe der Drachen auch der Grund für ihren Namen bei den Menschen gewesen. Sie hatten die Farbe des Mondes. „Indem wir das taten begingen wir... Die Menschen würden sage, wir begingen eine Sünde, denn wir fraßen einen von uns. einen. Wir wussten, dass wir dafür bestraft werden würden. Trotzdem taten wir es.“, erzählte Draco weiter, was Annie ein wenig verwunderte. „Wie wurdet ihr bestraft?“ „Wir wurden nicht bestraft, bis zu dieser Zeit nicht. Ich bin es, der jetzt dafür bestraft wurde.“, flüsterte er. Ruckartig setzte sie sich auf und schaute ihn fassungslos an. Sie musste ihn nicht extra fragen, was er meinte. Für ihn gab es nichts Schrecklicheres, als das Dasein eines Menschen. Es war die schlimmste aller Strafen. Aber er wusste doch, dass er kein Mensch bleiben würde. Es war nur vorrübergehend. War selbst das eine Jahr, bereits mehr als er ertragen konnte? Annie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, also fragte sie vorsichtig weiter: „Was ist dann passiert?“ „Nichts. Wir leben wie die anderen Wesen. Wir erwachen nachts und schlafen tagsüber in der Sicherheit der Erde, zumindest war es sicher...“ „Was meinst...“ Sie wollte fragen, was er meinte, doch irgendwie glaube sie die Antwort bereits zu kennen. „Er hat dich am Tage gefunden, als du geschlafen hast...“, flüsterte sie. Draco sah sie kurz an und nickte. „Ich weiß nicht, wie sie mich gefunden haben, aber sie haben mich vollkommen überrascht. Ich konnte ihnen kaum entkommen. Des tags sind wir... wir sind nur für die Dunkelheit geschaffen.“ „Aber als Mensch bist du...“ „Die Menschen sind anders als wir. Sie leben am Tag und ruhen in der Nacht. Deswegen bin ich... kann ich...“ Sie schwiegen eine Weile. Anscheinend fiel es Draco schwer darüber zu reden und sie verfluchte sich ein wenig, dass sie ihn erneut daran erinnert hatte. Sie wollte ihn gern wieder auf anderen Gedanken bringen. „Das ist eine interessante Geschichte, schön und gleichzeitig furchtbar.“, sagte sie schließlich. „Eine Geschichte? Es ist keine Geschichte. So ist es geschehen.“, widersprach er scharf. Wie konnte sie es wagen, die Wahrheit seiner Worte anzuzweifeln? „Du meinst... du... das… Bist du... Du warst einer von ihnen?“, fragte sie kaum hörbar. Das konnte und wollte sie sich gar nicht vorstellen. Sie erinnerte sich daran, wie sie überlegt hatte, wie alt er war. Mehr als fünfhundert Jahre, hatte sie errechnet. Es war also möglich und hatte er nicht immer in der Mehrzahl gesprochen? Aber das konnte auch bloß seine Ausdrucksweise sein. Das hoffte sie wirklich. Wieder sah Draco sie an. „Nein, es geschah lange vor mir.“ „Woher weißt du es dann?“, wollte sie wissen, konnte die Erleichterung aber nicht verbergen. „Ich erinnere mich.“ Jetzt war sie noch verwirrter und genauso sah sie ihn auch an. „Wa-Was meinst du damit? Ich dachte du... Du hast doch gesagt, dass du da noch nicht... gelebt hast, wie kannst du dich daran erinnern?“ Draco schüttelte leicht den Kopf. Es würde keinen Sinn haben es ihr zu erklären. Sie würde es nicht verstehen. „Draco, bitte sag es mir. Du kannst doch so etwas nicht einfach sagen und es mir dann nicht genauer erklären.“ Er öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Warum sollte er ihr es weiter erklären? Sie hatte es ihm doch gestern auch nicht erklärt, warum sollte er es also tun? Genau das war es, was auch Annie in seinem Gesicht lesen konnte. „Draco, bitte?“, flehte sie ihn fast an und kam ihm unwillkürlich näher. „Wir... werden mit dieser Erinnerung geboren.