The Wasted Time of Our Lives von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 21: 無力 - Muryoku - Helplessness --------------------------------------- Das Telefon klingelte. Ich schrieb noch die nächste Zeile meines neuen Songes, die mir gerade im Kopf herumschwebte, und ging dann, die Melodie summend, zum Telefon. „Ja?“ Ich hörte an Hydes Stimme sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Doch ich ahnte nicht, dass überhaupt nichts mehr in Ordnung war. „Ga-chan... Ich... Du...“ Er wirkte schrecklich durcheinander. Es musste etwas Schlimmes passiert sein. „Es funktioniert nicht. Ich... habe ihr gesagt, dass ich die Scheidung will, aber... sie ist völlig durchgedreht. Das verkraftet sie nicht. Ich... kann mich nicht von ihr trennen.“ Mein Blick wurde starr. Ich wollte nicht glauben, was ich gerade hörte. Noch eine Minute zuvor hatte ich mich so wohl und ausgeglichen gefühlt. Ich war glücklich gewesen. Und jetzt dieser Schlag. Vollkommen unerwartet. Sodass er mich noch heftiger traf, als er das ohnehin getan hätte. „Warum? Du hast es doch bereits getan. Du hast es ihr gesagt. Dass sie nicht glücklich darüber ist, ist verständlich, aber... Du hast es doch nicht wieder zurückgezogen oder so etwas?“, warf ich ein. Langes Schweigen. „Nein.“ Ich atmete erleichtert auf. „Aber sie... Wir haben uns gestritten. Und sie... sie ist gestürzt...“ Mein Körpergefühl änderte sich. Es war nicht mehr real. „Sie war bewusstlos. Vielleicht erinnert sie sich nicht einmal mehr daran, was ich ihr gesagt habe.“ ~Oh, mein Gott...~ „Und selbst wenn sie das tut... Ich muss es zurücknehmen. Ich habe ihre Reaktion gesehen. Das... Sie kann damit nicht umgehen. Ich werde ihr Leben... kaputt machen.“ Ich hörte seiner Stimme immer deutlicher an, dass er geweint hatte. Er war dabei, wieder damit anzufangen. „Warte. Ich komme jetzt erst einmal zu dir. Du bist doch zu Hause, oder?“, fragte ich der Vorsicht halber noch nach. „Ja, aber... Komm nicht. Bitte. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.“ Er klang verzweifelt. „Und ob ich das tue! Ich bin sofort bei dir und wehe du bist dann nicht mehr da!“ Ich wartete noch einen Moment, bevor ich den Hörer auflegte. Doch er sagte nichts mehr. Ich hoffte, das tat er aus reiner Resignation. Nicht, weil er schon überlegte, wo er hingehen würde, um nachdenken zu können. Noch nie hatte ich es geschafft, in so kurzer Zeit zu ihm zu gelangen. Zwei rote Ampeln hatten meinen Weg versperrt, die ich gewöhnlich mehr beachtet hätte. Doch nicht heute. Nicht jetzt. Ich klingelte gleich zweimal, als ich vor seiner Tür stand. Es dauerte einen Augenblick, dann öffnete Hyde und ich sah es seinen Augen an, wie viel er bereits geweint hatte. Ich schloss schnell die Tür hinter mir und nahm ihn zuerst einmal in den Arm. „Erzähl mir alles.“, sagte ich, während ich ihm beruhigend über den Rücken strich, doch es wirkte nicht. „Ich...“ Er schluckte. „Ich habe es ihr gesagt... und sie... sie wollte es nicht einsehen... meinte, ich hätte keinen Grund... Sie wollte den Grund wissen...“ Mein Magen tat etwas Seltsames. ~Er hat ihr den Grund doch nicht genannt, oder doch?~ „Und dann hat sie an mir herumgezerrt... und... irgendwie habe ich sie dann weggestoßen und sie... ist auf den Glastisch gefallen... und war sofort bewusstlos...“ Mein Blick, ohnehin durch die Tür hindurch auf das Wohnzimmer gerichtet, heftete sich an den Glastisch. Ich sah keinen Riss. Sie konnte nicht allzu hart gelandet sein. Ich sah kein Blut. Sie hatte wahrscheinlich nicht einmal eine Platzwunde. Dann sah ich es: der Teppich... Er hatte ein großes Brandloch. Ich erkannte die Petroliumlampe, deren Scherben auf ihm verstreut lagen. ~Hätte ich sie damals doch nur schon umgestoßen...