The Wasted Time of Our Lives von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: 合言葉 - Aikotoba - Password ------------------------------------ Ungeduldig wartete er darauf, dass ihm jemand die Tür öffnen würde. Nervös klopfte er mit seinen Fingern gegen seine Oberschenkel. Es schien niemand da zu sein. Er atmete niedergeschlagen aus. ~Ich hätte vielleicht doch vorher anrufen sollen...~, dachte er gerade, als er ein Geräusch hinter der Tür wahrnahm. Er sah in dem Moment auf, in dem sie geöffnet wurde. Ein überraschtes Gesicht empfing ihn. „Ah, Ga-chan. Was machst du hier? Waren wir verabredet?“ „Nein, ich war nur in der Gegend.“, log er. „Was machst du gerade?“ „Nichts eigentlich. Möchtest du reinkommen?“, bot Hyde ihm an und trat einen Schritt zur Seite. Wortlos überschritt Gackt die Schwelle. Hyde schloss die Tür hinter ihm. „Hattest du etwas Bestimmtes geplant?“ „Ich hatte überlegt, ob du vielleicht Lust hättest, eine Kleinigkeit essen zu gehen.“ Er dachte einen Augenblick über sein Angebot nach, dann nickte er. „Warum nicht? Dann müsstest du aber noch einen Moment warten. Ich bin eben erst aufgestanden.“ „Wie kann man nur so lange schlafen?“, fragte Gackt, ohne eine Antwort zu erwarten. „Wenn man spät ins Bett geht.“, gab Hyde ihm trotzdem eine und ging voraus, in Richtung Badezimmer. Gackt folgte ihm nur bis ins Wohnzimmer; dort wollte er auf Hyde warten. Er sah sich um. Alles sah so aus wie immer, nur Hydes Laptop stand ungewöhnlicherweise auf dem Wohnzimmertisch. Wenn er mit dem Laptop arbeitete, tat er das üblicherweise in seinem Arbeitszimmer oder bei schönem Wetter draußen im Garten. Mitten auf dem Wohnzimmertisch hatte Gackt seinen Laptop noch nie stehen sehen. Der Bildschirm war heruntergeklappt, was den Anschein erweckte, dass er ausgeschalten war, doch das Kabel zur nahe gelegenen Steckdose machte das Bild verdächtig. Es waren jedoch die blauen Lichter, die ihn schlussendlich verrieten. Gackt lief langsam auf den niedrigen Tisch zu, ohne den Laptop aus den Augen zu lassen, als könnte dieser sich jeden Moment bewegen. Hinter dem Sofa blieb Gackt stehen. Er hatte kein Recht, nachzusehen, was Hyde an seinem Laptop tat. Und doch war es ihm unmöglich, seine Gedanken davon abzulenken. Er warf einen Blick zur Badezimmertür am Ende des Flurs, der übergangslos in das Wohnzimmer mündete. Er zögerte. Was würde Hyde sagen, wenn er sich einfach das Recht nähme, nachzusehen? Gackt wusste es nicht. Aber selbst wenn er es gewusst hätte, wäre es ihm nicht leicht gefallen, sich davon abzuhalten, um die Couch herum zu dem Laptop zu gehen und den Bildschirm nach oben zu klappen. Nachdem er das getan hatte, sah er zuallererst einmal einen schwarzen Bildschirm. Dieser wurde orange, als er seinen Finger über das Touchpad streifen ließ, und zeigte ein Symbol an, neben dem die Aufforderung „Please enter password“ zu sehen war. „Was machst du da?“, wollte Hyde fassungslos wissen. Gackt zuckte nicht zusammen; er erstarrte in der Bewegung. Nach diesem Schreckmoment drehte er sich zu Hyde um. „Ich wollte nur sehen, was du mir verheimlichst.“, meinte er schlicht. „Was sollte ich dir verheimlichen?“, fragte Hyde verwirrt. „Wofür solltest du sonst ein Passwort brauchen?“, kam Gackts Gegenfrage. „Wer hat kein Passwort an seinem privaten Laptop?“, fragte Hyde zurück. „Du hast gesagt, du bist eben erst aufgestanden. Warum ist der Laptop dann bereits an?