“, begann er zaghaft. Er wusste selbst nicht, wie er es in Worte fassen sollte und noch immer sah sie ihn verständnislos an. „Wir vergessen es nicht. Wenn wir geboren werden, besitzen wir diese Erinnerungen bereits. Diese und all die anderen, die wir gemacht haben.“ „Du meinst ihr erinnert euch an alles, ab dem Moment euer... Entstehung. An alles? Von allen?“, fragte sie dumpf. Das ganze überstieg ihre Vorstellung. „Nein.“, antwortet er kurz. Annie atmete erleichtert aus. Es wäre auch zu verrückt gewesen. Das musste schließlich vollkommen unmöglich sein, selbst wenn die Drachen ihnen noch so sehr überlegen waren. Sie hatte sich bestimmt nur verhört. „Wir alle teilen die Erinnerung an unserer Entstehung, wie du es nanntest, an den Moment, als er den Mond erreichen wollte. Aber wir teilen auch die Erinnerung unserer... Linie. Ich wurde mit den Erinnerungen meiner... Ich weiß nicht, wie ihr es nennt. Ich kenne das Wort dafür nicht...“ Annie überlegte einen Moment. Das ganze war ihr zu viel. Sie hatte doch nur wissen wollen, woher der Name kommt. Aber, was sie nun erfuhr überwältigte sie geistig. „Du erinnerst dich an alles, was deine Ahnen... Vorfahren getan haben? Also die Drachen von denen du... abstammst?“, fragte sie fassungslos. „Vorfahren... Ahnen...“, wiederholte er ihren Worte leise. „Ja,.. ich trage ihre Erinnerungen in mir. Sie werden niemals vergessen.“ „Ihr... Die Monddrachen haben eine ewige Erinnerung... ein... ein... ewiges Gedächtnis?“, fragte sie kaum hörbar. Wir viele Erinnerungen mochten das sein? Abertausende... Millionen... und mit jedem neuem Nachkommen, wurden es immer mehr... „So ist es... Wir erinnern uns für die Ewigkeit.“ „Oh...“, war alles was sie dazu sagen konnte. Es schien ihr selbst eine Ewigkeit zu dauern, ehe ihr Kopf das alles irgendwie erst einmal hingenommen hatte. Sie würde später darüber nachdenken, auch wenn sie das Gefühl hatte, es niemals verstehen zu können. „Ihr habt dies Erinnerungen bereits mit eurer Geburt, ab dem Moment in dem ihr das Ei verlasst?“, fragte sie dann schließlich noch einmal. Natürlich war ihr die Antwort schon längst klar, doch sie konnte es einfach nicht glauben. Das war unvorstellbar, doch jetzt war es Draco, der sie verwundert ansah. „Du glaubst wir würden, wie die Küken eines Huhnes, aus dem Ei kommen?“, fragte er sie und seine Stimme klang ein wenig beleidigt. „Ehm... Ja, ich meine, ich habe davon gehört, dass Drachen aus Eiern schlüpfen.“, antwortete sie irritiert. Er musste kurz lächeln, etwas vollkommen untypisches für ihn. Was war so lustig gewesen? „Die Menschen habe keine Ahnung von uns. Sie glauben an Dinge, die sie doch nie gesehen haben.“, sagte er leise und sprach eher zu sich selbst. „Es stimmt, dass es Drachen gibt, bei denn das so ist. Aber wir gehören gewiss nicht dazu. Nur die, die nichts wissen, wenn sie die Welt das erste Mal sehen, entstehen in Eiern. Mühsam müssen sie neu lernen. Wir müssen nicht erst neu lernen, wir wissen es bereits.“ „Aber... wie werdet ihr dann geboren, wenn nicht...“ „So, wie allen anderen Tiere auch.“, beantwortete er ihr Frage, bereits und es klang so, als wäre es etwas selbstverständliches. Fassungslos starrte sie ihn an. Die Drachen... die Monddrachen sollten so geboren werden... so entstehen, wie... wie ein Wolf, eine Wildkatze oder ein Hase, wie ein Mensch?! Das konnte sie noch weniger glauben. „Du glaubst mir nicht.