~ „Ich habe den Notarzt gerufen und Jo-chan zu seinen Großeltern gebracht... Ich weiß nicht, wie viel er wirklich mitbekommen hat...“ Ich merkte sofort, dass der Gedanke an seinen Sohn seine Verfassung noch verschlechterte. Es versetzte mir einen Stich, zu spüren, wie viel ihm an seinem Kind lag. Natürlich, es ist normal, dass Eltern sich um ihr Kind sorgen, weil sie es lieben. Doch diese Situation war nicht normal. Sie war alles andere als das. „Es ist ja nichts Schlimmes passiert. Ihr geht es bestimmt schon wieder gut, Joseph geht es gut. Es ist alles in Ordnung, okay?“ Es war mehr eine Frage, ob er mir das einfach glauben und sich wieder beruhigen wollte, als eine Frage der Tatsachen. „Sie ist bewusstlos...“ Es war, als konnte er es noch immer nicht fassen, dass das eine Tatsache war. „Sie ist bestimmt schon wieder wach.“, versicherte ich ihm, hörte nicht auf, seinen Rücken zu kosen. „Ich habe sie bewusstlos geschlagen...“, hauchte Hyde fassungslos an meiner Brust. Ich glaubte, mich verhört zu haben. „Du hast sie nicht ‚bewusstlos geschlagen’.“, behauptete ich, ohne dass ich es sicher wissen konnte. „Doch, es war meine Schuld...“, wisperte er. Als ich mich etwas zurücklehnte, sah ich, wie geistesabwesend er geradeaus starrte, die Augen weit geöffnet. Er stand unter Schock. „Haido! Komm wieder zu dir!“ Ich schüttelte ihn leicht an den Schultern. Er reagierte nicht. „Sieh mich an! Haido! Sieh mich an!“ Seine Augen drifteten langsam aus seiner Gedankenwelt zurück in die Realität und schienen wieder mein Gesicht wahrzunehmen. „Dich trifft keine Schuld.“, versuchte ich ihm klarzumachen. „Hörst du? Du hast ihr lediglich die Wahrheit gesagt. Sie muss lernen mit der Wahrheit umzugehen. Ihr Sturz war ein Unfall.“ Er holte tief Luft. „Okay?“, fragte ich nach, und ich war erleichtert, als er nickte. „Vielleicht hast du Recht.“ Bei diesen Worten atmete ich nochmals befreit aus, schenkte ihm ein Lächeln. „Aber ich darf sie trotzdem nicht verlassen.“ Ich hatte mich noch nie so hilflos gefühlt. Hyde war nicht mehr davon abzubringen. Zumindest nicht in seinem jetzigen Zustand. Er sprach immer davon, dass Megumi eine Trennung nicht verkraften und wie schlecht sich das auf die Entwicklung von Joseph auswirken würde. Er wollte das ihm und ihr nicht antun. Ich nahm ihn letztendlich mit zu mir. Ich konnte ihn nicht alleine lassen, wollte aber auch nicht in dem Haus bleiben. Und auch für Hyde war es besser, wenn er sich nicht in diesen Räumen befand, in denen alles an den Vorfall erinnerte. Widerwillig willigte er ein. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er einschlief. Und er tat es nur aus Erschöpfung. Es war kein friedlicher Schlaf. Er wälzte sich hin und her, immer und immer wieder zog er seine Augenbrauen zusammen, runzelte die Stirn und stöhnte. Er hatte Alpträume. Am nächsten Morgen war er noch vor mir wach. Ich schätzte, dass er aus einem Alptraum erwacht war. „Guten Morgen.“, sagte ich liebevoll und strich ihm über die Wange. „Wie fühlst du dich?“ „Seltsam.“ Dieselbe Antwort hatte er mir schon einmal gegeben. An dem Morgen nach unserem ersten Kuss. Das war kein gutes Zeichen, bedachte man, dass er daraufhin geflüchtet war, und wie grausam die Wochen waren, die darauf folgten - ohne ihn. Ich hoffte, dass es nicht wieder so sein würde. „Ga-chan?“ Ich sah ihn aufmerksam an. Seine Augen zeigten noch immer die Spuren vom Vortag. „Was soll ich tun?