Angel Stories von ZerosWolf (Engel gibt es - und sie haben auch Gefühle) ================================================================================ Kapitel 1: Der verlorene Zwilling --------------------------------- Drei Jahre ist es her, dass ich meine Zwillingsschwester verlor. Mit ihrem Tod brach meine Welt zusammen. Ohne sie möchte ich nicht leben. Ohne sie ist meine Welt öde und einsam. Grau sind die Menschen die Tag für Tag durch ein Leben hetzen das mir nichts bedeutet. Grau sind die Tiere die zu mir kommen um mich zu trösten weil sie meinen Kummer spüren, auch wenn ich sie nicht spüren kann. Grau ist die Landschaft aus Bäumen und Bauten durch die ich mich bewege auf meinem Weg von einem Ort zum nächsten. Und doch schleppe ich mich weiter. Warum, dass weiß ich nicht. Tag für Tag quäle ich mich durch das ewige Grau ohne zu merken wie die Zeit vergeht. Ein ewiges Nichts in dem ich gefangen bin. Mein Name ist Marisa, 17 Jahre jung, auch wenn ich mich fühle wie 87. Meine Schwester Sahra wurde mit einem Herzfehler geboren. Es war abzusehen, dass sie irgendwann daran sterben würde. Und doch war ich nicht vorbereitet als es geschah. Sie war noch kurz vorher voller Energie und quick lebendig gewesen. Ist mit mir herum gerannt und hat die schwächeren Kinder an der Schule beschützt. Herzensgut und stark, ja, so war sie. Und doch musste sie sterben. Ich war ihr Schatten. Ich selbst kann nichts. Immer hinter ihr her, immer an ihrem Rockzipfel. Es hat sie nie gestört. Nie. Und plötzlich war sie weg. Für immer. Hat die Reise ohne Wiederkehr angetreten, wie unsere Großmutter es ausgedrückt hatte. Auch heute gehe ich wieder durch meine eintönige Welt. Grau in grau verschwimmt alles vor meinen Augen. Nur mühsam erkenne ich was für mich wichtig ist. Ein hell leuchtendes Grau sagt mir, dass ich mich an einem Straßenüberweg mit Ampel befinde. Es ist rot, ich muss warten. Trübe starre ich vor mich hin, auf die Mischung aus Grautönen die mir gegenüber steht. Sie alle wissen nicht, wie ich sie sehe. Sie alle wissen nicht, dass sie für mich nicht existieren. Vielleicht sehen sie mich auch nicht? Vielleicht bin ich ja nur ein unsichtbarer Geist der durch die Welt der Lebenden schwebt? Wer kann das schon mit Sicherheit sagen? Ein komischer Fleck mischt sich in die Graue Suppe auf der anderen Straßenseite. Ist das Farbe? Doch woher kommt sie? Überrascht hebe ich den Blick. Langsam wird das Bild der Person mir gegenüber klarer. Ein Mädchen meines Alters. Hübsch, schlank und hochgewachsen steht sie elegant und charismatisch an der Ampelsäule und wartet auf grün. Mein Herz bleibt stehen. Sie ist es, kein Zweifel. Diese kraftvollen Augen – es muss Sahra sein. Meine Sahra! Doch wie ist das möglich? Ich habe sie doch sterben sehen! Egal! Jetzt steht sie vor mir. Lebendig und wunderschön. Die Ampel springt auf grün. Nur vage kann ich es erkennen. Mein Blick ist auf Sahra geheftet. Sie kommt herüber. Sie kommt auf mich zu. Ob sie mich erkennt? Wie sehe ich eigentlich aus? Ich weiß es nicht. Ich habe mich schon lange Zeit nicht mehr im Spiegel betrachtet. Mit Sicherheit sieht Sahra ein Mädchen von der Sorte die sie früher beschützt hat. Auch wenn sie mich nicht erkennt, ich bin mir sicher sie wird mich ansprechen! Sie kommt immer näher – und geht vorbei. Hat sie mich nicht erkannt? Oder ignoriert sie mich nur? Schwester, was tust du mir da an? Ich blicke mich nach ihr um. Sie geht einfach weiter. „Sahra!