“, stellte er fest, als er in ihr Gesicht sah. Annie schüttelte den Kopf. „Nein... Doch...Aber, dass... ich kann das einfach nicht... begreifen. Ich meine, ich hätte nie gedacht, dass... Ich... bin verwirrt.“ Noch immer war die Ungläubigkeit in ihrem Gesicht zu sehen, was Draco abermals den Mund zu einem spöttischem Lächeln verziehen ließ. Das war das erste Mal, dass er sie so durcheinander sah und er musste zugeben, dass ihm dieser Anblick auf gewisse Art und Weise gefiel. Annie kratzte sich verstohlen am Hinterkopf. „Ich meine, dass... Ich kann mir das gar nicht alles vorstellen.“ „Nein, du bist auch nur ein Mensch.“, antwortete er. „Ja, ich fürchte damit hast du wohl recht.“ Vielleicht war sie als Mensch wirklich nicht in der Lage, das zu begreifen. Vielleicht reichte ihr Geist nicht aus, um all das zu verarbeiten. „Kann ich dich noch etwas fragen?“, sagte sie dann etwas zögerlich. Draco atmete einmal scharf aus. Er hatte ihr bereits mehr erzählt, als er beabsichtigt hatte, trotzdem nickte er leicht. „Wenn du... wenn du wieder ein Drache bist... und selbst... wenn es Nachkommen von dir gibt... also, wenn du selbst einmal ein Ahne bist... werden sie sich dann... werden sie deine Erinnerungen als Mensch haben?“ Draco sah sie eindringlich an, bevor er antwortete. „Ja. … So wie ich mich immer daran erinnern werde, werden auch sie sich erinnern. Sie werden sich an alles erinnern, was ich als Mensch getan, gesagt... und gefühlt habe.“ Er senkte seine Stimme am Ende und Annie glaubte kurz etwas in seinen Augen zu sehen, was sie nicht einordnen konnte. Wieder einmal wusste Annie nicht, was sie darauf erwidern sollte, also schwieg sie. Ihr schwirrte der Kopf. Sie ließ sich gegen das Holz sinken und schloss die Augen. Das alles war zu viel für sie. Plötzlich war sie schrecklich müde. Sie überlegte noch, dass sie aufstehen und in die Hütte gehen sollte, doch ihre Beine wollten sich nicht bewegen. „Draco, warum hast du mir das alles erzählt?“, murmelte sie leicht und befand sich bereits im Halbschlaf. „Ich weiß es nicht.“, antwortete er ehrlich. Er verstand sich selbst nicht mehr. Annies Körper rutschte ein wenig zu Seite und dann spürte sie nur noch etwas weiches, an das sie sich lehnte. Es war warm und angenehm. Sie würde ganz sicher von dem träumen, was Draco ihr gerade erzählt hatte, dachte sie noch, bevor plötzlich alles um sie verschwand. Nur wenige Atemzüge später, schlief sie tief und fest. Erschrocken hatte Draco den Kopf gedreht, als er auf einmal etwas auf seiner Schulter spüren konnte. Er blickte in ihr schlafendes Gesicht und wusste nicht, was er tun sollte. Ihre Nähe fühlte sich unglaublich gut an, besonders wenn er daran dachte, wie sie am gestrigen Nachmittag kaum miteinander gesprochen hatten. Ihr Köper war warm und erinnerte ihn an dem Moment, als er diese Angst verspürt hatte. Auch wenn es ihm schwer fiel, es zuzugeben, aber er war froh gewesen, das sie ihn umarmt hatte. Er hatte sich haltlos und verloren gefühlt. Sie hatte ihn mit dieser Geste und ihren Worten wieder Sicherheit gegeben. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass es ein noch stärkeres Gefühl, wie die Wut geben konnte. Es hatte ihn zutiefst erschüttert. Die Menschen waren noch viel schwächer, als er bisher geglaubt hatte und doch... Er beobachtete sie weiterhin und erinnerte sich an ihr Gespräch von vor wenigen Augenblicken. Er wusste selbst nicht, warum er ihr all dies erzählt hatte, aber es fühlte sich nicht falsch an. Auf gewisse Weise empfand er es sogar als angenehm, diese Gedanken mit jemand geteilt zu haben, auch wenn sie sie vielleicht nicht richtig begreifen konnte. Ja, er würde sich immer an sein Leben als Mensch erinnern. Er versuchte es als Bereicherung zu sehen, als eine Erfahrung, die nie jemanden anderem unter Seinesgleichen vergönnt sein würde. Trotzdem konnte er das beklemmende Gefühl nicht verdrängen. Er würde sich wirklich an alles erinnern können: an das Entsetzen, als er bemerkte, ein Mensch zu sein, an die Art und Weise wie er Dinge gelernt hatte, er würde die menschliche Sprache verstehen, er würde sich an die Wut erinnern, die Angst und an... sie, an das Verlangen nach ihr. Noch immer wollte er sie noch einmal spüren, ihre Lippen auf den seinen. Selbst die Nacht und der Schlaf hatten dieses Begehren nicht verdrängen können. Warum?, fragte er sich. Er wusste doch bereits was ein Kuss war. Aber diese Erfahrung, die bloße Erinnerung daran, ließ das Verlangen noch stärker werden. Das Gefühl des Kribbelns begann sich in ihm auszubreiten und hielt ihn gefangen. Es war die gleiche Sehnsucht, wie sie seine Vorfahren damals nach dem Mond verspürten, genauso mächtig und unstillbar. Draco wusste nicht, ob er als Drache mit diesen Verlangen würde leben können und wie es ein würde, damit zu leben. Er war sich sicher, dass er sich immer nach ihr sehen würde, egal wie viele Jahrhunderte er noch leben mochte. Er würde dieses Verlangen selbst dann noch spüren, wenn sie schon lange nicht mehr war. Ohne dass er es bemerkte, näherte er sich ihrem Gesicht ein wenig mehr. So lange, wie er ein Mensch war, konnte er dieses Verlangen stillen. Anders als seine Ahnen, würde er das bekommen können, dem nahe sein können, was er begehrte. Sollte er es sich dann nicht so lange nehmen, wie er konnte? Wenn seine Sehnsucht dadurch nur ein bisschen gestillt werden konnte, sollte er es tun oder nicht? Aber sie wollte es nicht. Sie hatte es deutlich gesagt. Und wenn er es sich einfach nahm? Sie würde sich nicht gegen ihn wehren können. Doch wollte er das wirklich? Sollte er gegen ihren Willen handeln? Wenn er es tat, würde es seine Sehnsucht nicht noch mehr steigern, sie noch unerträglicher werden lassen, wenn er wieder ein Drache war und es sich nicht mehr nehmen konnte? Je mehr Erinnerungen er besaß, desto mehr könnten sie ihn später quälen, realisierte er. Müsste es dann nicht leichter für ihn sein, wenn er weniger Erinnerungen hatte? Er hatte sie einmal geschmeckt, kannte nun das Gefühl, wie es war, das Begehrte zu erreichen, das Verlangen zu stillen. Mehr brauchte er nicht und doch wusste er, dass dieser Kuss ein ganz anderes Verlangen in ihm ausgelöst hatte. Draco schloss die Augen und atmete noch einmal tief ihren Duft. Schon allein dieser genügte, um seine Gedanken zu verwirren und alles, was er vorher noch bedacht hatte, verschwand plötzlich. Gleich würde sich ihre Lippen berühren, würde er seinen Kopf noch ein wenig tiefer senken. Ihm war als könnte er ihr Süße bereits schmecken und sein Körper zitterte vor Erwartung. Noch einmal sah er sie an du ihm wurde bewusst, was er im Begriff war zu tun. Er konnte es nicht. Er durfte es nicht, auch wenn es sich ein Teil von ihm noch so sehr ersehnte. Seine Ahnen hatten ihrem Verlangen nachgegeben und er musste die Strafe dafür tragen. Würde er seinem Begehren nachgeben, würde auch er sündigen. Er war kein Mensch. Wer würde die Strafe für sein Vergehen tragen müssen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)