“ Er war einen Augenblick sprachlos. „Weil ich ihn eben gleich nach dem Aufstehen angemacht habe.“, erklärte er standhaft. „Warum?“, hakte ich nach. Ich konnte seiner Aussage aus irgendeinem Grund keinen Glauben schenken. „Das werde ich doch wohl geständnisfrei tun dürfen.“, empörte er sich und in diesem Augenblick war ich mir sicher, dass er die Wahrheit sagte. Doch das Gefühl, dass er mir irgendetwas nicht sagen wollte, blieb. Er kam herüber, zog den Stecker und drückte den Ausschaltknopf. „Zufrieden?“ „Sorry...“, entschuldigte ich mich für mein Verhalten. „Ich wollte... Ich weiß auch nicht. Vergiss es einfach, in Ordnung?“ „Du hast heute keine besonders gute Laune, kann das sein?“, fragte er wieder nur zurück. „Ja.“, gestand ich ihm ein. „Ich weiß auch nicht, warum.“ Für einen Moment befürchtete ich, mit meiner schlechten Laune würde er nicht mit mir essen gehen wollen. „Wollen wir dann jetzt gehen?“, ließ er alle Befürchtungen von mir abfallen. „Wo wollen wir eigentlich hin?“, fragte er auf dem Weg zur Haustür. Ich war ihm gefolgt und hatte ihm dabei zugesehen, wie er sich die Schuhe anzog. „Wohin du willst. Mir ist es gerade egal, was ich jetzt esse.“ Nachdem ich das gesagt hatte, warf er mir einen schwer zu deutenden Blick zu. Ich vermutete, dass er sich Sorgen machte. Oder ich wünschte es mir. „Das Übliche.“, bestellte er bei dem älteren Herrn hinter der Ladentheke, dann drehte er sich zu mir und fragte: „Auch wenn es noch etwas früh dafür ist, willst du Sake dazu trinken, oder?“ „Klar.“, meinte ich lächelnd, wissend, dass er wusste, wie gerne ich Sake trank. Auch er lächelte nun. Das erste Mal heute. Ich machte es mir zur Aufgabe, ihm noch öfter an diesem Tag ein Lächeln abzugewinnen. Doch es war nicht leicht. Immer wieder schien er mit seinen Gedanken abzuschweifen. Wir unterhielten uns über das Musikgeschäft, über unsere kommenden Projekte, und ließen dabei absichtlich unser Privatleben außen vor. Doch irgendetwas beschäftigte ihn dennoch ununterbrochen. Dies erkannte man alleine daran, wie halbherzig er in seinen Ramen herumrührte. Den Sake dagegen, den er eigentlich eher selten mittrank, leerte er in wenigen Zügen. Ich machte mir ernsthafte Sorgen um ihn. „Ga-chan.“ Er sah zu mir auf. „Was ist los mit dir?“, fragte ich direkt. Er seufzte. „Ich weiß es nicht.“, antwortete er mir, doch ohne mir in die Augen zu sehen. Ich hatte das Gefühl, sein Blick haftete an meinem Ehering. „Aber du weißt mehr als ich. Also sag mir das, was ich nicht weiß.“, forderte ich ihn auf. Er schwieg lange Zeit, dann, vollkommen unvermittelt, durchbrach ein Wort die Stille: „Aishiteru.“ Dieses Wort erfüllte die Luft um uns. Es hüllte uns ein. Es war alles, was uns umgab. Als auch der Nachhall in unseren Ohren verklang, war auf einmal alles still. Nichts schien mehr dort zu sein, wo es bis eben war. Nur das Schweigen zwischen uns blieb. Die Frau, die dieses Wort eben ausgesprochen hatte, legte ihr Handy beiseite und nahm ihre Suppenschüssel entgegen, die ihr der Wirt reichte. „Ga-chan, wenn ich etwas für dich tun kann, dann sag es mir.“ ~Wenn ich es nur sagen könnte, würde ich es tun...~ „Ansonsten weiß ich echt nicht, was ich tun soll.“ Hyde sah mich ratlos an. „Ich weiß es auch nicht...“, sagte mein Mund leise. „Sag du es mir“, sagten meine Augen lautlos. „Wiederhole ihre Worte“, sagte mein Kopf verzweifelt. „Du musst doch mindestens eine Ahnung haben, was es sein könnte.