“ Meine Stimme klingt verzweifelt. Keine Reaktion. Ich fange an zu laufen. Ich muss sie einholen! „Sahra, warte doch!“ Sie geht einfach weiter. Hört sie mich nicht? Ist meine Stimme nicht mehr kräftig genug, nachdem ich sie drei Jahre nicht gebraucht habe? Ich komme ihr näher. Ihr sehe ihn. Sahras halbmondförmiger Leberfleck in ihrem Nacken, links vom Pferdeschwanz. Mir bleibt nur noch eine Wahl. Ich greife ihr Handgelenk. „Sahra!“ Sie dreht sich zu mir um. Ihr Blick ist verwirrt, auch etwas verstört. Es liegt nichts erkennendes in ihren Augen. Sehe ich so schlimm aus? „Verzeihung, kennen wir uns?“ So eine sinnlose Frage mit Sahras engelsgleicher Stimme ist verletzend. „Erkennst du mich denn nicht, Sahra?“, meine Stimme ist leise und schwach. Doch sie schüttelt nur mit dem Kopf. „Sie müssen mich verwechseln.“, sagt Sahra mit ernstem Gesichtsausdruck. „Mein Name ist Yishtoa.“ Ein verbaler Schlag ins Gesicht. Hatte ich mich denn so irren können? Nein, ausgeschlossen! Sie muss Sahra sein! „Hör auf Spiele mit mir zu spielen.“, schmolle ich. „Sahra, dafür sind wir zu alt.“ „Ich kenne dich nicht!“ Es lag ein verzweifelter Unterton in Sahras Stimme. „Und ich kenne auch keine Sahra!“ Was für eine gute Schauspielerin meine liebe Schwester doch war. Doch mir kann sie nichts vormachen. Ich weiß, sie verstellte sich nur vor mir! „Lass mich endlich los!“, schreit Sahra und reißt ihre Hand los. Sie nutzt so viel Kraft, dass meine Finger sich anfühlen als hätte ich sie gegen eine Wand geschlagen. Sie dreht sich um und stürzt davon. Was auch immer diese Reaktion bedeutet, ich gebe nicht auf und laufe ihr nach. Sie wird mir schon erzählen, was das soll! Und wenn ich sie dafür festbinden muss! Ich folge ihr bis zu einem Park. Ein großer Spielplatz ist in seiner Mitte. Ich erinnere mich, dass wir hier früher sehr oft gespielt haben. Sahra und ich. Und unser großer Bruder hat immer auf uns aufgepasst. Die Geräte sind alt. Das waren sie schon als wir klein waren. Doch noch immer scheinen sie sehr stabil. Ich sehe mich um. Die Nostalgie hat mich Sahra aus den Augen verlieren lassen. Wo ist sie nur? Wo ist der Farbklecks in meiner grauen Welt? Dort drüben. Und da sind noch mehr Farbflecken! Es sind Kinder. Sahra sitzt dort im Sandkasten mit einem kleinen Mädchen und zwei älteren Jungen. Ob sie wohl Geschwister sind? Sie erinnern mich so sehr an die schöne Zeit früher als meine Welt noch bunt und heile war. Niemand sonst ist auf dem Spielplatz. Ich will sie nicht stören. Sie spielen so schön friedlich mit Sahra. Wie eine große Schwester denkt sie sich neue Spiele für die Kinder aus und erklärt sie ihnen. Auch eine Sandburg bauen sie zusammen. Eine große mit bunten Steinen in der Wand. Was für ein friedlicher Anblick. Einer der Jungen entfernt sich dann von der Gruppe. Er läuft zum Klettergerüst. Es ist ein echter Magnet für Jungen. Es knackt so aufregend wenn man sich von einem Streben zum nächsten bewegt. Der Junge aus Sahras Gruppe hangelt sich an den