“ Ich wusste es zu schätzen, dass er mich das fragte, und nicht mehr selbst versuchte, eine Lösung zu finden. Doch es machte mir auch Angst, dass er schon jetzt um Hilfe bat. In seinen Augen musste er sich in einer absolut aussichtslosen Lage befinden. „Erst einmal solltest du abwarten, wie es ihr geht, und noch einmal mit ihr reden.“ Es war nicht nötig, ihren Namen zu erwähnen. Es wäre nur unnötig schmerzhaft. Für mich, wie vielleicht auch für ihn. „Was, wenn sie noch immer bewusstlos ist?“, wollte Hyde ängstlich klingend von mir wissen. „Das ist sie nicht.“, redete ich ihm ein, wie auch mir. Bevor ich ein weiteres Wort sagen konnte, richtete er sich auf. „Ich werde im Krankenhaus anrufen.“, sagte er aufgeregt und sprang aus dem Bett. Als ich ihm nachsah, betete ich, dass sie wirklich nicht mehr bewusstlos war. Ich stand ebenfalls auf, ging ins Badezimmer, ließ jedoch die Türe offen stehen, sodass ich Hyde telefonieren hören konnte. „Oishi Megumi. Ja.“ Ich war mir sicher, dass er nervös sein rechtes Bein bewegte. „Ihr Ehemann.“ Ein Stich. Ich schloss die Augen. „Wie geht es ihr? Ist sie wach?“ Ein Moment der Spannung. „Ah...“ Ein Ausatmen. Erleichterung. „Kann ich sie besuchen?“ Eine Gänsehaut. „Danke sehr.“ Ich hörte, wie er den Telefonhörer auflegte. Ich ließ Wasser laufen, begann, mir die Zähne zu putzen. Als Hyde zu mir ins Zimmer kam, war er bereits angezogen. „Sie ist wach. Ich werde jetzt ins Krankenhaus gehen.“ „Soll ich dich begleiten?“ Er überlegte lange. Ich war mir sicher, dass er verneinen würde. „Ja.“ Ich war erleichtert. Ich hatte Hyde noch nie dermaßen nervös erlebt. Er konnte seine Arme und Beine nicht stillhalten, und wenn es ihm doch einmal für einen kurzen Moment gelang, verriet irgendetwas anderes seine enorme Nervosität. Es war nicht schön, das mitansehen zu müssen. Als wir an einer Ampel anhielten, legte ich meine Hand auf seine. Sie war ganz kalt. „Es wird bestimmt alles gut.“ Etwas Sinnvollereres fiel mir gerade nicht ein. Er sagte nichts, und das nächste Mal, dass gesprochen wurde, war erst wieder, als wir vor ihrem Krankenzimmer standen, beide unschlüssig, was wir tun sollten. „Ich werde dann hier warten.“ „Ja.“, war seine leise Erwiderung. Dann atmete er noch einmal tief durch, bevor er klopfte und den Raum betrat. Als seine Hand die Türklinke hinunterdrückte, sah ich, wie stark seine Finger zitterten. Und wieder fühlte ich mich entsetzlich hilflos. Vorsichtig wagte ich mich tiefer in den Raum hinein. Das Zimmer war hell erleuchtet und doch fehlte ihm der Glanz. Diesen vermisste ich auch in ihren Haaren und in ihren Augen. Beides war matt. Abgestumpft. Am Ende. „Mei-chan... Wie geht es dir?“ Meine Stimme versagte. Sie starrte mich nur an. Kalt. Nervös lief ich hin und her, setzte mich wieder. Dann stand ich wieder auf, um hin und her zu laufen und mich schließlich wieder zu setzen. Ich hatte Angst. Ich befürchtete, dass er alles, was er gestern zu ihr gesagt hatte, zurücknehmen würde. Oder dass sie den Vorfall wirklich vergessen hatte. Das Gefühl, nichts tun zu können, ist ein mehr als nur grausames. „Was willst du?“ Es waren keine Worte, es waren Geschosse. „Ich wollte mit dir reden... wegen gestern.“ Ich schluckte und schluckte, doch es bewirkte nichts. „Ich glaube nicht, dass es da viel zu bereden gibt.“ Sie nahm mir alle Hoffnung, vernünftig mit ihr über den Vorfall sprechen zu können. „Außer...“ Sie gab sie mir wieder ein Stück zurück. „...du bist wieder vernünftig geworden und nimmst alles zurück, was du gestern zu mir gesagt hast.“ Ich wollte lauschen. Ich wollte wissen, ob Hyde nicht einen Fehler beging. Doch ich konnte es nicht. Ich wollte ihm vertrauen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)