“, sagte er. Ich musste endlich etwas sagen. Auch wenn ich nicht wusste, was. „Ich habe einfach... Mir macht nichts mehr wirklich Spaß...“, versuchte ich es zu umschreiben. „Ohne zu wissen, dass du mich liebst“, fügte ich in Gedanken hinzu. „Ja, aber warum? Was fehlt dir? Freizeit? Beschäftigung? Was?“, wollte er wissen. „Du...“ Es war schon beinahe meine Antwort auf seine Frage. „...tappst genauso im Dunkeln wie ich selbst. Ich weiß nicht, woher es kommt, nicht, wann es angefangen hat. Ich weiß gar nichts.“ „Dann solltest du versuchen, nicht darüber nachzudenken.“ Seine Antwort überraschte mich. Es war, als kannte er das Gefühl, den Auslöser für die eigene Stimmung nicht zu kennen. „Versuch einfach, Spaß zu haben. Unternimm häufiger etwas. Such dir vielleicht sogar ein neues Hobby.“ „Hast du in nächster Zeit denn Zeit für mich?“ Wie oft wollte ich ihm diese Frage alleine heute schon stellen. Er schien nachzudenken, in Gedanken seinen Terminkalender durchzugehen. „Ich kann dir nichts versprechen, aber ich denke schon, dass ich mir öfters Zeit für dich nehmen kann. Mein Soloalbum liegt gut im Zeitplan, die Tour ist erst im Herbst geplant. Es sieht gut aus in den nächsten Wochen.“ Er konnte gar nicht ahnen, wie glücklich er mich damit machte. Der Laptop stand unverändert auf dem Wohnzimmertisch. Falls in der Zwischenzeit jemand hier gewesen sein sollte, dann hatte ihn das Gerät mit dem ausgesteckten Kabel auf dem Boden wohl nicht gestört. Meine Hoffnung war, dass, wenn jemand hier gewesen war, dass zumindest jetzt niemand mehr hier war. Hyde zog seine Schuhe aus und stellte sie an den gewohnten Platz. Ich stellte meine neben seine und konnte meinen Blick zuerst nicht wieder von diesem Bild lösen. Es war, als wohnten wir zusammen. Es war eine Traumvorstellung. „Ich wollte dir noch etwas zeigen.“, begann Hyde mit einem Mal und bewegte mich dazu, meine Augen von dem Anblick unserer Schuhpaare loszureißen. Ich folgte seiner Stimme ins Wohnzimmer. Der Laptop stand verändert da; Hyde hatte ihn aufgeklappt und schien gerade dabei zu sein, das Passwort einzugeben. Mit einem von Hyde ungesehenen missbilligenden Blick zur Decke, an der eine Lampe hing, die Hyde, weil es bereits dunkel war, bedenkenlos angeschaltet hatte, weshalb sie nun grausam künstliches Licht verstrahlte, trat ich an den Tisch heran, wusste daraufhin nicht mehr, was ich tun sollte, und setzte mich schließlich neben Hyde auf die Ledercouch. Die Frage nach seinem Passwort brannte mir auf der Zunge. „Was willst du mir denn zeigen?“, fragte ich stattdessen. „Das siehst du gleich.“, strahlte Hyde vor Vorfreude. Bei diesem Lächeln waren die Gedanken an sein Passwort und die Erinnerung an die Situation von vor wenigen Stunden und das damit verbundene Gefühl, dass er mir etwas verheimlichte, verschwunden. Mein Blick verharrte auf diesem lächelnden Gesicht, nicht gewillt, davon abzuweichen, doch in ständiger Angst, bemerkt zu werden. Hyde sah zur Seite, in mein Gesicht, seine Augen leuchteten noch immer. „Schau. Das hier.“, erklärte er, doch es dauerte eine Weile, bis es mir gelang, den Blickkontakt zu brechen und auf den Bildschirm zu schauen, denn Hyde ließ nicht davon ab, mich mit diesen strahlenden Augen anzusehen. Gezwungenermaßen war mein Blick nun auf eine Internetseite gerichtet. Ihr Hintergrund zeigte ein Bild: Hyde und mich - wie wir uns küssten. Ich spürte Hydes aufmerksamen Blick auf mir. Wie sollte ich reagieren? Ich kannte dieses Bild bereits. Wenn er wüsste, wie viele solcher Bilder ich bereits gesehen hatte... „Das... Sind das wir?