dicken Seilen hoch. Immer höher. Niemand sonst ist auf dem Gerüst. Er kann sich ganz frei austoben. Wie immer knackt und knistert es im Holz. Ich habe dieses Geräusch früher gehasst. Es hat mir Angst gemacht. Aber war das Knacken schon immer so laut gewesen? Nein. Ich realisiere es in dem Moment als aus dem kurzen verzerrten Ton ein lautes Krachen wird. Einer der großen Stützpfeiler ist gebrochen. Das ganze Gerüst bricht in sich zusammen. Der Junge verliert den Halt und fällt. Ich kann nicht hinsehen. Sicher wird er sterben. Ein Fall aus so einer Höhe kann ein kleines Kind wie er doch gar nicht überleben! Ich halte mir die Augen zu. Zu sehr habe ich Angst noch einmal jemanden sterben zu sehen. Doch plötzlich höre ich Applaus. Lebte er etwa noch? War er gerettet worden? Vorsichtig luge ich durch meine Finger. Sahra sitzt auf dem Boden, um sie herum Trümmerteile des einst so prachtvollen Spielgeräts. In ihren Armen der kleine Junge der bitterlich weint. Er hat wohl einen Schock erlitten. Aber ansonsten sieht er gesund aus. Ein paar Kratzer, eine Schürfwunde am Knie – vermutlich vom Aufprall. Doch ansonsten ist er gesund. Gesund und lebendig. Sahra hat ihn gerettet. Wie durch ein Wunder hat auch sie nur kleine Wunden, dieser selbstlose Engel. Die Mutter des Jungen kommt angelaufen. Überschwänglich nimmt sie ihr weinendes Kind in die Arme und bedankt sich bei Sahra. Ich kann ihr Gespräch nicht hören doch von meinem Wissen über ihren Charakter und ihre Gestik verstehe ich, dass sie der überglücklichen Frau eine Belohnung für sie ausredet. Ich kenne sie. Das Leben des Jungen ist meiner Schwester Lohn genug. Es herrscht Chaos auf dem Spielplatz. Die Kinder, die Frau und Sahra, umringt von einer Horde neugieriger Gaffer und lästigen Reportern die nur durch die Polizisten davon abgehalten werden meine Schwester mit Fragen zu zerreißen. Die Polizei vernimmt mich als Zeugin, dann werde ich wieder in Ruhe gelassen. Ich beobachte weiterhin die Szene von meinem abgelegenen Platz. Vermutlich deswegen bin ich die einzige die merkt, dass Sahra sich von den anderen Menschen entfernt und zwischen den Bäumen und Sträuchern verschwindet. Leise wie ein Schatten folge ich ihr. Nach einer Weile – wir waren so tief im Unterholz wie noch nie zuvor – bleibt sie stehen und dreht sich zu mir um. „Du folgst mir ja immernoch.“, sagt sie genervt. „Denkst du, du kannst mich so schnell abschütteln?“, antworte ich trotzig. „Was willst du von mir?“, seufzt Sahra. Sie scheint nicht mehr weglaufen zu wollen. „Ich bin nicht die für die du mich hälst.“ „Denkst du etwa, du kannst deine eigene Zwillingsschwester täuschen?“ Beleidigt sah ich sie an. Sahra legte die Fingerspitzen an die Stirn und seufzte schwer. Diese Angewohnheit von ihr ist so vertraut, sie lässt mein Herz höher springen. Sie nutzte sie früher immer an dem Punkt, an dem sie nicht weiter wusste. Jedenfalls keinen Weg durch den sie ihren Gegenüber nicht verletzen würde. „Du brauchst dich nicht zu verstellen. Ich kann mit denken, warum du so bist.“ Aufmunternt lächle ich sie an. Während die Polizei alles absicherte hatte ich viel Zeit zum nachdenken gehabt. Ich habe meine eigene Lösung gefunden. „Du bist ein Schutzengel, nicht wahr?