“, fragte ich, als wäre ich sehr überrascht und zugleich verwirrt. „Ich fürchte schon... Es steht immerhin groß und breit dabei.“, meinte Hyde. „Das ist ja...“, begann ich, ohne im Sinn zu haben, den Satz zu Ende zu führen. „Unglaublich, nicht?“, fragte Hyde, auch eher rhetorisch, und fügte kopfschüttelnd, eher fassungslos, hinzu: „Eine Fanseite für dich und mich... Ich wusste ja, dass es so etwas zuhauf gibt - auch wenn ich mich noch immer frage, warum, weil unsere Musik doch sehr unterschiedlich ist , aber mit diesem Bild. - Ich habe ja schon gelesen, was Fans so alles machen, aber... das fand ich echt... unglaublich... Es sieht so... echt aus...“ „Vielleicht ist es das.“ Ich wusste nicht, warum ich das gesagt hatte. Es kam einfach so über meine Lippen, musste irgendeinem meiner vielen wirren Gedanken entsprungen sein. Hyde blickte mich irritiert fragend an. Er blinzelte einige Male. „Vielleicht können wir uns nur nicht mehr daran erinnern...“, versuchte ich, meinen Kommentar in einen Scherz zu verwandeln. „Ja, klar. So was würde man ja auch sehr leicht vergessen...“, entgegnete er ironisch. ~Nein, das wäre unvergesslich...~, gab ich ihm in Gedanken Recht. ~Nein, das wäre unvergesslich...~, schweifte ich kurz ab, bevor ich mir der Anwesenheit der Person, die ich in meiner Vorstellung gerade hatte küssen wollen, wieder bewusst wurde. Ich warf Gackt einen schnellen Blick zu und klickte dann schnell die Internetseite weg. Er schien von dieser Fanidee und vor allem von diesem Bild nicht sehr begeistert zu sein. Fand er die reine Vorstellung bereits unschön? Gefiel es ihm nicht, dass Bilder solcher Art im Internet kursierten? War er auf noch keine derartigen Bilder gestoßen? Er schien so überrascht. Doch was sollte seine Bemerkung? „Vielleicht ist es das“ - was wollte er damit andeuten? „Hast du heute eigentlich noch länger Zeit für mich?“, wagte ich zu fragen. Ich wollte nicht gehen. „Den ganzen Tag.“, meinte er nahezu stolz. „Sie und Jo-chan kommen erst morgen Mittag wieder. Ich kann tun und lassen, was ich will.“ „Woran hindern sie dich denn?“, wollte ich von ihm wissen, aus einem Reflex heraus. Er schwieg. „Hättest du dann Lust, noch einen Film anzuschauen?“, fragte er, als hätte es diese Stille nie gegeben. Dafür war ich ihm unendlich dankbar. „Warum nicht?“, entgegnete ich erleichtert. „Wie wäre es mit ‚Kagen no Tsuki’?“, war seine nächste Frage. „Wie bitte?“ Er glaubte wirklich nicht, dass dies ein ernst gemeinter Vorschlag war. „Warum nicht?“, meinte ich nur, ihn bewusst wiederholend. „Vielleicht weil ich da mitspiele?“, war seine ungläubige Gegenfrage. „Na und?“, gab ich zurück. „Ist es nicht ein bisschen eigenartig, sich einen Film anzusehen, in dem man selbst mitspielt?“ „Ach, was.“, widerlegte ich diese These. „Zum Beweis schauen wir jetzt ‚Moon Child’ an. Da habe ich nicht nur mitgespielt, sondern gleich das ganze Drehbuch geschrieben. Für mich müsste es dann ja jetzt noch viel eigenartiger sein als für dich, das anzuschauen. Außerdem würde ich ‚Moon Child’ echt gerne wieder einmal sehen. Wie lange ist es jetzt her? Neun Jahre? Ich glaube, ich weiß schon gar nicht mehr, worum es in dem Film überhaupt geht...“ Er grinste. „Na gut. Schauen wir ihn eben an.“, gab er letztendlich nach. „Ist bestimmt witzig, ihn wieder zu sehen. Unser erster Film...“ Wie er das sagte... Unser erster Film... Wir bereuten es nicht. Während wir den Film schauten, fiel uns zu fast jeder Szene etwas Witziges ein, das hinter den Kulissen passiert war. Wir lachten fast den ganzen Film hindurch. Nur bei der Schlussszene konnten wir das nicht. Wir waren vollkommen still, bis der Abspann begann. „Eine Frage...“, sagte Hyde plötzlich. „Warum wird mein Name eigentlich als erster im Abspann genannt?“ Mit dieser Frage hatte ich nicht mehr gerechnet, jetzt, da der Film bereits so viele Jahre alt war. „Das wollte ich eigentlich schon bei der Premiere fragen.“, fügte er hinzu, als hätte er meine Gedanken gehört. „Na, weil du der Hauptdarsteller bist.“, antwortete ich schlicht. „Ja, aber du doch auch. Und du warst ja wohl eher die Hauptfigur. Es ging ja hauptsächlich um Shous Leben. Ich war nur Teil davon.“, verdeutlichte er seine Ansicht. „Du hast in meinen Augen die wichtigste Rolle gespielt.“, meinte ich lediglich. Diesen Satz hätte ich auch genauso gut im Präsens ausdrücken können. Es wäre eine ebenso wahre Aussage gewesen. „Aber du bist zudem noch der Drehbuchautor. Es ist dein Film.“, beharrte er. „Es ist unser Film.“, berichtigte ich ihn und mit einem Mal blickte mich Hyde mit großen Augen an, als würde ihn diese Aussage überraschen, dabei hatte ich dies schon öfter verlauten lassen. Doch weshalb reagierte er auf diesen Satz dann derart? „Was ist?“, wollte ich verwirrt wissen. Er starrte noch einen Moment nichts sehend vor sich ins Leere, dann sah er wieder mich an. „Nichts. Wollen wir auch gleich noch das Making-of anschauen?“, wich er meiner Frage aus. Ich überlegte einen Moment, ob ich nicht weiter nachhaken sollte, doch dann beschloss ich, dass es besser war, dies nicht zu tun. „Warum nicht?“ Das Making-of brachte uns wieder kräftig zum Lachen. Es kam mir vor, als hätte ich seit einer Ewigkeit nicht mehr so herzhaft gelacht. Als auch das Making-of zu Ende und unser Lachen verklungen war, bemerkte ich meine Müdigkeit. In letzter Zeit war ich sehr häufig müde. Das war sehr ungewöhnlich für mich. Normal dagegen war, dass ich, wenn ich mich dann ins Bett legte, trotzdem nicht schlafen konnte. „Es ist schon verdammt spät, ich denke, ich sollte gehen. Ich schlafe nämlich gleich ein.“ „Und dann willst du noch fahren?“, kam es ebenfalls schläfrig zurück. „Wenn ich ein Taxi nehme, steht mein Wagen hier.“, erklärte ich nüchtern. „Willst du... vielleicht... hier übernachten?“ Es war eine zögerliche Frage. „Hm. Warum eigentlich nicht. Vielleicht wäre das besser.“, sagte ich, meine Glücksgefühle überspielend. Wie hätte es ausgesehen, wenn ich mich darüber wahnsinnig gefreut hätte? „Das glaube ich auch, wenn ich dich so ansehe...“ Mein Blick wanderte zurück zu seinem Gesicht, das nun frech grinste. „So schlimm kann es noch gar nicht sein.“, meinte ich schlichtweg. „Das Gästezimmerbett kannst du leider momentan nicht benutzen; Jo-chan hat den Lattenrost zerbrochen, als er mit ein paar Freunden darauf herumgehüpft ist, und wir haben noch keinen neuen kommen lassen, aber du kannst in meinem Bett schlafen; ich schlafe dann auf der Couch im Wohnzimmer.“, schlug er vor. „Nein. Das brauchst du nicht. Ich kann auf der Couch schlafen. Überhaupt kein Problem.“ „Ach was. Das kann ich doch nicht tun - den Gast auf die unbequeme Couch verbannen.“ „Es ist wirklich in Ordnung. Es macht mir wirklich nichts aus.“ „Sicher?