“ Sahras verblüffter Gesichtsausdruck bestätigt mir meine Vermutung. „Sehr scharfsinnig.“ Eine sanfte aber Autorität ausstrahlende Frauenstimme dringt von hinten an mein Ohr. Erschrocken drehe ich mich um. Hinter mir steht ein hübsches Mädchen, etwas jünger als Sahra und ich. Doch ihr Blick sagt, dass sie schon viel gesehen hat. Ein Blick aus Auge die keine Pupille haben. Ich höre ein Rascheln und sehe wieder zu Sahra. Meine Schwester ist ehrfurchtsvoll auf die Knie gesunken und hat die Arme ausgestreckt mit den Handflächen nach außen vor sich ausgestreckt. „Herrin Sorria, bitte vergebt mir.“, sagt sie flehend. „Ich war nicht darauf gefasst, dass die Möglichkeit bestand sie zu treffen.“ „Es ist gut, so wie es ist.“, sagte die Herrin. „Erhebe sich, jaro-sjia Yishtoa.“ Aus irgendeinem Grund leuchten Sahras Augen freudig auf. Erst jetzt bemerke ich, dass auch ihre Augen keine Pupillen haben. „Ich habe bestanden?“, rief sie und es schwingt eine unbändige Begeisterung in ihrer Stimme mit. Sorria nickte und beobachtet milde lächelnd ihren Schützling bei ihren Freudensprüngen. „Bist du stolz auf deine große Schwester?“ Ich zucke vor Schreck zusammen als Sahras Herrin mich anspricht. „Sie hat soeben ihre Schutzengelprüfung, wie ihr Menschen es nennen würdet, bestanden.“ Ich überlege kurz, doch eigentlich ist es eine leichte Antwort. „Natürlich. Auch wenn ich niemals etwas anderes von ihr erwartet hätte.“ Sorria kichert amüsiert. „Das ist gut.“, sagt sie verständig. „Ich nämlich auch nicht.“ Überrascht sehe ich sie an. War sie nicht eine „Herrin“? Durfte eine Herrin so etwas sagen? Eine Person vor der andere auf die Knie fallen? Sorria scheint meine Gedanken erraten zu können. Das Grinsen auf ihrem Gesicht ist sehr menschlich. „Auch wenn ich jetzt die Herrin der „Engel“ bin, war ich doch einst auch nur ein gewöhnliches Mädchen wie du.“ „So wie Sahra es war.“, flüstere ich betrübt. Ich verstehe, dass Sahra nicht bleiben kann. Sie ist jetzt ein Schutzengel. Sie wird von nun an die Menschen beschützen die es in himmlischen Augen verdient haben zu leben. Ein Grund stolz auf sie zu sein. Doch auch ein Abschied für immer. „Kopf hoch, Marisa.“ Sahra stupste mit ihrem Zeigefinger gegen meine Nase – genauso wie früher. „Auch wenn ich fort bin, dein Leben geht trotzdem weiter. Vertrau dir selbst. Verlust gehört genauso zum Leben wie Gewinn. Leide, Lache und Lebe. Denn deine Zukunft liegt in deiner eigenen Hand.“ Ich weiß nichts darauf zu erwidern. Wieder einmal hatte meine Zwillingsschwester es geschafft mich sprachlos zu machen. Ohne ein Wort des Abschieds ging Sahra – nein, Yishtoa – zu Sorria. Diese nimmt den frischgebackenen Schutzengel an die Hand. Nur einen kurzen Augenblick später sind beide verschwunden. Als hätten sie sich in Nichts aufgelöst. Eine Träne läuft mir die Wange hinunter während ich zum flammend orangeroten Abendhimmel hinaufsehe. Die ersten Sterne blitzen durch das immer dunkler werdende Firmament. Ich beginne laut zu lachen. So laut, dass andere Menschen mich für irre halten werden wenn sie mich hören. Es hatte schon vorher angefangen doch erst jetzt bemerke ich es. Meine Welt hat endlich wieder Farbe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)