“ Ich nickte zur Bestätigung. „Aber dann... schlafe ich mindestens auch im Wohnzimmer. Ich kann das nicht, in einem Bett schlafen, während der Gast auf dem Sofa schläft.“ „Bitte. Keine Einwände. Es ist ja genügend Platz hier.“, meinte ich mit einer vagen Bewegung in Richtung Couchgarnitur. Es gab zwei sich gegenüberstehende Ledersofas, zwischen ihnen der gläserne Wohnzimmertisch, und einen großen Sessel, in dem ich zu sitzen pflegte. „Also, dann machen wir das so.“, sagte er abschließend. Es wirkte ein wenig, als würde er die Richtigkeit seiner Entscheidung bereits anzweifeln. Mein Blick senkte sich unmerklich. Ich hörte, wie sich Hyde von der Couch erhob und sah auf. Er wandte sich zum Gehen. „Ich werde dann mal Bettzeug und so holen.“, meinte er kurz, bevor er den Raum verließ. Normalerweise hätte ich jetzt eingeworfen: „Ich helfe dir.“, und wäre ihm hinterhergelaufen. Doch das konnte ich gerade nicht. Es lag an dieser seltsamen Stimmung. Diese Stimmung, die jedes Mal aufkam, wenn ich in Hydes Verhalten, seinen Aussagen oder seiner Mimik zu erkennen glaubte, dass er mich niemals so sehen würde, wie ich ihn. Das Geräusch von Schritten ließ mich aufmerksam werden. Hyde war mit zwei großen Kissen und zwei Steppdecken zurückgekehrt, die er auf das Sofa, auf dem - wie es den Anschein hatte - er schlafen würde, ablegte. Dann warf er mir ein Kissen zu und brachte eine der Decken zu mir. „Ich nehme an, du willst dir vor dem Schlafengehen noch die Zähne putzen. Wir dürften eine neue Zahnbürste für dich im Haus haben.“, ließ er mich wissen, als er die für mich bestimmte Decke in meine Arme legte, und bemerkte nicht, wie ich zurückzuckte, als ich den Stich spürte. ~„Wir“... „im Haus“... In ihrem gemeinsamen Haus...~ Erneut ging er aus dem Raum, dieses Mal in das Badezimmer, und ließ mich allein mit meiner trüben Stimmung. Ich überlegte, ob es nicht vielleicht doch besser wäre, nach Hause zu gehen. Jetzt, da ich mich ohnehin wieder wach fühlte. Ich hatte hier noch nie zuvor übernachtet und ich hatte es auch eigentlich niemals vorgehabt. Schließlich fühlte ich mich hier nicht sonderlich wohl und die Wahrscheinlichkeit, Megumi am nächsten Morgen anzutreffen, war unerträglich hoch. Die Möglichkeiten, dass sich Bilder in meinem Kopf einbrannten, die ich nie wieder loswerden würde, unbegrenzt. Doch ich konnte nicht mehr gehen. Ich konnte es nicht. „Ich habe eine gefunden!“, verkündete eine heitere Stimme aus dem Badezimmer. Eine Engelsstimme, die manchmal ebenso die des Teufels sein konnte, rief mich zu sich. Als ich in das aufgeräumte, aber - im Gegensatz zu meinem eigenen - bewohnt wirkenden Badezimmer trat, hielt Hyde mir eine noch verpackte Zahnbürste entgegen. Ich nahm sie an mich und packte sie aus, während er nach seiner eigenen griff, die er aus einer Halterung nahm, in der sich noch eine zweite, andersfarbige befand. Ich versuchte, diese Gedanken beiseite zu schieben. Ich musste es ignorieren. Ich sollte es akzeptieren. „Hier.“ Ich blickte auf und sah Hydes Hand mir die Zahncreme reichen. Wortlos nahm ich sie an. Nach einer Weile des schweigsamen Putzens, tat er seine Bürste wieder in die Halterung zurück und schien etwas zu überlegen. Ich spülte meine Zahnbürste ebenfalls ab, wusste daraufhin jedoch nicht, wohin ich diese tun sollte. „Ach, stell sie einfach zu den anderen. Sie haben ja alle verschiedene Farben.“ Fast hätte sich ein Lächeln auf meinen Lippen gezeigt. „Soll ich dir eigentlich einen Schlafanzug von mir ausleihen?“, fiel mir plötzlich ein. Wir waren aus dem Badezimmer wieder ins Wohnzimmer gegangen. Es war ein eigenartiges Gefühl, wenn Gackt auf meine Hilfe angewiesen war. „Du weißt doch, dass ich nackt schlafe.“, meinte Gackt nur und begann, sich die Hose aufzuknöpfen. Mein Blick wie auch mein Körper erstarrte. „Aber... Aber du... Du kannst doch nicht nackt schlafen, wenn ich im selben Raum schlafe.“ Meine Vernunft sagte mir, dass er das verstehen musste. „Doch, natürlich. Warum nicht?“ Gackt schien eine andere Vernunft zu besitzen. Oder keine. „Aber was, wenn meine Frau zurückkommt und du liegst nackt auf dem Sofa?“, argumentierte ich. „Du hast doch gesagt, sie würde erst mittags wiederkommen.“, zerschmetterte er mein Argument. Ich öffnete den Mund, aber ich fand keinen Grund mehr. Keinen, außer den eigentlichen, den ich jedoch nicht aussprechen konnte. ~Das kann er mir nicht antun...~ Er konnte. Er zog sein Oberteil aus und legte es, wie die Hose zuvor, über die Sessellehne. Hastig, um nicht unendlich nervös und zugleich ein offenes Buch zu werden, wandte ich mich um und verkündete im Gehen: „Also ich ziehe mir jetzt einen Schlafanzug an. Mach du, was du willst.“ Ich sah ihm nach. Empfand er es als Unverschämtheit, wenn ich im selben Raum wie er nackt schliefe? Wollte er mich einfach nicht nackt sehen? War es ihm schlichtweg unangenehm? ~Warum musste er wieder seine Frau erwähnen...?~ Es war meine Absicht gewesen, mithilfe seiner Reaktion auf etwas wie einen Hinweis zu stoßen. Doch ich hatte nicht bedacht, dass Nervosität - die ich mir eigentlich erhofft hatte - kein eindeutiges Zeichen war. Es konnte die Art von Nervosität sein, die ich mir wünschte, jedoch auch die, die entsteht, wenn etwas geschieht, das man nicht will oder nicht gewohnt ist. Nun wusste ich nicht, welche es war. Doch mein Pessimismus hatte eine Tendenz. Nachdem ich ein paar Minuten herumgerätselt hatte, was ich zum Schlafen anziehen sollte, kam ich mit einem simplen weißen Unterhemd und einer langen, weiten weißen Stoffhose zurück ins Wohnzimmer. Ich hatte versucht, mich mental darauf vorzubereiten, was mich dort erwartete, doch das war unmöglich. Zum Glück hatte sich Gackt immerhin die Decke über die Beine bis nicht weit unter den Bauchnabel gelegt. Doch sein Oberkörper reichte aus, dass ich mir nicht mehr sicher sein konnte, ob meine Gesichtsfarbe nicht ein wenig rötlicher als gewöhnlich war. Vorsorglich ging ich sogleich zum Lichtschalter, um Gackt in Finsternis zu hüllen und vor meinen Augen zu verbergen, doch der Mond wollte sich heute Nacht von seiner strahlendsten Seite zeigen. „Brauchst du noch etwas?“, fragte ich in die Fastdunkelheit hinein. „Wasser steht noch am Tisch und sonst... fällt mir nichts ein, was man in der Nacht noch so gebrauchen könnte.“ ~Außer die Person, die man liebt, ganz nahe an seiner Seite...~ „Ich finde schon, was ich brauche.“, meinte er nur und ich hörte, wie er es sich gemütlich machte. ~Brauchst du mich dann nicht oder getraust du dich nicht, mich zu suchen?~ „Gute Nacht.“, wünschte ich ihm, nachdem ich ihm zugesehen hatte, wie er sich zu seinem Schlafplatz begeben und es sich bequem gemacht hatte. In diesem ärmellosen Shirt, das, wie auch seine Hose, im Mondlicht wunderschön leuchtete und zudem einen großen Teil seines Tattoos preisgab, das der Mond für einen traumhaften Augenblick sichtbar machte, sah er einfach engelsgleich aus. „Gute Nacht.“, sprach der Engel und drehte sich zur Seite, den Rücken mir zu. Ich dankte dem Mond für seine Großzügigkeit in dieser Nacht und betrachtete Hydes unvergleichlichen Rücken, dessen Flügel ich so unsagbar gerne einmal berühren würde. Ein trauriges Lächeln malte sich auf meine Lippen. Es hätten Stunden gewesen sein können, bis Hyde sich wieder auf die andere Seite drehte, es hätte mir nicht genügt. Schnell hatte ich die Augen geschlossen, als er sich zu bewegen begonnen hatte. Denn ich war mir nicht sicher, wie gut er mich im hellen Mondschein sehen konnte. Ich lauschte seinen Bewegungen. Es war wieder still. Doch ich fürchtete, dass er noch nicht schlief; deshalb tat ich so, als würde ich es, ohne zu wissen, ob dies nötig war. Doch ich nutzte die Stille und meine geschlossenen Augen, um das eben so lange und doch zu kurz betrachtete Bild in mein Gedächtnis zu meißeln, dass ich es zumindest in Gedanken immer wieder würde betrachten können. Ich hatte es mir wohl nur eingebildet, dass er mich ansah. Er hatte die Augen geschlossen; vielleicht schlief er sogar schon. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mich anders herum auf die Couch gelegt hatte, mit dem Kopf in die entgegengesetzte Richtung wie Gackt. Ich hoffte daher, dass ich nicht so hell erleuchtet war, wie er es war. Ich fürchtete mich vor solchen Fragen wie: „Was schaust du mich so an?“ oder „Ist irgendwas?“ Darauf wüsste ich keine Antwort zu geben. Auch wenn ich sie wüsste. Ich seufzte. „Schläfst du auch immer noch nicht?“, erschreckte mich Gackts Stimme. Fast noch mehr war ich jedoch erschrocken, als er seine Augen fast zur gleichen Zeit aufgeschlagen hatte. Ohne zu zögern wandte ich den Blick von Gackt ab. „Iie... Heute ist Vollmond; ich glaube, da geht es vielen Menschen so, dass sie nicht schlafen können.“, nahm ich als Ausrede. „Sou ne...“, stimmte er mir leise, beinahe nachdenklich klingend, zu. Dann schwiegen wir wieder. „Glaubst du eigentlich an Gott?“ Diese leise Frage durchbrach die Stille. Ich zuckte beinahe erneut zusammen. Weder hatte ich damit gerechnet, dass er nach so langem Schweigen noch einmal etwas sagen, noch damit, dass es eine solche Frage sein würde. „Ich... weiß es nicht.“, gab ich ihm zur Antwort. Es war die Wahrheit. „Ich wusste es einmal - oder glaubte, es zu wissen. Doch inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher.“ „Und woran liegt das?“, war seine nächste Frage. „Was macht dich so unsicher?“ „Ich weiß es nicht.“, konnte ich nur wieder antworten. „Bist du denn nicht zufrieden mit deinem Leben?“, stellte er eine noch kompliziertere Frage. „Wer ist schon zufrieden?“, fragte ich lediglich zurück. Ich hoffte, er beließ es dabei. „Womit bist du unzufrieden?“ Es war immer wieder sinnlos, dies zu hoffen. „Ich...“ Ich seufzte. „Ich weiß es nicht, Ga-chan. Will man nicht immer mehr als man hat, egal wie viel man bereits hat? So sind die Menschen nun mal, oder nicht?“ „Was hättest du denn gerne?“ Ich schloss meine Augen. Wie konnte er mich nur so vieles fragen, was ich ihm nicht beantworten durfte? Was wollte er von mir hören? Was sollte ich jetzt sagen? „Ich habe keine Ahnung, Ga-chan.“, sagte ich niedergeschlagen. Es war meine größte Lüge, die größte, an die ich mich erinnern kann, die größte, die je meine Lippen verlassen hatte. Ich wusste so genau, was ich wollte, dass es wehtat, auch nur darüber nachzudenken. Es zu leugnen jedoch, waren unbegreifliche Schmerzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)